Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Schamrot - Eine Kulturgeschichte der
Peinlichkeit
Von Patrick Batarilo
Sendung: Freitag, 22. Juli 2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Kölbel
Regie: Günter Maurer
Produktion: SWR 2015
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MANUSKRIPT
Musik
Erzählerin:
Szenen aus der Welt der Peinlichkeit
Zitator:
Wir hatten gerade einen neuen Mitarbeiter. Der Mann benahm sich von Anfang an
absolut arrogant – und gleichzeitig verblüffend inkompetent. Eines Tages schrieb ich
einer befreundeten Kollegin eine Mail, in der ich mich über den neuen Kollegen
beschwerte – zugegebenermaßen ziemlich genüsslich und gemein. In meinen
Gedanken war ich so sehr bei dem Gegenstand meines Spotts, dass ich leider in das
Adressfeld der Mail nicht die Adresse meiner Freundin, sondern die des Kollegen
eintrug. Als ich den Fehler bemerkte, war es schon zu spät: Die Mail war soeben an
den Kollegen geschickt worden, der mir noch dazu im Büro direkt gegenübersaß. So
konnte ich sehen, wie er die Mail Zeile für Zeile las.
Ansage:
Schamrot – Eine Kulturgeschichte der Peinlichkeit. Eine Sendung von Patrick
Batarilo.
O-Ton 01 Stephan Marks:
Hello darkness, my old friend. (lacht)
Erzählerin:
Peinlichkeit. Scham.
O-Ton 02 Stephan Marks:
Scham gehört zum Menschsein, ein Leben ohne Scham ist nicht vorstellbar.
Erzählerin:
Peinlichkeit wird heute oft als Fluch empfunden – ein viel zu gut antrainierter
moralischer Reflex, das Korsett unseres Über-Ichs.
O-Ton 03 Stephan Marks:
Dieser Satz "Lieber tot als rot", der wurde früher politisch interpretiert. Aber wenn
man rot als Farbe der Scham nehmen, dann gilt häufig: Lieber tot als die Scham
länger auszuhalten.
Erzählerin:
Doch was ist Peinlichkeit überhaupt – die eigene, aber auch die der anderen?
O-Ton 04 Jörg Wettlaufer:
Das ist kulturell definiert, wofür ich mich schämen muss, was mir peinlich ist, das ist
absolut kein Naturgesetz, das ist wirklich jeweils von der Gesellschaft permanent neu
definiert. Es werden diese Grenzen auch verschoben.
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Erzählerin:
Warum gibt es Peinlichkeit und Scham – und wozu dienen uns diese Gefühle
möglicherweise?
O-Ton 05 Jörg Wettlaufer:
Achselhaarrasur bei Frauen ist heute absoluter Standard. Vor den 60er, 70ern hat da
keiner drüber geredet. Wer’s nicht tut, der soll sich schämen. Der Konformitätsdruck
ist da enorm.
Musik
Zitator:
Es war ein Stahlknopf irgendwo
Der ohne Grund sein Knopfloch floh.
(Vulgär gesprochen: Es stand offen.)
Ihm saß ein Fräulein vis-à-vis.
Das lachte plötzlich: Hi hi hi.
Da fühlte sich der Knopf getroffen
Und drehte stumm
Sich um.
Solch Peinlichkeiten sind halt nur
Die schlimmen Folgen der Natur.
Erzählerin:
Gedicht von Joachim Ringelnatz.
O-Ton 06 Jörg Wettlaufer:
Da wissen wir inzwischen sehr genau, dass die Schamreaktion überall auf der Welt
bei allen Völkern sich wiederfindet. Das Erröten ist universell verbreitet. Es wurde
eine zeitlang vermutet, dass sich Afrikaner nicht richtig schämen können, weil man
das nicht sieht. Aber man kann zeigen, dass die dunkle Farbe sich noch stärker
verdunkelt und in den afrikanischen Sprachen ist das auch glasklar nachzuweisen,
dass die auch dafür entsprechende Begrifflichkeiten haben und auch das Erröten
wahrnehmen, nur wir sehen das vielleicht nicht. Von daher brauchen wir gar nicht
versuchen, irgendwelchen Menschengruppen mehr oder weniger Schamgefühl
anzudichten, Scham ist etwas universell Menschliches. Alle Menschen können es
empfinden. Also die Fähigkeit dazu ist allgemein.
