taz.die tageszeitung

Kandidat Trump: Der Volksverführer
US-Politologe John Feffer über die Gründe für Trumps Erfolg. Und was Melania dazu sagt ▶ Seite 2, 4–5
AUSGABE BERLIN | NR. 11074 | 29. WOCHE | 38. JAHRGANG
H EUTE I N DER TAZ
MITTWOCH, 20. JULI 2016 | WWW.TAZ.DE
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WÜRZBURG Was bringt einen 17-jährigen Afghanen dazu, mit einer Axt
auf Fahrgäste in einem bayerischen Regionalzug loszugehen?
Welchen Unterschied macht es, ob der Täter vom IS gesteuert oder „selbst radikalisiert“ war?
Wie sollten Politik und Polizei auf solche Gewalttaten angemessen reagieren?
Und warum erntete Renate Künast für ihren Tweet zur Tat so viel Empörung?
????
TÜRKEI Wie Erdoğan
seine Macht brutal ausbaut, was das für den
Flüchtlingsdeal mit der
EU bedeutet und was
türkeistämmige Menschen in Berlin darüber
denken ▶ SEITE 3, 12, 13
BERGE Der Alpenverein
über Hallenkletterer und
dubiose Partner ▶ SEITE 8
BERLIN Die Mangelver-
walterin: Bildungssenatorin Scheeres ▶ SEITE 21
Fotos oben: reuters, ap
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
Nein, das ist keine Rechtfertigung für gar nichts. Und
auch verboten gehen Opfer
in Deutschland näher als Opfer irgendwo. Trotzdem ist es
bemerkenswert, dass diese
Meldung am Dienstag kaum
jemand bemerkte: Laut dpa
starben bei einem Luftangriff
der US-geführten Anti-IS-Koalition im Norden Syriens 56
Zivilisten. Unter den Opfern in
Manbidsch seien elf Kinder, berichtete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Man gehe davon aus, dass
es sich bei dem Angriff um einen Fehler gehandelt habe, erklärte die Beobachtungsstelle.
Was sonst?
Steht das in Zweifel?
Würzburg, Nacht auf Dienstag: Ein Kameramann filmt den Zug, in dem ein 17-Jähriger gewalttätig auf Fahrgäste losging und mindestens vier Menschen schwer verletzte Foto: Hildenbrand/dpa
BERLIN taz/dpa | Es ist das
erste Mal, dass der IS eine Tat
in Deutschland für sich reklamiert: Medien der islamistischen Terrororganisation behaupteten am Dienstag, der
Messerstecher von Würzburg
habe als „Soldat des IS“ gehandelt. Später veröffentlichten sie
noch ein Drohvideo, das mutmaßlich den Täter zeigen soll.
Laut Polizei war der Angreifer ein 17-jähriger afghanischer
Flüchtling. Am Montagabend
ging er unvermittelt mit Mes-
sern und einer Axt in einem
Regionalzug bei Würzburg-Heidingsfeld auf Mitreisende los.
Dabei rief er „Allahu akbar“, in
einem Abschiedsbrief schrieb
er, er wolle sich „an diesen Ungläubigen rächen“. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) erklärte zunächst,
es gebe keine Belege für eine
direkte Verbindung zum IS. Es
könne sein, „dass es sich um jemanden handeln könnte, der
sich in letzter Zeit selbst radikalisiert hat“. Bei dem Angriff
wurde eine vierköpfige Urlauberfamilie aus Hongkong, 26 bis
62 Jahre alt, schwer verletzt. Der
Täter floh aus dem Zug, nachdem er die Notbremse betätigt
hatte. Laut Polizei attackierte
er dann eine weitere Passantin
mit der Axt. Als er auch auf zwei
Beamte zulief und einen Meter
entfernt gewesen sei, hätten sie
ihn mit vier Schüssen getötet.
Die AfD in Thüringen erklärte: „Merkels und Ramelows
­naive Willkommenspolitik hat
viel zu viele junge, ungebildete
und radikale muslimische Männer nach Deutschland gebracht.
