Der Unfreiwillige - Website Wolf Bartels

Der Unfreiwillige
Ein Erlebnisbericht 1939 - 1949
von Hans Bartels
verwendete Abkürzungen:
HKL = Hauptkampflinie
IA = Leiter der Division/Führungsabteilung
IB = Leiter der Division/Versorgungsabteilung
IC = Generalstabsoffizier
z.b.V. = zu besonderer Verwendung
OKW = Oberkommando der Wehrmacht
Hinweis:
dieser Erlebnisbericht aus dem Krieg wurde von meinem Vater (geb.
1904) aus der Erinnerung in den
Fünfziger Jahren niedergeschrieben. Die heutzutage etwas seltsam anzuhörende Sprache ist die seiner Zeit in Ostpreußen, wo er aufgewachsen
ist.
Die Untertitel der Kapitel und Ergänzungen in eckigen Klammern wurden
zwecks besserer Verständlichkeit dem Originaltext hinzugefügt.
Kopien und Links nur mit Genehmigung. Copyright Wolf Bartels, 2005
Kapitel I
Planmäßige Übung – Überfall auf Polen – Weichselbrücke bei Dirschau
"Nun, gib schon endlich her, Otto. Sieh mal, so macht man
das: den Pfropfen fest anfassen und leicht drehen und dann -- Bum,
krachte der Sektkorken und klirr-bautz das, was eben noch ein Spiegel
war. "Ach, so macht man das?", lachte der junge Ehemann. "Höre", belehrte ich ihn, "Du mußt jetzt ganz ruhig sein. Frag' erst mal Christinchen, ob du überhaupt noch etwas zu sagen hast. Und außerdem,
Scherben bedeuten Glück und Glück wünschen wir dem jungen Paar! Vivat,
es lebe hoch, hoch, dreimal hoch!"
Brrrr. Brrrrr. Die Hausglocke? "Mau, geh' mal sehn und
wenn's kein Schneider ist, lass' ihn rein und gib ihm auch ein Glas
Sekt."
Im Türrahmen erschien das Gesicht des Briefträgers, ganz Amt
und Würde. "Ich habe ein Einschreiben". Komisch, Briefträger, die sich
wichtig vorkommen, sehen immer aus wie ein Staatsanwalt, der "lebenslänglich" beantragt.
"Na her damit. Wohl wieder vom Finanzamt?"
"Nee, diesmal nicht" Rrrrrrritsch. "Was, planmäßige Übung? Total verrückt! Jetzt
wo es aus allen Mauselöchern nach Krieg stinkt? - Kinder, hört bloß
mal her: Sie haben sich zur Ableistung einer planmäßigen Übung am
1.8.1939 um 7 Uhr morgens in der Kaserne des 24. Infanterieregiments
in Braunsberg zu melden!"
Schöne Bescherung - und die Urlaubsreise im August - zum
Teufel. Ade Innsbruck, ade Venedig, ade Wien, dafür: Sprung auf,
marsch-marsch, hinlegen. Immer rin mit der Schnauze in'n Dreck! Das
waren so die ersten Gedanken.
Planmäßige Übung. Wie nett die braunen Herren sich das ausgedacht hatten. Wie lange der Plan "spielen" würde, wußten sie wohl
selber nicht.
Ich mußte mich mit den Tatsachen abfinden; erfahrungsgemäß
kann man gegen ein Fuder Mist nicht anstinken. Ja, also am ersten August. Da waren noch fünf Tage Zeit. "Was tun wir damit?" "Reisen! Du
packst den Koffer und ich verständige den Chef."
Ja, wo wollen wir denn hin? Nun, wenigstens bis Danzig, zu
mehr reicht die Zeit doch nicht.
Mau machte ein ängstliches Gesicht, unser Baby war kaum acht
Wochen alt und brüllte zu den weisen Beratungen seiner Eltern. Eine
gute Freundin wurde aufgetan, die versprach, den Schreihals zu versorgen und schon hatte uns beide das nächste Flugzeug verschluckt.
Danzig, die alte Hansestadt, verinternationalisiert, von
Zoppot aus konnte man mühelos nach Polen hineinspucken, nach Gdingen
war es ein Katzensprung.
Gdingen, eine Planstadt, nichts natürlich gewachsenes. Hier
ein Wolkenkratzer, da Gelände und dann wieder ein Bau, so sechs bis
acht Stock hoch, in unseren Augen sehr hoch und sehr häßlich. Ach ja,
die polnische Weltstadt, kahl, öde, nur praktisch und wieder praktisch. Alles billig und nüchtern, so erznüchtern, daß viele Danziger
Goldwasser dazu gehörten, um sich von soviel Nüchternheit nicht völlig
berauschen zu lassen.
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Der Hafen, ein Stück Ostsee, durch Molen als Hafen deklariert, spekulierte zweifellos auf die Gutmütigkeit Neptuns, der bei
schlechter Laune die ganze Herrlichkeit mit einem handfesten Sturm
hinwegfegen könnte.
Man sollte Uhren erfinden, die sich der menschlichen Seele
anpassen, aber die Biester rennen wie besessen, wenn man sich nicht
für sie interessiert und kriechen wie Abrüstungskonferenzen mit Rückwärtsgang, wenn man auf etwas wartet. Jedenfalls schienen die Danziger
Uhren alle mit Rizinusöl geschmiert zu werden, sie hatten es unglaublich eilig.
Das sollten fünf volle Tage gewesen sein? Wir waren doch
kaum erst angekommen und schon stand die Maschine zum Rückflug bereit.
Die Stadt hell erleuchtet, dann die nachtdunkle See, kurz danach die
Lichtpünktchen von Pillau und schließlich Königsberg in gleißender
Pracht, ein letzter Gruß des Friedens. Verdunkelung, Bombengefahr, das
waren Vokabeln, die wir nur im zufällig einmal nicht geschwänzten
Luftschutzkursen gehört hatten ... Unser Friedensengel war schon ganz
klein und dünn, wir wußten es, wir wollten es nur nicht wahrhaben ...
Und so fand mich der 1.8. mit preußischer Pünktlichkeit,
fünf Minuten vor der Zeit "vor der Kaserne, vor dem großen Tor" und
der Posten grinste dreckig, als wenn er sagen wollte: Kamerad Schnürschuh, haben sie dich auch schon gefischt?
Die erste große Überraschung: die Kaserne war leer bis auf
ein paar Kranke, die bei der bevorstehenden Völkerwanderung nur eine
schlechte Figur gemacht hätten. Von uns Schmalspurkriegern jedoch fand
sich ein ganzer Haufen zusammen. Schnell eingekleidet: paßt - paßt der Nächste.
Waffen, Munition, Gasmaske, Soldbuch, Blutgruppe ...
Was sollte das alles bei der "Ableistung einer planmäßigen
Übung?" - Die anderen hatten wohl den Plan gar nicht erwarten können
und waren schon überplanmäßig abgebraust und wir wurden eiligst hinterher geschickt, damit wir ja nicht zu spät kämen.
Dicht an der polnischen Grenze trafen wir die Landsknechtkameraden, die bereits eifrig bemüht waren, ihr Soll durch Nacht- und
Feiertagsgeschichten zu erfüllen, planmäßig zu erfüllen.
So wurden die bisherigen Lehrer, Kaufleute, Angestellte und
was sie sonst noch gewesen sein möchten, den aktiven Kompanien zugeteilt, um sie auf Kriegsstärke zu bringen.
Aus der Traum vom Junkerstraßenbummel, Nachmittagskaffee auf
der Schloßteichterrasse bei Schwermer, 5-Uhr-Tanztee im Parkhotel.
Statt dessen exerzieren, Stacheldraht ziehen direkt an der Grenze,
Stellungen besetzen, einen imaginären Feind abwehren, eine Nebelwand
angreifen und ähnliches Don-Quixote-Gespiele.
Abends dann begann der richtige Krieg. In der Scheune. Das
Stroh wimmelte von Ratten. Kaum war man eingeschlafen, rannte einem so
ein Vieh über das Gesicht und oft genug wachte man auf von einem
schmerzhaften Biß in Ohren und Nase. Da konnte man schon genug kriegen
vom Kriege, ehe er überhaupt angefangen hatte.
Sehr schnell konnten wir die merkwürdige Feststellung machen, daß die berüchtigtsten Kasernenhofschreier, die Militär-Roboter
mit Schneideinlage plötzlich ganz normale Menschen wurden. Keine Rede
mehr von Schinderei, kein Robben mehr hin und her über den Hof, keine
Zahnbürste scheuerte mehr den Fußboden unseres Prachtbaus, - vielleicht, weil kein Fußboden da war? - sie ließen auch keine Sünder mehr
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als Vögelchen auf den Schränken singen, - ob das nur dran lag, daß die
betreffenden Möbel fehlten? - Oh nein, der Grund war ein anderer: die
waren ganz still und klein geworden aus Angst um's liebe Leben. Ja,
einige sogar zu auffällig still und klein ...
Eines Abends, wir trudelten gerade von einer Übung wieder in
unseren Bauernhof ein, standen da so zwei verdreckte, weibliche Figuren und musterten uns kritisch. "Was wollen die ungeküßten Jungfrauen
hier?", staunte mein Nebenmann, da schrie die eine: "Hans" und stürzte
ganz respektwidrig auf mich los. Ich habe mich direkt geniert. Mau und
eine Freundin waren mit einem funkelnagelneuen Opel aus Riesenburg herübergekommen. Natürlich war die Freude groß. Es wurde der letzte
schöne Abend des Friedens. Den armen Opel hatten sie allerdings hingemacht, er war noch nicht eingelaufen, der Motor saß bombenfest. Erstes
Kriegsopfer! Das erste, aber nicht das letzte.
Vier Wochen dauerte das neckische Spiel: abends die Grenze
besetzen und morgens wieder heimlich abziehen. Wir haben bei alledem
keinen Polen zu Gesicht bekommen und merkten auch nichts von den zahllosen, blutigen, räuberischen Überfällen auf deutsches Gebiet, von denen Rundfunk und Presse überliefen. Aber das war wohl bei uns nur ein
dummer Zufall...
Endlich nach Hangen und Bangen in schwebender Pein kam der
31.8. der endgültige Angriffsbefehl für den ersten September, 4:45
morgens.
Früh um drei Uhr standen wir dicht an der Grenze, der Nebel
war so dicht, daß man sich bequem eine Scheibe davon hätte herausschneiden können und sie auf's Butterbrot legen. Naß und kalt kroch er
in alle Ritzen.
Einer neben dem anderen, mit fünf Meter Abstand, standen wir
aufgefädelt. Wir hatten Zeit, über das Kommende nachzudenken.
Gehörte das auch noch zur "planmäßigen Übung"? Wo gedachten
die braunen Herren, die Übung abzubrechen? In Warschau vielleicht?
Würde es so glatt gehen wie im Rheinland, in Österreich, in den Sudeten und in Memel? Die Polen würden die braunen Wünsche sicher nicht so
einfach hinnehmen. Sie würden sich wehren; wehren, das heißt schießen;
schießen, das heißt töten ...
Wer wird der erste sein, den es erwischt; dich, Kamerad dort
oder gar mich? Was wird Frankreich dazu sagen, wenn wir jetzt gleich
im Nebel vorwärtsgehen? Und England? Werden sie ihre Hilfsversprechen
halten? Wenn ja, was dann? Dann ist es der zweite Weltkrieg. Ist der
auch in die "planmäßige Übung" mit einkalkuliert?
"Marsch" - flüsterte mein linker Nachbar - "nach rechts weitergeben." Damit war das entscheidende Wort gesprochen, der Krieg war
da.
Langsam rückten wir vor - in das feindliche Land hinein.
Feindliches Land, warum? Warum falle ich nun bei Nacht und Nebel in
ein in fremdes Land ein?
Die Grenze war überschritten, ein einfacher Feldrain. Auf
der anderen Seite Wald, Wald, nichts als Wald. Wir betreten den Wald,
im Nebel ist nichts zu erkennen. Steht hinter dem Baum nicht einer?
Ich erkenne ihn nur schemenhaft. Hebt er das Gewehr? Zielt er? Zielt
er auf mich?
Warum drückt er nicht ab? Will er mir Zeit lassen, mich zu
besinnen, daß ich ein Eindringling im fremden Lande bin? Wartet er,
daß ich zur Vernunft komme und umdrehe?
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Soll ich ihn anrufen: Kamerad, verzeih mir, ich kann nicht
anders, es ist höchster Befehl und ich muß gehorchen wie ein Sklave!
Nichts rührt sich. Es war nur ein Busch. Kein Schuß löst sich, im Nebel tasten wir uns mühsam vorwärts. Kein Feind weit und breit.
Gegen sieben Uhr haben wir den Wald durchquert, draußen hat
die Sonne gesiegt, der Nebel ist im offenen Land verschwunden. Weit
und friedlich liegen die Felder vor uns, Tautröpfchen glitzern und
flimmern im frühen Tageslicht.
Ich stelle fest, daß ich mit etwa dreißig Kameraden allein
auf weiter Flur bin, rechts und links ist der Anschluß verloren gegangen. Schnell die Landkarte heraus, eine kurze Orientierung: Dorf X,
das erste Angriffsziel, sollte bis gegen Mittag erreicht werden.
Auf den Landkarten war vermerkt, wo voraussichtlich mit
stärkerem Widerstand zu rechnen war. Die Luftwaffe hatte jede frische
Erdarbeit sorgfältig fotografiert und in die Karten eingezeichnet.
Solch eine Stelle lag nun unweit vor uns. Wir bereiteten uns
also zum Angriff vor. Langsam, ganz vorsichtig schoben wir uns näher.
- Nichts passierte. Sonntägliche Stille. Sollte der böse Feind ...?
Oder sollte er nicht?
Unsere ganze Aufmerksamkeit war auf den frischen Erdhaufen
gerichtet. Alle Regeln der Kriegskunst beobachtend, kamen wir langsam
näher. Ein Trupp machte einen Umgehungsversuch, um den Gegner in die
Zange zu nehmen. Nichts passierte.
Einige Bauern auf den Feldern fanden unser Tun wohl albern,
schulterten ihre Geräte und gingen ohne irgendwelche Hast oder Nervosität ihren Behausungen zu.
Immer näher schoben wir uns an das feindliche Widerstandsnest heran, schließlich waren wir ihm schon ganz nahe.
Die Stille war unerträglich. Einige kurze Sprünge, ein
schneller Lauf und der Feind war in unserer Hand. Nur leider - es war
keiner da. Auch von Widerstandsnest keine Spur. - Ein Bauer hatte nur
seine Rübenmiete frühzeitig vorbereitet. - Wir kamen uns im Moment
ziemlich dämlich vor.
Nach diesem Zwischenfall ging es in breiter Linie weiter.
Mittlerweile waren auch andere Truppenteile aufgetaucht, sodaß wir
wieder Anschluß bekamen.
War das nun der Krieg? Oder mimten wir vielleicht doch nur
Soldaten in Arys auf dem Truppenübungsplatz? Nicht einmal Pappkameraden fanden wir als Gegner vor.
Merkwürdiger Krieg, wir hatten uns das ganz anders vorgestellt und schließlich spielten wir ihn schon seit sieben langen Stunden so. Merkwürdig. Überaus merkwürdig solch ein Spaziergang.
Doch, was war denn das? Hinter uns erhoben sich riesige,
leuchtende Fackeln - hinter uns - lag der Krieg nicht vor uns?
Dicht neben uns erneut eine Fackel - hatte da nicht eben
noch ein Gehöft gestanden?
Die Bauern hatten ihre Scheunen angezündet, um die Ernte
nicht uns überlassen zu müssen. Kannten sie die These von der verbrannten Erde? Wer hatte sie ihnen beigebracht?
Was war das? Vor uns kein Gegner; aber hinter uns schwang
der Krieg bereits seine grausame Brandfackel. - Sollten wir umdrehen,
um ihn dort zu erfassen? Eben waren wir noch da gewesen und hatten den
Krieg nicht gefunden, nun stand er hell und lodernd am Himmel.
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Was ist der Krieg? Ist er ein Gespenst, das überraschend hie
und da erscheint, Tot und Verderben sät und ebenso schnell wieder verschwindet? Ist er ein Geist, der alle Schranken durchbricht? Durch die
Lüfte heransaust? - Was ist der Krieg? Wir ahnten damals nicht, daß dieses erste Zusammentreffen
mit dem Kriege für die Zukunft so charakteristisch sein würde. Wir
suchten ihn vorne, - vorne, wo er zu sein hatte. Vorwärts! Mögen andere mit dem Krieg hinter uns fertig werden.
Die Luft flimmerte vor Hitze, kein Lüftchen regte sich.
Hungrig und halb verdurstet torkelten wir weiter. Ein Spaziergang ist
schon eine nette Sache. Wenn er aber über acht Stunden hinausgeht und
man mit vierzig Kilo Gepäck immer querbeet über die Felder muß, dann
kann auch dem besten Krieger die Spucke sauer werden.
Sieh da, sieh da Kamerad, was für ein lustiges Geschehen,
der Sand spritzt immer so komisch, wie wenn große Tropfen in's Wasser
fallen. Dicht zu unseren Füßen vollführt der Sand einen so neckischen
Tanz. Wollen wir ein Weilchen zugucken?
"Mensch, das ist feindliches Maschinengewehrfeuer! Hörst du
nicht die fernen Abschüsse?" Marsch-marsch, die Schlucht erreichen! Wir erreichten sie alle, keinem war ein Haar gekrümmt worden. Der Krieg hat uns mit seinem freundlichstem Lächeln empfangen.
Empfangen? Ja, er hatte uns empfangen und ließ uns Jahre und Jahre
nicht wieder los.
Bald stießen wir auf stärkeren Widerstand, nur mühsam kamen
wir voran, bis wir gegen abend wenige hundert Meter vor einem Dorfrand
endgültig festlagen.
Eine Schlucht gab uns etwas Deckung. Die Polen waren tapfere
Gegner, sie wehrten sich verbissen. Ein höllisches Geschieße ging hin
und her, die ersten Verluste traten ein. Es gab Tote und Verwundete.
Jetzt hörte jede Philosophie über den Krieg auf. Er war blutiger Ernst
geworden.... Und ich bin mitten drin....
Wie gejagte Hasen saßen wir in unseren Löchern; wagte auch
nur einer, den Kopf etwas zu heben, ging ein wütendes Geschieße drüben
los. Viel zu schaffen machten uns die gut getarnten Baumschützen, die
mit einzelnen, gezielten Schüssen so manchem unserer Kameraden zum
Verhängnis wurden.