Erzählerin:
Jörg Wettlaufer arbeitet als Historiker für die Akademie der Wissenschaften in
Göttingen, er forscht unter anderem zu Scham und Peinlichkeit. Kulturen, die frei von
Schamgefühlen wären, sagt er, gibt es nicht – auch nicht in Afrika oder auf den
Südseeinseln, zu denen die Entdecker vergangener Jahrhunderte sehnsuchtsvoll
aufbrachen. Oft mit Bildern schamloser Völker im Kopf.
O-Ton 07 Jörg Wettlaufer:
Auch in völliger körperlicher Nacktheit gibt es immer noch Schamgefühl. Ein gutes
Beispiel sind die Bauchschnüre. Manch einer trägt nur eine Schnur um den Bauch,
weiter nichts, also kein Lendenschurz oder sonst etwas. Man schämt sich halt, wenn
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man diese Schnur ablegt. Es ist menschlich, dass Körperteile schambesetzt sind,
aber nicht welche.
Zitator:
Solch Peinlichkeiten sind halt nur
Die schlimmen Folgen der Natur.
Erzählerin:
Lange genug haben wir versucht, uns mit allen Mitteln von Peinlichkeit und Scham zu
befreien. In den meisten Fällen war das Resultat – mehr Peinlichkeit. Man denke nur
an die ausgehängten Klotüren der 68er. Der offene Blick ins Bad brachte alles zu
Fall, nur nicht die Scham.
O-Ton 08 Stephan Marks:
Wir tun ja so, als dürfte die Scham nicht sein. Wer sich schämt, schämt sich doppelt,
weil er sich schämt.
Erzählerin:
Stephan Marks ist Sozialwissenschaftler. Er beschäftigt sich mit Scham und
Peinlichkeit in der modernen Gesellschaft und gibt Seminare zum Thema Scham.
O-Ton 09 Stephan Marks:
Das ist etwas, was wir lernen werden und lernen müssen, die Scham zu akzeptieren,
so wie unsere Gesellschaft vor wenigen Jahrzehnten angefangen hat zu lernen, dass
Trauer zum Leben gehört, so gehört Scham eben auch dazu, und das werden wir
lernen. Weil wenn wir diese Scham wegmachen, da vergiften wir unser eigenes
Leben und vergiften unsere zwischenmenschlichen Beziehungen.
Musik
O-Ton 10 Stephan Marks:
Scham hat auch grundlegend wichtige Aufgaben, sie reguliert Nähe und Distanz,
reguliert das, was wir Anstand oder Peinlichkeit nennen, reguliert moralisches
Verhalten, ein Leben ohne Scham wäre katastrophal für unsere
Zwischenmenschlichkeit.
Erzählerin:
Peinliche Momente sind, sagt Stephan Marks, für unsere Entwicklung wichtig, so
unangenehm sie auch sein mögen. Doch um richtig mit Peinlichkeit und Scham
umzugehen, müssen wir erst einmal lernen, was sich hinter diesen Gefühlen verbirgt.
Wichtig genug ist es. Wie hat es der französische Philosoph Henri Bergson
ausgedrückt:
Zitator:
Verletzungen der Eitelkeit sind nicht wirklich ernst und heilen doch nie.
Erzählerin:
Und Friedrich Nietzsche nannte als Ziel:
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Zitator:
Was ist das Siegel der erreichten Freiheit? – Sich nicht mehr vor sich selber
schämen.
Musik:
"Shame, shame, shame, shame on you"
O-Ton 11 Stephan Marks:
Im Zustand von akuter Scham rutschen wir von den höheren Hirnfunktionen in das
sogenannte Reptiliengehirn. Höhere Hirnfunktionen, das sind Mathe, Physikformeln,
moralisches Bewusstsein, anständiges Benehmen, alle diese wunderbaren Sachen,
die wir im Lauf des Lebens lernen, und es ist gut, dass wir die haben. Aber im
Zustand von akuter Sham sind die nicht verfügbar, weil das sogenannte
Reptiliengehirn übernimmt. Hier geht es nur ums nackte Überleben. Weg von der
Angstquelle, durch Angreifen, Verstecken oder Fliehen. Deshalb können wir auch
nicht klar denken.
