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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Investitionsverträge, die Maßanzüge
der Multis
Lateinamerikanische Erfahrungen
Von Karl-Ludolf Hübener
Wiederholung: Dienstag, 26. Juli 2016, 8.30 Uhr
Erstsendung: Montag, 23. März 2015
Redaktion: Detlef Clas
Regie: Andrea Leclerque
Produktion: SWR 2015
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MANUSKRIPT
Tabaco-Lied: Tabaco … tabaco … tabaco
O-Ton Regina Rebmann:
Ich war am Anfang nicht nur skeptisch, sondern ich war auch sauer, ne, weil ich
dachte auch; mein Geschäft bricht zusammen, weil das ist ja ganz klar, das gehört ja
zusammen: weggehen, Geselligkeit, trinken, reden mit Freunden und so und dann
gehört ne Zigarette dazu.
Café Bacacay
Sprecher:
Regina Rebmann, Besitzerin des „Bacacay“, eines Cafés und Restaurants in
Montevideo, war anfangs sauer auf das erste Anti-Tabak-Gesetz in Südamerika. Ihre
Gäste sollten nun draußen ihre Glimmstengel anzünden.
O-Ton Regina Rebmann:
Ich war völlig überrascht. Hätte nie gedacht, dass das funktioniert.
Sprecher:
Um sein Geschäft mit dem blauen Dunst bangte auch der Tabakmulti Philip Morris.
Er verklagte den uruguayischen Staat vor einem internationalen Schiedsgericht auf
Schadenersatz. Von Milliarden Dollar war zunächst die Rede.
Tabaco-Lied
Ansage:
Investitionsverträge, die Maßanzüge der Multis – Lateinamerikanische Erfahrungen
Von Karl-Ludolf Hübener
O-Ton Tabaré Vázquez:
Y una multinacional … ejemplarizante.
Übersetzer:
Ein Multi, mit den Initialen Philip Morris, droht uns mit Verfahren und anderem Unheil,
um ein abschreckendes Exempel zu statuieren.
Sprecher:
… regte sich Tabaré Vázquez, Ex-Präsident Uruguays, auf. In seiner Amtszeit wurde
das strengste Anti-Tabak-Gesetz des amerikanischen Kontinents verabschiedet.
Wie eine Bombe schlug die Klage des größten Tabakkonzerns der Welt gegen das
kleine Uruguay ein. Mancher Politiker fühlte sich an den Kampf David gegen Goliath
erinnert.
O-Ton Tabaré Vázquez:
Lo voy a decir … nos estan chantajeando.
Übersetzer:
Ich antworte mit dem elegantesten Wort, das mir gerade einfällt: Sie erpressen uns!
2
Tabaré Vázquez – Siegesfeier
Sprecher:
2004 hatte Tabaré Vázquez als Kandidat der linken „Frente Amplio“, der „Breiten
Front“, die Präsidentschaftswahlen in Uruguay gewonnen. Er ist Arzt, Krebsspezialist
und entschiedener Gegner des Tabakkonsums.
O-Ton Tabaré Vázquez:
Por la indiferencia … estaba vigente.
Übersetzer:
Die Menschen waren früher gleichgültig gegenüber der Problematik der
Nikotinvergiftung. Es galt jener alte Tango-Text aus dem Jahre 1922: Rauchen ist
geistvoll und sinnlich.
Carlos Gardel: „Fumando espero“
Sprecher:
Damit hat sich Tabaré Vázquez nie abfinden wollen. Genauso wenig Eduardo
Bianco, der ebenfalls Arzt ist und Präsident von CIET, dem „Zentrum zur
Untersuchung der Epidemie des Tabakkonsums“ in Montevideo.
O-Ton Eduardo Bianco:
Uruguay es campeón … consumo de tabaco.
Übersetzer:
Uruguay ist Spitzenreiter in Lateinamerika, wenn es um Tote durch Lungenkrebs
geht. Es ist die Krebsart, die am meisten Tote verursacht. 90 Prozent der Krebstoten
sind auf Tabakkonsum zurückzuführen.
Sprecher:
Mit einer Reihe von Gesetzen und Dekreten packte Uruguays Präsident ab 2006 das
Problem an. Er berief sich dabei auf die Anti-Tabak-Konvention der
Weltgesundheitsorganisation WHO.