Sie tragen damit die politische
Verantwortung für die extrem
schlechte Sicherheitslage in
Deutschland.“ Familienministerin Manuela Schwesig (SPD)
forderte, „dass die Debatten, die
Standards für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge abzusenken oder sie sogar ganz aus der
Kinder- und Jugendhilfe rauszunehmen, jetzt ein Ende haben“.
Die Minderjährigen müssten
„gut integriert“ werden.
Grünen-Politikerin Renate
Künast stellte auf Twitter die
Notwendigkeit der tödlichen
Polizeischüsse infrage: „Wieso
konnte der Angreifer nicht angriffsunfähig geschossen werden????“ Dafür bekam sie viel
Kritik. Ein Würzburger Oberstaatsanwalt sagte, „ich verstehe
die voreiligen Schlüsse überhaupt nicht“. Die Schüsse seien
„gerechtfertigt“ gewesen. KO
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▶ Gesellschaft + Kultur SEITE 14
▶ Najem Wali über Terror SEITE 15
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KOMMENTAR VON BETTINA GAUS ZUM IS-ANSCHLAG IM REGIONALZUG
S
elbstauskünften von Gewalttätern
wird selten blind geglaubt. Wer in
einem Einkaufszentrum um sich
schießt und in einem Abschiedsbrief erklärt, er habe die Welt retten wollen, löst
kein Vertrauen in seine Zurechnungsfähigkeit aus. Anders ist das nur, wenn jemand sich um den Eindruck bemüht, zu
einem islamistischen Terrornetzwerk zu
gehören. Das wird von vielen sofort für
bare Münze genommen.
Es ist erfreulich, dass der bayerische
Innenminister Joachim Herrmann nach
dem Amoklauf eines afghanischen Jugendlichen bei Würzburg vor voreiligen Schlüssen warnte. Andere taten das
nicht, sondern meldeten sich nur Stun-
So einfach ist es nicht
den nach der Tat mit fertigen Analysen:
Der islamistische Terror sei endgültig in
Deutschland angekommen, von radikalisierten Einzelnen gehe eine neue, große
Gefahr aus.
Vieles spricht dafür, dass dies auf den
Attentäter aus dem Regionalzug zutrifft.
Ein im Internet aufgetauchtes Bekennervideo deutet auf eine Verbindung des Jugendlichen zum Terrornetzwerk „Islamischer Staat“ hin. Alles klar also? Nein. So
einfach ist es nicht.
Ein Problem besteht darin, dass ein
Amokläufer derzeit kaum etwas Besseres
tun kann, als sich selbst als Islamisten zu
bezeichnen, will er größtmögliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Für jeman-
den, der sich im Leben hilflos gefühlt hat,
muss es verlockend sein, wenigstens im
Tod mächtig und bedeutend zu erscheinen. Hier treffen sich die Interessen von
Einzeltätern mit denen des organisierten
Terrorismus. Denn auch für den IS ist es
erfreulich, wenn der Eindruck entsteht,
seine Kommandostrukturen reichten bis
in den letzten Winkel der Erde. Das muss
aber nicht stimmen.
Die Verlockung, wenigstens
im Tod bedeutend zu
­erscheinen, ist groß
Orlando, Nizza, Würzburg: Keinem der
Einzeltäter hat seine jeweilige Umgebung
einen religiös motivierten Anschlag zugetraut. Das kann ein Hinweis auf Naivität sein – mag aber auch darauf hindeuten, dass die Selbstzeugnisse vor allem
so viel Schrecken verbreiten sollten wie
irgend möglich.
Die Frage nach den genauen Motiven
der Attentäter hat nichts damit zu tun,
ihre Taten zu rechtfertigen. Sondern mit
dem Schutz einer Gesellschaft, die vor
Waffen wie Lastwagen und Äxten nicht
geschützt werden kann. Nur wer die Gedankengänge von Gewalttätern zu ver­
stehen lernt, kann sie wirksam be­
kämpfen.