Gegen Mitternacht wurde es etwas ruhiger. Wir konnten daran
gehen, die Bilanz des ersten Kriegstages zu ziehen: sechs Tote, sechs
Verwundete und zwei Abgänge wegen Nervenzusammenbruch. Der eine von
den beiden war ein blutjunges Bürschchen, der andere der am meisten
gefürchtete Rekrutenschinder aus fernen Friedenstagen. - Ja, also
vierzehn Mann am ersten Tag, mehr als zehn Prozent, - das konnte noch
gut werden.
Munition wurde nachgebracht, die Verpflegung blieb aus. Irgendwo war sie stecken geblieben.
Mit dem ersten Morgengrauen lebte der Kampf wieder stark
auf. Plötzlich ging der langgezogene Ruf "G A S , G A S" durch die
Reihen. Verfluchte Schweinerei, auch das noch! Als wenn wir nicht ohnedies die Nase voll hätten und den ganzen Krieg zum Teufel wünschten.
Also, raus die Gasmaske. Ein kurzes Schnüffeln. Ja, es roch
wirklich leicht merkwürdig, aber nicht unangenehm. Eine Stunde fluchten, schwitzten und verwünschten wir den Krieg unter der Maske, eigentlich war uns schon alles egal.
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Endlich kam der Ruf: Gas vorbei! Wir rissen das Ding erlöst
herunter. Befreit von einem Alp. Aber war der Ruf zu früh ertönt - es
roch doch immer noch - sollen wir die Maske wieder aufsetzen? Nervös
fingerten wir daran herum.
"Tabak", brüllte da einer und löste die Spannung. Richtig,
da vorne war ein Feld mit Tabak. Der frische Morgenwind hatte uns eine
Prise herübergeweht und uns alle in's Bockshorn gejagt.
Zwei Tage wehrte sich der Gegner heftig, wir kamen keinen
Fingerbreit mehr voran. Dann wurden Panzer und Stukas eingesetzt und
in zwanzig Minuten war alles vorbei.
Noch einmal setzte sich der fliehende Gegner fest und beschäftigte uns einen ganzen Tag, bis der Widerstand endgültig gebrochen war.
Dann lernten wir den Krieg von seiner schlimmsten Seite kennen. Marschieren, marschieren und wieder nur marschieren.
Die Füße hatten bald wütend beißende Blasen, zwischen denn
Arsch-Backen schien sich ein ganzes Rudel Wölfe gütlich zu tun.
Marschieren und nur marschieren: keine Rastpausen mehr, denn
keiner von uns wäre wieder hochgekommen danach. Abends waren wir so
fertig, daß wir umsanken, wo wir waren. Wir beteten heimlich zum lieben Gott, er möge doch so ein paar Polen wild werden lassen! Sollten
sie auf uns schießen! Dann könnte man sich hinwerfen und etwas ausruhen. Der größte Schlamassel wäre uns viel lieber gewesen als immer nur
marschieren.
Wenn es wenigstens noch ein Ziel gegeben hätte - Warschau
vielleicht, das Klein-Paris mit verlockenden Frauen und all dem süßen
Leben! Das Niederschmetternste war, daß es am Tage vorwärts ging
und nachts, wenn es plötzlich Alarm gab, mußten wir fast den gleichen
Weg wieder zurück: "Die Nachbardivision ist in Schwierigkeiten geraten
und braucht unsere Hilfe!" Also, Nachtmarsch. Nie sind wir gebraucht
worden, immer kamen wir zu spät, sie waren alleine fertig geworden. Uns blieb nur übrig, den Weg zum dritten mal zu machen und die Blasen
an unseren Füßen bliesen den Triumpfmarsch dazu.
Einmal wären wir beinahe vom Marschieren erlöst worden: um
Mitternacht steckte die Bevölkerung das Dorf an, in dem wir schliefen.
Wenn nicht ein paar handfeste Kerle uns am Genick gepackt und vor die
Tür geworfen hätten, so hätte es am Morgen dort womöglich stark nach
gebratenem Beefsteak gerochen.
Und weiter: marschieren, immer nur marschieren, fein geordnet wie zu hause, in Fünferreihen, im Regimentsverband. Vom Krieg keine Spur mehr, nur Kilometerfressen, immer mehr Kilometer.
Noch lockte Warschau, ein süßer Traum. Dann behaupteten böse
Zungen, wir würden links daran vorbeimarschieren. Konnte es sein?
Nach all den Strapazen - nicht einmal Warschau? Die Gerüchte
verstärkten sich und bald wurde es klar: Warschau, der Traum aller
Landserseelen, blieb rechts liegen. Es ging hinauf in die unergründlichen Wälder nahe der russischen Grenze.
Nur einmal gab es eine Unterbrechung. Wir marschierten im
Regimentsverband seit Stunden und Stunden einen Waldweg entlang,
rechts und links dichtester Forst, man konnte keine zehn Schritt weit
hineinsehen. Da kam die Nachricht von hinten durch, eine polnische Kavallerie-Abteilung hätte unseren Troß überfallen und alles kurz und
klein geschlagen.
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Verfluchte Schweinerei und das mitten im Frieden! Ach nein,
es war ja doch Krieg, wir hatten das nur vor lauter Marschieren bereits vergessen.
Die Brüder müssen wir fangen - unsere Erbsensuppe war futsch
- Kompanie A nach rechts, Kompanie B nach links und einen großen Kessel gebildet.
Schließlich, nach stundenlanger Jagd hatten wir sie fest,
sie saßen wie die Maus in der Falle und konnten uns nicht mehr entrinnen. Das war die Rache für die Erbsensuppe. Aber wehren taten sich die
Polen! Wo sich nur ein Blatt rührte, gab es ein wüstes Geknalle. Kein
Aas ließ sich sehen; aber sicher hatten wir sie, sie waren völlig umzingelt.
"Verdammter Saudreck", tönte es plötzlich aus dem Kessel.
"Nanu, seit wann redet ihr deutsch?" - "Warum den nicht, ihr Hammel?"
Wir hatten eine unserer eigenen Abteilungen eingekreist und heftig beschossen, wir hatten sie für Polen gehalten und sie uns desgleichen.
Ein allgemeines Gelächter löste die Spannung. Bei all dem Geschieße
war auf beiden Seiten niemand etwas geschehen. Die wirklichen Polen
waren auf ihren schnellen Pferden längst über alle Berge.
Es war eine nette Unterbrechung des ewigen Marschierens gewesen. Man hatte stundenlang im tiefen Gras gelegen, die nächsten drei
Büsche beobachtet und aufgepaßt, daß keiner sie stahl. Herrliches Faulenzertum, bei den wunden Füßen.
Was scherte es einen, wenn es rundherum ein bißchen knallte?
Nun, da knallte man eben ein bißchen zur Gesellschaft mit.
Auf einmal war alles zu Ende: in Reihen formieren und wieder
das alte Lied: marschieren. Hol' der Teufel den ganzen Krieg, wenn er
nur aus marschieren und wieder marschieren besteht!
Dabei stellten wir Vergleiche an: Hannibals Legionen waren
von Karthago bis nach Rom marschiert. Napoleons Truppen von Paris nach
Moskau. Und wir, wir kamen uns wie Märtyrer vor bei dem Spaziergang
quer durch Polen. Aber die Füße waren unbelehrbar und hielten nichts
von Vergleichen.
Endlich, endlich mußte Schluß damit sein, am 18.9. erreichten wir einen Ort unweit der russischen Grenze. "Einrichten für fünf
Tage Ruhe", hieß es abends beim Appell um 20 Uhr. Eine herrlichere Musik hat es wohl nie in unseren Ohren geklungen.
Selig rollten wir uns in den nächsten Winkel um zu schlafen.
Ob hart, ob weich, ob Bett oder Brett, wen kümmerte es. Nur schlafen,
schlafen.
Um 23 Uhr Alarm - hatten die verfluchten Hunde schon wieder
ihr eigenes Nest angesteckt? Keine Brandfackel war zu sehen.
Im hastigen Appell wurde uns mitgeteilt, dieses Gebiet wäre
im Staatsvertrag mit Rußland den Russen zugesprochen und die hätten
bereits die Grenze überschritten und müßten in spätestens einer Stunde
da sein. Niemand traute den neuen Freunden und anscheinend glaubte man
selbst in Berlin, die Russen würden uns kalt frühstücken, darum jagte
man uns wieder zurück.
Noch weitere vier mal besetzten wir die "neue Grenzlinie"
und eben so oft mußten wir sie wieder räumen; weil die Russen sie
nicht anerkannten.
Endlich, am 27.9. erreichten wir Ostpreußen und brachen völlig erschöpft zusammen. Wir hatten zweiundzwanzig Marschtage hinter
uns, ohne Pause. Schon nach drei Tagen hatten wir geglaubt, nicht mehr
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weiter zu können. Ohne den berüchtigten Kadaver-Gehorsam hätten wir
die übermenschliche Leistung nicht zustande gebracht.
Der Polenfeldzug war aus, erfuhren wir. Für uns auch. Wir
wurden in's Danziger Gebiet zur Neugruppierung verladen. In Prostken
bestiegen wir den Zug und in Neuteich stiegen wir wieder aus. Dann antreten zum Sieger-Einzug in die Stadt. Siegeszug durch die Stadt?
Wir kamen uns höchst deplaziert vor. Sahen wir äußerlich wie
Sieger aus in unseren verdreckten Uniformen? Schritten so Sieger, von
Pflasterstein zu Pflasterstein humpelnd und jedesmal den heftigen
Schmerz nur mühsam verbeißend und leise Flüche murmelnd?
Waren wir denn überhaupt Sieger? Sicher, der Polenfeldzug
war gewonnen; aber war das ein Sieg?
Was hatten wir getan? Wir hatten zwar das Pulver gerochen;
vier bis fünf Tage hatten wir um unser Leben gebangt, aber dann, dann sind wir marschiert und immer nur marschiert.
Nun sollten wir Sieger sein - nein, wir kamen uns eher vor
wie halb zu Tode gehetztes Wild. Aber die braunen Herren wollten einen
Sieg feiern und so zogen wir in die Stadt ein.
Es gab Blumen und Heil-Rufe, aber die Begeisterung war auf
beiden Seiten mäßig.
Wir kamen in's Quartier, wir hatten Zeit, die Blasen an unseren Füßen heilen zu lassen, unsere Wölfe mit Talkum zu füttern und
auch sonst in menschenähnlichen Zustand zu versetzen. Wir konnten unsere Frauen herantelegrafieren und es gab ein herzliches und freudiges
Wiedersehen.
Erst jetzt erfuhren wir näheres über den Polenfeldzug. Eine
ganze Reihe guter Bekannter war gefallen oder verwundet, die ostpreußischen Regimenter hatten mit die Hauptlast des Kampfes getragen.
Die große Weichselbrücke bei Dirschau lag gesprengt im Wasser. Man erzählte uns, das es eine der Hauptsorgen der Armeeführung
gewesen wäre, sie unversehrt in die Hände zu bekommen.
Schon monatelang vor dem Kriege hatte man jeden Morgen um 4
Uhr früh einen Güterzug vom deutschen Marienburg abfahren lassen, der
langsam durch die Stationen Liessau und Simonsdorf bummelte, sich der
Brücke näherte, herüberfuhr, nach Dirschau hinein rollte, dann den
Korridor durcheilte und irgendwo im Reich verschwand. Sei April 39
stand der Güterzug im Fahrplan.
Niemand wußte, daß auf einem großen deutschen Truppenübungsplatz ein Modell der Brücke in Originalgröße aufgebaut war, mitsamt
den Stationen Liessau und Simonsdorf. Auch auf dem Truppenübungsplatz
rollte täglich ein Güterzug, nur unter strengem Ausschluß der Öffentlichkeit.
Am 1.9. früh, Punkt vier Uhr rief die Bahnmeisterei Marienburg in Dirschau an und bat um Abfahrtserlaubnis für den Zug. Sie wurde erteilt, langsam rollte der Zug aus der Halle und ebenso langsam
rollte er durch die Stationen Liessau, wo drei verschlafene polnische
Eisenbahnbeamte ihren Dienst taten. Plötzlich, wie aus dem Nichts,
tauchten Gestalten aus dem Dunkeln auf, bemächtigten sich lautlos der
drei Polen. Der Bahntelegraf spielte und gab seine Meldung von der
ordnungsgemäßen Durchfahrt des Zuge nach Simonsdorf und Dirschau
durch. Niemand ahnte dort, daß der Telegrafist am anderen Ende Stahlhelm, Gewehr und Gasmaske trug.
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Das Gleiche spielte sich in Simonsdorf ab, aber dort fand
man nur zwei Bahnbeamte vor, der dritte fehlte. War er krank? War er
in Urlaub? Man suchte den ganzen Bahnhof ab, er war nicht da.
Der Zug rollte weiter. Immer näher kam er der Brücke.
Die Soldaten, in dem Güterwagen versteckt, hatten jeden
Schritt monatelang geübt. Zehn Mann für den ersten Brückenpfeiler,
zehn Mann für den zweiten. Auf Strickleitern hinunter, Sprengkörper
entfernen.
Langsam rollte der Zug näher - noch 900 Meter, noch 800,
noch 700, da - ging mit ohrenbetäubendem Krachen die Brücke in die
Luft. Sand und Steine flogen den erschreckten Männern in den Waggons
um die Ohren.
Was war geschehen? Wie konnte der so fein gesponnene Plan
der mit soviel Mühe geübt worden war, mißlingen?
Ja, der dritte Beamte - sagten die Leute in Neuteich - der
Beamte, der in Simonsdorf nicht angetroffen worden war, der hatte entgegen aller Dienstvorschrift hinterwärts ein menschliches Rühren verspürt und war - wieder entgegen aller Dienstvorschrift - nicht auf dem
Bahnsteig, als der Zug durchfuhr. So beobachte er, durch das kleine
Herzchen einer gewissen Tür schauend, was mit seinen Kollegen geschah.
Noch mit den Hosen in der Hand entwich er, telefonierte mit Dirschau
über einen Privatanschluß und dort begriff man sofort, daß das der
Krieg war und drückte auf das bewußte kleine Knöpfchen.
Die Brücke war nicht mehr. "Und das alles wegen dem Herzchen", meinte der Gefreite Pritzkoleit...
Mit dem Kriegsglück war das so'ne Sache. Mal machte es hüh
und mal machte es hott.
Nachdem die Polen gesehen hatten, daß sie gegen die deutsche
Übermacht ihre Grenzen nicht halten konnten, konzentrierten sie sich
auf die Verteidigung von Warschau, bis die zugesagte englischfranzösische Hilfe einträfe. Wenigstens vier Wochen würde man die
Stadt halten können, versicherte der polnische Generalstab.
Jedoch, gleich beim ersten Beschuß traf eine Granate das
Hauptwasserrohr. Die Stadt war ohne Wasser.
Warschau mußte sich nach zwei Tagen ergeben.
Kapitel II
Rosalinde am Rhein – Warschau
Nur fünf Tage dauerte das Danziger Glück. Dann rollte der
Zug mit uns die Ostseeküste entlang. Wohin sollte es gehen? Vielleicht
nach Stettin oder Lübeck zum Küstenschutz? Nein, er fuhr weiter, also
nach Hamburg oder Bremen? Auch dort kein Ausladebefehl.
Wir fuhren durch das Ruhrgebiet, den Rhein hinauf und landeten in einem Moseldörfchen. Ein lustiges Völkchen hier, das den Wein
anbaut und ihn am liebsten selber trinkt. Die sonst so schwerfälligen
Ostpreußen machten begeistert mit und kamen schnell auf Touren.
"Herr Hauptmann", erschien eines Tages ein Unteroffizier
beim Chef, "wir wollen Sonnabend im Dorfsaal einen bunten Abend machen." - "Wie stellt ihr euch das vor? Wo wollt ihr den für zwei bis
drei Stunden Unterhaltung herkriegen?"
"Ach, wir meinen man bloß, Herr Hauptmann, das wird schon
gehen, unsere Kapelle übt eisern. Die Böhmische Polka kann sie bald
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und bis Sonnabend lernt sie noch was dazu. Die Hauptsache ist doch,
daß es schön laut ist und man viel tanzen kann." - "Na ja, wenn ihr
meint; den Reinfall habt ihr für umsonst."
So stieg der bunte Abend. "Rosalinde, schenk' mir Dein Herz
heute nacht", brauste es durch den Saal. Ein Sketch aus dem Soldatenleben folgte; der krumme Rekrut und der schneidige Unteroffizier sind
ein unerschöpfliches Thema.
Da ging es den los: "Neumann, in wieviel Teile zerfällt ein
Gewehr", fragt der Unteroffizier und der Rekrut Neumann gibt die klassische Antwort: "Das kommt ganz darauf an, wie man es hinschmeißt!"
Oder: der Unteroffizier fragt kurz und klar: "Neumann, wer darf was
nicht tun, wenn er was tut?" - - - "Aber Neumann, das habe ich Ihnen
doch schon tausend mal gesagt: Der Soldat darf nicht rauchen, wenn er
auf Wache steht!"
Das Publikum war eisern gewillt, sich zu unterhalten und
sehr anspruchsvoll war es auch nicht, die guten alten Kamellen wurden
mit freundlichem Beifall aufgenommen.
Schallendes Gelächter löste die "preisgekrönte Kurzgeschichte" aus: Unteroffizier Schimmelpfennig kam mit einem Soldatenblättchen
auf die Bühne. "Ich werde Ihnen jetzt aus unserer Soldatenzeitung die
beste Kurzgeschichte mit hundert Worten vorlesen." Erwartungsvolles
Schweigen. - Schimmelpfennig fing an: "Gestern haben wir die Latrinenstange angesägt ...", brach ab. Das Publikum wartete, nichts geschah.
Schließlich eine Stimme von hinten: "Mensch, das sind doch bloß 6 Worte". "Ja," sagte Schimmelpfennig, "aber die restlichen 94 Worte, die
sprach Feldwebel Meier, als wir ihn nachher aus der Grube wieder herauszogen!"
Die Kapelle intonierte: "Und wenn der weiße Flieder wieder
blüht", der Beifall der Tanzenden steigerte sich zum begeisterten Applaus. Die Musik spielte Pause, ein Zauberkünstler trat auf, dann kam
die "Rosalinde" wieder dran. Unermüdlich wurde gescherbelt.
Wieviel Rosalindens später der ewig wiederholten Aufforderung, ihr Herz zu verschenken, gefolgt sind, bleibt besser militärisches Geheimnis.
Bald wurde der bunte Abend wiederholt. Die Kapelle hatte dazu gelernt: "Zwei Herzen im Dreivierteltakt", zum mindesten hielt sie
es selber dafür und ließ es durch den "Sänger" hartnäckig behaupten.
Nachbareinheiten stellten Feuerfresser, Schlangenmenschen und Kraftmeier und so wurde es jedesmal vergnügter.
