Kandidat Trump: Der Volksverführer US-Politologe John Feffer über die Gründe für Trumps Erfolg. Und was Melania dazu sagt ▶ Seite 2, 4–5 AUSGABE BERLIN | NR. 11074 | 29. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ MITTWOCH, 20. JULI 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND WÜRZBURG Was bringt einen 17-jährigen Afghanen dazu, mit einer Axt auf Fahrgäste in einem bayerischen Regionalzug loszugehen? Welchen Unterschied macht es, ob der Täter vom IS gesteuert oder „selbst radikalisiert“ war? Wie sollten Politik und Polizei auf solche Gewalttaten angemessen reagieren? Und warum erntete Renate Künast für ihren Tweet zur Tat so viel Empörung? ???? TÜRKEI Wie Erdoğan seine Macht brutal ausbaut, was das für den Flüchtlingsdeal mit der EU bedeutet und was türkeistämmige Menschen in Berlin darüber denken ▶ SEITE 3, 12, 13 BERGE Der Alpenverein über Hallenkletterer und dubiose Partner ▶ SEITE 8 BERLIN Die Mangelver- walterin: Bildungssenatorin Scheeres ▶ SEITE 21 Fotos oben: reuters, ap VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! Nein, das ist keine Rechtfertigung für gar nichts. Und auch verboten gehen Opfer in Deutschland näher als Opfer irgendwo. Trotzdem ist es bemerkenswert, dass diese Meldung am Dienstag kaum jemand bemerkte: Laut dpa starben bei einem Luftangriff der US-geführten Anti-IS-Koalition im Norden Syriens 56 Zivilisten. Unter den Opfern in Manbidsch seien elf Kinder, berichtete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Man gehe davon aus, dass es sich bei dem Angriff um einen Fehler gehandelt habe, erklärte die Beobachtungsstelle. Was sonst? Steht das in Zweifel? Würzburg, Nacht auf Dienstag: Ein Kameramann filmt den Zug, in dem ein 17-Jähriger gewalttätig auf Fahrgäste losging und mindestens vier Menschen schwer verletzte Foto: Hildenbrand/dpa BERLIN taz/dpa | Es ist das erste Mal, dass der IS eine Tat in Deutschland für sich reklamiert: Medien der islamistischen Terrororganisation behaupteten am Dienstag, der Messerstecher von Würzburg habe als „Soldat des IS“ gehandelt. Später veröffentlichten sie noch ein Drohvideo, das mutmaßlich den Täter zeigen soll. Laut Polizei war der Angreifer ein 17-jähriger afghanischer Flüchtling. Am Montagabend ging er unvermittelt mit Mes- sern und einer Axt in einem Regionalzug bei Würzburg-Heidingsfeld auf Mitreisende los. Dabei rief er „Allahu akbar“, in einem Abschiedsbrief schrieb er, er wolle sich „an diesen Ungläubigen rächen“. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) erklärte zunächst, es gebe keine Belege für eine direkte Verbindung zum IS. Es könne sein, „dass es sich um jemanden handeln könnte, der sich in letzter Zeit selbst radikalisiert hat“. Bei dem Angriff wurde eine vierköpfige Urlauberfamilie aus Hongkong, 26 bis 62 Jahre alt, schwer verletzt. Der Täter floh aus dem Zug, nachdem er die Notbremse betätigt hatte. Laut Polizei attackierte er dann eine weitere Passantin mit der Axt. Als er auch auf zwei Beamte zulief und einen Meter entfernt gewesen sei, hätten sie ihn mit vier Schüssen getötet. Die AfD in Thüringen erklärte: „Merkels und Ramelows naive Willkommenspolitik hat viel zu viele junge, ungebildete und radikale muslimische Männer nach Deutschland gebracht. Sie tragen damit die politische Verantwortung für die extrem schlechte Sicherheitslage in Deutschland.“ Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) forderte, „dass die Debatten, die Standards für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge abzusenken oder sie sogar ganz aus der Kinder- und Jugendhilfe rauszunehmen, jetzt ein Ende haben“. Die Minderjährigen müssten „gut integriert“ werden. Grünen-Politikerin Renate Künast stellte auf Twitter die Notwendigkeit der tödlichen Polizeischüsse infrage: „Wieso konnte der Angreifer nicht angriffsunfähig geschossen werden????