Vorwort der Herausgeberin

VORWORT
Mit dem Streik der Danziger Werftarbeiter im August 1980 begann die größte
Demokratiebewegung, die es im sowjetischen Herrschaftsbereich vor dem Fall
des Eisernen Vorhangs gegeben hat. Fünfzehn Monate lang kämpfte die unabhängige, sich selbst verwaltende Gewerkschaft Solidarność um gesellschaftliche Reformen, ehe sie mit der Ausrufung des Kriegszustands am 13. Dezember
1981 in die Illegalität getrieben wurde. Das Aufbegehren der Polen gegen
soziale Ungerechtigkeit und Unfreiheit wurde in der internationalen Öffentlichkeit mit angehaltenem Atem verfolgt. Neben Sympathien, Begeisterung
und Hoffnungen weckte es Ablehnung, Ängste und Hass. Auch in den deutschsprachigen Ländern rief es unterschiedliche Reaktionen hervor. Während die
Regierung der DDR offen gegen Solidarność auftrat, eine militärische Intervention in Polen forderte und vorbereitete, sah die Regierung der Bundesrepublik
die polnische Demokratiebewegung als einen Störfaktor für ihre Ost- und
Deutschlandpolitik an. Ähnlich wie sie hielten sich auch die Regierungen
Österreichs und der Schweiz mit Stellungnahmen zu den Ereignissen in Polen
zurück. Die Erfahrungen des Aufstands vom 17. Juni 1953 in der DDR, des
Ungarnaufstands von 1956 und des Prager Frühlings von 1968 ließen Schlimmes befürchten: Die Sowjetunion war sicherlich nicht bereit, auf Dauer eine
Demokratisierung in Polen zuzulassen. So war der wichtigste Grund für die
Zurückhaltung vieler westlicher Politiker die Angst vor einer militärischen
Intervention des Warschauer Pakts (das Militärbündnis der sozialistischen
Länder) und vor einer daraus folgenden Zuspitzung der internationalen Lage.
Schriftsteller müssen sich nicht mit den Regierenden identifizieren, sondern
haben die Möglichkeit, unabhängig von ihnen und vom medialen Mainstream
ihre Stimme zu erheben. Sie können politische Entscheidungen aus der Distanz
beurteilen und die Konflikte zwischen Macht, Realpolitik und Moral beim
Namen nennen. Die hier vorliegende Anthologie dokumentiert, wie deutschsprachige Autoren diese Möglichkeit wahrnahmen, als die polnische Gesellschaft in den 1980er Jahren um soziale Gerechtigkeit und demokratische
Grundrechte kämpfte. Soviel sei vorweggenommen: Das Schweigen überwog.
Aber es gab dennoch Schriftsteller, die sich mit dem Kampf der polnischen
Gesellschaft solidarisierten und ihn manchmal sogar direkt unterstützten. Die
meisten von ihnen hofften, dass es durch Solidarność zu einer Demokratisierung im gesamten sozialistischen Lager kommen würde. Einige wenige dagegen
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sahen in der Entstehung der freien Gewerkschaft bereits damals den Anfang
vom Ende des sozialistischen Staatensystems.
Die Anthologie fächert die Vielfalt der Stimmen deutschsprachiger Schriftsteller zu Solidarność auf, strebt also Repräsentativität hinsichtlich der Perspektiven, aufgeworfenen Fragen und Argumentationen an. Weitere Kriterien
der Textauswahl sind die Intensität der Auseinandersetzung mit den Ereignissen in Polen, deren Kenntnisgrad und die persönliche Betroffenheit des Autors.
Der Titel des Buches wurde dem Text „Fortschritt, unverhofft oder: Einmischung der Dialektik“ entlehnt, den Volker Braun in der westdeutschen
Ausgabe der „Berichte von Hinze und Kunze“ 1983 in Frankfurt am Main
veröffentlichte (die zensierte DDR-Ausgabe erschien ohne diesen Text). Die
„Einmischung der Dialektik“ lässt sich auf die Bedeutungsumkehrung beziehen, die Schlüsselbegriffe der sozialistischen Ideologie wie „revolutionär“ und
„Fortschritt“ durch Solidarność erfahren haben: In der Propaganda der DDR
als „antisozialistisch“ bezeichnet, hätten laut Volker Braun gerade die Streiks
und Proteste der polnischen Arbeiter zu einer Verbesserung des Sozialismus
führen können. Die Lesart des Titels „Fortschritt, unverhofft“ muss sich aber
nicht nur auf diesen engeren Kontext des Staatssozialismus beschränken. Ungewöhnlich und oftmals sicherlich auch unbegreiflich war für Beobachter der
Solidarność die Verbindung des Kampfes um Freiheit und Demokratie mit dem
in der polnischen Gesellschaft tief verankerten und im Westen oftmals als
rückständig angesehenen Katholizismus. Kann das Christentum zu einer Quelle für das Ringen um gesellschaftlichen Fortschritt werden? Wie in diesem Fall
unterlief die polnische Revolution so manches als selbstverständlich geltende
Urteil.