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Schwerpunkt
M IT TWOCH, 20. JU LI 2016
Attacke in
Würzburg
PORTRAIT
Der IS reklamiert die Tat für sich. Im Netz kursiert
ein Video der Terrorgruppe, das den Täter zeigen soll
Das Problem der Turboradikalisierung
ANSCHLAG Ein Einzeltäter, der wie in Würzburg unvermittelt auf Umstehende losgeht: Sicherheitsbehörden
Melania Trump, Gattin von
Donald und Rednerin Foto: ap
First
Lachnummer
D
as Leben als Donald
Trumps Frau muss bitter
sein. Ein launischer Egomane, dessen Selbstbräuner
einem beim Küssen das neue
weiße Kleid versaut. Vor allem
aber muss der Mann ein fürchterlicher Langweiler sein, zu
dem nicht einmal der eigenen
Ehefrau halbwegs Originelles
einfällt. Das könnte erklären,
warum Melania Trump sich in
ihrer mit Spannung erwarteten
Eröffnungsrede des Nominierungsparteitags der Republikaner beherzt bei jener Frau bediente, die sie nun beerben soll.
Zwei zentrale Passagen ihrer
Rede glichen beinahe aufs Wort
jener, die Michelle Obama 2008
beim
Nominierungsparteitag der Demokraten gehalten
hatte. „Die einzige Grenze für
die Größe deiner Leistungen ist
die Tragweite deiner Träume“,
solche Phrasen hatten damals
Erfolg: Barack Obama wurde
Kandidat und später Präsident.
Ob das noch mal klappt?
Klar: Ein Feuerwerk der Rhetorik war von dieser Rede nicht
unbedingt zu erwarten. Aber
dar­um geht es nicht. Authentizität ist bei diesen Anlässen von
unschätzbarem Wert. Wenn die
KandidatInnen schon schmutzige Politik machen, sollten
zumindest die PartnerInnen
glaubwürdig wirken. Statt First
Lady in spe ist Melania nun erste
Lachnummer der Nation. Dummerweise hatte sie im Vorfeld
erklärt, sie habe die Rede mit
„ein bisschen Hilfe“ selbst verfasst. Natürlich hatte auch Obama Ghostwriter, vielleicht ja
dieselben. Aber: Sie war Erste.
Melania hat Donald jedenfalls, ob nun unverschuldet oder
nicht, blamiert. Der kennt das ja,
allerdings hauptsächlich von
sich selbst. Und sieht die Schuld
natürlich wieder nur bei einer:
Die Plagiatsvorwürfe seien „ein
typischer Angriff von Hillary
Clinton“.
Mit Ghostwritern haben die
Trumps eh selten Glück. Ein vergangener umschrieb seine frühere Tätigkeit kürzlich als „Lippenstift auf ein Schwein malen“.
Mit dekorativer Kosmetik kennt
Melania sich nicht erst seit ihrer
Heirat aus: In ihrer Rede betonte
sie auch die besondere Bedeutung von „fashion“ und „beauty“
für ihren Lebensweg.
Was kommt nun als Nächstes? Auf Twitter freut man
sich schon auf Donald Trumps
nächste bewegende Rede – über
seine schwierige Zeit als schwarzer Jugendlicher. JOHANNA ROTH
verzweifeln an diesen Taten. Das Innenministerium verspricht „alles zu tun, um solche Taten zu verhindern“
VON KONRAD LITSCHKO
In einer Regionalbahn bei Würzburg, Montag, kurz nach 21 Uhr,
geht ein 17-Jähriger unvermittelt mit einem Beil und Messern auf Passagiere los. Nach seiner Flucht aus dem Zug schlägt
er noch einer Passantin mit der
Axt ins Gesicht. Ergebnis: Fünf
Schwerverletzte und der später
vom SEK erschossene Täter.
Am Dienstag bleibt den Ermittlern nur noch die „Aufräumarbeit“. Wer war der Täter? Was
sein Motiv? Ein afghanischer
Flüchtling, sagt Bayerns Innenminister Joachim Herrmann
(CSU). Vor zwei Jahren unbegleitet nach Deutschland eingereist.
Einige Zeit lebte er in einer Einrichtung in Würzburg, seit zwei
Wochen in einer Pflegefamilie.