Erzählerin:
Wer Peinlichkeit verstehen will, muss sich mit Scham überhaupt auseinandersetzen.
Beide haben dieselbe Wurzel.
O-Ton 12 Jörg Wettlaufer:
Scham ist ein wesentlich tiefergehendes Gefühl als Peinlichkeit. Wenn man
beschämt wird, dann trifft das meistens die ganze Person, die Persönlichkeit des
Menschen. Peinlichkeit ist eher an der Oberfläche. Das ist etwas, was man nicht tut
in einer bestimmten Gesellschaft, in einem bestimmten Kontext. Das würde ich als
graduelle Abstufung sehen, die aber qualitativ schon einen Unterschied macht. Denn
eine Beschämung kann sehr erste Konsequenzen haben, beim Gefühl der
Peinlichkeit ist es doch relativ schnell wieder verfolgen und man kann wieder in der
Gruppe mitmachen und kann vielleicht auch darüber lachen und sagen, naja, das
war jetzt ein Missgeschick.
Musik Reinhard Mey:
"Ist mir das peinlich", Auszug:
Was ich sage, was ich anfang‘, ich mach‘ mir nur Schererein,
Und wo immer auch ein Fettnapf steht, ich tappe voll hinein,
Mach unpassende Bemerkungen mit sicherem Instinkt.
Situationen gibt‘s, da wünsch‘ ich, dass die Erde mich verschlingt.
Wenn sich wer wo falsch benimmt, bin ich‘s wahrscheinlich,
Und dann steh‘ ich da und sag‘: "Ist mir das peinlich."
Erzählerin:
Peinlichkeit und Scham haben mit dem Selbstbild zu tun – und dem Vergleich mit
dem Fremdbild, dem Blick anderer Menschen auf uns. Erspart bleibt Peinlichkeit
daher eigentlich nur einem einzigen Menschen-Typ – und zwar denen, die nicht
imstande sind, sich selbst in den Augen der anderen vorzustellen.
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O-Ton 13 Stephan Marks:
Die eigentliche Scham beginnt ja in dem Moment, in dem sich eine Hirnregion
entwickelt, die uns befähigt zur Selbstobjektivierung. Das zeichnet uns als Menschen
aus, dass wir fähig sind, wie von außen praktisch auf uns selbst zu blicken: Uh, das
habe ich getan, so einer bin ich. Bei Adam und Eva ist das entwickelt als dieser Blick,
oh wir sind ja nackt – und dann schämen sie sich.
Erzählerin:
Peinlichkeit ist also quasi ein anerkanntes Unterscheidungsmerkmal des
Menschseins. Körperliche Zeichen, die der menschlichen Verlegenheit ähneln, gibt
es allerdings durchaus auch bei Tieren. Etwa wenn das Tier den Blick abwendet oder
sich klein macht. Auch tierische Haut kann sich rot verfärben. Bei den Primaten, etwa
den Schimpansen, dient die "Proto-Scham", eine Art Vor- oder Urform der Scham, in
diesem Sinne dazu, soziale Hierarchien zu festigen.
O-Ton 14 Jörg Wettlaufer:
Es gibt Überlegungen und recht gesicherte Ergebnisse, dass das Schamgefühl im
Grunde auf ein älteres Gefühl der Beschwichtigung, eine Aktion der Beschwichtigung
zurückgehen könnte, das man auch bei einigen Primaten feststellen oder
beobachten kann. Wo es sehr wichtig ist, dass rangniedere Tiere in der Lage sind,
Aggressionen von einem ranghöheren zu beschwichtigen, also möglichst
Verletzungen zu vermeiden, und beide sind ja darauf eingespielt. Bei bestimmten
Schimpansen könnte man das beobachten. Die versuchen halt auch wie die Hunde,
wenn die sich hinlegen und sagen: "Hier, beiß mich", damit beruhigen sie halt oder
wehren den tatsächlichen Kampf ab oder versuchen zu beschwichtigen.