“ Dafür bekam sie viel Kritik. Ein Würzburger Oberstaatsanwalt sagte, „ich verstehe die voreiligen Schlüsse überhaupt nicht“. Die Schüsse seien „gerechtfertigt“ gewesen. KO ▶ Schwerpunkt SEITE 2 ▶ Gesellschaft + Kultur SEITE 14 ▶ Najem Wali über Terror SEITE 15 TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 16.085 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 30629 4 190254 801600 KOMMENTAR VON BETTINA GAUS ZUM IS-ANSCHLAG IM REGIONALZUG S elbstauskünften von Gewalttätern wird selten blind geglaubt. Wer in einem Einkaufszentrum um sich schießt und in einem Abschiedsbrief erklärt, er habe die Welt retten wollen, löst kein Vertrauen in seine Zurechnungsfähigkeit aus. Anders ist das nur, wenn jemand sich um den Eindruck bemüht, zu einem islamistischen Terrornetzwerk zu gehören. Das wird von vielen sofort für bare Münze genommen. Es ist erfreulich, dass der bayerische Innenminister Joachim Herrmann nach dem Amoklauf eines afghanischen Jugendlichen bei Würzburg vor voreiligen Schlüssen warnte. Andere taten das nicht, sondern meldeten sich nur Stun- So einfach ist es nicht den nach der Tat mit fertigen Analysen: Der islamistische Terror sei endgültig in Deutschland angekommen, von radikalisierten Einzelnen gehe eine neue, große Gefahr aus. Vieles spricht dafür, dass dies auf den Attentäter aus dem Regionalzug zutrifft. Ein im Internet aufgetauchtes Bekennervideo deutet auf eine Verbindung des Jugendlichen zum Terrornetzwerk „Islamischer Staat“ hin. Alles klar also? Nein. So einfach ist es nicht. Ein Problem besteht darin, dass ein Amokläufer derzeit kaum etwas Besseres tun kann, als sich selbst als Islamisten zu bezeichnen, will er größtmögliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Für jeman- den, der sich im Leben hilflos gefühlt hat, muss es verlockend sein, wenigstens im Tod mächtig und bedeutend zu erscheinen. Hier treffen sich die Interessen von Einzeltätern mit denen des organisierten Terrorismus. Denn auch für den IS ist es erfreulich, wenn der Eindruck entsteht, seine Kommandostrukturen reichten bis in den letzten Winkel der Erde. Das muss aber nicht stimmen. Die Verlockung, wenigstens im Tod bedeutend zu erscheinen, ist groß Orlando, Nizza, Würzburg: Keinem der Einzeltäter hat seine jeweilige Umgebung einen religiös motivierten Anschlag zugetraut. Das kann ein Hinweis auf Naivität sein – mag aber auch darauf hindeuten, dass die Selbstzeugnisse vor allem so viel Schrecken verbreiten sollten wie irgend möglich. Die Frage nach den genauen Motiven der Attentäter hat nichts damit zu tun, ihre Taten zu rechtfertigen. Sondern mit dem Schutz einer Gesellschaft, die vor Waffen wie Lastwagen und Äxten nicht geschützt werden kann. Nur wer die Gedankengänge von Gewalttätern zu ver stehen lernt, kann sie wirksam be kämpfen. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Schwerpunkt M IT TWOCH, 20. JU LI 2016 Attacke in Würzburg PORTRAIT Der IS reklamiert die Tat für sich. Im Netz kursiert ein Video der Terrorgruppe, das den Täter zeigen soll Das Problem der Turboradikalisierung ANSCHLAG Ein Einzeltäter, der wie in Würzburg unvermittelt auf Umstehende losgeht: Sicherheitsbehörden Melania Trump, Gattin von Donald und Rednerin Foto: ap First Lachnummer D as Leben als Donald Trumps Frau muss bitter sein. Ein launischer Egomane, dessen Selbstbräuner einem beim Küssen das neue weiße Kleid versaut. Vor allem aber muss der Mann ein fürchterlicher Langweiler sein, zu dem nicht einmal der eigenen Ehefrau halbwegs Originelles einfällt. Das könnte erklären, warum Melania Trump sich in ihrer mit Spannung erwarteten Eröffnungsrede des Nominierungsparteitags der Republikaner beherzt bei jener Frau bediente, die sie nun beerben soll. Zwei zentrale Passagen ihrer Rede glichen beinahe