Den Ermittlern war der Mann
unbekannt. Auch Betreuer schilderten ihn als absolut unauffällig. Dann aber finden Polizisten
eine selbstgemalte IS-Fahne in
seinem Zimmer und einen Text,
in dem stehen soll, Muslime
müssten sich zur Wehr setzen.
Am Wochenende soll er vom Tod
eines Freundes in Afghanistan
erfahren haben. Zeugen berichten, im Zug habe er mehrmals
„Allahu akbar“ gerufen, „Gott ist
groß“. „Wie im Rausch“ habe er
gehandelt, sagen Ermittler.
Am Dienstagmittag dann versenden IS-Medien eine Nachricht: Eine „Quelle“ bezeichne
den Angreifer als „Soldat des
Islamischen Staates“. Seine Tat
sei eine Reaktion auf den Aufruf,
Gegnerstaaten des IS anzugreifen. Es ist das erste Mal, das der
IS eine Tat in Deutschland für
sich reklamiert. Am Nachmittag
dann folgt die Veröffentlichung
eines zweiminütigen Videos. Zu
sehen sein soll der 17-Jährige, in
der Hand ein Messer. Er droht,
eine „heilige Operation“ werde
beginnen, weitere Attacken werden folgen.
Was heißt das jetzt? Für Verbindungen des Mannes zu islamistischen Organisationen hätten Ermittler auch an Wohnund Tatort bisher „keinerlei
Indizien“ gefunden.
„Es wird keine
­hundertprozentige
Sicherheit geben“
JÖRG RADEK, GDP
Die Debatte über die Konsequenzen ist da aber längst im
Gange. Herrmann fordert eine
Stärkung der Polizei. Alexander
Kirchner, Vorsitzender der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft, will mehr Sicherheitspersonal in Zügen. „Wir können
nach dieser Tat nicht einfach zur
Tagesordnung übergehen.“
In den Sicherheitsbehörden
sind Taten wie die von Würzburg ein Worst-Case-Szenario.
Zuletzt hatte ein Messerstecher
im bayrischen Grafing einen
Mann getötet, drei schwer verletzt. Im Bahnhof Hannover verletzte eine Islamistin einen Polizisten mit einem Messer schwer.
Nun spricht Bundesinnenminister Thomas de Maizière
(CDU) von einem „sinnlosen Akt
wahlloser Gewaltausübung“ in
Spurensuche: Polizisten in der Nähe des Ortes, an dem der 17-jährige Attentäter erschossen wurde Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa
Würzburg. Er sei „zutiefst geschockt“. „Wir werden alles in
unserer Macht Stehende tun,
um solche Taten zu verhindern“.
Eine Sprecherin des BKA räumt
ein: „Dass sich Einzeltäter zum
Teil im Stillen radikalisieren
und das in kürzester Zeit, stellt
die Sicherheitsbehörden vor
eine große Herausforderung.“
Auf Bahnhöfen und in Zügen
hat die Bundespoilzei grundsätzlich rund 5.000 Beamte im
Einsatz. Laut Jörg Radek, Vizechef der Gewerkschaft der Polizei, wurden auch Streifenbeamte in den vergangenen Jahren
gezielt für Amoktaten trainiert.
Sie sollen im Ernstfall selbst unverzüglich handeln können. „Wir
können aber nicht in jeden einzelnen Zug eine Streife setzen“,
so Radek. Und die Täter könnten
auch überall sonst zuschlagen.
„Es wird keine hundertprozentige Sicherheit geben.“
Auch André Schulz vom Bund
Deutscher Kriminalbeamter betont, dass die Polizei „nicht allen in die Köpfe schauen kann“.
Mehr als 500 islamistische Gefährder haben die Behörden in
Deutschland derzeit im Blick.
Ein Problem aber sei die Turboradikalisierung einiger Verdächtiger. „Mit einem Restrisiko
müssen wir leben“, so Schulz.
Jörg Radek appelliert auch
an die Bevölkerung. „Wir sind
auf Hinweise angewiesen.“ Wo
verändere sich jemand drastisch, wo verhalte er sich auffällig? Auch das Innenministerium verweist auf die Hotline
etwa beim Bundesmigrationsamt, wo Experten Angehörige
von Radikalisierten beraten.