Erzählerin:
Aus evolutionsbiologischer Perspektive hat die Scham beim Menschen aber neben
der Hierarchiebestätigung noch eine andere wichtigere Funktion angenommen. Die
Scham dient der Anpassung des Einzelnen an die Gruppe, in der er lebt, und an die
Maßstäbe, die in ihr gelten. Scham motiviert den Einzelnen dazu, mit seinen
Mitmenschen zu kooperieren. Sie sorgt dafür, dass Menschen vorhersehbar handeln.
Zumindest in der Regel.
Musik
Erzählerin:
Szenen aus der Welt der Peinlichkeit:
Zitator:
Meine Tochter war damals 17 Jahre alt. Eines Nachmittags rief jemand rief für sie an,
eine Schulfreundin. Meine Tochter war gerade in ihrem Zimmer. Mit ihrem neuen
Freund. Ich klopfte. Nachdem ich so etwas wie ein zustimmendes Murmeln gehört
hatte, stieß ich die Tür auf und mit dem Telefon in der Hand betrat ich das Zimmer.
Dort angekommen genügte ein Blick in Richtung Bett, um zu sehen, dass meine
Tochter gerade Sex hatte. Statt fluchtartig kehrtzumachen, ging ich aus irgendeinem
Grund noch einen Schritt zum Bett hin und reicht meiner Tochter das Telefon.
Immerhin nicht ohne ein Wort der Erklärung: "Für dich." Es war für uns beide ein
unheimlich peinlicher Moment.
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O-Ton 15 Maria Gingelmeier:
Ich glaube, dass es gut ist, wenn die Kinder ein gesundes Schamempfinden haben,
und ich denke, es wäre schwierig, wenn die Kinder kein Schamempfinden haben,
das wäre quasi die Gefahr, dass die Kinder schamlos sind. Das würde heißen, dass
die Kinder wenig Struktur haben.
Erzählerin:
Maria Gingelmeier ist Psychotherapeutin, sie arbeitet mit Kindern und Jugendlichen.
O-Ton 16 Maria Gingelmeier:
Manche Eltern überfordern ihre Kinder. Sie rügen ihre Kinder, bestrafen sie. Die
Kinder ziehen sich zurück und sind beschämt. Wenn die Eltern die Defekte
rausgreifen, dann kann das Kind eine pathologische Scham entwickeln. Es schämt
sich dann, es kann eine Scham entwickeln, dass es entweder zu viel Scham oder zu
wenig Scham hat, wenn es zu viel Scham hat, bedeutet es, dass es in eine
Hemmung übergeht, wenn es zu wenig Scham hat, bedeutet es, dass es schamlos
ist.
Erzählerin:
Kinder, so zeigt die Säuglingsforschung, brauchen den Blick der Mutter fast mehr
noch als ihre Brust. Das Kind will sich im Blick der Mutter spiegeln, etwas über sich
selbst erfahren. Es will erleben, dass jemand anderes zuverlässig für es da ist, auf
seine Bedürfnisse achtet und auf es reagiert. Es sucht nach dem "liebevoll
spiegelnden Glanz im Auge der Eltern", wie es der österreichisch-amerikanische
Psychologe Heinz Kohut ausdrückt. Scheitern diese Bemühungen, werden Kinder
Urerfahrungen von Scham machen – zum Beispiel wenn sie mit gewisser
Regelmäßigkeit Ablehnung oder Vernachlässigung erleben müssen. Natürlich hat
das Kind in diesem Alter noch kein reflektiertes Selbstbild. Aber es macht
Erfahrungen von Verlegenheit, von Missbehagen, von missachteten Bedürfnissen,
von verletzten Grenzen – auf die es schon als Säugling reagiert, indem es zum
Beispiel den Blick abwendet, den Kopf dreht oder versucht, sich zu entfernen.