Fürchterlich aber war des Dienstes ewig gleich gestellte
Uhr: vormittags exerzieren, nachmittags Geländeübung. Schön, soldatische Disziplin muß sein; aber wenn alte, in Pulverdampf ergraute Krieger - und dafür hielten wir uns mittlerweile - jeden Tag von 7-11 Uhr
rechtsum - linksum - kehrt machen müssen, nur unterbrochen durch Geländeübungen, dann hol' der Deibel den ganzen Kram.
Uns wuchs die Sache schon am dritten Tage zur Halskrause
heraus und die Herren Kommandeure sollten sich gefälligst etwas weniger stures einfallen lassen, zur "Erhaltung der militärischen Disziplin".
Und nachmittags immer wieder auf dieselben drei lächerlichen
Hügel hinaufrobben! Die Polen mit ihren blauen Bohnen hatten uns in
einer Stunde mehr über Verhalten im feindlichen Feuer beigebracht, als
alle Rekrutenoffiziere zusammen in einem Jahr fertig bringen konnten.
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So ging es den ganzen Oktober über; dieselbe Leier im November wieder - es war zum junge Hunde kriegen.
Endlich, im Dezember kam meine Ernennung zum Leutnant heraus. Darauf hatte ich nur gewartet und bat als Ingenieur von Beruf um
meine Versetzung zu einer technischen Formation; dem wurde statt gegeben und ich war froh, die Stoppelhopserei los zu sein.
Auf ging es wieder in die alte Heimat Ostpreußen, diesmal
nach Lötzen, wo ein Brückenbau-Bataillon neu aufgestellt worden war.
Es war grimmig kalt im Januar 40, der Schnee lag gut zwei
Meter hoch, ein richtiger ostpreußischer Winter. Ich fand da einen
vergnügten Klub beisammen, an der Spitze der hohe Kommandeur, Major
K., Bauunternehmer aus Königsberg, einen Hauptmann, drei Oberleutnants
und Leutnant und Adjutant Hose, der ob seines witzigen Namens viel gehänselt wurde.
Gleich am ersten Abend lernte ich den ganzen Verein kennen.
Man pflegte sich so gegen die Abendstunde bei einem oder mehreren
steifen Grogs in einer winzigen, verräucherten aber urgemütlichen
Kneipe zu treffen, Neuigkeiten auszutauschen, zu "plachandern". - Das
Bataillon saß eigentlich auf gepackten Koffern vor der Haustür, schon
seit Tagen hatten sie den Befehl: Bereitmachen zum Verladen.
Wohin würde es gehen? Niemand hatte die leiseste Ahnung. In
den Gesprächen der Offiziere wurde von Memel bis Schaffhausen jeder
bessere Ort auf seine Vorzüge und Nachteile untersucht; man rätselte
hin, man rätselte her. Endlich kam der Befehl. Warschau!
Hurra, brüllten wir, etwas besseres hätten wir uns kaum wünschen können. Es stellte sich heraus, daß der Major K. Warschau kannte, vom ersten Weltkrieg her. Sonst niemand. Mich hatten sie ja so
schön an der Nase vorbeigeführt im Herbst.
Also, auf nach Warschau. Vor den Kriege galt es als das Paris des Ostens. Aber jetzt? War alles zerstört? War es nur noch ein
Ruinenfeld? Herrschte schon wieder etwas Leben dort? Zwischen Befürchtungen und Hoffnungen fuhren wir los.
Die Stadt war ziemlich zerstört, aber das Leben regte sich
schon allenthalben wieder. Die Straßen waren voller Leute, ja durch
die Hauptstraßen bimmelte hin und wieder sogar eine Straßenbahn.
Dort kommt eben eine die Jerusalemer Straße herunter, von
oben bis unten mit Menschen behangen. Bim-bim-bim schimpft sie aufgeregt. Warum denn? Ein Wägelchen, fast wie aus der Spielzeugschachtel,
versperrt ihr den Weg.
"Halina, was ist denn das?", frage ich meine Begleiterin.
"Das sind unseren neuen Taxis". Ein Fahrrad voraus und hinterher ein
Zweiradkärrchen mit Gummirädern. "Komm, da fahren wir mit. - Rück noch
ein bißchen zur Seite!" - "Geht nicht mehr" - "auch kein Schade!"
Durchaus nicht unangenehm, so man den richtigen Partner dabei hat ...
Mächtig trat der Kerl in die Pedale, er hatte einen ganz
schönen Zahn drauf. - Nachts hatten die Fahrrad-Taxis ihr großes Geschäft. Mondlicht, geisterhaft durch bizarre Ruinen scheinend. Lautlos, wie auf Engelsflügeln glitt man dahin, dazu einen wirklichen Engel im Arm - die Romantik war nicht ausgestorben ...
Unser Dienst war auch sonst ganz angenehm, exerzieren nur
eine Stunde täglich, der Rest praktische, technische Aufgaben. Das
entzückende Schlößchen Belvedere, reichlich zerstört, machte viel Arbeit, aber schließlich war es wieder bewohnbar. In der Industrievorstadt Praga war eine Munitionsfabrik in die Luft geflogen und unsere
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zweite Kompanie hatte alle Hände voll zu tun, um die Schäden so rasch
wie möglich wieder zu beheben. Die alte, wacklige Holzbrücke in Lomza
vertrug keinen Panzer - kaum einen Lkw - und so mußten wir notgedrungen eine neue Brücke über dem Narew bauen.
Das Leben in Warschau war nett. Es gab Soldatenkinos, ab und
an auch ein Gastspiel von deutschen Künstlern; die polnischen Theater
hingegen waren noch nicht wieder in Betrieb. In Nachmittagscafés mit
guter Musik, meist unter freiem Himmel zeigten polnische Schauspieler
ihre Kunst. Aber zum Theater gehört nun mal all das Drum und Dran: Kostüme, Kulissen, die gespannte Erwartung, sicher auch der gute Anzug.
Da hilft keine noch so vollendete Mimik, die Wirkung bleibt aus. Die
Säue waren eben nicht in der Stimmung, die Perlen zu bewundern.
Bedeutend ersprießlicher war es abends in den obskuren Kellerlokalen. Revuen und Shows regierten. Erlaubt ist, was gefällt. Und
was gefällt dem Landser?
Ver- und entkleidete Mädchen wirbelten über die improvisierte Bühne. Striptease-Tänzerinnen gaben bereitwilligst alles her, was
sie hatten. Selbst Armbänder und Ohrringe, nur beim Goldzahn blieben
sie standhaft.
Eines späten Abends erschien überraschend Polizei im Keller,
fünf bis sechs Mädchen wurden, so wie sie gerade waren gefesselt und
abgeführt. Ein richtiger Tumult entstand, wilde Drohungen, empörte
Pfiffe. Da erschienen die entfesselten Evas wieder - fröhlich winkend
- es war nur ein Gag. Ganz zu Anfang existierten wir für die polnischen Mädchen
überhaupt nicht - wir waren Luft. Wie Gräfinnen und Fürstinnen rauschten sie vorüber, jeder Zoll eine Königin. Unerhört reizvoll und aufreizend. Aber Zeit und Not und noch mehr beides zusammen: Notzeiten
sind stärker als Nationalstolz. Die Schranken fielen.
"Fräuleins" und Besatzungstruppen sind halt überall gleich,
nur die Vorzeichen wechseln mit den Uniformen zugleich.
Mit Major K. bummelten wir eines Nachmittags durch die
Straßen, als sich urplötzlich ein Pole auf ihn stürzte. Überfall am
hellen Tag? Wir waren entsetzt und ehe wir eingreifen konnten, wurde
unser Major von dem Polen umhalst und abgeküßt. Ein Attentat? Nein,
nur eine sehr stürmische Begrüßung. K. selber wußte nicht wie ihm geschah, er kannte den Mann doch gar nicht, aber der kannte ihn. Und
schon ging es los: "o Pan, Pan General, armes Pole sehr, sehr glücklich. Pan General schneiden armes Pole von Strick im Krieg altes. Armes Pole warten, jetzt finden Pan General."
"Meine Herren", erklärte der Major, "ich habe wirklich im
ersten Weltkrieg mal so ein armes Luder vom Galgen gerettet. Nun wenn
er behauptet, daß er das war, dann wird's wohl stimmen."
Der Zwischenfall endete mit einer Einladung zum Essen am
nächsten Freitag. Der "armes Pole" hatte es verstanden, die Jahre zu
nutzen. Er war in seinem zweiten Leben etwas geworden: Besitzer des
Ritz-Hotels in Warschau.
Wir kamen. Ein kleiner Raum, ein runder Tisch, fünf Gedecke
mit Goldrand, fünf Kellner im Frack. Der erste Gang: Bouillon in winzigen Tässchen, Kiebitzeier, Pastetchen mit Trüffeln, Kaviar vom Don,
Weinbergschnecken, Gänsebrust in Aspik, alles in winzigen Portiönchen
als Appetitshäppchen garniert. Dazu der Wein in Ton und Arom abgestimmt. Das nächste und das übernächste Winzig, aber köstlich, ausgewogen und ausgeklügelt mit aller Raffinesse.
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Es wurde zehn, es wurde zwölf, wir waren beim hundertsten
Gang: Felchen blau vom Bodensee. Dann ließ das Tempo nach. Um drei Uhr
früh gaben wir auf. "Schade", sprach der Küchenchef, "nur 168 Gänge
und ich war auf zweihundert gefaßt. Was mach ich nun mit dem Rest?"
Für mich war es eine herrliche Zeit in Warschau. Offizier
z.b.V., zur besonderen Verwendung. Feuerwehr, wie es bei uns hieß.
Nichts zu tun, aber überall dabei, wo was los war. Mal hie, mal da,
mal dort: Bialystock, Lomza, Minsk, Brest.
Dann bekam ich eine Kompanie und wurde nach Zomaszow, hundert Kilometer weiter südlich versetzt. Schade, dachte ich, aber
über's Wochenende kann man ja öfters mal nach Warschau rüber. Es sollte anders kommen. Was ich dort erfuhr, warf alles um ...
Im verdunkelten Zimmer ein riesiger Tisch mit zwei einsam
brennenden Kerzen, dahinter ein General und zwei hohe Stabsoffiziere.
Ich wurde hineingeführt, die gepolsterte Doppeltür war sorgfältig geschlossen.
"Leutnant Selb," begann der General, "ich muß Ihnen eines
der größten Geheimnisse dieses Krieges anvertrauen - an die militärische Schweigepflicht erinnere ich Sie nur der Form halber. Der Krieg
gegen Rußland ist beschlossen, der Angriff beginnt am 15. Mai 1941,
also in etwa dreizehn Monaten. Die Straße Litzmannstadt - er sagte natürlich Litzmannstadt, nicht Lodz - Radom übergeben wir Ihnen hiermit
als Teilstück einer der sieben großen Vormarschwege. Die Straße und
selbstverständlich die Brücken auch, müssen für sechzig Tonnen Tragkraft ausgebaut werden für unsere Panzer. Die Linienführung ist Ihnen
überlassen. Die Hilfsmittel der Heimat sind möglichst wenig heranzuziehen. Menschen und Material hier stehen Ihnen unbeschränkt zur Verfügung. Sie haben eine Woche Zeit für die Ausarbeitung der Pläne. Wir
danken Ihnen."
Donnerwetter - erstmal zwei große Cognacs, dann wird man ein
anderer Mensch und dann für den anderen Menschen auch noch zwei. Ich
hatte mein seelisches Gleichgewicht wieder.
Trotzdem - Krieg gegen Rußland - Zweifrontenkrieg - Hitler,
Mein Kampf: Nie darf Deutschland sich in einen Zweifrontenkrieg einlassen - Vollständiges Versagen der Führung - 1914 ...
Und jetzt? Leichtsinnig vom Zaune brechen! Die da oben sind
wohl total verrückt - übergefahren! Was half es, Befehl ist Befehl. - Wir Fuhren die rund zweihundert Kilometer lange Strecke ab, die Zugführer mit im Wagen. Mein
Gott, war das eine Straße: größtenteils ungepflastert, tiefer Sand,
verlottert, verfallen. Brauchbar war nichts. Also alles, aber auch alles neu machen.
Wir arbeiteten, schufteten, holten die Zivilbevölkerung zu
Zehntausenden heran, machten Steinbrüche auf, schlugen Wälder nieder,
legten neue Straßenzüge an.
Mein Bataillon wurde nach dem Westen verlegt - ich blieb da
mit meiner Kompanie.
Norwegen wurde besetzt - nichts geschah.
Der Frankreich-Feldzug rollte ab - kein Aas kümmerte sich um
uns.
Jugoslawien wurde erobert - wir schufteten weiter, unentwegt.
Nicht mal eine anständige Besichtigung, nicht mal ein faustdicker Anschnauzer - zum Kotzen noch mal - war das überhaupt ein Sol- 14 -
datenleben? Wie ein Zivilist kam ich mir vor, bewohnte eine elegante
Zweizimmerwohnung und hatte sogar eine bildhübsche, junge Wirtin. Mit
Danuscha war die Verständigung anfangs etwas schwierig. "Sprechen Sie
Deutsch?" Verständnisloses Dreinschauen. "Do you speak English?" Heftiges, protestreiches Kopfschütteln! "Parlez-vous français?" Freudiges, glückliches: "Oui, monsieur!" Also, her mit der alten Schulweisheit! Oh, seliger Professor Arndt, ich war immer einer deiner schlechtesten Schüler in der Burgschule. Hätte ich damals nur gewußt, in was
für eine reizende Situation ich später kommen sollte, ich hätte viel
besser aufgepaßt. Warum hast Du mir das auch nie gesagt?
Danuscha erklärte mit Nachdruck: "Ich werde nie wieder ein
Wort Englisch sprechen in meinem ganzen Leben, die Engländer haben
versprochen, Polen zu helfen und sie haben ihr Versprechen nicht
gehalten." Und Danuscha hielt ihren Schwur: sie sprach nie ein Wort
englisch, trotz allen Zuredens; lieber lernte sie deutsch, aber englisch, nein - nie.
"Wissen Sie," gestand Danuscha, "hier kamen zuerst eure Panzer an und hielten unten auf dem Platz. Wir waren alle sehr neugierig,
wie die deutschen Soldaten aussehen würden. Sie sollten halbe Tiere
sein, hatte Radio Warzawa gesagt, mit wilden Bärten. Ich stand hinter
der Gardine. - Die Klappen der Panzer gingen auf und herausschauten - fein rasierte Herren in tadellosen Uniformen. Wir waren eigentlich
ein bißchen enttäuscht."
"Herr Leutnant, Herr Leutnant", stürzte sich Danuscha eines
Abends in meine Arme, total verweint und immer noch laut heulend,
"deutsche Soldaten waren da und haben mir das Gitter vom Balkon weggenommen und die Gardinen vom Fenster auch, huh - huh - huh -"
Es war ein SS Trupp gewesen, der altes Eisen sammelte zum
Einschmelzen und die schweren Sammetvorhänge hatten sie bei der Gelegenheit auch gleich mitgehen heißen. Ich mußte Danuscha trösten und
auf die SS schimpfen, aber eigentlich war ich ihnen gar nicht gram.
Hätte Danuscha sich sonst in meine Arme geflüchtet?
An Urlaub war in dieser Zeit nicht zu denken. Immer nur die
Straße - die Straße.
Nun, kommt der Berg nicht zu Mohammed, so muß Mohammed zum
Berge kommen und ich beschloß, meinen Mohammed kommen zu lassen. Mit
den Zöllnern zwischen Lodz und Tomaszow stand ich mich ausgezeichnet,
die müßte man doch über's Ohr hauen können!
So holte ich Mau in Lodz von der Bahn ab - bis dahin hatte
sie fahren können, - setzte sie hinten in's Auto und deckte sie vollkommen mit Blumen und Flieder zu. An der Grenze: "Der General feiert
seinen 60., wir machen eine große Fête. Wir brauchen noch mehr Blumen.
Wißt Ihr nicht, wo man welche bekommen kann?"
"Passiert" ... Die Todsünde war begangen: Mau war in Polen.
- Mit Danuscha gab es keine Schwierigkeiten, die beiden Frauen freundeten sich rasch an und machten gemeinsame Entdeckungsreisen. Immer
mit einem Auge nach SS Streifen schielend, um schleunigst zu verschwinden, wenn eine auftauchte. Danuscha hatte sie in schlechter Erinnerung und dachte immer an ihre Gardinen und Mau hatte keine Aufenthaltserlaubnis für Polen. Es ging aber alles gut! Frauen sind eben
doch die besseren Diplomaten.
Unsere Streifzüge nach Krakau und Warschau endeten stets
feucht-fröhlich. Nur einmal hätte es Mau fast aus dem Anzug gekippt:
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wir waren plötzlich mitten im Krieg: rechts Panzer, links Panzer, vorne und hinten.
Der Rikscha-Mann wand sich wie ein Regenwurm zwischen ihnen
hindurch. Irgendwie durch die Absperrung gekommen, landeten wir um
Mitternacht vor einer Tribüne mit Generälen, die eine Panzer-Parade
abnahmen. Die hohen Herren waren recht erstaunt, lächelten milde und
winkten huldvoll ab. Der Fahrradpanzer war in Gnaden entlassen, auch
die weibliche Besatzung erregte keinen Anstoß: sicher ein adrettes Polenmädchen! Das ging Mau öfters so. Danuscha freute sich immer diebisch,
wenn sie fest an meinen Arm geklemmt, durchrutschte, während Mau, die
nebenher schlenkerte, mal wieder verdächtig erschien.
"Ausweis", verlangte die Streife. "Was, Ihr Dammelsköpp",
ich soll 'ne Polin sein! Ihr seid wohl vom Stinthengst gebissen?",
fauchte Mau sie an. "Aber nei'", meinte einer, "Marjellchen, bist aus
Keenigsbarg, vom Fischmarkt? Die Sort' kenn' ich!" Allgemeines Gelächter und an Mau's Ausweis dachte natürlich keiner mehr.
Mehr als vierzehn Tage "Sonderurlaub" konnten wir uns nicht
leisten, der Krieg gegen Rußland stand unmittelbar bevor.
Nach dreizehn Monaten intensiver Arbeit meldete ich die Fertigstellung der Straße. "Ja," lächelte der General, "der Termin ist
verschoben worden, der Aufmarsch beginnt erst etwas später."
Dann ging alles verkehrt. Ich verlor meine Kompanie, die
mußte in den Krieg. Nur der Rechnungsführer und ich blieben zurück,
zwecks Abrechnung. "Zum Teufel mit der Abrechnung - ich will endlich
mal wieder raus und dabei sein. Die anderen gewinnen den Krieg und ich
- ich sitze hier und berechne geschaufelten Dreck."