Im Fall Würzburg half auch
das nicht. Bekannte beschrieben den 17-Jährigen als ruhig,
als gläubigen Muslim, keineswegs radikal. Er sei von der Jugendhilfe intensiv betreut worden und habe auch eine Ausbildung in Aussicht gehabt, als
Bäcker.
„Diese Täter schüren Angst“
Einzeltäter wie in Würzburg halten die Sicherheitsbehörden in Atem, sagt der Terrorismusexperte Guido Steinberg.
Für die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ sind solche Angriffe wichtig, weil sie für größere Anschlagspläne Raum schaffen
BEKENNTNIS
taz: Herr Steinberg, der „Islamische Staat“ hat ein Video des
Würzburger Angreifers veröffentlicht. Was bedeutet das?
Guido Steinberg: Das Bekennervideo zeigt, dass Muhammad Riyadh bereits vor der Tat zum IS
Kontakt hatte und dass er sich
dazu bekennt, im Namen des IS
gehandelt zu haben.
Ist der Würzburger Anschlag
damit der erste IS-Anschlag in
Deutschland?
Ja, das stimmt. Es ist der erste
Anschlag, bei dem es ein klares Bekenntnis von beiden Seiten gibt. Die IS-Medienagentur
Amaq hat zunächst ein Bekenntnis veröffentlicht und dann das
Video von dem Attentäter selbst,
in dem er sich zu IS-Chef Baghdadi bekennt. Das heißt, Ri­
yadh hatte bereits vorher Kontakt zum IS.
Bedeutet dieser Anschlag also
eine neue Qualität?
In letzter Zeit gab es drei Anschläge in Deutschland: den
am Hauptbahnhof in Hanno-
ver, den auf den Sikh-Tempel
in Essen und nun den in Würzburg. Dieser hat die deutlichste
Verbindung zum IS.
In allen drei Fällen sind die Täter minderjährig.
Der IS versucht, drei unterschiedliche Tätergruppen zu
motivieren. Erstens die gut ausgebildeten, die für große Anschläge nach Europa geschickt
werden. Dazu gehört das Attentat vom 13. November in Paris.
Dann gibt es Attentäter, die er
losschickt, um die Sicherheitsbehörden dazwischen zu beschäftigen, wie zum Beispiel bei
dem Anschlag auf das jüdische
Museum in Brüssel im Mai 2014.
Und dann ruft er seine Sympathisanten dazu auf, in ihren Heimatländern in Europa das zu
tun, was gerade in ihrer Macht
steht: Autos, Steine, Äxte oder
Messer zu benutzen, um Ungläubige zu töten. Diesem Aufruf scheinen in den letzten zwei
Jahren immer mehr Muslime in
der westlichen Welt zu folgen.
„Die Einzeltäter sind
häufig sehr jung.
Viele der älteren
dürften schon nach
Syrien ausgereist
sein“
In der dritten Gruppe ist deutlich zu bemerken, dass die Täter
sehr jung sind. Viele der älteren
dürften schon nach Syrien ausgereist sein.
Welche Funktion haben solche
Einzeltäter für den IS?
Für den IS sind sie wichtig, weil
sie Angst schüren und die Sicherheitsbehörden der westlichen Staaten in Atem halten.
Das ist eine Strategie, die von
al-Qaida in Pakistan entworfen
wurde und inzwischen vom IS
mit großem Erfolg angewandt
wird. Polizei und Nachrichtendienste werden so gebunden,
dass der IS Zeit und Ruhe für die
Vorbereitungen eines größeren
Anschlags gewinnt. Bei den Einzeltätern, die nicht beim IS waren, ist die Grenze zwischen politischer Motivation und psychischen Motiven aber sehr schwer
auszuloten. In Orlando hat man
das gesehen – wohl ein vom IS
inspirierter Anschlag, aber auch
ein Täter mit psychischen Problemen.
Früher hätte man wohl bei
manchen dieser Fälle von
Amokläufen gesprochen – wo
fängt der Terror an?