O-Ton 17 Maria Gingelmeier:
Für eine gesunde Schamerziehung ist es wichtig, dass die Erzieher den Kindern
Grenzen setzen, damit sie mit einem gesunden Schamempfinden ein Selbst
entwickeln und mit integrierbaren Grenzen ihre Stärken zeigen können: "Schau, wie
groß und wie toll ich bin". Ihre Schwächen zulassen können: "Ich bin noch so klein
und unselbstständig." Und ihnen dabei helfen können, diese Schwächen
umzuformen und zu integrieren. Und Erzieher und Eltern sollten dabei ein Stück weit
auch die Schwächen relativieren.
Erzählerin:
Scham hat dabei durchaus auch eine positive Rolle, solange sie maßvoll erfahren
wird. Zum Beispiel, weil das Kind über Schamempfindungen früh lernt, seine
körperlichen Grenzen abzustecken, Grenzübergriffe wahrzunehmen und
abzuwehren.
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O-Ton 18 Maria Gingelmeier:
Eine gesunde Scham ist immer wichtig und das Ziel der Schamerziehung sollte auch
sein, dass die Kinder am Ende der Kindheit, am Anfang vom Erwachsenenleben
gesunde Scham empfinden. Dass sie wissen, wer sie sind, und sich in diesen
Grenzen wohl und sicher fühlen.
Musik:
"Shame, shame, shame, shame on you"
Erzählerin:
Peinlichkeit erzieht. Nicht nur in der Familie, auch in der Gesellschaft. Der
französische Philosoph Henri Bergson hat eine ganze Theorie des Humors auf dieser
Art des Lachens aufgebaut: Lachen im Dienst der sozialen Kontrolle, der
belehrenden Erniedrigung vor aller Augen. Lachen als die Rache der Gesellschaft,
wie Bergson schreibt.
O-Ton 19 Stephan Marks:
Hinter dem Bedürfnis, nicht peinlich zu sei, so zu sein, dass ich nicht als fremd,
komisch ausgegrenzt werde, steckt das Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Und in vielen
Kulturen ist das der oberste Wert. Deshalb auch die Beobachtungen von
Völkerkundlern, dass bei sogenannten primitiven Stämmen, wenn da ein
nichtkonformes Stammesmitglied des Stammes verwiesen wird, manchmal sterben
die, kerngesund. Übertragen auf Heute: Mobbing, Ausgrenzung im Betrieb, das kann
bei den Opfern lebensbedrohliche Herzkrankheiten erzeugen. So stark ist das
Bedürfnis nach Zugehörigkeit. So zu sein, dass ich nicht als komisch fremd
ausgegrenzt werde.
Erzählerin:
Weil wir uns nicht schämen wollen, spielen wir nach den Regeln der Gesellschaft –
selbst wenn uns niemand zusieht. Dieser erzieherische Aspekt der Beschämung hat
in der abendländischen Geschichte Tradition.
O-Ton 20 Jörg Wettlaufer:
Die Idee ist, den Täter zu beschämen und so in ihm selber das Schamgefühl
hervorzurufen. Das ist die aus der kirchlichen Tradition stammende Vorstellung, dass
in der Bußleistung die Umkehr kommt. Die Scham, die man bei der Buße empfindet,
soll selber schon reinigenden Charakter haben.
Erzählerin:
Der Historiker Jörg Wettlaufer hat sich auf die Tradition der Schand- und
Schamstrafen im Mittelalter spezialisiert.
O-Ton 21 Jörg Wettlaufer:
Ein vielleicht weniger bekanntes Beispiel ist das Tragen des Schandsteins. Eine
reine Frauenstrafe am Anfang, es geht dabei um das Problem der üblen Nachrede.
Im hohen Mittelalter wurde üble Nachrede als sehr schweres Vergehen betrachtet,
die zu solchen Konsequenzen führte wie das Schandsteintragen. Konkret geht es
darum, dass eine Frau, die durch Zeugen überführt wurde, solche üble Nachrede
getätigt zu haben, schlecht über die Nachbarn sprechen, Klatsch und Tratsch am
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Marktbrunnen und im Waschhaus. Dieses Schandsteintragen spielte sich so ab, dass
eine Frau einmal quer durch die Stadt, von einem Stadttor zum anderen, einen
teilweise recht schweren Stein tragen musste, der konnte 10, 20 Kilogramm schwer
sein.