Der 22. Juni [1941] kam heran - es ging tatsächlich los gegen Rußland und ich - ich saß hinter Dreckakten und rechnete ab. "Ja,
Brücke 17? Wie war das doch? Siebenundachtzig Bretter, - dreiunddreißig Balken, - zwölf Sack Zement, - fünfundzwanzig Pack Nägel, - was
fünfundzwanzig? - Sind die alle vernagelt? - Klar, die sind hier doch
alle vernagelt, - total vernagelt sind sie alle miteinander!"
Ach, lieber Himmel, - schick' doch so ein russisches Flugzeug - es kann auch ein ganz, ganz kleines sein - und laß den verfluchten Papierkrieg in Rauch und Asche aufgehen! - Aber anscheinend
war die Verbindung nach oben abgerissen, es geschah nichts - gar
nichts.
Endlich war es soweit, der Amtsschimmel hatte ausgewiehert.
Wir beiden Hinterbliebenen setzten uns Mitte August in den kleinen
Opel und kutschierten los - Richtung Witebsk im nördlichen Rußland.
Den Seinen gibt's der Herr im Schlaf - wir wußten nichts von
Partisanen - vom Guerillakrieg im Hinterland.
Wir opelten drauf los - verfranzten uns ein paarmal kräftig
- durchquerten schier endlose Wälder - versoffen im Dreck. Holten
Russen heran, uns wieder flott zu machen, krochen jeden Abend in die
nächste beste Kate, schnarchten um die Wette, kutschten bei Tagesanbruch weiter -- Brest -- Minsk -- Orscha -Kein Mensch tat uns etwas zuleide. Und die beiden Weltenbummler vom Reisebüro Hitler & Co. kamen in bester Laune in Witebsk
an.
Immer noch naiv wie die ersten Menschen, meldeten wir uns
beim Stadtkommandanten. Der fiel beinahe vom Stuhl und wollte es nicht
glauben, daß wir aus dem Raum südlich von Warschau gekommen waren.
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"Ja, wissen Sie denn gar nicht, was im Hinterland los ist?"
- "Nein, nicht die blasse Ahnung", gestand ich.
"Stellen Sie sich vor, was meinem Fahrer vorgestern passiert
ist", berichtete er dann, "kommt er doch da so gegen Abend durch den
Wald. Der Weg ist schlecht, er stoppt den Mercedes etwas ab, da knallt
es links und rechts aus den Büschen. Die Scheiben splittern - der Beifahrer schreit auf: "Au verflucht, mich hat's erwischt" - und da
springen auch schon so'n paar Gestalten auf den Wagen los, einer auf's
Trittbrett! Der Willy haut ihn die Faust auf die Nase, drückt auf die
Tube, daß die Bodenbretter krachen - der Mercedes macht einen Satz und
braust los. Die Hunde knallten noch hinter ihnen her, die Kugeln pfiffen ihnen nur so um die Ohren. Aber sie kamen durch. Der Beifahrer
hatte zum Glück nur einen Streifschuß."
"Ja, so sieht es hier bei uns aus", fuhr er fort, "und Sie,
Sie flanieren da herum, harmlos wie der Weihnachtsmann in der Sommerfrische. Haben Sie vielleicht auch noch Pilze gesammelt?"
Leicht beeindruckt schlichen wir nachhause in's Quartier.
Die Hosen, die flatterten hinterher noch drei Tage lang alleine über
der Stuhllehne.
Kapitel III
Bataillonskommandeur – Titus
Witebsk war unmittelbar vorher genommen worden und bildete
einen Brückenkopf. Der ganze Nachschub ging über die Düna-Brücke, eine
alte Holzbrücke, endlos lang und sehr, sehr hoch.
Unsere Flieger hatten sie eifrigst bombardiert aber nicht
getroffen. Als die Russen dann doch darüber entwischt waren, wollte
man sie wenigstens unzerstört in die Hand bekommen. Es gelang. Stolz
und unversehrt prangte das gute alte Stück. Aber alt und wurmstichig
auch, höchstens für zehn Tonnen. "Leutnant Selb", lautete der Befehl, "schnell ran und irgendwie die Pfeiler verstärken, die Brücke ist unsere einzige Verbindung über die Düna weit und breit."
Gleich am nächsten Morgen - wir marschierten eben zur Arbeit
- kommt da doch so ein Hinterwäldler aus Klein-Krähwinkelsdorf mit
seinem Fernlaster mit Anhänger und kiekt, wo die Krähen fliegen. Sieht
nicht das erste, nicht das zweite, nicht das dritte Warnungsschild:
"Nur für 8 to Traglast zugelassen", kurbelt weiter auf die Brücke los
mit seinen achtundzwanzig Tonnen hochbrisanter Munition - erreicht sie
- fährt darauf - darüber - die Vorderräder sind schon auf festem Boden, da - kracht die Brücke zusammen. Rücklings fliegen Anhänger und
Motorwagen in den Abgrund - tief, tief unten.
Wie die Wiesel schlüpfen wir in die nächsten Löcher. Gleich
geht die Welt unter, gleich. Ein donnerndes Aufprallen ... Nicht weiter. - Das Fahrzeug in tausend Fetzen, aber Fahrer und Beifahrer krabbeln unverletzt aus der Kabine. Von der Munition war nicht ein Stück
explodiert.
Aber ich hatte die Bescherung. Der Nachschub durfte nicht
unterbrochen werden: Boot, Flöße, Trägerkolonnen, um wenigstens Munition und Verpflegung weiterzuleiten. Dann bauten wir eine Pontonbrücke, die die russische Artillerie uns mehrmals kaputt schoß. Das schwierigste war jedoch, in die
Steilhänge am Ufer die Zufahrtswege einzuschneiden. Der lose Sand
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wollte nicht halten und rutschte immer wieder herunter. Jetzt wußten
wir auch, warum die Russen eine so übermäßig hohe Brücke gebaut hatten.
In Witebsk traf ich mein altes Bataillon wieder, Major K.,
Leutnant Hose und die anderen Kameraden. Es gab ein freudiges Wiedersehen, wir hatten uns sechzehn Monate nicht gesehen. Ich ahnte nicht,
daß das Zusammensein nur zwei Wochen dauern sollte.
"Für eine Sonderaufgabe hat sich ein Offizier am 7. September in K. zu melden", stand im Befehl. "Nichts ist beständiger als der
Wechsel", knurrte ich und fuhr in das kleine Dorf, Richtung Smolensk.
Den ganzen Tag war ich mit meinem Burschen unterwegs, endlich waren wir da. Es war finstere Nacht, genau genommen, später Abend
- in einer Hütte war noch Licht - ich trat ein.
Ein Dutzend Landser hatte irgendwo ein Faß Bier aufgetan und
soff es fröhlich aus. Mißtrauisches Beäugen. Die kamen mir gerade
recht, noch mehr ihr Bier: "Kameraden, gebt mir auch was zu trinken!
Prost!" So wurde ich in die Runde aufgenommen.
"Was tust Du denn hier?" "Ich habe Gefangene hergebracht"
"Was Du?" "Ich auch, ich auch". "Was wollt Ihr denn hier?" "Weiß ich
nicht!" - "Soll mich melden" - "Bei wem?" - "Weiß ich nicht". "Und
Du?" "Ich auch" - Was? Melden - bei wem melden - bei irgendwem Heiliger Militarismus, - deine Weisheit ist unergründlich
tief - unheiliger Untertanenverstand - deine Dummheit stinkt zum Himmel wie der Misthaufen hinterm Schweinestall.
Da kommen mehr als hundert Soldaten, Unteroffiziere und
Feldwebel in dem verlassensten Nest der Welt zusammen, schleppen mehr
als tausend Kriegsgefangene mit sich, die sie aus fix und fertig eingerichteten Lagern abgeholt haben, und wissen von nichts, von gar
nichts. Und ich - zweifellos der einzige Offizier unter der ganzen
Bande - ich wußte noch weniger. "Also, Kinder, das Bier ist alle. Laßt uns schlafen gehen.
Hoffen wir, daß über Nacht die Welt untergeht, dann soll uns alles
egal sein. Sollte sie es aber zufällig nicht tun, dann antreten mit
Mann und Maus um sechs Uhr hier auf dem Platz."
Das war der erste Tagesbefehl des jüngsten Bataillonskommandeurs der Wehrmacht. Nur schade, der kleine Leutnant Selb wußte das
selber nicht einmal.
Am nächsten Morgen ein Gewimmel und Gebimmel, aus allen Löchern kamen sie hervor: rund 150 Soldaten und 1500 Kriegsgefangene.
Nichts zu essen, nur wenige Schuß Munition, keine Decken, nichts, gar
nichts!
Die Begleitmannschaften wollten gleich wieder zurück - sie
waren doch nur eben mal vor's Dorf gegangen! Niemand ahnte, daß der
"Ausgang" ein ganzes Jahr dauern sollte.
Wir waren noch beim Zählen und Rechnen, da erschienen in
sausender Fahrt zwei Autos, vollbeladen mit bis an die Zähne bewaffneten Soldaten. Ein Offizier sprang heraus. "Herr Leutnant, Sie sollen
sich heute in fünf Tagen in Z. mit allen Mannschaften melden. Was Sie
brauchen, requirieren Sie aus dem Lande!"
Die Motoren heulten auf und weg waren sie - Richtung Heimat.
- Verdammt, da haben sie dir aber'n Ding angedreht, nun bist du der
Obermaxe von dem ganzen Haufen.
Aber das ist doch unmöglich - man kann doch nicht - 1700
Mann ohne alles - 150 km - fünf Tagesmärsche - 18 -
Denkste! - Man kann - man muß können Es hatte demnach etwas zu geschehen. "Dolmetscher für russisch?" Einer schrie: "Hier". "Sorgen Sie dafür, daß alle Gefangenen
hier links der Straße in Viererreihen antreten!" "Soldaten recht antreten, Unteroffiziere zu mir!"
Damit war erstmals eine ungefähre Übersicht über den Sauhaufen möglich.
"Wer versteht etwas von Verpflegung?" Niemand rührt sich.
"Nanu, aber essen könnt ihr doch hoffentlich alle?" Gelächter. Schließlich tritt einer vor. "Unteroffizier Lehmann, Oberkellner im
Hotel Schwarzer Adler, Lyck." "Gut, Lehmann, Sie machen die Verpflegung!" "Jawohl, Herr Leutnant!" "Was wollen Sie denn noch?" "Herr
Leutnant, ich habe gestern gesehen in dem Dorf dort hinten ist ein
Verpflegungslager. Darf ich da eben mal hinlaufen?" "Gut, nehmen Sie
aber noch einen Mann mit und in drei Stunden sind Sie zurück!" "Jawohl, Herr Leutnant, in drei Stunden bestimmt."
"Wer war im Zivilberuf Lehrer? Sie?" "Unteroffizier Kuleit,
Lehrer in Kraupischken, Herr Leutnant." "So, lesen und schreiben können Sie also und Ihre Rasselbande zuhause haben Sie doch sicher eisern
regiert. Also müssen Sie hier auch fertig werden! Machen Sie den
Hauptfeldwebel!"
Medizinstudent, Apothekergehilfe oder so was ähnliches?"
"Ja, ich" "Schön, Sanitätsdienstgrad!" "Wer kann reiten?" Zwölf Mann her als Wache und Stoßtrupp!" - So, der Stab war fertig. Jetzt die
Kompanien!
"Feldwebel", wandte ich mich an den nächsten Besten, "hier
haben Sie zwei Unteroffiziere, zählen Sie sich dreißig Mann ab und
dort 350 Russen und stellen Sie damit die erste Kompanie auf. - Sie
die zweite - die dritte - die vierte. Drei Stunden Zeit, dann antreten
hier auf der Straße zum Fünftagemarsch. Was Sie brauchen, organisieren
Sie sich im Dorf."
So, nun hatte ich mal etwas Zeit, sollten die vier neugebakkenen Kompanieführer sehen, wie sie einig wurden. Erstaunlich, sie wurden alle mit der Sache fertig, sie machten sich hervorragend. Um zehn Uhr stand das Bataillon fix und fertig in mustergültiger Ordnung zum Abmarsch bereit. Sogar einige Pferde und Wagen waren
miteingesprengt.
"Herrjeh, wo bleibt denn Lehmann?" "Herr Leutnant, da kommt
er gerade um die Ecke." - Hoch oben auf einem vollbepackten Wagen. Ein
zweiter, ein dritter, ein vierter folgt. "Unteroffizier Lehmann zur
Stelle", meldet er schneidig, mit fünftausend Portionen und vier Pferdewagen."
Alle Achtung, dachte ich, der Mann ist entwicklungsfähig. Zu
Fuß ist er abgezogen und mit Pferd und Wagen, schwerbeladen, kehrt er
heim.
"Wie haben Sie denn das gemacht, daß der Zahlmeister soviel
Zeug herausgerückt hat und alles ohne schriftliche Unterlage." "Herr
Leutnant, ich habe sehr geheimnisvoll getan und von spezieller Sonderaufgabe geflüstert, schriftliche Befehle wären ausdrücklich verboten, habe ich gemurmelt. Vorher hatte ich mir schon die Fahrzeuge und
die Kutscher organisiert, damit ich dort nicht so ärmlich zu Fuß aufkreuzen mußte. Der Zahlmeister wurde weich und gab mir seinen gesamten
Überschuß. Das Brot ist schon ein bißchen alt, das Mehl etwas dumpf,
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die Kartoffeln gekeimt und der Zucker feucht, aber das ist doch alles
immer noch viel besser als gar nichts, habe ich gedacht. Und genießbar
ist das Zeug noch!"
"Zum Schluß", fuhr er fort, "mußte ich ihm eine eidesstattliche Versicherung unterschreiben und da ich den Truppenteil natürlich
nicht angeben "durfte", begnügte er sich mit meiner Heimatanschrift.
Ich habe aber lieber Berlin statt Lyck geschrieben, Besser ist besser,
nicht wahr Herr Leutnant?"
"Na klar," lachte ich. "der Lehmann in Berlin ist nach dem
Krieg viel schwerer zu finden und insbesondere, wenn er in Lyck
wohnt." "Herr Leutnant, ich habe es aber wirklich nicht arg gemeint."
"Nun ja", beruhigte ich ihn, "wird der Krieg gewonnen, kümmert sich
niemand mehr um Ihren zweifelhaften Eid. Geht er aber verloren, dann
geht sowieso alles drunter und drüber und höchstwahrscheinlich geht
der Zettel auch mit futsch."
Dank Lehmann hatten wir wenigstens etwas zu essen. Die
Russen waren ausgehungert wie die Löwen, für fünf Tage reichte es
nicht hin und nicht her.
Wir buddelten Kartoffeln und nahmen sie mit.
Wir schossen Pferde und brieten die Schenkel am Spieß.
Wir nahmen Bauernwagen und fingen die Pferde mit Lassos ein.
Wir kochten in Wannen und Sauna-Kesseln.
Und marschierten und marschierten und marschierten.
Wir schliefen fünfmal auf der blanken Erde.
Wir zogen durch ein großes Waldgebiet und kamen tatsächlich
in Z. an. Am Tage danach wurden in dem gleichen Wald zwei kriegsstarke
Kompanien von Partisanen umzingelt und angegriffen, eine Woche lang
festgehalten, ziemlich zusammengeschossen und mußten von außen befreit
werden.
Wenn die uns erwischt hätten! Ob sie uns wohl gebraten, geröstet, gekocht oder nur - ganz zivilisiert - aufgehängt hätten?
Wir waren in Z. - wir hatten nichts - wir brauchten alles. Wir stahlen alles - alles, was nicht niet- und nagelfest war und das
auch noch. Mein Bataillon sollte nachkommen. Warum sie mich eigentlich
vorgeschickt hatten?
Ich wartete auf mein Bataillon, es kam nicht.
Die Gefangenen waren aus deutschfreundlichen Stämmen, meistens Ukrainer und alle, ohne Ausnahme, gediente Pioniere. Daraus
schloß ich auf den Zweck des Unternehmens. Ich besorgte mir Werkzeuge
für Schmiede, Schlosserei, Autoreparaturen, Zimmermannsarbeit und
stellte entsprechende Gruppen zusammen.
Mein Bataillon kam und kam nicht. Niemand kümmerte sich um
mich. Ich lief dem Stadtkommandanten die Bude ein, er zuckte die Achseln. Schließlich ging ich zum Divisionskommandeur. "Ja", erklärte er
mir, "Ihr Bataillon kommt vorläufig nicht, die Russen sind durchgestoßen und jede Verbindung ist unterbrochen."
Schöne Bescherung, dachte ich mir ...
"Was ich mit Ihnen und den Kriegsgefangenen anfangen soll,
weiß ich selber nicht." "Einsetzen, Herr General." "Aber das ist doch
unmöglich." "Es ist möglich, Herr General. Versuchen Sie es."
"Herr Leutnant", fragte er, "sind Sie sich über die Aufgaben, die Ihrer harren, im klaren?" Und ohne die Antwort abzuwarten,
- 20 -
fuhr er fort: "Sehen Sie, die Division hat ihr Pionierbataillon verloren, vor acht Wochen etwa, bei uns geht alles drunter und drüber."
"Stehen Sie immer noch zu Ihrem Vorschlag?" Was sollte ich
machen? Ich konnte nun doch nicht gut "Nein" sagen. Mensch, durchfuhr
es mich, hast Du überhaupt eine leise Ahnung, was die Pioniere einer
Division zu leisten haben? - Ausgebildet bist du bei der Infanterie...
In Warschau hie und da ein bißchen herumgemurkst, in Tomaszow Straßenbau, in Witebsk losen Sand gebändigt...
Obgleich mit etwas schwach in der Magengrube war, antwortete
ich laut und schallend, vielleicht etwas zu laut, damit mein Bruder
Innerlich es ja auch mithören mußte: "Jawohl, Herr General. Setzen Sie
uns ein, wir wollen arbeiten."
"Mit Vergnügen - Arbeit gibt es mehr als genug" und damit
war ich entlassen.
Auf dem Wege nachhause hatte ich Zeit nachzudenken, was wird
er von uns wollen - alles mögliche und unmögliche ging mir durch den
Kopf - ich kam zu keinem Schluß.
Wir hatten uns zwar in den 14 Tagen unseres Bestehens schwer
umgetan und unsere Ausrüstung war schon recht beachtlich. Aus den zerschossenen Wracks am Straßenrande hatten wir ein paar Lkw's und sogar
einen Traktor in mühevoller Arbeit wiederhergestellt und in Betrieb
genommen und Pferde und Wagen hatten wir in ausreichender Menge, aber
sonst - sonst fehlte doch noch recht viel.