Die Grenze definieren wir. Am
Dienstagmorgen war die Beschreibung des Würzburger
Anschlags als Amoklauf noch
richtig. Dieses Urteil muss aber
nach der Veröffentlichung von
Bekenntnis und Video revidiert
werden. INTERVIEW: S. AM ORDE
Guido Steinberg
■■48, ist promovierter Islamwissenschaftler und arbeitet bei der
Stiftung Wissenschaft und Politik
(SWP) zu den Schwerpunkten
Naher Osten und Islamismus.
Zuvor war er
TerrorismusReferent im
Bundeskanzleramt.
Foto: privat
Schwerpunkt
Türkei
M IT TWOCH, 20. JU LI 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Die im Zuge des Flüchtlingsdeals mit Ankara vereinbarte Visafreiheit
rückt in weite Ferne. Vor allem die Todesstrafe ist eine rote Linie
VON DANIEL BAX
BERLIN taz | Nach dem Putsch-
versuch in der Türkei könnte
der Flüchtlingsstrom nach Griechenland wieder anschwellen.
Dies befürchtete der griechische Migrationsminister Ioannis Mouzalas am Montag im
Parlament in Athen. „Es ist sehr
wahrscheinlich, dass die Vorfälle in der Türkei auch Auswirkungen auf die Flüchtlingssituation haben“, zitierte ihn der griechische Fernsehsenders Skai.
Mouzalas betonte, er wolle keine
Panik schüren. Aber es sei nun
einmal die Aufgabe des Parlaments, auf alle Eventualitäten
vorbereitet zu sein.
Mit einem Flüchtlingsproblem der besonderen Art hat
seine Regierung seit dem Wochenende zu tun. Da setzten
acht türkische Soldaten mit einem Militärhubschrauber nach
Griechenland über und beantragten politisches Asyl. Die
Türkei verlangt nun die Auslieferung der „Verräter“, denen
sie eine Beteiligung am Putschversuch vorwirft. Griechenland
will den Fall erst einmal prüfen.
Rechtlich liegen die Dinge völlig anders als bei Flüchtlingen
aus Syrien und anderswo, denn
die Türkei ist für sie kein „sicherer Drittstaat“, sondern ihr – zunehmend unsicher werdender –
Herkunftsstaat.
Seit im März diesen Jahres
das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei in
Kraft getreten ist, hat sich die
Zahl der Flüchtlinge und Migranten, die von der türkischen
Küste aus nach Griechenland
übergesetzt haben, stark verringert – von täglich bis zu 2.000
Menschen im Februar auf nur
noch wenige Dutzend pro Tag
im April. Doch nun wächst innerhalb der EU die Befürchtung,
Ankara könne den Flüchtlingspakt einseitig aufkündigen.
Der Hamburger Politologe
Yaşar Aydın hält das für unwahrscheinlich. „Meines Wissens ist
die Türkei bisher ihren Verpflichtungen nachgekommen
und ich gehe davon aus, dass
sie das auch weiter tun wird“,
sagte er der taz. „Erdoğan kann
es sich nicht leisten, sich auch
in der Flüchtlingsfrage mit der
EU zu überwerfen und als Unterstützer von Schleuserbanden
dazustehen.“ Er äußerte aber die
Befürchtung, „dass durch das
Chaos im Staatsapparat eine
Sicherheitslücke entsteht, die
den Schleusern die Arbeit erleichtert.“
Schlechte Aussichten: zerborstene Fensterscheibe am Hauptquartier der Polizei in Ankara Foto: Osman Orsal/reuters
Der Deal mit der Türkei liegt in Scherben
EU/TÜRKEI Die Bundesregierung behauptet, das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei habe weiter Bestand. Doch
die EU rückt von einigen Zusagen bereits ab. Ausschlaggebend ist der Umgang des Landes mit der Todesstrafe
Griechenland
­fürchtet, die Zahl
der Flüchtlinge in
der Ägäis könnte
wieder steigen.