aufs Wort jener, die Michelle Obama 2008 beim Nominierungsparteitag der Demokraten gehalten hatte. „Die einzige Grenze für die Größe deiner Leistungen ist die Tragweite deiner Träume“, solche Phrasen hatten damals Erfolg: Barack Obama wurde Kandidat und später Präsident. Ob das noch mal klappt? Klar: Ein Feuerwerk der Rhetorik war von dieser Rede nicht unbedingt zu erwarten. Aber darum geht es nicht. Authentizität ist bei diesen Anlässen von unschätzbarem Wert. Wenn die KandidatInnen schon schmutzige Politik machen, sollten zumindest die PartnerInnen glaubwürdig wirken. Statt First Lady in spe ist Melania nun erste Lachnummer der Nation. Dummerweise hatte sie im Vorfeld erklärt, sie habe die Rede mit „ein bisschen Hilfe“ selbst verfasst. Natürlich hatte auch Obama Ghostwriter, vielleicht ja dieselben. Aber: Sie war Erste. Melania hat Donald jedenfalls, ob nun unverschuldet oder nicht, blamiert. Der kennt das ja, allerdings hauptsächlich von sich selbst. Und sieht die Schuld natürlich wieder nur bei einer: Die Plagiatsvorwürfe seien „ein typischer Angriff von Hillary Clinton“. Mit Ghostwritern haben die Trumps eh selten Glück. Ein vergangener umschrieb seine frühere Tätigkeit kürzlich als „Lippenstift auf ein Schwein malen“. Mit dekorativer Kosmetik kennt Melania sich nicht erst seit ihrer Heirat aus: In ihrer Rede betonte sie auch die besondere Bedeutung von „fashion“ und „beauty“ für ihren Lebensweg. Was kommt nun als Nächstes? Auf Twitter freut man sich schon auf Donald Trumps nächste bewegende Rede – über seine schwierige Zeit als schwarzer Jugendlicher. JOHANNA ROTH verzweifeln an diesen Taten. Das Innenministerium verspricht „alles zu tun, um solche Taten zu verhindern“ VON KONRAD LITSCHKO In einer Regionalbahn bei Würzburg, Montag, kurz nach 21 Uhr, geht ein 17-Jähriger unvermittelt mit einem Beil und Messern auf Passagiere los. Nach seiner Flucht aus dem Zug schlägt er noch einer Passantin mit der Axt ins Gesicht. Ergebnis: Fünf Schwerverletzte und der später vom SEK erschossene Täter. Am Dienstag bleibt den Ermittlern nur noch die „Aufräumarbeit“. Wer war der Täter? Was sein Motiv? Ein afghanischer Flüchtling, sagt Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU). Vor zwei Jahren unbegleitet nach Deutschland eingereist. Einige Zeit lebte er in einer Einrichtung in Würzburg, seit zwei Wochen in einer Pflegefamilie. Den Ermittlern war der Mann unbekannt. Auch Betreuer schilderten ihn als absolut unauffällig. Dann aber finden Polizisten eine selbstgemalte IS-Fahne in seinem Zimmer und einen Text, in dem stehen soll, Muslime müssten sich zur Wehr setzen. Am Wochenende soll er vom Tod eines Freundes in Afghanistan erfahren haben. Zeugen berichten, im Zug habe er mehrmals „Allahu akbar“ gerufen, „Gott ist groß“. „Wie im Rausch“ habe er gehandelt, sagen Ermittler. Am Dienstagmittag dann versenden IS-Medien eine Nachricht: Eine „Quelle“ bezeichne den Angreifer als „Soldat des Islamischen Staates“. Seine Tat sei eine Reaktion auf den Aufruf, Gegnerstaaten des IS anzugreifen. Es ist das erste Mal, das der IS eine Tat in Deutschland für sich reklamiert. Am Nachmittag dann folgt die Veröffentlichung eines zweiminütigen Videos. Zu sehen sein soll der 17-Jährige, in der Hand ein Messer. Er droht, eine „heilige Operation“ werde beginnen, weitere Attacken werden folgen. Was heißt das jetzt? Für Verbindungen des Mannes zu islamistischen Organisationen hätten Ermittler auch an Wohnund Tatort bisher „keinerlei Indizien“ gefunden. „Es wird keine hundertprozentige Sicherheit geben“ JÖRG RADEK, GDP Die Debatte über die Konsequenzen ist da aber längst im Gange. Herrmann fordert eine Stärkung der Polizei. Alexander Kirchner, Vorsitzender der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft, will mehr Sicherheitspersonal in Zügen. „Wir können nach dieser Tat nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.