Was macht der Soldat, wenn er Kummer hat? Er steckt sich den
größten Kotzbalken in's Gesicht, den er nur auftreiben kann und dann
gießt er - so er hat - sich einige hinter die Binde und denkt: wird
schon schief gehen.
So ungefähr tat ich es auch und sperrte meine Sorgen in die
fast leer gewordene Cognacflasche. Den Pfropfen drückte ich zum Schluß
ganz fest hinein.
Ich schlief fest und traumlos. Am nächsten Morgen kam der
Divisionsbefehl. Da lag er nun und grinste mich höhnisch an. - Ach,
hätte ich doch nur ... Nun war es zu spät.
Auf allerhand hatte ich mich gefaßt gemacht, aber auf so
viel denn doch nicht. Drei Schreibmaschinenseiten, eng beschrieben.
Ich las vor:
Brücke über den N-Fluß
Fähre über die Wolga
Panzergraben vor Regiment X
Schlechten Wegen, Knüppeldämmen und Artilleriestellungen ...
Donnerwetter, wollte der General den Krieg nur alleine mit
meinen Russen gewinnen? Es gab doch noch mehr Soldaten auf der Welt was taten die denn eigentlich?
Ich las den umfangreichen Befehl zum zweiten, zum dritten
Male, es wurde nicht weniger davon.
"Karl, sofort den Titus her", befahl ich und los ging es.
Ich wollte mir erst einmal ein Bild von der Situation machen. Mein
weißer Araberhengst, den ich sehr gern mochte, war ein prachtvolles
Pferd. Dank Titus war ich in der Division sehr bald bekannter als ein
bunter Hund. Er erregte überall Aufsehen, viel mehr als ich, mußte ich
zu meinem Leidwesen feststellen. Es war geradezu empörend: wer war ich
denn überhaupt noch? War ich schließlich nicht der Leutnant und Bataillonskommandeur! Na ja, zugegeben, ein etwas komisches Bataillon,
nichts als lauter Russen. - So was gab es eigentlich doch gar nicht.
- 21 -
Oder höchstens drüben auf der anderen Seite beim bösen Feind. - Ja,
ich war nicht mal mehr der kleine, unbedeutende Leutnant Selb, ich war
nur noch der Leutnant mit dem weißen Araber und sonst gar nichts.
So tief kann der Mensch sinken, tief, tief unter ein Pferd.
Zuhause rief ich die Kompanieführer zusammen: "Meine Herren, ich verlese Ihnen jetzt unseren ersten Einsatzbefehl," begann ich. Die Division befiehlt uns - 1. - 2. - 3. - 4. usw. usf. Die Kompanien übernehmen folgende Arbeiten ...."
"Abmarsch in die neuen Quartiere sechs Uhr. Arbeitsbeginn 13
Uhr. Arbeitszeit durchgehend von sieben bis achtzehn Uhr. Ich komme
täglich bei jeder Arbeitsstelle vorbei und werde persönlich den Fortgang kontrollieren. Ich danke Ihnen, meine Herren!"
Tagtäglich macht ich meine Runde bei den Baustellen der Kompanien, abends kam Titus und ich müde wie zwei kleine Hunde nach hause, aber die Arbeit ging gut voran. Die Gefangenen halfen mit ihrer
Pionier-Praxis tatkräftig mit, die Division verlangte an sich nichts
unmögliches und so ging alles sehr viel besser als ich erwartet hatte.
Unsere Ausrüstung vervollständigten wir durch Beutestücke.
Nach weiteren vier Wochen hatten wir 250 Pferde, zwölf Lkw's, vier
Traktoren, Pioniergerät, Bäckerei, Schlachterei und last not least,
fünf Feldküchen. Wir waren komplett ausgerüstet und ich verbot strengstens jedes "organisieren".
Wir hatten alles, was wir brauchten, von nun an konnten wir
uns den Luxus leisten, ein anständiger Verein zu sein. Eines Nachts mußten wir Minenlegen im Niemandsland, mit
Kriegsgefangenen zweifellos eine riskante Angelegenheit. Mir war nicht
wohl bei dem Gedanken: wie viele würden verschwinden auf Nimmerwiedersehn?
Der Mond verdunkelte sich und es wurde rabenfinstere Nacht.
An Arbeiten war nicht zu denken. Leise befahl ich den Abmarsch, alles
mußte lautlos gehen, denn der Russe lag kaum 500 Meter entfernt. Es
ging gut, der Feind merkte nichts, pfefferte daher auch nicht herüber
und nachher beim Appell fehlte tatsächlich nicht ein Mann.
Mit Heißhunger stürzten sie sich auf ihren Schlag aus der
Feldküche. - So, so, sinnierte ich, der Wachtposten Suppenkessel hat
aber einen verdammt langen Arm, der reicht weit, sehr weit. Sogar bis
in's Niemandsland und das bei Tag und bei Nacht...
"Der Koch hat seine Schuldigkeit getan, der Koch kann gehn".
befahl ich, "und sich bei Lehmann ein Kilogramm Tabak abholen."
Für die vielen Straßenarbeiten brauchte ich unbedingt eine
Dampfwalze, konnte aber keine auftreiben, alle Mühe war vergebens. So
schickte ich den Gefreiten Möller mit drei Gefangenen aus, eine zu besorgen. Um jeden Preis!
Nach drei Wochen kamen sie mit einer an, sie hatten sie irgendwo weit hinten aufgetan. In rund zweihundert Fahrtstunden mit drei
km/h Höchstgeschwindigkeit hatten sie sechshundert Kilometer gemacht.
Alle vier waren halb verrückt geworden von dem Zotteltrab. "Kommste
nicht heute, kommste morgen, übermorgen ganz bestimmt", meinte Gefreiter Möller, als er sie ablieferte, hielt sich seine wunde Kehrseite
und humpelte davon.
Lange dauerte die Freude nicht, ein russischer Flieger schoß
mir das gute Stück sehr bald kaputt. Nach geraumer Zeit traf mein Stammbataillon dann doch endlich ein. Nun war ich gar nicht mehr so erbaut darüber: aus war es mit
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der Selbstständigkeit. Es mußte etwas geschehen... der Soldat ergibt
sich nicht kampflos...
Heimlich ging ich zum Divisionskommandeur, der konnte nichts
machen, empfahl mich aber dem Korps, dort dasselbe, also nach hinten
bis zum Armeekommando.
"Herr General", argumentierte ich, "so ein großer Haufen von
dreitausend Mann ist arbeitsmäßig ein Unding. Lassen Sie die beiden
Bataillone selbstständig und getrennt bleiben. Das ist auch für Sie in
der Führung und zum Einsatz zweckmäßiger."
Der IA hieb in meine Kerbe und so sagte der General schließlich ja dazu, diktierte den Armeebefehl und setzte seine Unterschrift
darunter.
Wir bekamen Nummer und Namen, wurden nach Berlin gemeldet
und überall registriert. Ich war wirklich Leutnant und Bataillonskommandeur, sicher ein Unikum in der Wehrmacht.
In bester Laune machte ich mich auf den weiten Heimweg und
kam in Hochstimmung zuhause an. Dort empfing mich ein Hauptmann: "Sind
Sie Leutnant Selb?", fragte mich der gestiefelte Kater nicht eben
freundlich. "Jawohl, Herr Hauptmann." "Nun, dann habe ich Ihnen mitzuteilen, daß ich der neue Kommandeur Ihres Stammbataillons bin. Major
K. ist versetzt worden."
Leichte Zornesfalten auf der Stirn fragte er: "Darf ich wissen, wo Sie den ganzen Tag waren Ich warte schon seit Stunden hier!"
"Auf der Division", log ich, "wegen Versorgungsschwierigkeiten." "Da
haben Sie überhaupt nicht zu suchen. Ihr Vorgesetzter bin ich und
sonst niemand, haben Sie verstanden, Herr Leutnant?" Grollte er,
sichtlich verärgert.
Nun, was tut der Soldat in solchen Fällen? Er knallt die
Hacken zusammen, nimmt die Hand an die Mütze und sagt schneidig: "Jawohl, Herr Hauptmann!" Und denkt sich insgeheim: du kannst mir mal
..... Götz von Berlichingen .....
"Im übrigen", schnauzte er weiter, "was sollen die affigen
Hinweisschilder mit Bataillon usw. Die haben noch heute zu verschwinden, Sie sind Kompanieführer und sonst weiter nichts."
"Herr Hauptmann", bemerkte ich schüchtern, "eine Kompanie
von 1700 Mann, das ist doch unmöglich, so etwas gibt es doch gar
nicht. Die Division hat uns auch immer als Bataillon bezeichnet."
"Interessiert mich nicht, das Theater hört auf. Kompanie und
nichts weiter, verstanden!" "Jawohl, Herr Hauptmann!" - Na, du wirst
schön staunen nachher, wenn du den Armeebefehl liest, dachte ich mir,
direkt Bauklötze wirst du staunen. Gönne ich dir ...
"Nun", fuhr der neugebackene Kommandeur wesentlich freundlicher fort, "ich habe mir da Ihren Laden angesehen. Haben ja allerhand
geschafft, alle Achtung. Aber Sie haben viel zu viel Zeug, der Kram
behindert nur Ihre Beweglichkeit. Um die Kompanie wieder auf ihren
normalen Umfang zurückzuführen, geben Sie noch heute diese Sachen hier
an das Bataillon ab. Noch heute, jetzt gleich."
Er übergab mir eine lange Liste. Ich las: sechs Lkw's, zwei
Traktoren, siebzig Pferde incl. des weißen Araberhengstes, es folgten
Flugabwehrgeschütze, Maschinengewehre, Funkgeräte usw. usw.
Ach, so siehst du gerade aus, dachte ich mir, du bist also
nur so schnell hergekommen um zu sehen, was du gebrauchen und erben
kannst. Da bist du aber verdammt schief gewickelt.
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Ich hatte mir wochenlang alle Mühe gegeben, um die Ausrüstung komplett zu haben und dann kommt so einer daher und nimmt einem
in fünf Minuten einfach alles weg, so mir nichts, dir nichts.
Nun ja, über einige Lkw's, auch vielleicht einen Traktor und
ein Dutzend Pferde hätte ich schon mit mir reden lassen. Ich hatte ja
reichlich von dem Zeug. Aber so kurzerhand mir meinen Titus wegnehmen
zu wollen, das war zuviel, das schlug dem Faß den Boden aus. Ich wurde
fuchsteufelswild. Ich sagte nicht mehr: "Jawohl, Herr Hauptmann", ich
sagte nur noch: "Nein, Herr Hauptmann" und immer wieder: "Nein, Herr
Hauptmann".
Er trompetete von Verhaftenlassen und Kriegsgericht, dann
verschwand er. Zuhause fand er wohl den Armeebefehl vor, daß mein Bataillon aus seinem Verband ausgeschieden war und selbstständig und
gleichberechtigt neben seinem stand. Aus war es mit Befehlen und all
die schönen Sachen, die er sich hatte unter den Nagel reißen wollen,
blieben fein säuberlich bei mir und Titus natürlich auch. In meiner neuen Würde mußte ich eine Art Amtsantritt bei der
Division machen. "Also, Karl, zu morgen früh um sechs Titus fertig machen, wir fahren zum General".
Der Hengst war von Karl mit ganz besonderer Liebe geschniegelt und gestriegelt worden, sein weißes Fell glänzte wie Seide in der
Sonne. "Nein, Karl, so geht das nicht, da machen wir den ganzen Stab
rebellisch."
Klatsch-klatsch-klatsch, ein paar Hände voll Dreck auf die
weiße Pracht und Titus sah aus wie ein Rübenschwein. Karl war den Tränen nahe, am liebsten hätte er mich auf der Stelle umgelegt.
Auf der Division nahm mich die leichte Zigarre vom IB gerne
in Kauf, ich sollte meinem Pferdepfleger etwas mehr auf die Finger sehen. - Das Rezept habe ich später noch oft anwenden müssen, nur Karl
konnte sich damit nicht abfinden. Ja, er verweigerte mir glatt den Befehl, entweder tat ich's selber oder Titus stolzierte einher wie auf
Hochglanz gewienerte Ballerina.
Er hatte eine Figur, um die ihn jede Schönheitskönigin beneidet hätte. Das wußte er auch und trug sich danach. Sein Temperament
und seine Ausdauer entsprachen seiner Rasse. Mit leichten Wägelchen
oder vor dem Rodelschlitten machte er seine vierzig Kilometer in drei
Stunden herunter, ohne überhaupt warm zu werden. Dabei war er folgsam
und anhänglich wie ein Hund und steckte am liebsten seinen Kopf unter
meinen Arm.
Mit meinem Cocker Spaniel Senta hielt er gute Freundschaft
und ließ sich von der frechen kleinen Kröte alles gefallen, sogar daß
sie die Angewohnheit hatte, ihn nachts als Kopfkissen zu mißbrauchen.
Man konnte ihn überall stehen lassen, sofern es nicht länger
als eine Stunde dauerte, dann fing er allerdings an zu tänzeln.
Die Methode "Rübenschwein" bei Titus ständig anzuwenden
brachte ich ja selber nicht über's Herz und so gab es immer wieder
Scherereien seinetwegen. Den begehrlichen Wünschen hoher und höchster
Herren konnte ich nur mühsam begegnen: ich erklärte meinen Titus für
einen üblen Verbrecher... Ich mußte es tun... Verzeih mir, Titus!
Kapitel IV
Folgenschwere Minenzündug – Die Feldpolizei – Keine Winterkleidung
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Auf einer meiner häufigen Fahrten zur Armee passierte ich
auf dem Hinweg die Stadt Bjeloye, dort herrschte reges Leben. Auf der
Rückfahrt wollte ich den gleichen Weg nehmen, aber Bjeloye lag in
Schutt und Asche. Es rauchte noch. Wie konnte das geschehen, so weit
hinter der Front?
Die Russen hatten vor ihrem Abzug die Stadt unterminiert und
sie drei Monate später mittels Radio-Fernzündung hochgehen lassen, erzählte mir der Posten, der den Verkehr umleitete.
"Herr Leutnant," begrüßte mich Unteroffizier Kuleit, als ich
nachhause kam, "während Sie weg waren, ist schon wieder eine Kate im
Dorf in die Luft geflogen; aber jetzt wissen wir auch, wie das zugeht." "So," fragte ich, "dann schießen Sie los!"
"Ja, in den Buden hängen doch so einfache Wanduhren mit Perpendikel und Gewichten, die kennen Sie ja auch. Heute früh suchte nun
der Kurbjuweit nach einem Stück Lappen und fand einen. Als er ihn aufhob, kam darunter eine Miene zum Vorschein, ein ganz passables Ding,
direkt unter der alten Uhr!"
"Donnerwetter, unter der Uhr? Hat die denn damit etwas zu
tun?" "Ja, sicher, Herr Leutnant, die Uhr hat doch Gewichte an langen
Ketten und am Ende einen Ring zum Aufziehen und damit die Kette nicht
durchläuft."
"Ja, natürlich, das weiß ich auch; aber ich sehe noch nicht
den Zusammenhang." "Nun ja, man kann den Ring auch abkneifen. Zieht
nun ein Partisane die Uhr auf, dann läuft die eine Woche, bis die Kette zu Ende ist, das Gewicht fällt herunter auf die Mine und die Bude
fliegt in die Luft!"
Ich war sprachlos. Jetzt wußten wir endlich, was die was die
Uhr geschlagen hatte...
"Herr Leutnant, nachdem der Kurbjuweit nun die eine Mine gefunden hatte, habe ich gleich das ganze Dorf absuchen lassen und da
haben wir doch tatsächlich noch drei solcher Ostereier gefunden. Und
alle drei kurz vorm Losgehen!" Im selben Dorf "eroberten" wir durch Zufall unseren ersten
Panzer. Eine andere deutsche Abteilung hatte schon viele Stunden an
dem verlassenem russischen T34 herumgemurkst. Sie bekamen ihn nicht in
Gang.
Da kamen drei von meinen Gefangenen und meinten, ob sie mal
nachsehen dürften. Ich wollt eigentlich nein sagen, aber sie baten so
flehentlich, daß ich mich erweichen ließ. "Also gut, geht hin und versucht euer Glück!"
Am nächsten Morgen ein ohrenbetäubender Krach vor meiner Kate: meine drei Helden waren mit dem T34 da; der Motor kotzte und
spuckte zwar noch jämmerlich, aber er lief. Sie hatten es hingekriegt.
Wie das blieb ihr Geheimnis.
Den T34 sollten wir schneller brauchen als wir gedacht hatten. Mein Bataillon unterstand unmittelbar der Armee, so kam es, daß
wir bald hie und bald da eingesetzt wurden und zeitweilig hatten wir
einen weiten und unangenehmen Weg zur Verpflegungsstelle. Das Übelste
daran waren die Partisanen in den großen Waldgebieten.
So geschah es eines Tages, daß mein Verpflegungstroß von
Partisanen angegriffen wurde. Glücklicherweise kam gerade noch ein anderer Trupp des Weges, sodaß es ihnen gelang, den Angriff abzuwehren
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und sie mit einem blauen Auge davon kamen. Schöne Schweinerei, das!
Mir platzte der Papierkragen. Was tun?
"Hört mal," erklärte ich meinem Reparaturtrupp, "seht mal
zu, ob ihr von den alten Klamotten hier nicht noch was in Schwung
kriegt!"
Wildes Hämmern, Sägen und Feilen und nach wenigen Tagen kam
tatsächlich noch ein T34 angerollt. Damit war das Problem gelöst.
"so, Verpflegungsunteroffizier, Sie setzen sich in den einen, der Gefreite Möller in den anderen, der Troß in die Mitte und los
damit!"
Ich sah ihnen befriedigt nach: wartet nur, ihr Herren Partisanen, was die euch für Bohnen in die Suppe spucken werden, da habt
ihr aber gewaltig dran zu kauen. Die Partisanen verspürten keine Lust, sich an den beiden T34
die Zähne auszubeißen. Der Geleitzug kam unbehelligt bis in die Nähe
des Verpflegungslagers. Als nun keine Gefahr mehr bestand, winkte der
Unteroffizier Lehmann seinen Kollegen nach vorn: "wir fahren vor und
erledigen schon mal den Papierkrieg, bis der langweilige Troß nachkommt." "Mensch, meiner läuft schneller als Deiner," schrie Möller.
Das ging Lehmann gegen die Ehre. "Von wegen, ich bin zuerst da!"
Deckel zugeklappt und los ging die wilde Jagd!