Acht Soldaten
haben dort nach
dem Putschversuch
außerdem politisches
Asyl beantragt,
die Türkei verlangt
ihre Auslieferung
Die Türkei hat der EU zugesichert, alle Flüchtlinge zurückzunehmen, die seit März neu
auf den griechischen Inseln
ankommen. Im Gegenzug verpflichtete sich die EU, dafür die
gleiche Zahl syrischer Flüchtlinge direkt aus der Türkei aufzunehmen. Außerdem stellte
die EU der Türkei in Aussicht,
den Visa-Zwang für ihre Bürger
aufzuheben und die Beitrittsverhandlungen zur EU wieder aufzunehmen.
Bis Juli hat die EU aber erst
ganze 798 syrische Flüchtlinge
aus der Türkei aufgenommen,
294 davon kamen nach Deutschland. Kanzleramtsminister Peter
Altmaier (CDU) ist dennoch der
Ansicht, dass das Flüchtlingsabkommen weiter Bestand habe.
Beide Seiten müssten ihre Verpflichtungen weiterhin erfüllen,
und „das werden sie auch tun“,
sagte er der Saarbrücker Zeitung.
Allerdings ist die EU von einigen Zusagen bereits abgerückt.
Weil sich Ankara schon vor dem
Putsch weigerte, seine Terrorismusgesetze abzuschwächen,
wurde die Visa-Frage auf die
lange Bank geschoben. Zuletzt
wurde der Oktober als Termin
für das Ende der Visa-Pflicht genannt. EU-Kommissar Günther
Oettinger hält eine solche Entscheidung noch in diesem Jahr
nun aber für unwahrscheinlich.
Er gehe davon aus, dass es „zum
Jahreswechsel noch keine Regelung“ geben werde. Scharf kritisierte er, dass die Immunität
von Abgeordneten aufgehoben
wurde, Journalisten eingeschüchtert und jetzt „missliebige Richter zu Tausenden aus
dem Verkehr gezogen“ würden.
Mehrere EU-Politiker, darunter die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini, sehen die zur
Zeit debattierte Wiedereinführung der Todesstrafe als rote Linie der Beitrittsverhandlungen.
Das gilt nicht nur für die EU,
sondern auch für den Europarat. Das Gremium erklärte, mit
der Todesstrafe könne die Türkei
dort nicht mehr Mitglied sein.
Seit dem gescheiterten Putsch
vom Freitag wurden in der Türkei 8.660 Menschen festgenommen, unter ihnen dutzende
Generäle, Richter und Staatsanwälte. Knapp 30.000 Staatsbeamte wurden suspendiert.
Eine Massenflucht wie nach
dem Putsch von 1980 befürchtet
der Politologe Yaşar Aydın deshalb aber noch nicht. „Gerade
die vielen jetzt vom Dienst suspendierten Beamten, die weiterhin ihr Gehalt beziehen und die
bisher mit ihren grünen Pässen
problemlos nach Europa reisen
konnten, werden zunächst abwarten, wie sich die Dinge weiter entwickeln“, sagt Aydın.
Allerdings vermutet er, dass
viele Hochqualifizierte sich
nach Arbeit in Deutschland oder
in den USA umschauen werden,
weil sie über die Entwicklung in
der Türkei besorgt sind. „Einen
solchen Exodus gab es schon
vorher, und der wird sich fort­
setzen“, prognostiziert der Politologe.
Erdoğan zeigt sich von EU-Warnungen unbeeindruckt
ISTANBUL taz | Es war eine ent-
fesselte Menge, die in der Nacht
von Montag auf Dienstag ihrem
Führer Recep Tayyip Erdoğan
vor dessen privatem Haus huldigte. Tausende waren einem
Aufruf des Istanbuler Bürgermeisters gefolgt, sich am Montagabend an einem zentralen
Platz im Stadtteil Üsküdar, auf
der asiatischen Seite der Stadt,
zu versammeln, um von dort zur
privaten Residenz des Präsidenten zu marschieren.
Einmal angekommen, wiederholte sich das Ritual, das
aus anderen Treffen zwischen
Volk und Führer mittlerweile
bekannt ist: „Wir wollen die Todesstrafe“, „Wir wollen die Todesstrafe“, skandierte die Menge
laut. Derweil zeigt sich Erdoğan
immer geneigter, diesen Rufen
Gehör zu schenken.