Erzählerin:
Wie heutzutage auf bestimmten Seiten des Internets, so gehörte auch damals, im
Mittelalter, zur effektiven Beschämung die Anwesenheit anderer Menschen – virtuell
oder real. Im Falle des mittelalterlichen Prangers sehr real.
O-Ton 22 Jörg Wettlaufer:
Es gab diesen typischen englischen Typus, da hatte man beide Hände in einem
Holzblock fixiert, den Kopf in der Mitte. In Deutschland war es eher üblich, so ein
Holzpfahl oder Steinsäule zu errichten und daran ein Halseisen um den Hals zu
befestigen, so dass man sich nicht entfernen konnte. Dann konnte das natürlich sehr
unangenehm werden, wenn man, wie aus einigen Quellen überliefert, mit Eiern
beworfen wurde. Die Beziehung zwischen Publikum und Straftäter war schon sehr
ausgeprägt. Die Leute haben sich beteiligt durch Schauen, Gaffen, Bewerfen mit
verdorbenem Obst und Lebensmitteln und solchen Dingen. Es sind auch Fälle
überliefert, wo man den am Pranger Ausgestellten beschützen musste, sonst hätte
sich diese "Interaktivität" leicht in eine Todesstrafe umwandeln können.
Musik
Erzählerin:
Das Mittelalter ist lange vorbei. In den Schulen werden keine Eselsmasken mehr
aufgesetzt, auf den Marktplätzen sieht man keine Pranger mehr. Doch auch
heutzutage gibt es Formen der öffentlichen Beschämung. Sie haben Ihre Haustiere
im Wald ausgesetzt? Das Autoradio zu laut aufgedreht? Oder gar in der Öffentlichkeit
uriniert? Und fühlen sich nun allein gelassen mit Ihrer Scham? Zumindest wenn
Ihnen Ihr kleines Vergehen bei einem Besuch in den USA unterlaufen ist, können Sie
auch heute noch öffentlich gedemütigt werden. Genauer: wieder.
O-Ton 23 Jörg Wettlaufer:
In den USA ist das der Fall, wo also beim öffentlichen Urinieren Leute die Straße
wieder reinigen müssen oder bei Ladendiebstahl sich vor das Kaufhaus stellen
müssen mit einem Schild: Ich bin Ladendieb, ich habe gestohlen. Das kommt dann
schon sehr nahe an die mittelalterliche Idee der von außen herbeigeführten
Beschämung.
Erzählerin:
Es gibt sogar eine Theorie dazu: das "reintegrative shaming", das resozialisierende
Beschämen. Die Grundidee: Wer sich nicht genügend schämt, wird rückfällig. Noch
ein Beispiel?
Zitator:
Richter Michael Cicconetti aus Ohio verurteilte eine Frau zu einer Nacht allein im
Wald. Sie hatte dort 35 Kätzchen ausgesetzt, jetzt sollte es ihr genauso ergehen.
Einen Mann, der einen Polizisten als Schwein beschimpft hatte, schickte er auf einen
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Spaziergang durch den Ort. In Begleitung eines Schweines. Und mit einem Schild,
auf dem in Bezug auf das Tier zu lesen war: "Dies ist kein Polizist."
Musik
Erzählerin:
Peinlichkeit – global.
Zitator:
In England vermeidet man das Auspacken von Geschenken vor anderen Leuten.
Erzählerin:
Das wäre in Deutschland niemandem peinlich – der chinesische Umgang mit
Geschenken dagegen vielleicht schon.
Zitator:
Dort sollten auf jeden Fall die Preisschilder drauf bleiben. Man will schließlich zeigen,
was man investiert hat!
Erzählerin:
In manchen afrikanischen Ländern fasst man sich während der Unterhaltung an den
Händen oder verschränkt die Beine miteinander.
Zitator:
Das wäre in einem Stuttgarter Café kaum möglich.