Im Verpflegungslager der übliche, monotone Kram, - 97 - 98 99 - 100 Brote, - 50 kg Erbsen, - 200 Fleischbüchsen, - 35 Stangen Zigaretten Plötzlich Motorengeräusch, laut aufheulend! Den wenigen Verpflegungsbullen weiten sich die Augen vor Entsetzen. Zwei russische
T34, in vollem Karacho, rasen auf sie zu! Zu spät zu jeder Gegenwehr!
Rette sich wer kann! Meine beiden Panzer fanden ein ausgestorbenes Lager vor,
niemand war zu sehen...
"Ich hab's doch gar nicht arg gemeint," entschuldigte sich
hinterher Unteroffizier Lehmann. - Aber ich - obwohl völlig unschuldig
- ich bekam von oben zum Nachtisch einen Zigarre serviert, an der ich
drei Tage zu rauchen hatte.
Lehmann war ein ganz gerissener Bursche, der konnte aus
Dreck Zwerge backen. Eines Tages kam er mit großen Mengen Schokolade,
Fleischkonserven, Käse und ähnlichen guten Sachen vom Verpflegungsamt
zurück. "Heh, Unteroffizier Lehmann," fragte ich etwas mißtrauisch,
"was ist denn nun los? Wie kommen wir zu der Verpflegung? So was haben
wir doch noch nie gehabt!"
"Jeh, Herr Leutnant," griente er, "die Sache ist man nämlich
die: ich haben da neulich mal den Stempel in die Hand bekommen und da
steht doch Gefangenen-Bataillon drauf, das ist doch abgekürzt Gef.Bat.
und da dachte ich vielleicht...
Ich habe den Stempel auf die Anmeldung gedrückt: Gef.Bat.A,
sieht doch sehr gut aus. - Der Zahlmeister besah sich das kritisch und
fragte: "GefBat.? Was heißt das?" "Gefechtsbataillon natürlich," habe
ich ihn bekehrt. Und da gab er mir Sonderverpflegung aus. - Ich habe
es aber bestimmt nicht arg gemeint!"
Was soll man schon mit solch einem Hallodri machen? Bestrafen? Das wäre zuviel verlangt. - Es hat uns herrlich geschmeckt. Die Schlammperiode war auf einmal da. Wir dachten zuerst: na
schön, morgen wird es besser sein. Es war nicht.
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Nicht nur, daß wir unsere Stiefel von oben vollschöpften,
auch die Lkw's blieben rettungslos im Dreck stecken. Die Pferde
schleppten sich mühsam ihre Wagen Zoll für Zoll weiter. Der Transport
von Munition, Lebensmitteln und Treibstoff war zum Problem Nummer 1
geworden.
"Kuleit," sagte ich, "so geht das nicht weiter. Hier muß etwas geschehen. Suchen Sie sofort aus den Kompanien eine Anzahl Trekkerführer heraus. Jeder Traktor bekommt drei Besatzungen. Die lösen
sich alle acht Stunden ab und dann sollen die Maschinen an den
schlimmsten Stellen 24 Stunden pro Tag arbeiten."
So schleppten wir hunderte von Fahrzeugen die Berge hinauf,
Geschütze hierhin und dahin. Meine Männer bauten endlose Kilometer
Knüppeldämme. Das letzte Mittel waren Trägerkolonnen.
Besonders schwierig war es unmittelbar hinter der HKL, da
mußte alles nachts und ganz leise vor sich gehen.
Die russischen Flieger waren natürlich auch nicht faul. Sie
suchten sich so einen Steilhang, wo alles liegen blieb. aus, um ihre
Bomben abzuladen. So verlor ich in kurzer Zeit sieben Lkw's und drei
Traktoren durch Flieger und Artilleriebeschuß. Viel Malheur gab es immer wegen des Heimaturlaubs, es waren
stets einige darunter, die sich unter den tollsten Vorwänden eine
Heimreise ergattern wollten. Schließlich wurde mir die Geschichte zu
dumm, ich stellte eine alphabetische Namensliste auf nach der ging es
und damit basta! Ich hörte mir kein noch so bewegtes Klagelied mehr
an.
Da ging es mit Briefen aus der Heimat los. Die Frauen erfanden die kompliziertesten Situationen. Der einen waren am gleiche Tage
alle vier Großeltern gestorben und sie stand nun da mit einem Stoffladen und einer Schusterwerkstätte.
Eine forderte kategorisch: "Wenn Sie meinen Mann nicht sofort nachhause schicken, gehe ich auf den Strich und Sie sind dann
schuld an dem fremden Kind."
Die Frau eines Unteroffiziers schoß den Vogel ab: "Sehr geehrter Herr Kommandeur! Mein Schwiegervater nimmt mich jeden Abend
in's Bett. Das ist doch eine Schweinerei. Schicken Sie sofort meinen
Mann her, damit er hier richtig aufräumt. Oder ich gehe in's Wasser!
Hochachtungsvoll --- "
War ich an dem Schwiegervater nun auch schuld? Ich antwortete nie, alles flog in den Papierkorb.
Auch mit den Behörden gab es Kleinkrieg. Kam da eines Tages
ein amtliches Schreiben: Absender Kriegsgericht Minsk. Huch, dachte
ich, was ist das nun schon wieder? Kriegsgericht klingt immer gleich
nach Todesstrafe, Erschießen und dergleichen. "Der Gefreite Zwirn wurde von der Feldpolizei erwischt, als
er von einem Heuhaufen an der Straße einen Arm voll nahm und seinen
Pferden vorlegte." Anzeige wegen Diebstahl und Plünderung. Ich sollte
ihn verhaften und unter Bewachung zur Aburteilung nach Minsk schicken.
Anfangs nahm ich die Sache nicht so recht ernst, schrieb
wahrheitsgemäß, daß der Mann seit Tagen mit den Pferden unterwegs gewesen war, sich verirrt hatte und seine Pferde elend Hunger litten.
Ach ja, hatte ich gedacht! Postwendende Antwort: eine faustdicke Belehrung für mich über Recht und Gerechtigkeit und: "Unverzüglich den Gefreiten nach Minsk!"
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Der kam unversehens zu einem Heimaturlaub - Zw., der letzte
auf der Liste, er war noch lange nicht dran, - was ich dem Kriegsgericht "unverzüglich" meldete. Prompt Anschnauzer, warum ich nicht den
Urlaubsort und die Anschrift angegeben hätte, man hätte ihn dort
gleich festnehmen können!
Monate und Monate ging der Briefwechsel hin und her. Ich
ließ den Gefreiten verschwinden, verwundet werden, es half alles
nichts. Minsk ließ nicht locker.
Schließlich blieb mir nichts anderes übrig, als den Mann angeblich in russische Gefangenschaft geraten zu lassen. Erst dann hatte
ich Ruhe. Ob sie daraufhin vielleicht einen Auslieferungsantrag an Väterchen Stalin gestellt haben? Im Namen von Recht und Gerechtigkeit?
Wegen eines Armes voll Heu?
Könnte sein! Die "mitschuldigen" Pferde hatten meine Russen
leider schon verspeist, so ging Minsk völlig leer aus...
Zur Sicherheit beichtete ich die ganze Geschichte dem IA,
der war vernünftig und ließ den Gefreiten zu einer anderen, weit entfernten Einheit versetzen. Von dem Krach um seine Person hat Zwirn
selber nie etwas erfahren.
Federfuchser und Frontsoldaten vertrugen sich nicht. - Als
die Russen einmal unsere Ecke so hart bedrängten, daß wir zurück mußten, wurde bei uns der Brennstoff knapp.
An einem Lager bat ich den Zahlmeister um vier- bis fünftausend Liter nur, er verweigerte sie mir. Ich rang die Hände: "In zwei
Stunden sind die Russen da und dann ist alles zum Teufel!" "Kann ich
nicht ändern." "Aber, Mann, nehmen Sie doch Vernunft an. Geben Sie mir
das Zeug und nicht den Russen!"
"Kann ich nicht, ist unmöglich. Ich kann wohl in meine Bücher hineinschreiben: 10000 Liter in feindliche Hand gefallen oder
vernichtet, aber auf keinen Fall: 5000 Liter ausgegeben an eine pferdebespannte Einheit, wie Sie eine sind."
Was blieb mir anderes übrig, als vor soviel weiser Logik zu
kapitulieren und fluchend weiter zu ziehen? Blieb mir wirklich nichts
anderes übrig? Schön, dachte ich, wenn du durchaus von den Russen
überfallen werden mußt, um dein Benzin herauszurücken, das Vergnügen
kannst du haben. Die Russen konnte ich ja schließlich liefern, en gros
und en detail. - Eine kurze Besprechung und die vierte Kompanie bog
links ab in die Büsche...
Eine Stunde später kamen der bewußte Zahlmeister und seine
drei Grashupfer im Auto angesprengt: die Russen hätten sie urplötzlich
überfallen, nicht einmal seine Bücher hätte er retten können. "Sehen
Sie, hätten Sie mir doch das Benzin gegeben!"
"Nein, das war gegen die Vorschrift, das war absolut unmöglich!"
Er brauste weiter. "Holen Sie sich 'nen Orden von Stalin,"
brüllte Lehmann hinter ihm her.
Der Zahlmeister sah es nicht mehr, daß die "bösen" Russen
auch uns nachsetzten und uns einholten, mit großem Hallo begrüßt wurden, sich gehorsamst einordneten und 5000 Liter Benzin sowie 2000 Liter Dieselöl getreulich ablieferten.
Endlich, in einem kleinem, kümmerlichen Dorf kamen wir zur
Rast. In dem einzigen noch unversehrtem Haus berief ich meine Kompanieführer zusammen. Wir saßen um einen großen Tisch, Pläne und Karten
vor uns ausgebreitet. Plötzlich, ein furchtbarer Krach! Alles wackelte
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und flog durch die Gegend. Das Dach hatte ein großes Loch, der
Kalkstaub verzog sich langsam. Wir rappelten uns wieder auf, niemand
war verletzt.
In einer Ecke ruhte eine russische 10,5 cm Granate, friedlich wie ein schlafender Säugling. Leise, leise, unendlich behutsam
schlichen wir auf Zehenspitzen davon. Nur nicht wecken - nicht wecken
den Neuankömmling! Die Bescherung dann - nein danke.
Es war schon ziemlich kalt geworden mittlerweile. Wir froren
erbärmlich in unseren dünnen Sommerfähnchen.
"Lehmann, kommen Sie mal her," rief ich ihn heran, "daß ist
doch kein Zustand. Wir brauchen warmes Zeug. Nehmen Sie zwei Lkw's,
fahren Sie nach hinten in's Lager und besorgen Sie Winterbekleidung
für uns. Schauen Sie sich bei der Gelegenheit auch gleich nach Winteröl für Motore um und nach Glyzerin für die Kühler. Sie wissen ja Bescheid."
"Jawohl, Herr Leutnant," und er verschwand.
Nach zwei Tagen war er wieder da. "Nanu, Lehmann, Sie machen
ja ein Gesicht wie ein frisch geprügelter Uhu," empfing ich ihn. "Nun
schießen Sie schon los! Was gibt's denn?" "Nichts gibt's, Herr Leutnant, absolut nichts: keine Winterbekleidung, kein dünnes Öl, kein
Glyzerin."
"Was? Noch nicht angekommen? Das ist doch kaum möglich,
schließlich haben wir Ende November."
Ich schickte Lehmann zum zweiten und zum dritten Mal; er
ging zum Lager der Division, des Korps, der Armee, immer dasselbe.
Winterbekleidung: Fehlanzeige.
Mir war klar, daß Lehmann sein möglichstes getan hatte, der
konnte organisieren. Der hätte höchst eigenhändig dem Teufel seiner
Großmutter die warmen Unterhosen ausgezogen ...
Es war einfach nichts da - man hatte für nichts vorgesorgt.
Hatten die in Berlin geglaubt, um diese Zeit säßen wir längst in Moskau? So recht gemütlich in Filzpantoffeln, mit der langen Pfeife am
traulich knisternden Kamin? Plaudernd, erzählend aus längst vergangenen Tagen? Aus längst vergangenen Kriegstagen?
Oder hatte unsere Spionage nicht herauskriegen können, daß
es in Rußland so um den Oktober-November herum bitter kalt wird?
Oder hatte man - aber nein, der Gedanke war absurd - überhaupt nicht gedacht? Vielleicht? Das Bequemste wäre es schon.
Die Russen drüben, ja die verstanden etwas von Sommer und
Winter - na, Kunststück, die waren ja hier auch zuhause - die, die waren erstklassig ausgerüstet.
Meine Gefangenen hielten sich an Beutestücken schadlos und
waren bald ebenso gut dran wie ihre Genossen auf der anderen Seite.
Aber wir, wir konnten da nicht mittun, schließlich mußte man doch die
kleinen Woroschilows und Rundstedts wenigstens von außen unterscheiden
können. Währendessen froren wir tapfer weiter in unseren leichten
Sommerfräckchen. Es begann zu schneien, erst nur wenig, dann etwas
mehr und dann war es soweit, daß ich befehlen konnte: "Karl, spann den
Hengst vor den Rodelschlitten, ich will zur dritten Kompanie."
Es war herrlich draußen. Eine geschlossene, noch unberührte
Schneedecke. Titus griff mächtig aus, wir flogen nur so über die glitzernde Pracht. Das leichte Gewicht spürte der Araber kaum, ließ sich
aber willig lenken. Der Schnee knirschte leise...
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Plötzlich Motorengeräusch, kotzend und spuckend kommt ein
Flugzeug haarscharf über die Bäume. Seine großen roten Kreuze leuchten
in der Sonne. Na, für den wird's aber Zeit, der muß gleich notlanden,
dachte ich noch. Da: peng - peng - peng, MG-Feuer. Der Schnee spritzt
mir um die Ohren. Titus macht ein paar erschreckte Sätze, der Schlitten kippt um und ich rolle in den Schnee.
Das MG-Feuer verstummt, mit einem Satz bin ich auf den Beinen.
Mir war nichts passiert. Und Titus? Dreißig Schritt weiter
stand er und sah sich nach mir um. Er hatte auch nichts abgekriegt,
mir fiel ein Stein vom Herzen. Das Flugzeug schwebt weiter - die roten Kreuze funkeln - der
Motor kotzt jämmerlich. Ich ging zu meinem Pferd, nahm seinen Kopf in meinen Arm und
tätschelte ihn lebevoll den Hals. "Hast brav gemacht - nicht ausgerissen - nichts kaputt geschlagen - bist doch ein guter Kamerad, Titus."
Bum-bum-bum, nanu, was ist denn nun schon wieder los? Artilleriefeuer?
Ich sah gerade noch, wie das Lazarettflugzeug am Boden zerschellte. Soldaten liefen hinzu.
"Los, Titus, Galopp!" Wie ein Pfeil schoß er dahin und ich
erreichte gleichzeitig mit den Männern das Wrack. Zwei Russen zogen
wir aus den Trümmern hervor, beide tot.
Wirklich, ein Lazarettflugzeug, von innen schön weiß mit
Betten und allem Heil - aber auch zwei Maschinengewehren. Die Overalls der beiden Piloten waren wunderbar, mit Pelz
gefüttert. Den einen nahm der Leutnant von der Artillerie, den anderen
nahm ich. Ich zog ihn auf der Stelle an: herrlich warm, dachte ich und
war sehr zufrieden.
So kam ich zu meiner Winterbekleidung. In Berlin hatte man
an nichts gedacht, aber Väterchen Stalin dachte sogar an den Russenkommandeur von drüben, schickte ein Flugzeug und übersandte ihm das
Beste vom Besten. Die Art der Überreichung - nun ja, etwas rabiat - im
Krieg sind halt die Sitten rauh. Ich kam nachhause. Lehmann begrüßte mich als erster. Natürlich war da eine dreckige Bemerkung fällig: "Herr Leutnant sehen aus
wie ein Flieger-General! Wohl nach Maß von Dior?"
Von wegen Dior und so... ich wollte Lehmann eben eine passende Antwort geben, da kam Kuleit dazu und meldete ganz aufgeregt:
"Herr Leutnant, es ist schon wieder etwas passiert. Unsere zwanzig Gefangenen und die acht Pferde, die die Munition holen sollten, sind alle tot."
"Wie? Was? Und die beiden Wachtmänner," fragte ich.
Die beiden Wachtmänner hat es umgeworfen, sie sind aber nach
ein paar Stunden wieder zu sich gekommen, denen fehlt nichts."
"Nun berichten Sie mal der Reihe nach, was ist denn eigentlich passiert? Hat der Iwan einen Volltreffer gelandet oder was?"
"Drinnen sitzt ein Sprengmeister, der ist total aufgelöst,
er ist an allem schuld."
Mit drei Schritten war ich im Haus. Da saß ein Feldwebel in
der Ecke - ein Häufchen Malheur.
"Sie sind der Sprengmeister?" "Ja, ja Herr Leutnant, der bin
ich. - Herr - Leutnant," stotterte er, "mir ist was fürchterliches
- 30 -
passiert - ich bin ruiniert - was mach' ich bloß, was mach' ich bloß?
- Das gibt doch ein Kriegsgericht mit Gefängnis und Zuchthaus und noch
schlimmer. - Degradiert werde ich sowieso - und ich bin doch immer so
vorsichtig - noch nie - noch nie hab' ich was angestellt, das können
Sie mir wirklich glauben, Herr Leutnant."
"Na ja, das glaube ich Ihnen gerne," versuchte ich ihn zu
beruhigen, "nun erzählen Sie mir mal: was ist denn überhaupt los gewesen?"
Ja, sehen Sie Herr Leutnant, ich hatte Befehl, hinter R. eine große Mine zu sprengen, einen Blindgänger, der da schon lange herumliegt. Ich brachte die Zündung an und befestigte die Zündschnur und
dann habe ich das ganze Gelände genau mit dem Fernglas abgesucht. Sie
können mir glauben, es war wirklich kein Mensch zu sehen."
Dann steckte ich die Zündschnur an, setzte mich auf meine
Maschine und fuhr davon. Als ich weit genug weg war, sehe ich mich um
und denk' mich rührt der Schlag: aus einer Bodenwelle kommt ein ganzer
Trupp zu Vorschein mit Pferden und Wagen. - Ich konnte nichts mehr machen, die Mine ging im selben Augenblick los. - Ich fuhr gleich hin.
Alle waren tot. Sie hatten wohl Munition geladen, sonst wäre es ja gar
nicht so schlimm geworden."
"So, so - ," sagte ich, "das ist ja eine üble Geschichte,
was machen wir denn nun?"
"Ach, Herr Leutnant, - Herr Leutnant" "Mann, nun hören Sie mal auf zu jammern, davon wird es doch
nicht besser. - Hm, na ja, die Russen sind tot, die Pferde auch, daran ist nun nichts mehr zu ändern. - Wie kam es denn, daß die beiden
Wachtmänner am Leben geblieben sind?," fragte ich ihn. "Ja, Herr Leutnant, die gingen ein ganzes Ende hinterher, die waren doch noch weit
weg, als die Mine losging, antwortete der Sprengmeister.