“ In den Sicherheitsbehörden sind Taten wie die von Würzburg ein Worst-Case-Szenario. Zuletzt hatte ein Messerstecher im bayrischen Grafing einen Mann getötet, drei schwer verletzt. Im Bahnhof Hannover verletzte eine Islamistin einen Polizisten mit einem Messer schwer. Nun spricht Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) von einem „sinnlosen Akt wahlloser Gewaltausübung“ in Spurensuche: Polizisten in der Nähe des Ortes, an dem der 17-jährige Attentäter erschossen wurde Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa Würzburg. Er sei „zutiefst geschockt“. „Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um solche Taten zu verhindern“. Eine Sprecherin des BKA räumt ein: „Dass sich Einzeltäter zum Teil im Stillen radikalisieren und das in kürzester Zeit, stellt die Sicherheitsbehörden vor eine große Herausforderung.“ Auf Bahnhöfen und in Zügen hat die Bundespoilzei grundsätzlich rund 5.000 Beamte im Einsatz. Laut Jörg Radek, Vizechef der Gewerkschaft der Polizei, wurden auch Streifenbeamte in den vergangenen Jahren gezielt für Amoktaten trainiert. Sie sollen im Ernstfall selbst unverzüglich handeln können. „Wir können aber nicht in jeden einzelnen Zug eine Streife setzen“, so Radek. Und die Täter könnten auch überall sonst zuschlagen. „Es wird keine hundertprozentige Sicherheit geben.“ Auch André Schulz vom Bund Deutscher Kriminalbeamter betont, dass die Polizei „nicht allen in die Köpfe schauen kann“. Mehr als 500 islamistische Gefährder haben die Behörden in Deutschland derzeit im Blick. Ein Problem aber sei die Turboradikalisierung einiger Verdächtiger. „Mit einem Restrisiko müssen wir leben“, so Schulz. Jörg Radek appelliert auch an die Bevölkerung. „Wir sind auf Hinweise angewiesen.“ Wo verändere sich jemand drastisch, wo verhalte er sich auffällig? Auch das Innenministerium verweist auf die Hotline etwa beim Bundesmigrationsamt, wo Experten Angehörige von Radikalisierten beraten. Im Fall Würzburg half auch das nicht. Bekannte beschrieben den 17-Jährigen als ruhig, als gläubigen Muslim, keineswegs radikal. Er sei von der Jugendhilfe intensiv betreut worden und habe auch eine Ausbildung in Aussicht gehabt, als Bäcker. „Diese Täter schüren Angst“ Einzeltäter wie in Würzburg halten die Sicherheitsbehörden in Atem, sagt der Terrorismusexperte Guido Steinberg. Für die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ sind solche Angriffe wichtig, weil sie für größere Anschlagspläne Raum schaffen BEKENNTNIS taz: Herr Steinberg, der „Islamische Staat“ hat ein Video des Würzburger Angreifers veröffentlicht. Was bedeutet das? Guido Steinberg: Das Bekennervideo zeigt, dass Muhammad Riyadh bereits vor der Tat zum IS Kontakt hatte und dass er sich dazu bekennt, im Namen des IS gehandelt zu haben. Ist der Würzburger Anschlag damit der erste IS-Anschlag in Deutschland? Ja, das stimmt. Es ist der erste Anschlag, bei dem es ein klares Bekenntnis von beiden Seiten gibt. Die IS-Medienagentur Amaq hat zunächst ein Bekenntnis veröffentlicht und dann das Video von dem Attentäter selbst, in dem er sich zu IS-Chef Baghdadi bekennt. Das heißt, Ri yadh hatte bereits vorher Kontakt zum IS. Bedeutet dieser Anschlag also eine neue Qualität? In letzter Zeit gab es drei Anschläge in Deutschland: den am Hauptbahnhof in Hanno- ver, den auf den Sikh-Tempel in Essen und nun den in Würzburg. Dieser hat die deutlichste Verbindung zum IS. In allen drei Fällen sind die Täter minderjährig. Der IS versucht, drei unterschiedliche Tätergruppen zu motivieren. Erstens die gut ausgebildeten, die für große Anschläge nach Europa geschickt werden. Dazu gehört das Attentat vom 13. November in Paris. Dann gibt es Attentäter, die er losschickt, um die Sicherheitsbehörden