O-Ton Tabaré Vazquez:
Prohibición de fumar … libre de humo de tabaco.
Übersetzer:
Es ist verboten, in allen geschlossenen öffentlichen Räumen, am Arbeitsplatz, in
Gesundheitsstationen und Erziehungszentren zu rauchen. Uruguay verwandelt sich
so zum siebten Land auf der Welt und zum ersten Land in Südamerika, das frei von
Tabakrauch ist.
Sprecher:
Die Tabaksteuer wurde in Uruguay kräftig angehoben, Aufschriften wie „light“, „mild“
und „ultralight“ wurden verboten. Jeder Tabakfabrikant durfte nur noch eine Marke
auf den Markt werfen.
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O-Ton Tabaré Vázquez:
Ubicación de advertencia … legible.
Übersetzer:
Gesundheitswarnungen müssen auf allen Tabakschachteln und -packungen
angebracht werden. Sie müssen deutlich und lesbar sein und vorher vom
Gesundheitsministerium genehmigt werden.
Kiosk in Montevideo
Sprecher:
Ein Kiosk in Montevideo. Süßigkeiten, Schokolade, Kekse, belegte Brote, Kaugummi,
Bierdosen und Zigaretten werden verkauft. Auf einer Zigarettenschachtel verfaulte
schwarze Zahnstummel, darüber der Spruch: „Wer raucht, der stinkt!“
Über dem gläsernen Tresen hängt eine Leuchtreklame. Das Gesicht eines kleinen
Jungen verschwindet fast hinter einer Atemmaske. Das Gesicht ist blass, dunkle
Schatten haben sich unter den Augen gebildet. Daneben in Großbuchstaben:
Zitator:
„Tabakrauch macht deine Kinder krank!“
O-Ton Winston Abascal:
En Uruguay … veinticino años.
Übersetzer:
In Uruguay greifen 80 Prozent der Raucher vor dem 18. Lebensjahr zur ersten
Zigarette. Selten, dass jemand nach dem 20., 25. Lebensjahr erstmals raucht …
Sprecher:
… so Winston Abascal, Direktor im Gesundheitsministerium. Unter den Jugendlichen
in Uruguay werde inzwischen weniger geraucht. Das sei ein Erfolg der AntitabakPolitik. 2003 rauchten noch 30 Prozent der Jugendlichen, 2011 nur noch 11 Prozent.
Sprecher:
Philip Morris protestierte gegen die Tabakpolitik Uruguays, unternahm aber zunächst
keine rechtlichen Schritte, hoffte wohl auf ein Einlenken der Regierung. Doch Tabaré
Vazquez blieb unnachgiebig. Dann, 2009, reagiert der Konzern.
O-Ton Eduardo Bianco:
Philip Morris presenta … y Uruguay.
Übersetzer:
Philip Morris reicht beim Internationalen Schiedsgericht eine Klage ein. Als Basis
dient der bilaterale Investitionsschutz-Vertrag zwischen der Schweiz und Uruguay.
Sprecher:
Der Grund: Philip Morris International Management hat seine Operationsbasis in der
Schweiz.
Als „irrational“ bezeichnete der Konzern in seiner Klageschrift die AntitabakGesetzgebung Uruguays. Die Gesundheitswarnungen müssten 80 Prozent der
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Verpackungsgröße bedecken. Da bleibe zu wenig Platz für Markenzeichen und
Herstellernamen. Das Unternehmen müsste Bilder veröffentlichen, „die Ekel
gegenüber dem Produkt erzeugen“. Dem Unternehmen sei zudem verboten, mehr
als eine Zigarettenmarke anzubieten. Das alles komme einer direkten oder indirekten
Enteignung gleich, ohne eine „angemessene Entschädigung“ zu zahlen.
O-Ton Eduardo Bianco:
Fue dar un escarmiento … el mismo tratamiento.
Übersetzer:
Es sollte ein Exempel statuiert werden – als Warnung an die übrigen
unterentwickelten Länder, auch an die übrige Welt: Wer es wagen sollte, dem
Beispiel Uruguays zu folgen, wird mit derselben Reaktion rechnen müssen.