Die Anthologie präsentiert die Gedichte, Lieder, Miniaturen, Kommentare,
Erzählungen, Roman- und Tagebuchauszüge in chronologischer Abfolge.
Eingeleitet wird sie im Prolog mit einem Kapitel aus Günter Grass’ Roman
„Der Butt“ (1977). Es erzählt im Gewande literarischer Verfremdung von den
Protesten der Danziger Werftarbeiter im Dezember 1970, also von einem
Ereignis, ohne das der Sieg vom August 1980 nicht denkbar gewesen wäre. Der
erste Teil der Sammlung mit dem Titel „Fortschritt, unverhofft“ enthält Äußerungen zum Streik in Danzig (Gdańsk) und zur Solidarność 1980/81. Der
zweite Teil, überschrieben mit „Der 13. Dezember“, bietet Stimmen zum
Kriegsrecht 1981–1983. Innerhalb dieser beiden Kapitel sind die Texte alphabetisch nach den Namen der Autoren geordnet. Die Zusammenstellung im
dritten Teil „Polnische Aussichten“ weicht von diesem Prinzip ab und richtet
sich nach der Chronologie der thematisierten Ereignisse zwischen 1984 und
1989/90. Die Publikation folgt der Rechtschreibung der Erstausgabe des jewei-
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ligen Textes einschließlich der Schreibung polnischer Sonderzeichen; Fehler in
identifizierbaren polnischen Namen wurden allerdings korrigiert.
Die Geschichte der Solidarność ist im Laufe von mehr als drei Jahrzehnten
zum Gegenstand zahlreicher historischer und soziologischer Studien geworden,
sie ging in Schulbücher ein und wird heute in Danzig in einem Museum vermittelt. Der auf die Anthologie folgende Text „Hoffnungen und Ängste.
Deutschsprachige Schriftsteller und die Solidarność“ versucht, anhand der
Forschungsliteratur einige grundlegende Fragen zu beantworten: Was war
Solidarność? Wie ist sie entstanden, was wollte und was erreichte sie? Worin
bestand ihre internationale Ausstrahlungskraft? Und warum eigentlich sollten
sich deutschsprachige Schriftsteller für sie interessieren? Unter welchen historischen Rahmenbedingungen schrieben die Autoren ihre literarischen und
publizistischen Texte? Darüber hinaus bietet der Beitrag Kommentare zu den
ausgewählten Texten und Informationen über das Verhältnis ihrer Autoren zur
polnischen Demokratiebewegung.
Als ich vor mehr zwanzig Jahren begann, Äußerungen deutschsprachiger
Schriftsteller zur Solidarność zusammenzutragen, standen mir die Polenlieder
vor Augen, die nach dem polnischen Aufstand von 1830/31 in Deutschland
geschrieben wurden. Ich war fest davon überzeugt, dass auch zu Solidarność
Texte entstanden sein mussten. Diese Annahme hat sich nicht nur recht schnell
bestätigt, es stellte sich sogar heraus, dass einige Schriftsteller direkt an die Zeit
des Völkerfrühlings und der frühliberalen Polenfreundschaft anknüpften. Für
sie hatte der berühmte Satz Georg Herweghs von 1848, nach dem es kein freies
Deutschland ohne ein freies Polen und umgekehrt kein freies Polen ohne ein
freies Deutschland geben könne, in den 1980er Jahren erneut an Aktualität
gewonnen. Doch es waren nur wenige, die in jener Zeit ein Junktim zwischen
den nationalen Interessen von Deutschen und Polen sahen.
Abschließend möchte ich den Autoren und Verlagen für das Einverständnis
zum Abdruck der ausgewählten Texte danken. Dem Willy Brandt Zentrum für
Deutschland- und Europastudien der Universität Wrocław sei für die Aufnahme des Bandes in die Buchreihe „Studia Brandtiana“ gedankt, der Direktorin
des Instituts für Germanistik und der Herder-Stiftung der Universität Gdańsk
für die Mitfinanzierung der Abdruckhonorare und dem fibre Verlag für die
gute Zusammenarbeit bei der Vorbereitung der Anthologie.
Marion Brandt
Gdańsk, im Frühjahr 2016