"Hm, meine Russen werden davon auch nicht wieder lebendig,
wenn Sie bestraft werden - die Pferde kann ich sowieso verschmerzen also, gehen Sie nachhause und passen Sie in Zukunft besser auf. Ich
werde keine Meldung machen."
Eigentlich saß mir der Schreck noch in allen Dingen, da meldete sich der Sanitätsgefreite Berger: "Herr Leutnant, entschuldigen
Sie, aber es geht so wirklich nicht mehr weiter. Wir müssen einen Arzt
haben. 1700 Mann und kein Arzt, das geht nicht Ich habe soviel Angst
um die beiden Kameraden gehabt, sie waren so lange bewußtlos. Ich bin
doch nur Apothekergehilfe und unter den Gefangenen ist auch kein Doktor. Wir müssen einen haben."
"Ja, Herr Berger," sagte ich, "Sie haben durchaus recht. Ich
habe schon vor Wochen einen bei der Division angefordert, aber sie
schicken keinen. Ich werde jetzt bei der Armee direkt darum bitten.
Noch heute."
Damit war er entlassen und Kuleit mußte einen Melder zu
Pferde fertig machen.
So kam es, daß wir plötzlich zwei Russenärzte bekamen, einen
von der Division und den anderen von der Armee. Den einen nannten wir
Dr. Mohammed und den anderen Dr. Iwan, ihrem Aussehen entsprechend.
Sie waren beide famose Kerle, sehr zimperlich waren sie freilich
nicht. Ohne Narkose operierten sie frisch-fröhlich drauf los und hatten beachtliche Erfolge.
An Medikamenten hatten wir nicht viel zur Verfügung, die alten Allheilmittel der Ortskrankenkassen und des Kommiß: Jod und Rizi- 31 -
nus taten auch hier innerlich und äußerlich Wunder. Simulanten und
Drückeberger hatten bei ihnen nichts zu lachen, sie hielten ihren Pulk
stramm in Ordnung, was wohl auch nötig war.
Unsere Leute gingen im Notfall auch zu ihnen. Nur Berger,
der etwas zart besaitet war, meinte: "Ach nee, da geh' ich doch lieber
zu einem Stabsarzt, auch wenn's ein Ende weiter ist."
"Tja, ich vielleicht auch," gab ich zu. "Hören Sie, Berger,
Sie kennen doch die einzelnen Russen ganz gut. Schicken Sie mir mal
einen intelligenten Burschen zu meiner persönlichen Bedienung her."
Er kam mit einem Schlitzauge Mongolen aus Alma-Ata an, der
seine Sache sehr gut machte. Ich konnte mich voll und ganz auf ihn
verlassen. Er hatte aber einen völlig unaussprechlichen Namen und da
er immer so würdevoll einherschritt, taufte ich ihn kurzerhand Sultan.
Das ließ er sich auch ohne weiters gefallen und wir kamen monatelang
gut miteinander aus. Sultan hatte ganz nett deutsch gelernt und ich
fand das nur angenehm. So fiel ich aus allen Wolken, als er eines Tages laut heulend ankam und radebrechte: "Gospodis, nix gut, zu armen
Sultan. Sultan nix bleiben, Zurück zu Kompanie."
Ich war sprachlos, ich konnte mir nicht vorstellen, warum
ich "nix gut" sein sollte. Es war aus ihm nichts mehr herauszubekommen, er heulte nur immer: "Gospodis nix gut, nix gut."
Also ließ ich doch lieber einen Dolmetscher holen und da kam
es dann heraus: irgendwer hatte meinem Sultan erzählt, in Deutschland
wäre "Sultan" ein Hundename.
Der Dolmetscher gab sich alle Mühe, Sultan die wahren Zusammenhänge zu erklären, aber schließlich meinte er: "Herr Leutnant, es
hat keinen Zweck. Der Bursche kapiert das nicht, er sagt nur immer,
die Schande, die Schande, das hätte er nicht von Ihnen gedacht. Das
ist nicht wieder hinzukriegen, lassen Sie ihn gehen."
Nach diesem Intermezzo nahm ich mir doch lieber wieder einen
deutschen Burschen. Mit August, einem ostpreußischen Bauernsohn passierte gleich ein Unglück.
"Sage mal, August, warum bringst du denn nicht den Käse auf
den Tisch? Unteroffizier Lehmann hat mir doch extra gesagt, er hätte
diesmal besonders guten Käse bekommen."
"Achjeh, Herr Leutnant, das ist eine ganz große Schweinerei,
was sie einem da auch alles anbieten. Ich habe das ganze Stück Tilsiter gleich im hohen Bogen weggeschmissen. Der war total verschimmelt,
nein so was, ganz grün war der schon von innen."
In mir stieg ein schwarzer Verdacht auf; Käse, von innen
grün? "August, hol' mir mal ein Stückchen von dem Käse zurück, ein
ganz kleines Endchen bloß, ich will ihn mal sehen."
"Herr Leutnant, das geht leider nicht, ich habe ihn hinterm
Stall auf den Misthaufen geschmissen." Unteroffizier Lehmann bestätigte meinen Verdacht, der "verschimmelte Tilsiter" war allerbester Roquefort gewesen, "innen schon
ganz schön grün" und den mochte ich gerade so gern.
Ich habe dem delikaten Roquefort sehr nachgetrauert. So etwas gab es seltener als den 29. Februar.
Kapitel V
Traktoren aufheizen – Typhusgefahr – Spioninnen
- 32 -
Es wurde kalt und sehr bald noch viel kälter und wir waren
mitten in dem berüchtigten "Gefrierfleischwinter" 41/42. Der sibirische Frosteinbruch im Dezember führte allenthalben zur Katastrophe:
die Russen griffen sofort an - kamen überall spielend durch, denn auf
unserer Seite ging - in des Wortes eigenster Bedeutung - kein Schuß
los. Das Öl war so dick, daß alles festsaß. Ebenso rührte sich kein
Motor.
Natürlich ahnten wir an der Front damals nicht entfernt das
Ausmaß der Kalamität. Als Soldat sieht man im Kriege nur so weit, wie
man wirklich "sieht". Wir sahen nichts. Wir wußten nichts. Rückzugsbefehl: in zwei Stunden abrücken!
Kein Motor wollte auch nur die geringste Drehung machen, bestenfalls machte der Anlasser: klick. Verheerend, gar nicht auszudenken, wenn die Kraftfahrzeuge zurückbleiben müßten!
Meine Leute arbeiteten wie die Schwerverbrecher. Anziehen
mit Pferden! Alles vergebens. - Die Motoren saßen so bombenfest als ob
sie mit Asphalt gefüllt wären und nicht mit Öl.
Nachdenklich-traurig stand ich vor meinen beiden großen Stalin-Traktoren. "Gaspodin", kamen ein paar meiner Russen heran, "wir
vielleicht wissen Rat für Traktoren. - Nicht sein sicher, kann gehen
schief, aber wollen versuchen. - So Traktor verloren".
"Da habt ihr recht, von mir aus versucht's. Wenn's nicht
klappt, ist's auch nicht schlimmer als jetzt."
Ein russischer Feldwebel übernahm das Kommando, eine alte
Holzbude war im Nu zusammengerissen, unter jedem Traktor ein Scheiterhaufen aufgeschichtet, etwas Benzin darauf und dann ein brennendes
Streichholz. Zehn Meter hoch loderte die Stichflamme, prasselnd fraß
sich das Feuer in das trockene Holz hinein, mit Krachen und Poltern
stürzte der Scheiterhaufen zusammen.
Meine beiden Traktoren sahen traurig aus: Führerhaus, Verkleidung, alles verbrannt. Wie teuflisch schwarze Skelette kamen sie
mir vor.
Nach einer halben Stunde war alles vorbei, nur ein Haufen
Asche glühte noch unter dem Eisen. Schnell einige Eimer Wasser über
die Plattform, dann zwanzig Pferde vorgespannt. Ein Russe kroch hinauf
auf den Trümmerhaufen, hantierte an den Hebeln hin und her, schwarz
wie ein Schornsteinfeger. Das Ungeheuer ächzte und stöhnte in allen
Fugen, aber es bewegte sich die leicht abfallende Straße hinunter,
erst langsam und schwerfällig, dann immer schneller.
Ein Ruck. Der Traktor bockte, aber der Motor begann sich
allmählich zu drehen, schneller und schneller. Dicke schwarze Wolken
spuckte der Klotz aus, dann ein wildes Gebrüll: "Gaspodin, Gaspodin,
nix kaputt, nix kaputt!"
Der Motor war wirklich angesprungen, der Traktor lief - auch
den zweiten brachten die Kerle soweit. Es war aber auch schon höchste
Zeit zum Abrücken, wir beluden noch rasch vier Lkw's, hängten je zwei
an jeden Traktor und los ging es. Der Schnee lag meterhoch, es war eine wilde Tour. Dazwischen die Russen mit ihren Fliegerangriffen. Alle
vier Lkw's haben sie mir nacheinander in Brand geschossen. Aber die
beiden Traktoren wurden gerettet und mit ihnen und den müden Gäulen
kamen wir so la la in Rachow an.
Kaum waren wir da, machte der Russe die Schlinge zu und wir
saßen im Kessel, volle drei Monate. Drei Divisionen waren eingeschlos- 33 -
sen. Alle drei zusammen besaßen nicht ein einziges Kraftfahrzeug, nur
meine beiden Traktoren summten.
Allerdings rächten sie sich sehr bald für die heiße Behandlung. Die Dichtungen waren ausgebrannt und eine nach der anderen gab
ihren Geist auf. Wir hatten unsere liebe Not mit der Ersatzteilbeschaffung in dem Kessel.
Wirklich ernst wurde es aber erst, als der eine Traktor Getriebeschaden erlitt. Ersatzteile waren nicht zu bekommen - wir mußten
ihn stillegen.
In dieser Situation erschienen eines Tages zwei meiner Gefangenen bei mir: "Gospodin," begannen sie, "wir wissen wie die Lage
ist. Russen, Russen alles Russen. Traktor kaputt. Wie gehen holen Teile von Russen, wenn du gibst jeden ein Kilo Tabak vorher, jetzt, und
nachher, wenn wiederkommen, auch."
Na ja, ich verstand: wir waren eingeschlossen, es war auch
anzunehmen, daß der Kessel bald hochgehen würde. Wer von uns am Leben
blieb, kam dann in Gefangenschaft. Aber für die bei uns arbeitenden,
Kriegsgefangenen Russen gab es kein Entrinnen: die Russen erschossen
jeden. - Verständlich, daß sie versuchten ihre Haut zu retten.
"Gospodin, du nicht glauben, wir kommen wieder, wenn bleiben
am Leben?" Ich wollte sie nicht kränken. Sie bekamen jeder ein Kilo
Tabak und dann wurden sie in einer dunklen Nacht durch die HKL geschleust.
Drei Wochen später - ich hatte den Vorfall fast vergessen erschienen die Beiden tatsächlich wieder und brachten alles mit, was
wir brauchten.
"Gospodin, entschuldigen, brauchen so lange, aber Russe sehr
vorsichtig, sehr aufpassen," meinten sie treuherzig. Sie hatten bis
weit hinter die Front marschieren müssen, immer nur nachts und als sie
endlich ein Ersatzteillager gefunden hatten, mußten sie warten, bis
sich eine günstige Gelegenheit zum Einbrechen bot. Natürlich bekamen sie ihr zweites Kilo "Machorka"! Einen verzweifelten Kampf führten wir im Kessel mit den Naturgewalten. Es schneite und schneite unaufhörlich. Alle Wege waren
unpassierbar, im Dorf selber konnte man nur mühsam von Haus zu Haus.
Mit verbissener Energie schaufelten und schufteten wir. Was
wir tagsüber freilegten, wehte der Wind nachts wieder zu. Jeden Tag
fingen wir immer wieder an derselben Stelle von neuem an. Es war ein
Kampf, sinnlos - nutzlos - vergebens.
Seit einer Woche hatten wir schon keine Verbindung mehr mit
der Außenwelt. Wir begannen bereits, unsere Zugpferde zu schlachten.
Die Situation wurde kritisch.
Da halfen uns unsere Russen wieder einmal aus der Patsche.
"Gospodin, wir machen in Sibirien immer großes Loch in Schnee, lang,
viel, viel, lang, bis andere Dorf und dann Loch bleiben, bis Sonne
schön warm!"
Das Ei des Kolumbus war gelegt: Schneetunnel!
Kompaniebesprechung: "Wir wollen eine neue Sache machen. Jeder kann auf eigene Faust experimentieren. Wir beginnen morgen: jede
Kompanie für sich. Arbeitsgang etwa so: der Schnee wird in SaunaKesseln geschmolzen. Das Wasser wird ausgegossen, damit es friert und
eine feste Tunneldecke bildet. Unter dieser gefrorenen Decke wird der
Schnee weggegraben - geschmolzen - ausgegossen. Wer den ersten Kilome- 34 -
ter fertig hat: je 500 Gramm Machorka oder 100 Zigaretten pro Mann,
einschließlich Russen."
Am nächsten Morgen türmte sich Brennholz in Haufen - Schnee
kam auf großen Planen herangeschurrt - zischend verschwand er in den
fast glühenden Kesseln - getaut - herausgeschöpft - Eimerkette - ausgegossen.
"Langsam, langsam," mußte ich das Tempo drosseln, "es friert
nicht so schnell, Petrus kommt nicht mehr mit."
Und dabei hatten wir 35° unter Null. Aber immerhin, die Sache klappte, bald war das Transportproblem gelöst, das Gebiet in relativ kurzer Zeit mit einem Tunnelnetz
über- oder vielmehr unterzogen.
Der Iwan konnte es nicht mehr einsehen, gemächlich zog man
seines Weges. - Mochte es oben schneien, soviel es wollte! Nur die
Luft- und Lichtlöcher mußten wir freihalten, sonst hatten wir ewige
Mitternacht in unserer Unterwelt.
Natürlich hatten wir die Tunnel nur einbahnig mit Ausweichstellen angelegt, aber bald waren sie so breit, daß zwei große Lastschlitten bequem aneinander vorbeifahren konnten. Die Verbreiterung
war aber nicht etwa unserem übertriebenen Arbeitseifer zuzuschreiben,
sie ergab sich als zwingende Notwendigkeit. Der Verkehr war nicht so
dicht wie in New York am Broadway ... Oh nein, der Grund war naturbedingt: der Schnee taute unten auf der Fahrbahn immer weg und dann
blieben die Schlitten hängen. Also mußten wir immer wieder neuen
Schnee von den Seitenwänden abkratzen und so hatten wir bald prachtvoll breite Straßen - ach nein - Tunnel.
Wenn ich mit Karl in der Unterwelt unterwegs war, mußte ich
ihn immer wieder ermahnen. "Mensch, mach' deinen Stinkekolben aus!
Siehst du denn nicht, wie der Qualm durch die Löcher hochsteigt! Die
Russen denken am End, hier bäckt einer Brot und schicken dir gleich
die Rosinen dazu durch den Schornstein und dann sagst du nicht mal
mehr danke-schön!"
"I wo, Herr Leutnant, so schlimm wird's ja nich' gleich werden," verteidigte er sich. "Probier's man lieber ohne mich," war seine
lakonische Antwort.
Das Frühjahr kam, der Schnee schmolz und wir wurden wieder
befreit. Aber zu einem richtigen, zügigen Vormarsch kam es nicht mehr.
Kleine, begrenzte Vorstöße, ja, aber zu mehr reichte es nicht.
Wasser und Schlamm machten uns viel Arbeit; wir mußten mal
hier und mal da helfend einspringen. Eine Division sah uns ziemlich
von oben herab an, das waren wir nicht gewohnt.
Kaum hatten wir in einem Dorf Quartier bezogen, erschien ein
Oberst mit seiner Truppe: "Herr Leutnant, ich muß Ihnen die Mitteilung
machen, daß dieses Dorf mir zugesprochen worden ist. Sie müssen wieder
ausziehen."
Ich setzte mich mit dem IA in Verbindung: "aus taktischen
Gründen ..." Wir packten und zogen in's nächste Quartier. Drei Tage
später dieselbe Schweinerei. "Ja," meinte der IA, "ich muß die wichtigeren Truppenteile
bevorzugen und außerdem konnte ich dem Herrn Oberstleutnant seinen
Wunsch nicht abschlagen. Sie verstehen, nicht wahr, Herr Leutnant?"
Nun ja, ich mußte wohl oder übel verstehen, immer zwanglos nach der
Rangordnung ...
- 35 -
"Wo soll ich denn nun hin?" "Na, gehen Sie hier nach L." Was tun? Wir zogen um in's dritte Dorf. - Dann endlich war Ruhe, himmlische Ruhe, kein "Raupenschlepper" ließ sich sehen, scheinbar waren
wir allein auf der Welt. Drei Wochen dauerte der paradiesische Zustand, bis eines
Morgens in aller Herrgottsfrühe mehrere Autos in unser Dorf brausten.
Aufgeregt kam ein Doktor auf mich zu.
"Zum Donnerwetter noch mal, warum melden Sie nicht der Armee, wenn Sie Typhusfälle in der Truppe haben? Wissen Sie denn nicht,
wie ansteckend das ist?"
Ich war total entgeistert: hier Typhus? Und ich wußte von
nichts! Das war mir unerklärlich; die Armee wußte es und schickte eine
motorisierte Sanitätsabteilung her und ich habe keine Ahnung. "Herr - Herr Oberfeldarzt," - mir fiel im Moment kein besserer Titel ein und ich hatte auch nicht den leisesten Schimmer von den
Abzeichen der Doktorgilde, - ich habe aber doch gar keine Typhusfälle
hier. Ich habe zwei russische Ärzte und keiner hat mir etwas gemeldet."
"Herr Leutnant, versuchen Sie nicht, uns etwas zu verbergen,
wir haben es mit eigenen Augen gesehen." "Was, mit eigenen Augen, hier
in meinem Bataillon? Das ist doch unmöglich!" "Doch, doch, Herr Leutnant."
Ich rief meine beiden Russenärzte, sie schworen alle heiligen Eide - beim Barte Mohammeds und Stalins, - daß sie keine Fälle
hätten. Mir wurde schon erheblich wohler. "Ja, bitte, sagen Sie mir nur, Herr Oberfeldarzt, wo haben
Sie denn hier Typhus entdeckt?" "Nun, draußen steht es doch groß und
breit angeschlagen?" "Aber sicher, große Schilder: Achtung, Typhusgefahr!" "Hier bei mir? Das muß ich selber sehen."