Sprecher:
Philip Morris hat seine Klage beim ICSID, dem „Internationalen Zentrum zur
Beilegung von Investitionsstreitigkeiten“ in Washington, eingereicht. Es ist das wohl
wichtigste Schiedsgericht für Investitionsstreitigkeiten. Und ist für interessierte
Europäer durchaus ein Begriff – seit den Verhandlungen um das
Freihandelsabkommen zwischen den USA und der Europäischen Union TTIP. Ein
privates Gericht hebele nationale Gesetze aus, kritisieren die Gegner des
Freihandelsabkommens. Es tage zudem geheim und sei keineswegs neutral,
favorisiere es doch Großkonzerne.
Die Bitte um ein Interview mit einem Verantwortlichen von ICSID wurde per Telefon
und Mail mehrfach abgelehnt: „We must decline“, „Wir müssen ablehnen“.
Flugzeug
Sprecher:
Also ein letzter Versuch direkt vor Ort. Flug von Montevideo nach Washington. ICSID
ist bei der Weltbank angesiedelt, zählt zur Weltbankgruppe. Doch am gut bewachten
Eingang blockiert den unerwünschten Journalisten die Frage: Haben Sie einen
Gesprächstermin? Auch in Anwaltskanzleien, die Streitfälle bearbeiten, heißt es
immer wieder höflich, aber bestimmt: nein. Bestenfalls werden Informationen und
Einschätzungen „off the records“ angeboten – also ohne Mikrofon.
Nach unzähligen weiteren Telefonaten erklärt sich Brian Dunning zu einem Interview
bereit. Er ist Rechtsanwalt und Sozius der Anwaltskanzlei „Venable“ in New York.
Zugfahrt USA
Sprecher:
Also Zugfahrt von Washington nach New York. Es sollte sich lohnen. Brian Dunning
hält nicht mit seiner Meinung hinter dem Berg:
O-Ton Brian Dunning:
Because it’s a very … obscure place.
Übersetzer:
Das ist schon ein sehr, sehr obskurer Verein.
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Sprecher:
Der Anwalt hat bereits lateinamerikanische Länder vertreten und ist ein Kenner der
Region und des Schiedsgerichts.
O-Ton Brian Dunning:
The origins of … to harm my investment.
Übersetzer:
Die Anfänge der ICSID-Schiedsverfahren gehen auf die 60er-Jahre zurück, als
Unternehmen aus der entwickelten Welt begannen, stark in aufstrebende Märkte zu
investieren. Eine der größten Ängste der Unternehmen war jedoch: Was passiert,
wenn die Regierung meiner Investition Schaden zufügt?
Sprecher:
Beispielsweise durch Enteignungen, wie nach der Revolution 1959 auf Kuba: Im
Zuge der Landreform waren die US-Zuckerrohrplantagen verstaatlicht worden. Oder
in Chile: dort waren Anfang der 1970er-Jahre unter der Unidad Popular-Regierung
von Salvador Allende Kupferminen, im Besitz von US-Konzernen, enteignet worden.
Tiefes Misstrauen herrschte gegenüber Gerichten in der Dritten Welt. Führende
Wirtschaftsnationen gründeten deshalb 1966 eine zentrale Schiedsstelle: ICSID.
Deutschland ist Gründungsmitglied. Heute gehören über 150 Länder auch aus Afrika,
Asien und Lateinamerika dazu. Oft notgedrungen verzichteten Regierungen in der
Dritten Welt darauf, Streitfälle, so wie es früher üblich war, vor nationalen Gerichten
zu verhandeln.
O-Ton Brian Dunning:
Parallel to … bilateral investment treaties.
Übersetzer:
Parallel zum ICSID-System existieren sogenannte bilaterale
Investitionsschutzverträge.
Sprecher:
Es sind Verträge zwischen Staaten, die Rechte von Investoren im jeweils anderen
Staat festlegen. Sie stellen zudem sicher, dass Streitfälle vor einem ICSID-Tribunal
verhandelt werden. Existierten 1989 lediglich 400 bilaterale Investitionsabkommen,
so ist die Zahl inzwischen weltweit auf über 3000 geklettert.
O-Ton Brian Dunning:
That what they typically do … part of the state.