Erzählerin:
Sollen wir den Teller leer essen – oder eben nicht?
Zitator:
Das kann in Deutschland oder Frankreich zu Peinlichkeit führen – je nachdem, wofür
der leere Teller steht: für peinliche Verfressenheit oder kulinarische Pflichterfüllung.
Erzählerin:
Dann ist da noch der Satz:
Zitator:
Sie sind aber schön fett geworden!
Erzählerin:
Zumindest in manchen asiatischen Ländern muss es Ihnen nicht peinlich sein, wenn
Sie Ihr Gastgeber derart begrüßt.
Zitator:
Es ist als Kompliment gedacht – in einer Gesellschaft, die Hunger noch kennt.
O-Ton 24 Stephan Marks:
Die Fähigkeit zur Scham gehört zu unserer menschlichen Grundausstattung, aber
wofür wir uns schämen, das hängt davon ab, in welcher Familie, welchem Umfeld,
welcher Gesellschaft, mit welchen Werten wir aufwachsen.
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O-Ton 25 Jörg Wettlaufer:
Beispiel Japan, es ist völlig normal dort, seine Suppe zu schlürfen. Es ist sogar ein
Zeichen des Wohlgeschmacks. Wenn ich das hier in Deutschland mache, guckt man
mich von der Seite schief an.
O-Ton 26 Stephan Marks:
Bei den Tuareg in Nordafrika tragen die Männer traditionell einen Gesichtsschleier
und wenn ein traditioneller Tuareg-Mann in der Öffentlichkeit den Schleier abnehmen
muss, dann ist das so, wie wenn wir nackt rumlaufen müssen.
Atmo:
Jörg Wettlaufer am Computer, sucht Webseiten zum Thema Internetpranger
O-Ton 27 Jörg Wettlaufer:
Im Mittelalter auf dem Markplatz, wo man drei Stunden am Pranger stand und dann
war es vorbei – so ein Video aus You tube ist schwer zu entfernen, wenn es einmal
im Internet unterwegs gewesen ist.
Erzählerin:
Im Internet bleiben Scham und Peinlichkeit heute erhalten – unabsehbar lange. Zum
Beispiel in Portalen, wo man Menschen aus dem eigenen Umfeld denunzieren kann,
von der Ex-Freundin bis zum vermeintlich gefährlichen Nachbarn, wie bei dem Portal
"Rotten Neighbour". Oder auf Facebook, wenn dort Jugendliche zum Spaß Bilder
hochladen, die ihre Freunde betrunken oder gar nackt zeigen.
O-Ton 28 Jörg Wettlaufer:
Die Opfer, sag' ich in dem Fall, können da sehr schwer traumatisiert sein, Scham
empfinden. Das kann ernsthafte Konsequenzen bis hin zum Selbstmord nach sich
ziehen. Alle Eltern und Lehrer sind aufgerufen, sich da Gedanken zu machen, wie
man damit umgeht. Wie man bei Kindern, die heute ja schon in einem relativ frühen
Alter über diese Medien verfügen, ein Bewusstsein dafür schafft, dass diese Art von
Beschämung ernsthafte Konsequenzen für die Beschämten haben kann. Und dass
es sich nicht um einen Spaß oder Streich handelt, sondern um eine Verletzung der
Persönlichkeit.
Erzählerin:
So oft heute über die zunehmende Schamlosigkeit unserer Zeit geklagt wird –
tatsächlich sind Scham und Peinlichkeit in unserer Gesellschaft so präsent wie eh
und je. Nicht nur im Internet.
O-Ton 29 Stephan Marks:
Jedes Plakat, jede Filmwerbung, jede Illustrierte bombardiert uns tagtäglich mit der
Botschaft, sei immerzu jung und schön und fit und potent und gesund und erfolgreich
und gut gekleidet, und wer das nicht ist, der soll sich schämen und muss damit
rechnen, beschämt zu werden, als Schrott, als Versager. Ich glaube, hinter manchem
Burnout steckt auch das Getriebensein: Ich muss perfekt sein, ich muss das und das
erfüllen, sonst muss ich mich schämen.