Die ultra­
nationalistische MHP
unterstützt die Ein­
führung der Todes­
strafe. Damit wird
der Weg frei für ein
Referendum über eine
Verfassungsänderung
ALLIANZ
In seiner Antwort an die
Menge fragte Erdoğan: „Warum
sollte ich sie (die Putschisten)
auf Jahre hinweg im Gefängnis
halten und füttern?“ Er nahm
damit Bezug auf einen bösen
Satz von Kenan Evren, jenen
General, der sich im September 1980 an die Macht putschte
und bis 1989 Staatspräsident der
Türkei war. Kritikern der Todes-
strafe hatte er nach dem Putsch
entgegengehalten: „Sollen wir
diese Typen etwa noch durchfüttern statt sie zu hängen.“ Das
würden die Leute heute wieder
sagen. „Soll ich das ignorieren?“,
fragte der Präsident.
Vier Jahre nach dem Putsch,
also im Jahr 1984, wurden die
letzten Todesurteile in der Türkei vollstreckt, 2004 wurde die
Abschaffung der Todesstrafe
dann in der Verfassung verankert. Putschisten hätten es aber
nicht verdient, weiter am Leben
zu bleiben, meint Devlet Bahçeli,
Chef der ultranationalistischen
Partei MHP. „Wenn Erdoğan und
die AKP die Todesstrafe wiedereinführen wollen“, sagte er gestern, „werden wir nicht zurückstehen“. Mit den Stimmen der
MHP kann Erdoğan im Parlament noch nicht die für eine
Verfassungsänderung nötige
Zweidrittelmehrheit erreichen.
Für die 330 Stimmen, die er
braucht, um über die Wiedereinführung der Todesstrafe eine
Volksabstimmung durchführen
zu lassen, würde es aber reichen.
Die Mahnungen aus Brüssel und
Berlin, das Spiel mit der Todesstrafe würde den Beitrittsprozess zur EU automatisch beenden, machen jedenfalls auf AKP
und MHP erkennbar keinen Eindruck. Wer ist schon die EU, um
sich dem Willen des Volkes in
den Weg zu stellen?
Auch mit dem anderen großen westlichen Partner des Landes verschärfen Erdoğan und
seine Regierung unterdessen
den Konflikt. Mit allen Mitteln
will Erdoğan erreichen, dass die
USA den 75-jährigen Fethullah
Gülen, der seit 1999 in den USA
im Exil lebt, an die Türkei ausliefern. Bislang hat die Obama-Administration dieses Verlangen
immer kühl zurückgewiesen.
Auch jetzt hat Außenminister
John Kerry seinem türkischen
Kollegen Mevlüt Çavuşoğlu ausgerichtet, erst wenn die Türkei
stichhaltige Beweise vorlege,
könnten die US-Regierung und
die zuständigen Gerichte sich
damit befassen. Erdoğan wirft
Gülen vor, der Anstifter des
fehlgeschlagenen Putsches vom
„Warum sollte ich
sie auf Jahre hinweg
im Gefängnis halten
und füttern?“
PRÄSIDENT ERDOĞAN
letzten Freitag zu sein. Justizminister Bekir Bozdağ kündigte im
Sender CNN-Türk an, man werde
den USA vier Dossiers schicken,
in denen die Beweise gegen Gülen und seine Bewegung zusammengefasst seien. Eine türkische Expertenkommission ist
schon in Washington eingetroffen. Ministerpräsident Binali Yıldırım legte gestern verbal noch eins drauf: „Wir werden
ihnen mehr Beweise liefern, als
ihnen lieb ist“.
Derweil gehen die Säuberungen in den türkischen Institutionen weiter. Neben weiteren Festnahmen im Militär wurden gestern über 250 Mitarbeiter aus
der Verwaltung des Ministerpräsidentenbüros entlassen. Das
Bildungsministerium suspendierte mehr als 15.000 Beamte.
JÜRGEN GOTTSCHLICH