Übersetzer:
Typisch ist für diese Verträge: Sie gewähren dem Investor bestimmte internationale
Rechte und verlangen vom Staat Verpflichtungen.
Sprecher:
Wird ein Streitfall nicht einvernehmlich beigelegt, so wird ein dreiköpfiges Tribunal
gebildet. Es ist ein ad-hoc-Tribunal, eine Art Privatgericht. Es wird nur für einen Fall
gebildet und danach wieder aufgelöst. Kläger und Beklagter nominieren je einen
Schlichter. Sie müssen sich dann auf eine dritte Person, den Präsidenten des
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Tribunals, einigen. Gelingt das nicht, bestimmt das ICSID den Präsidenten. Das ist
im Falle Philip Morris versus Uruguay geschehen.
Die mangelnde Transparenz werde immer wieder kritisiert, weiß Brian Dunning. Die
Verhandlungen des Schiedsgerichts und der Schiedsspruch selbst bleiben geheim,
es sei denn, die beiden Parteien stimmen einer Veröffentlichung zu. Während die
Verhandlungsunterlagen häufig unter Verschluss bleiben, sind die meisten
Schiedssprüche öffentlich zugänglich.
O-Ton Brian Dunning:
The decision is a decision … in other signatory countries.
Übersetzer:
Der Schiedsspruch ist bindend. Man geht davon aus, dass die Regierung freiwillig
den Schiedsspruch erfüllt, aber sie kann auch gezwungen werden. Im ICSID-Vertrag
sind entsprechende Verfahren vorgesehen, mit dem das Urteil durchgesetzt wird – in
Ländern, die den ICSID-Vertrag unterzeichnet haben.
Sprecher:
Wer sich dennoch weigert, muss damit rechnen, bei der Weltbank in Verruf zu
geraten. Aber nicht nur dort, sondern beispielsweise auch beim Internationalen
Währungsfonds oder bei Rating-Agenturen. Sie beurteilen und bewerten das
Investitionsklima in den Ländern. Eine Weigerung könnte Investoren abschrecken.
Und die internationale Kreditwürdigkeit beschädigen.
Es sind aber nicht nur bilaterale Verträge, die zur Investitionsfalle werden können. In
multilateralen Abkommen, wie Freihandelsabkommen, steht der Investitionsschutz
ebenso im Mittelpunkt. So auch bei den TTIP-Verhandlungen zwischen der
Europäischen Union und den USA. Erfahrungen mit multilateralem Freihandel hat
bereits Mexiko gemacht. Es schloss 1994 mit den USA und Kanada das
Freihandelsabkommen NAFTA ab. Viele US-Konzerne verlagerten daraufhin ihre
Produktion in das mittelamerikanische Niedriglohnland, abgesichert durch
Investitionsabkommen. 2004 erwirkte beispielsweise der US-Konzern Cargill vom
mexikanischen Staat die Zahlung von fast 100 Millionen Dollar. Als Kompensation.
Mexiko hatte eine neue Steuer auf bestimmte Erfrischungsgetränke eingeführt. In
einem anderen Fall haben mexikanische Unternehmer gegen die USA geklagt
mithilfe von ICSID.
O-Ton Sebastián Valdomir:
La mayor cantidad … empresa del Norte.
Übersetzer:
Die meisten Klagen bei ICSID haben jedoch mit einem Staat aus dem Süden und
einem Unternehmen des Nordens zu tun.
Sprecher:
… sagt der Soziologe Sebastián Valdomir, der soziale Bewegungen und Parteien in
Uruguay berät.
Der ganze Prozess kann zwei, aber auch fünf oder sechs Jahre dauern. Uruguay ist
über die Anhörungsphase noch nicht hinausgekommen. Ein Schiedsspruch wird
frühestens 2016 erwartet.
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Die Kosten können deshalb gewaltig steigen: Zinsen auf die Entschädigungssumme,
Gebühren für ICSID, Honorare für Anwaltskanzleien fallen an. Anwälte verlangen bis
zu 1000 Dollar pro Stunde. Kein Wunder, dass zahlreiche Anwälte und Kanzleien
nach Washington übergesiedelt sind, winken dort doch lukrative Geschäfte.