dazwischen zu beschäftigen, wie zum Beispiel bei dem Anschlag auf das jüdische Museum in Brüssel im Mai 2014. Und dann ruft er seine Sympathisanten dazu auf, in ihren Heimatländern in Europa das zu tun, was gerade in ihrer Macht steht: Autos, Steine, Äxte oder Messer zu benutzen, um Ungläubige zu töten. Diesem Aufruf scheinen in den letzten zwei Jahren immer mehr Muslime in der westlichen Welt zu folgen. „Die Einzeltäter sind häufig sehr jung. Viele der älteren dürften schon nach Syrien ausgereist sein“ In der dritten Gruppe ist deutlich zu bemerken, dass die Täter sehr jung sind. Viele der älteren dürften schon nach Syrien ausgereist sein. Welche Funktion haben solche Einzeltäter für den IS? Für den IS sind sie wichtig, weil sie Angst schüren und die Sicherheitsbehörden der westlichen Staaten in Atem halten. Das ist eine Strategie, die von al-Qaida in Pakistan entworfen wurde und inzwischen vom IS mit großem Erfolg angewandt wird. Polizei und Nachrichtendienste werden so gebunden, dass der IS Zeit und Ruhe für die Vorbereitungen eines größeren Anschlags gewinnt. Bei den Einzeltätern, die nicht beim IS waren, ist die Grenze zwischen politischer Motivation und psychischen Motiven aber sehr schwer auszuloten. In Orlando hat man das gesehen – wohl ein vom IS inspirierter Anschlag, aber auch ein Täter mit psychischen Problemen. Früher hätte man wohl bei manchen dieser Fälle von Amokläufen gesprochen – wo fängt der Terror an? Die Grenze definieren wir. Am Dienstagmorgen war die Beschreibung des Würzburger Anschlags als Amoklauf noch richtig. Dieses Urteil muss aber nach der Veröffentlichung von Bekenntnis und Video revidiert werden. INTERVIEW: S. AM ORDE Guido Steinberg ■■48, ist promovierter Islamwissenschaftler und arbeitet bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zu den Schwerpunkten Naher Osten und Islamismus. Zuvor war er TerrorismusReferent im Bundeskanzleramt. Foto: privat Schwerpunkt Türkei M IT TWOCH, 20. JU LI 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Die im Zuge des Flüchtlingsdeals mit Ankara vereinbarte Visafreiheit rückt in weite Ferne. Vor allem die Todesstrafe ist eine rote Linie VON DANIEL BAX BERLIN taz | Nach dem Putsch- versuch in der Türkei könnte der Flüchtlingsstrom nach Griechenland wieder anschwellen. Dies befürchtete der griechische Migrationsminister Ioannis Mouzalas am Montag im Parlament in Athen. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Vorfälle in der Türkei auch Auswirkungen auf die Flüchtlingssituation haben“, zitierte ihn der griechische Fernsehsenders Skai. Mouzalas betonte, er wolle keine Panik schüren. Aber es sei nun einmal die Aufgabe des Parlaments, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Mit einem Flüchtlingsproblem der besonderen Art hat seine Regierung seit dem Wochenende zu tun. Da setzten acht türkische Soldaten mit einem Militärhubschrauber nach Griechenland über und beantragten politisches Asyl. Die Türkei verlangt nun die Auslieferung der „Verräter“, denen sie eine Beteiligung am Putschversuch vorwirft. Griechenland will den Fall erst einmal prüfen. Rechtlich liegen die Dinge völlig anders als bei Flüchtlingen aus Syrien und anderswo, denn die Türkei ist für sie kein „sicherer Drittstaat“, sondern ihr – zunehmend unsicher werdender – Herkunftsstaat. Seit im März diesen Jahres das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei in Kraft getreten ist, hat sich die Zahl der Flüchtlinge und Migranten, die von der türkischen Küste aus nach Griechenland übergesetzt haben, stark verringert – von täglich bis zu 2.000 Menschen im Februar auf nur noch wenige Dutzend pro Tag im April. Doch nun wächst innerhalb der EU die Befürchtung, Ankara könne den Flüchtlingspakt einseitig aufkündigen. Der Hamburger Politologe Yaşar Aydın hält das für unwahrscheinlich. „Meines Wissens ist die Türkei bisher ihren Verpflichtungen nachgekommen und ich gehe davon aus, dass sie das auch weiter tun wird“, sagte er der taz. „Erdoğan kann es sich nicht leisten, sich auch in der Flüchtlingsfrage mit der EU zu überwerfen und als Unterstützer von Schleuserbanden dazustehen.