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Erzählerin:
Früher schämten sich die Menschen, weil sie die Erwartungen anderer nicht erfüllten
– heute, weil sie ihre eigenen Erwartungen nicht erfüllen. Selbstoptimierung ist das
Stichwort der Zeit. Lebenslanges Lernen und Selbstverbessern birgt natürlich auch
lebenslange Möglichkeiten, vor sich selbst und anderen zu versagen. Wo man sich
früher schämte, weil man zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, schämt man sich
heute, weil man zu wenig mit sich beschäftigt ist – und es mal wieder nicht geschafft
hat, Yoga, Zeit mit Freunden, Zeit allein, Sport, Liebe, Meditation, Opernbesuch und
den eigenen Blog in zwei Stunden Feierabend unterzubringen.
Musik:
Reinhard Mey: "Ist mir das peinlich", Auszug:
So bring‘ ich einen Teil meines Lebens mit mich schämen rum.
Manchmal schäme ich mich lautstark, manchmal schäme ich mich stumm.
Wenn ich noch nicht weiß, warum, schäm‘ ich mich schon mal auf Verdacht,
Ich bin sicher, irgendetwas hab‘ ich sicher falsch gemacht.
Denn wenn sich wer wo falsch benimmt, bin ich’s wahrscheinlich,
Und dann stammle ich schon mal vorsichtshalber: "Ist mir das peinlich."
O-Ton 30 Stephan Marks:
Scham trennt auch, unterbricht die Beziehung. Scham macht auch einsam. Wer zu
viel Scham erlebt, kreist um sich selbst. Eine Gesellschaft, in der zu viel Scham ist,
ist auch eine narzisstische Gesellschaft. Jeder macht sein Ding. Guckt nach seinem
Erfolg, nach seinem Status.
Erzählerin:
Wenn wir schon mit Scham und Peinlichkeit leben müssen – wie können wir lernen,
möglichst gut mit den Schamgefühlen umzugehen?
O-Ton 31 Stephan Marks:
Wenn die Scham nicht mehr diese überflutende Qualität hat, dieses Traumatische,
wenn man die Botschaft der Scham, ich möchte ja eigentlich in Kontakt sein, wenn
man die Botschaft wieder befreien kann, dann kann die Schamsituation ein Hinweis
darauf sein, künftig verhalte ich mich anders, damit mir das nicht mehr passiert.
Damit ich nicht in der Vereinsamung verharre, sondern die Scham als Chance nutze,
künftig mich anders zu verhalten, so dass ich nicht ausgelacht, ausgegrenzt oder
beschämt werde.
Erzählerin:
Friedrich Nietzsche hat es einmal so gesagt:
Zitator:
Was ist dir das Menschlichste? – Jemandem Scham ersparen.
Erzählerin:
Aber wie ersparen wir uns selbst die Scham? Jedenfalls nicht, indem wir sie
ausmerzen wollen. Peinlichkeit und Scham gehören zu uns – lebenslänglich.
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O-Ton 32 Stephan Marks:
Wir tun ja so, als dürfte die Scham nicht sein. Wer sich schämt, schämt sich doppelt,
weil er sich schämt. Dem einfach sagen, Scham gehört zum Leben wie die Trauer,
wie die Liebe, wie die Wut – sie gehört dazu.
Musik
O-Ton 34 Stephan Marks:
Wenn einem in einer öffentlichen Situation etwas Peinliches passiert, kann es doch
sehr erleichternd, auch menschlich sein, wenn wir zum Beispiel durch Humor, einen
leichten Humor, nicht dieses Auslachen, damit umgehen. Scham ist auch das, was
uns im guten Sinne, wieder runterzieht, Scham macht menschlich, bringt uns auf die
Erde, bringt uns von Größenfantasien runter. Zeigt uns, du bist nicht der weltgrößte
Star. Wenn uns etwas Peinliches passiert und wir vertuschen das, versuchen es
wegzumachen, das vergrößert es ja nur. Aber ein leichtes Lachen kann ja auch was
Verbindendes schaffen. Ich bin ein Mensch, wie alle.
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