Das angesehene „Transnational Institute“ in Amsterdam hat in einer umfangreichen
Studie das Gebaren der Rechtsbranche untersucht. Demnach stellen oft
konzernnahe Anwaltsfirmen zugleich Richter, Kläger und Verteidiger:
Zitator:
„Die Branche macht Millionenumsätze und wird dominiert von einem kleinen
exklusiven Kreis von Kanzleien und Juristen, deren Verstrickungen und eigene
wirtschaftliche Interessen ihre Fähigkeit, gerechte und unabhängige Urteile zu fällen,
ernsthaft in Frage stellen.“
Sprecher:
Mehrere prominente Schiedsrichter saßen in Aufsichtsräten großer multinationaler
Konzerne, darunter auch solche, die Staaten verklagt haben. Anwaltskanzleien
nutzen jede Gelegenheit, Unternehmen zu Klagen zu ermuntern. Häufig mit Erfolg,
wie die kirchliche Organisation „Brot für die Welt“ in einer Studie feststellt:
Zitator:
„Der starke Anstieg von Investor-Staat-Verfahren in den vergangenen Jahren ist nicht
zuletzt darauf zurückzuführen, dass sich einige global agierende Anwaltskanzleien
auf die sehr lukrativen Investitionsschiedsverfahren spezialisiert haben.“
Sprecher:
Investitionsverträge werden auch als Maßanzüge für Multis bezeichnet.
O-Ton Brian Dunning:
In its early years … resolved or open.
Übersetzer:
In den Anfangsjahren gab es nur wenige Streitfälle. Aber in den letzten zehn Jahren
hat sich die Zahl der Fälle dramatisch erhöht. Es geht heute um mehrere Hundert
Fälle, die geschlichtet, gelöst oder noch offen sind.
Sprecher:
Das ist auch auf politische Entscheidungen in lateinamerikanischen Ländern
zurückzuführen: In den 1990er-Jahren ebnete eine neoliberale Privatisierungswelle
dem Auslandskapital den Weg in Lateinamerika. Fast alle Länder des Subkontinents
schlossen daraufhin erstmals Investitionsschutzabkommen ab und traten ICSID bei.
Heute sind jedoch in zahlreichen Ländern Südamerikas Regierungen im Amt, die
einen alternativen Weg eingeschlagen haben. Mehr Staat ist wieder gefragt.
O-Ton Sebastián Valdomir:
Pero lo que sucede … de los noventa.
Übersetzer:
Aber nun stellt sich heraus, dass sie durch juristische Instrumente, die sie in den
90er-Jahren unterzeichnet haben, in ihrer Bewegungsfreiheit eingeengt sind.
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Sprecher:
Da ist das Beispiel Argentinien. Das Land am Rio de la Plata hat mit über 50 Fällen
zu kämpfen und ist das Land mit den meisten Klagen. Die
Schadenersatzforderungen werden auf bis zu 20 Milliarden Dollar geschätzt. Damit
könnte man jahrelang den Gesundheitsetat Argentiniens finanzieren. Die
Geldforderungen übertreffen häufig die ursprüngliche Investition um ein Mehrfaches,
da auch die zukünftig zu erwartenden Gewinne berechnet werden.
Wahlwerbung Carlos Menem
Sprecher:
Es sind die schlimmen Nachwehen der 90er-Jahre, als der damalige Präsident
Carlos Menem mit der neoliberalen Brechstange regierte. Er privatisierte
Staatsunternehmen wie kein anderer. Große ausländische Konzerne rieben sich die
Hände und rissen sich fast alles unter den Nagel. Abgesichert nunmehr durch
Investitionsschutzabkommen, die bis dahin am Rio de la Plata unbekannt waren.
Menem hatte zudem die Parität zwischen Peso und Dollar per Gesetz angeordnet,
beide Währungen hatten nun den gleichen Wert.
O-Ton Sebastián Valdomir:
Entonces se caye … de dolar.
Übersetzer:
Die Unternehmen kassierten Wasser, Licht und Gas fortan nach dem „Eins zu eins“System. Es war ein phantastisches Geschäft. Doch als dieses System
zusammenbricht, erhalten sie nur noch einen Bruchteil in Dollar.