“ Er äußerte aber die Befürchtung, „dass durch das Chaos im Staatsapparat eine Sicherheitslücke entsteht, die den Schleusern die Arbeit erleichtert.“ Schlechte Aussichten: zerborstene Fensterscheibe am Hauptquartier der Polizei in Ankara Foto: Osman Orsal/reuters Der Deal mit der Türkei liegt in Scherben EU/TÜRKEI Die Bundesregierung behauptet, das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei habe weiter Bestand. Doch die EU rückt von einigen Zusagen bereits ab. Ausschlaggebend ist der Umgang des Landes mit der Todesstrafe Griechenland fürchtet, die Zahl der Flüchtlinge in der Ägäis könnte wieder steigen. Acht Soldaten haben dort nach dem Putschversuch außerdem politisches Asyl beantragt, die Türkei verlangt ihre Auslieferung Die Türkei hat der EU zugesichert, alle Flüchtlinge zurückzunehmen, die seit März neu auf den griechischen Inseln ankommen. Im Gegenzug verpflichtete sich die EU, dafür die gleiche Zahl syrischer Flüchtlinge direkt aus der Türkei aufzunehmen. Außerdem stellte die EU der Türkei in Aussicht, den Visa-Zwang für ihre Bürger aufzuheben und die Beitrittsverhandlungen zur EU wieder aufzunehmen. Bis Juli hat die EU aber erst ganze 798 syrische Flüchtlinge aus der Türkei aufgenommen, 294 davon kamen nach Deutschland. Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) ist dennoch der Ansicht, dass das Flüchtlingsabkommen weiter Bestand habe. Beide Seiten müssten ihre Verpflichtungen weiterhin erfüllen, und „das werden sie auch tun“, sagte er der Saarbrücker Zeitung. Allerdings ist die EU von einigen Zusagen bereits abgerückt. Weil sich Ankara schon vor dem Putsch weigerte, seine Terrorismusgesetze abzuschwächen, wurde die Visa-Frage auf die lange Bank geschoben. Zuletzt wurde der Oktober als Termin für das Ende der Visa-Pflicht genannt. EU-Kommissar Günther Oettinger hält eine solche Entscheidung noch in diesem Jahr nun aber für unwahrscheinlich. Er gehe davon aus, dass es „zum Jahreswechsel noch keine Regelung“ geben werde. Scharf kritisierte er, dass die Immunität von Abgeordneten aufgehoben wurde, Journalisten eingeschüchtert und jetzt „missliebige Richter zu Tausenden aus dem Verkehr gezogen“ würden. Mehrere EU-Politiker, darunter die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini, sehen die zur Zeit debattierte Wiedereinführung der Todesstrafe als rote Linie der Beitrittsverhandlungen. Das gilt nicht nur für die EU, sondern auch für den Europarat. Das Gremium erklärte, mit der Todesstrafe könne die Türkei dort nicht mehr Mitglied sein. Seit dem gescheiterten Putsch vom Freitag wurden in der Türkei 8.660 Menschen festgenommen, unter ihnen dutzende Generäle, Richter und Staatsanwälte. Knapp 30.000 Staatsbeamte wurden suspendiert. Eine Massenflucht wie nach dem Putsch von 1980 befürchtet der Politologe Yaşar Aydın deshalb aber noch nicht. „Gerade die vielen jetzt vom Dienst suspendierten Beamten, die weiterhin ihr Gehalt beziehen und die bisher mit ihren grünen Pässen problemlos nach Europa reisen konnten, werden zunächst abwarten, wie sich die Dinge weiter entwickeln“, sagt Aydın. Allerdings vermutet er, dass viele Hochqualifizierte sich nach Arbeit in Deutschland oder in den USA umschauen werden, weil sie über die Entwicklung in der Türkei besorgt sind. „Einen solchen Exodus gab es schon vorher, und der wird sich fort setzen“, prognostiziert der Politologe. Erdoğan zeigt sich von EU-Warnungen unbeeindruckt ISTANBUL taz | Es war eine ent- fesselte Menge, die in der Nacht