Demonstration, Proteste, Trommeln
Sprecher:
Endlose Demonstrationszüge wälzten sich zur Casa Rosada, dem
Präsidentenpalast. Die neoliberalen Jahre endeten 2001 in wirtschaftlichem und
sozialem Ruin. Die Gleichsetzung des Dollars mit der einheimischen Währung war
unhaltbar. Der Peso, total überdotiert, wurde drastisch abgewertet. Jetzt protestierten
viele Investoren. Sie argumentierten: Das verletze die vereinbarten Spielregeln, nach
denen wir Geld investiert haben.
O-Ton Guillermo Sullings:
Cuando se comienza … uno a uno.
Übersetzer:
Als die Konvertibilität aufgehoben wurde, klopften die Unternehmen bei der
Regierung an, gewöhnt in Dollar zu kassieren und die Gewinne in Dollar ins Ausland
zu transferieren: Meine Herren, Sie müssen uns das Eins-zu-eins-System
garantieren. Sie wollten natürlich wie früher dieselbe Summe in Dollar, also eins-zueins, an ihre Mutterhäuser überweisen.
Sprecher:
… erklärt Guillermo Sullings, Sprecher der „Humanistischen Bewegung“ in Buenos
Aires.
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Demo Cochabamba
Sprecher:
Die neoliberale Politik führte auch zu Großdemonstrationen im Nachbarland Bolivien.
Ende der 90er-Jahre war die öffentliche Wasserversorgung in Cochabamba
privatisiert worden. „Aguas del Tunari“, ein Firmenkonsortium, an dem auch der USKonzern „Bechtel“ beteiligt war, erhielt eine 40-jährige Monopolkonzession und eine
jährliche Rendite von 15 bis 17 Prozent garantiert.
Zahlreiche soziale Bewegungen schlossen sich zum Protest gegen die Privatisierung
zusammen. Wasser war zu einem teuren, für viele unbezahlbarem Gut geworden.
Vor allem für die arme, überwiegend indianische Bevölkerung.
Demo Cochabamba
Sprecher:
Die Demonstrationen wurden immer heftiger. Cochabamba verwandelte sich in eine
Art Kriegsschauplatz. Polizei und Militärs waren im Einsatz. Schüsse fielen.
O-Ton Sebastián Valdomir:
Organizaciones sociales … en ese país.
Übersetzer:
Soziale Organisationen und Bewegungen sagten sich damals: Dieses privatisierte
Wassersystem – teuer, diskriminierend, rassistisch – darf nicht weiter existieren. Wir
kämpfen dafür, dass dieses Unternehmen das Land verlässt. Das Unternehmen gab
dann auch auf, aber es klagte. Es forderte eine Entschädigung, die das vom
Unternehmen im Lande investierte Kapital um tausend Prozent übersteigt.
Sprecher:
Bolivien war der erste südamerikanische Staat, der unter ihrem Präsidenten Evo
Morales, einem Aymara-Indianer, den ICSID-Vertrag aufkündigte.
Zwei Jahre später sollte Ecuador dem Beispiel Boliviens folgen. Auslöser waren
ausländische Erdölmultis. Ecuador hatte die Konzession für den nordamerikanischen
Konzern „Occidental“ aufgekündigt. Der hatte sich nicht an die Vereinbarungen
gehalten. Das Gesetz ermächtigte Ecuador ausdrücklich, als Strafe die Konzession
zu beenden. Occidental klagte. Das Schiedsgericht in Washington verhängte
daraufhin gegen den ecuadorianischen Staat eine Strafe von 1,7 Milliarden Dollar.
Ecuadors Staatschef Rafael Correa empörte sich:
O-Ton Correa:
Reconoce que … conociera la ley.
Übersetzer:
ICSID erkennt durchaus an, dass das Gesetz korrekt angewendet wurde. Und dass
das Unternehmen sich nicht an das Gesetz gehalten hat. Aber es beurteilt das
Gesetz als zu hart, was die Strafe angeht, das heißt der Entzug der Konzession. Als
ob der Investor nicht vorher wusste, was im Gesetz stand!
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Sprecher:
Der Schiedsspruch war für Ecuadors Regierung eine skandalöse Einmischung in die
inneren Angelegenheiten. Ein privates Schiedsgericht befinde über demokratisch
verabschiedete Gesetze, kritisierte Rafael Correa.
Nicht genug damit, ergänzt Guillermo Sullings von der Humanistischen Bewegung in
Buenos Aires:
O-Ton Guillermo Sullings:
Y el CIADI … poder económico.
Übersetzer:
ICSID verhängt millionenschwere Entschädigungen. Sie sind ein harter Schlag für die
öffentlichen Finanzen. Deshalb wirkt allein schon die Drohung wie eine Bremse und
verleitet dazu, die Interessen einer wirtschaftlichen Macht nicht anzutasten.
[Sprecher:
Ein Beispiel aus Uruguay. Dort wirkte die Klage des Tabakkonzerns abschreckend.
Schiffssirene
Sprecher:
Im Hafen von Montevideo verwaltet der belgische Multi „Katoen Natie“ den
Containerterminal. Der Vertrag hat eine Laufzeit von 30 Jahren. Nach einigen Jahren
erwog die Regierung, einen zweiten Containerterminal einzurichten, denn
Wirtschaftswachstum und damit auch das Frachtaufkommen waren beträchtlich. Die
Antwort des Multis ließ nicht auf sich warten, so Sebastián Valdomir:
O-Ton Sebastián Valdomir:
Si Uds me ponen … decada de los noventa.
Übersetzer:
Wenn ihr einen zweiten Terminal baut, muss ich ja mit diesem konkurrieren. Damit
werden aber die ursprünglichen Bedingungen des gültigen Vertrages zwischen dem
uruguayischen Staat und unserem Unternehmen verändert. Wenn ihr an diesem Plan
festhaltet, wird das Unternehmen möglicherweise den uruguayischen Staat
verklagen. Wir berufen uns dabei auf das Investitionsschutzabkommen zwischen
Uruguay und Belgien-Luxemburg, das in den 90er-Jahren unterzeichnet wurde.
Sprecher:
Die Regierung verzichtete auf einen zweiten Container-Terminal.]
Tabaco, tabaco
Sprecher:
Der Streitfall zwischen Uruguay und „Philip Morris“ hat deshalb grundsätzliche
Bedeutung. Wie weit können und dürfen geschäftliche Interessen und
Investitionsschutz demokratische Entscheidungen beeinflussen oder gar aushebeln?
Sebastián Valdomir:
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O-Ton Sebastián Valdomir:
En este caso … de la población.
Übersetzer:
In diesem Fall geht es um die Gesundheit. Aber es kann auch die
Arbeitsgesetzgebung treffen, die Umweltpolitik, die Industriepolitik, die
Entwicklungspolitik für bestimmte Teile der Bevölkerung.
Sprecher:
Wer den Verbraucherschutz verbessert, Menschenrechte zur Geltung bringt, Banken
reguliert, Sozialgesetze und Arbeitnehmerrechte ausweitet, könnte den Profit von
Konzernen schmälern. Und damit eine Klage vor einem Schiedsgericht riskieren.
Auch wenn eine Regierung vom riskanten „Fracking“ im Bergbau abrücken möchte.
Oder wer wie Deutschland aus der Atomenergie aussteigen will und sich dann eine
milliardenschwere Klage des schwedischen Energiekonzerns Vattenfall einhandelt.
Profit wird so zum höchsten Rechtsgut.
Während Unternehmen gegen Umweltauflagen vor das Schiedsgericht in
Washington ziehen können, bleibt das Staaten und ihren Regierungen bei
Umweltschäden durch Konzerne verwehrt. Sie ziehen den Kürzeren, wie es Ecuador
erfahren musste.