von Montag auf Dienstag ihrem Führer Recep Tayyip Erdoğan vor dessen privatem Haus huldigte. Tausende waren einem Aufruf des Istanbuler Bürgermeisters gefolgt, sich am Montagabend an einem zentralen Platz im Stadtteil Üsküdar, auf der asiatischen Seite der Stadt, zu versammeln, um von dort zur privaten Residenz des Präsidenten zu marschieren. Einmal angekommen, wiederholte sich das Ritual, das aus anderen Treffen zwischen Volk und Führer mittlerweile bekannt ist: „Wir wollen die Todesstrafe“, „Wir wollen die Todesstrafe“, skandierte die Menge laut. Derweil zeigt sich Erdoğan immer geneigter, diesen Rufen Gehör zu schenken. Die ultra nationalistische MHP unterstützt die Ein führung der Todes strafe. Damit wird der Weg frei für ein Referendum über eine Verfassungsänderung ALLIANZ In seiner Antwort an die Menge fragte Erdoğan: „Warum sollte ich sie (die Putschisten) auf Jahre hinweg im Gefängnis halten und füttern?“ Er nahm damit Bezug auf einen bösen Satz von Kenan Evren, jenen General, der sich im September 1980 an die Macht putschte und bis 1989 Staatspräsident der Türkei war. Kritikern der Todes- strafe hatte er nach dem Putsch entgegengehalten: „Sollen wir diese Typen etwa noch durchfüttern statt sie zu hängen.“ Das würden die Leute heute wieder sagen. „Soll ich das ignorieren?“, fragte der Präsident. Vier Jahre nach dem Putsch, also im Jahr 1984, wurden die letzten Todesurteile in der Türkei vollstreckt, 2004 wurde die Abschaffung der Todesstrafe dann in der Verfassung verankert. Putschisten hätten es aber nicht verdient, weiter am Leben zu bleiben, meint Devlet Bahçeli, Chef der ultranationalistischen Partei MHP. „Wenn Erdoğan und die AKP die Todesstrafe wiedereinführen wollen“, sagte er gestern, „werden wir nicht zurückstehen“. Mit den Stimmen der MHP kann Erdoğan im Parlament noch nicht die für eine Verfassungsänderung nötige Zweidrittelmehrheit erreichen. Für die 330 Stimmen, die er braucht, um über die Wiedereinführung der Todesstrafe eine Volksabstimmung durchführen zu lassen, würde es aber reichen. Die Mahnungen aus Brüssel und Berlin, das Spiel mit der Todesstrafe würde den Beitrittsprozess zur EU automatisch beenden, machen jedenfalls auf AKP und MHP erkennbar keinen Eindruck. Wer ist schon die EU, um sich dem Willen des Volkes in den Weg zu stellen? Auch mit dem anderen großen westlichen Partner des Landes verschärfen Erdoğan und seine Regierung unterdessen den Konflikt. Mit allen Mitteln will Erdoğan erreichen, dass die USA den 75-jährigen Fethullah Gülen, der seit 1999 in den USA im Exil lebt, an die Türkei ausliefern. Bislang hat die Obama-Administration dieses Verlangen immer kühl zurückgewiesen. Auch jetzt hat Außenminister John Kerry seinem türkischen Kollegen Mevlüt Çavuşoğlu ausgerichtet, erst wenn die Türkei stichhaltige Beweise vorlege, könnten die US-Regierung und die zuständigen Gerichte sich damit befassen. Erdoğan wirft Gülen vor, der Anstifter des fehlgeschlagenen Putsches vom „Warum sollte ich sie auf Jahre hinweg im Gefängnis halten und füttern?“ PRÄSIDENT ERDOĞAN letzten Freitag zu sein. Justizminister Bekir Bozdağ kündigte im Sender CNN-Türk an, man werde den USA vier Dossiers schicken, in denen die Beweise gegen Gülen und seine Bewegung zusammengefasst seien. Eine türkische Expertenkommission ist schon in Washington eingetroffen. Ministerpräsident Binali Yıldırım legte gestern verbal noch eins drauf: „Wir werden ihnen mehr Beweise liefern, als ihnen lieb ist“. Derweil gehen die Säuberungen in den türkischen Institutionen weiter. Neben weiteren Festnahmen im Militär wurden gestern über 250 Mitarbeiter aus der Verwaltung des Ministerpräsidentenbüros entlassen. Das Bildungsministerium suspendierte mehr als 15.000 Beamte. JÜRGEN GOTTSCHLICH
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