Regenwald
Sprecher:
Dort operierte zwischen 1964 und 1992 der „Texaco“-Konzern, der später von
Chevron aufgekauft wurde. Der Ölmulti hinterließ im ecuadorianischen Urwald eine
Umweltkatastrophe mit den Folgen: Vergiftetes Wasser, Krebs und Missbildungen
unter Indianern. Indianerorganisationen klagten vor einem Gericht in New York, dem
Sitz des Unternehmens. Doch Chevron setzte alle Hebel in Bewegung, den Prozess
nach Ecuador zu verlegen. Wohl in der Hoffnung, mit Schmiergeldern dem Recht ein
wenig nachhelfen zu können. Aber die ecuadorianischen Richter verdonnerten
Chevron zu einer Rekordstrafe von 19 Milliarden Dollar. Chevron weigerte sich zu
zahlen. Der Multi rief das Schiedsgericht der UNO an und berief sich auf das
Investitionsabkommen Ecuadors mit den USA. Das Abkommen war aber erst 1997 in
Kraft getreten, Chevron hatte Ecuador bereits 1992 verlassen. Staatschef Rafael
Correa:
O-Ton Correa:
Y pese a todo … estos atropellos.
Übersetzer:
Trotz alledem hat sich das Gericht für zuständig erklärt. Nicht genug damit kassierte
es das Urteil gegen Chevron in Ecuador. Da hört die Souveränität des Landes auf!
Das ist ein Skandal, zumal da rückwirkend geurteilt wird. Eine derartige
Ungerechtigkeit muss angeprangert werden.
Sprecher:
Ecuador, Bolivien und Venezuela sind aus dem ICSID ausgetreten. Ecuadors
Außenminister Ricardo Patiño hat die Gründung einer Beobachtungsstelle
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angekündigt. Sie soll multinationale Konzerne und Schiedsgerichte unter die Lupe
nehmen.
O-Ton Patiño:
No podemos estar … del Estado etc.
Übersetzer:
Es kann doch nicht angehen, dass sich unsere Völker stets gegen die großen
Interessen mächtiger Unternehmen verteidigen müssen. Dass wir beispielsweise
weiterhin bilaterale Investitionsschutzabkommen unterzeichnen müssen, mithin
Verträge, in denen das Kapital über den Interessen von Menschen, Natur und Staat
steht.
Sprecher:
Ecuador lehnt Investitionsschutzabkommen keineswegs ab, strebt jedoch ein
eigenes regionales Schiedstribunal an. Dass es auch ohne ICSID geht, beweist
beispielsweise Brasilien:
O-Ton Sebastián Valdomir:
Yo como investor … bien.
Übersetzer:
Der Investor hat zwar keine juristische Absicherung durch einen ICSID-Vertrag, aber
er investiert dennoch, denn wenn sein Unternehmen sich an die heimischen Gesetze
hält, kann er auch so gute Geschäfte machen.
Sprecher:
Und gegebenenfalls vor brasilianischen Gerichten klagen. Das bestätigt Eckart Pohl
von der Deutsch-brasilianischen Industrie- und Handelskammer in Sao Paulo:
O-Ton Pohl:
Früher waren deutsche Unternehmen besorgter, inzwischen ist die Rechtsprechung
im Lande so entwickelt worden, dass man hier eigentlich investieren kann, ohne sich
größere Sorgen zu machen.
Restaurant Bacacay
Sprecher:
Uruguay wartet derweil auf den Schiedsspruch aus Washington. Tabaré Vazquez,
erneut zum Präsidenten gewählt, setzt unbeirrt seinen Antitabak-Kurs fort. Das Land
erhält internationale Unterstützung – nicht zuletzt von der WHO, der
Weltgesundheitsorganisation. Die bezeichnet Uruguay als Vorbild, weil sich das
kleine Land nicht von der Industrie einschüchtern lasse.
Restaurant Bacacay
Sprecher:
Die Befürchtung, dass Restaurants und Bars sich leeren würden, hat sich nicht
bewahrheitet. Die Gäste paffen jetzt eben draußen. Der Umsatz des Cafés und
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Restaurants „Bacacay“ in Montevideo ist nicht eingebrochen. Die Besitzerin Regina
Rebamnn kann der Klage von Philip Morris nichts Positives mehr abgewinnen:
O-Ton Regina Rebmann:
Da ist ein Riesenkonzern gegen ein kleines Land, das versucht, seine Kosten im
Gesundheitswesen zu dämpfen. Wir schwimmen ja nicht im Geld. Und wenn ein so
kleines Land so große Anstrengungen macht, was zu verbessern und seine Kosten
zu dämpfen und seine Bevölkerung zu schützen oder aufzuklären, dann finde ich das
einfach nicht richtig.
Tabaco-Lied
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