Wir fuhren vor das Dorf, nichts, gar nichts -natürlich
nichts. "Herr Doktor, bitte, zeigen Sie mir die Tafeln, ich kann sie
nicht finden." Ich hatte Oberwasser, nun war er nur noch "Herr Doktor"
für mich.
"Na so was, träume ich denn? Gefreiter Scheel, haben Sie
vorhin nicht auch die Schilder gesehen?" "Jawohl, Herr Stabsarzt, sie
waren bestimmt da!" Die haben alle miteinander einen kleinen Sonnenstich, dachte ich, und sah vergnügt zu wie sich die beiden auf die Suche machten. Dann ein freudiges Hallo, sie bückten sich und holten aus
dem hohen Gras etwas hervor. "Achtung Typhusgefahr!" prangte es, schön
mit roter Farbe, liebevoll gemalt. Ich war vollkommen platt.
Der Stabsarzt bestand auf einer sofortigen, strengen Untersuchung; anscheinend wollte er den Schuldigen gleich höchsteigenhändig
an den Kragen. Mir selber glaubte er kein Wort, daß ich von allem
nichts gewußt hatte.
Die Untersuchung begann. Ich war umschichtig Staatsanwalt,
Richter, Detektiv und natürlich Angeklagter, alles in einer Person.
Zuerst knöpften wir uns Kuleit vor; der spielte die Rolle
des Biedermannes: "Herr Leutnant, ich weiß wirklich von gar nichts,
ich sitze ja fast immer auf der Schreibstube. Ja, ich war wohl auch
zwei oder dreimal draußen vor'm Dorf, aber da habe ich keine Schilder
gesehen."
Lehman, empört, beleidigt: "Die Schilder, ja die habe ich
gesehen, aber was gehen die mich an? Das ist Sache der Doktoren, dafür
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sind allein sie zuständig. Was hab' ich damit zu tun? Ich bin doch
nicht Mädchen für alles!"
Karl drehte den Spieß um: "Herr Leutnant haben Sie die Tafeln gesehen?" "Nein, ich nicht," mußte ich antworten. "Na also, und
ich bin mit dem Titus doch immer nur mit Ihnen zusammen gefahren. Wie
soll ich denn was wissen?"
So ging es weiter: niemand wußte etwas ... Niemand hatte die
Schilder gemalt. Niemand hatte sie aufgestellt. Niemand hatte sie wieder versteckt, wenn ich in die Nähe kam. Niemand war an allem schuld
...
"Nun," meinte Berger, "das ist ein klarer Fall. Niemand weiß
Bescheid. Niemand wird wohl gerade in Urlaub sein."
Was konnte ich gegen solch eine geschlossene Front machen?
Uns was hatten sie denn schon getan? Ihnen war das ewige Umziehen zuviel geworden, da hatten sie als gewitzte Knaben auf Abhilfe gesonnen
und ein wirklich probates Mittel gefunden.
Sicher hatten Dutzende von Formationen die Schilder gelesen
und waren in panischem Schrecken davon gestürzt! Hätten wir sonst solange unseren ungestörten Frieden gehabt? Solange, bis dann doch ein
ganz Gewissenhafter uns bei der Armee verpetzt hatte?
Um mit der Untersuchung zum Schluß zu kommen, teilte ich eine Zigarre für die Allgemeinheit aus. Sie wurde mit dreckigem Grinsen
quittiert.
Nun wollte der Stabsarzt aufbrechen und das ominöse Schild
als Beweisstück mitnehmen. Jedoch, das corpus delicti war nicht aufzutreiben. Wir suchten und suchten, stellten das ganze Dorf auf den
Kopf, alles vergebens.
Selbst die beiden Gefreiten Möller und Kurbjuweit, die sich
gerade "zufällig" vorm Dorf ein paar Kartoffeln in heißer Asche backen
wollten, hatten "natürlich" nicht die leiseste Ahnung, wo das vertrackte Holzschild geblieben sein konnte und stocherten weiter eifrig
in der Asche herum ...
Mit Ruhe und Beschaulichkeit war es vorbei. Zum x-hoch-n-ten
Male wurden wir verlegt und bekamen Aufgaben dicht hinter der HKL.
"Sagen Sie mal, Kuleit, was wollen eigentlich die vielen
niedlichen Käferchen hier? Und die Augen schmeißen tun sie so aufreizend, daß einem gleich ganz anders wird! - Sollten sich da etwa einige
von unseren Leuten etwas aufgetan haben? Der Deiwel soll die Kader holen, wir sind hier an der Front und nicht am Kurfürstendamm."
"Herr Leutnant, diesmal weiß ich wirklich von nichts, ich
habe auch nichts bemerkt." "Na schön, passen Sie aber gut auf, mir
kommt die Sache mulmig vor."
Bei der Division sprach ich mit dem IC. "Merkwürdig, so
dicht hinter der HKL Frauen?," bemerkte er. "Und alles junge appetitliche Dinger," ergänzte ich.
Eine Razzia förderte ein halbes Hundert zutage. Beim Verhör
kam heraus: Drüben ausgebildet zu Spionagezwecken - einfache, simple
Aufträge, eng begrenzt - nachts durch die HKL geschlichen - Eltern
drüben als Geiseln verhaftet - Frist zwanzig Tage - bei Entdeckung
weibliche Reize spielen lassen - - Jetzt wurde höllisch aufgepaßt, in einer einzigen dunklen
Nacht erwischte die Division 28 solcher Mädchen direkt in der HKL, sie
wurden als Gefangene nach rückwärts gebracht. "Schade, ich hätte ...",
- 37 -
meinte Gefreiter Möller, klappte aber sein Gebiß wieder zu, ohne den
Satz zu vollenden. War auch besser für ihn! In den Sommermonaten versteiften sich die Fronten mehr und
mehr, der Krieg ging in den Stellungskampf über. Damit rückten auch
Ordnung und Gesetz immer näher an uns heran. Was für einen praktischen
Sinn das haben sollte, ist mir immer unerfindlich geblieben. Eines schönen Tages stand da so ein komischer Kerl vor meinem Haus und wedelte mit den Armen herum wie ein Verkehrs-Schupo auf
dem Alexanderplatz. Auf der Brust ein großes Blechschild an einer Kette mit der Aufschrift: Feldpolizei.
Ach, jetzt ging ein Leiden los. Nur noch Scherereien gab es,
mit dem Titus fing es an. Dem hatte gleich so ein "Kettenhund" beim
Wickel. Karl kam aufgeregt angelaufen. "Herr Leutnant, da ist ein
Wachtmeister, der will durchaus unseren Titus mitnehmen. Kommen Sie
bloß schnell!"
Schon kam ein Feldgendarm: "Herr Leutnant, ist das Ihr Pferd
da draußen?" "Jawohl, warum?" "Das muß ich mitnehmen, Rassenpferde
dürfen in der vorderen Linie nicht verwendet werden, die müssen einem
Gestüt zugeführt werden."
"Ja, ja, Herr Wachtmeister," antwortete ich möglichst ruhig,
"da erzählen Sie mir nichts Neues. Das weiß ich längst." "Na, und,"
sagte er streng, "solch ein Pferd dürfen Sie hier nicht haben." "Wissen Sie, das ist eine traurige Geschichte mit dem Pferd! Wie oft habe
ich die nicht schon erzählen müssen, fast jede Woche einmal muß ich
sie herbeten, oder dachten Sie vielleicht, dem Hengst hätte ich ein
ganzes Jahr versteckt gehalten! Und ausgerechnet Sie sind der erste,
der ihn entdeckt!"
"Nein, mein Lieber, der Hengst war schon mal ein halbes Jahr
im Gestüt Trakehnen, das kennen Sie doch sicher auch?" - Nein, er
kannte es nicht, das sah man ihm an, aber ich mußte genaue Angaben machen, damit er nicht merkte, daß alles Schwindel war. - "Von dort haben sie ihn zurückgeschickt."
"Aber warum denn?", fragte der Wachtmeister sehr erstaunt.
"Ja, sehen Sie, Herr Wachtmeister, das ist ja gerade das
Malheur mit dem Hengst. Titus macht sich halt nichts aus Pferdedamen.
Er war im Gestüt nicht brauchbar, anscheinend ist er impotent; jedenfalls weigerte er sich hartnäckig, seine Pflicht zu tun. - Schade um
das gute Pferd, nicht war?"
Da zum Glück keine Pferdedame zur Stelle war, ging die Geschichte mit einem freundlichen Händedruck aus und Titus war gerettet.
Tausend und einen Grund fanden sie, um das Leben schwer zu
machen. Man schickte morgens Fahrzeuge los, um Verpflegung zu holen
uns rechnete mit ihrer Rückkehr gegen Mitternacht. Schon abends waren
die Wagen wieder da, jedoch ohne Verpflegung, dafür aber mit einem
"Kettenhund".
"Herr Leutnant, ist das ihr Fahrzeug?" "Ja, warum?" "Hier
ist am Geschirr des rechten Pferdes ein Strick verwendet worden, da
gehört ein Riemen hin, das Pferd kann sich wund scheuern. Ich muß Anzeige erstatten."
Und wir saßen ohne Verpflegung da und mußten einen Tag hungern oder .. . drei Pferde schlachten. Ich konnte meine Leute doch
nicht hungern lassen ...
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"Herr Leutnant, der Mann ist links gefahren." "Warum denn,
Du Kamel?" "Da war der Weg besser." - Auch die Kolonne kam nach 24
Stunden leer zurück und wir waren ohne Munition.
"Ist das hier Ihr Russe, Herr Leutnant?" "Ja, warum?" "Wir
haben ihn ohne Bewachung angetroffen. Wenn der Kerl nun ausgerissen
wäre und drüben alles von hier verraten hätte?" "Mein lieber Mann, der
Russe ist schon ein Jahr bei uns, der läuft nicht weg, das hätte er
schon hundertmal tun können." "Aber es ist gegen die Vorschrift, wir
müssen unbedingt um mehr Sorgfalt bitten!"
Solche und ähnliche Gespräche hatte ich jeden Tag und immer
gleich: ich muß Anzeige erstatten. Wegen jedem Dreck!
Wir waren froh, wenn die Russen so ein paar ordentliche dikke Brocken in unser Dorf pfefferten, dann waren wir die Plage wenigstens mal für drei Tage los.
Am schlimmsten hatten sie sich mit den Fahrbefehlen. Meine
Kompanieführer, die Feldwebel waren, wurden verhaftet und angezeigt,
weil sie Fahrbefehle unterschrieben hatten, was nur ein Offizier tun
durfte. Aber mein Bataillon lag oft 50 bis 60 km weit auseinander. Was
tun? Ich mußte ihnen Blanko-Formulare geben, damit waren sie gedeckt.
- Wie das Gesetz es befahl? - Erst als wir wieder ganz nach vorne geschickt wurden, hatten wir vor den Hütern der "Ordnung" Ruhe. Die Division, zu der wir kamen, lag in einer ziemlich flachen, großen Ebene.
Nur leichte Geländewellen gaben ein wenig Deckung. Die Russen hatten
es besser, sie hatten ein ausgedehntes Waldgelände im Rücken und man
wußte gar nicht, was darin vorging.
Das Terrain war wie geschaffen für einen überraschenden Panzerangriff und so wurden wir unmittelbar hinter die HKL gelegt und
bauten da einen tiefen Panzergraben.
Eine Woche ging alles gut, dann plötzlich, kurz nach Mitternacht, ein wilder Krach in dem Dörfchen, das mir als Quartier diente.
Ein Hauptmann kam Hals über Kopf angestürzt: "Sie müssen sofort hier
heraus! Sofort, sofort! In einer halben Stunde müssen Sie weg sein.
Ihr neues Quartier ist in ..."
"Nanu, warum so eilig? Es schießt doch vorne gar nicht, ist
doch alles ruhig." "Warum weiß ich auch nicht. Nur weg, weg! Hier ist
der schriftliche Befehl vom General."
Dagegen war nun wirklich nichts zu machen. Wir packten holter diepolter und zogen ab in die Nacht hinaus. Am nächsten Morgen
stellte ich fest, daß es meinen anderen Kompanien ebenso gegangen war,
die hatten in den Nachbardörfern gelegen.
Wir fanden uns etwa acht bis zehn km hinter der HKL wieder
und hatten fast zwei Stunden An- und Abmarsch von und zur Arbeit.
"Herr General," fragte ich später mal gelegentlich auf der
Division, "warum war es eigentlich in jener Nacht so eilig, uns die
schönen, täglichen Spaziergänge zu verpassen?"
"Nun, deswegen war's ja nicht," lächelte er leicht verlegen,
aber mein IA, der hatte sich an dem Tag nicht ganz wohl gefühlt und
war früh zu Bett gegangen. Plötzlich weckte er mich furchtbar aufgeregt: er hätte geträumt, die Russen wären da an Ihrer Stelle mit Infanterie durchgebrochen, hätten Ihre Gefangenen bewaffnet und es wäre
ein Riesenschlamassel daraus geworden. - Ja, sehen Sie, das hätte auch
wirklich sehr leicht passieren können. Vorne war nur eine dünne Linie,
Ihre Gefangenen lagen in den Dörfern, unmittelbar hinter der HKL. Bei
einem Durchbruch wären die Russen also gleich auf Ihre Gefangenen ge- 39 -
stoßen; deutsche Reserven waren keine in der Nähe, die paar Wachmannschaften kann man doch nicht rechnen. Sicher waren die Russen über die
Situation genau informiert. Ei, wenn an dem Morgen der Angriff wirklich erfolgt wäre? Die weiche Stelle war zweifellos da. - Aber nehmen
Sie es nicht krumm," schloß er, "in jener Nacht ist die ganze Division
um und um gekrempelt worden."
"Weißt Du," meinte ich auf der Rückfahrt zu Karl, "der Traum
vom IA hatte tatsächlich Hand und Fuß!"
"Herr Leutnant, könnten Sie nicht auch mal so träumen? Vielleicht vom Urlaub für mich? Dann können Sie mich auch um Mitternacht
rausjagen, ich hau' gleich ab!" Mit der Verpflegung ging es im Allgemeinen in Ordnung, für
meine Russen war der Satz für Truppen in Ruhe festgesetzt. Wenn die
Nachschublage schwierig war, wurden die Rationen freilich recht
schmal. Für solche Fälle hatten wir immer einige Pferde überzählig, so
ein Kaltblüter gab schon eine ganz gute Bouillon. "Herr Leutnant, ich
habe Krieg mit dem Zahlmeister gehabt," kam Lehman eines Tages an,
klein und häßlich, der hat mir für die Russen nur Hafer gegeben, reinen Hafer, ungequetscht. Was kann man daraus kochen?" "Tja, das weiß
ich auch nicht," gestand ich ihm. Also, einmal mehr, hin zur Division: "Herr General, wir haben heute ..." Der zuckte mit den Achseln: "Sie müssen einsehen, das
die Kriegsgefangenen natürlich zuerst darunter zu leiden haben."
"Nein, Herr General, das sehe ich nicht ein. Wo Fünfe satt werden,
bleiben auch Sechse nicht hungrig, das ist eine alte Weisheit. Was bei
dem Zahlmeister hauptsächlich fehlt, ist der gute Wille."
"Nein, keinesfalls," erwiderte er. "Dann bitte ich Sie, Herr
General, gehorsamst um die Erlaubnis, einen Bericht über die schwierige Versorgungslage an die Armee machen zu dürfen und um Ablösung zu
bitten. Ich bin Heerestruppe und der Armee verantwortlich für den Bestand und die Erhaltung des Bataillons."
Der General lief rot an und ich verfluchte im Stillen meine
zivile Kodderschnauze. - Nun war es geschehen. Da glättete sich sein Gesicht. Er reichte mir die Hand. "Ich
danke Ihnen, Herr Leutnant. Das energische Eintreten für Ihre Männer
erkenne ich an. Schicken Sie zum Lager, ich werde sofort alles veranlassen."
Es war noch einmal gut gegangen. - Ich wußte, daß mein Thron
ohnehin schon bedenklich wackelig war.
Seit Monaten wurde zwischen der Armee und Berlin ein hartnäckiger Kampf um meine Person, oder vielmehr, um meine Position geführt. Wir waren das erste Gefangenen-Bataillon gewesen, von der Armee
probeweise aufgestellt. Das OKW fand den Gedanken brauchbar und da der
erste Versuch gelang, wurden bald eine ganze Reihe solcher Truppenteile aufgestellt. Als Bataillone wurden sie im allgemeinen von Majoren
geführt und die Kompanien von Offizieren.
Nur wir bildeten eine Ausnahme. Ich war Leutnant und die
Kompanieführer Feldwebel oder Unteroffiziere. Das ging gegen die Kleiderordnung.
So wurde ich eines Tages zur Armee gerufen, mir meine Beförderung zum Oberleutnant mitgeteilt und gleichzeitig, daß ich demnächst
das Bataillon abgeben müßte. Ich hätte eine Kompanie bekommen können,
aber dazu hatte ich keine Lust.
- 40 -
Anfang August erschien ein Major mit einigen Offizieren und
übernahm mein Bataillon.
So war also das Ende gekommen. Der Abschied fiel mir schwer.
Ich hatte in den elf Monaten mit meinen Männern gute Kameradschaft
gehalten, sie waren mit mir durch Dick und Dünn gegangen. Wir waren
eine verschworene Gesellschaft gewesen. Ich konnte mich auf meine Leute verlassen und sie wiederum wußten genau, daß ich sie deckte, wenn
sie sich irgendwo im Paragraphengestrüpp verheddert hatten.
Kleinere Pannen kamen schon mal vor, aber es war ja nie "so
arg gemeint", Lehmanns klassische Entschuldigung galt für alle anderen
auch.
In der ganzen Zeit hatte ich nicht ein einziges Mal eine
ernstliche Strafe verhängen müssen, eine Versetzung innerhalb des Bataillons hatte den jeweiligen Sünder immer zur Vernunft gebracht.
So fuhr ich zu den Kompanien und verabschiedete mich von den
Kameraden: Kuleit, Lehmann, Berge, Möller, Kurbjuweit und all den Anderen.
Sehr bitter war es für mich, daß ich Titus nicht mitnehmen
konnte, ich blieb lange bei ihm im Stall. Es war das Pferd meines Lebens.
Mehr als schweigsam fuhr Karl mich mit Titus zur Bahn. Mit
einem Male, der Bahnhof war schon in Sicht, wurde er lebendig: "Herr
Leutnant, sehen Sie bloß, da sind ja so viele Russen an der Bahn. Was
machen die denn da? Und Wachtposten sind auch keine dabei!" - Er hatte
aus alter Gewohnheit "Herr Leutnant" gesagt und ich dachte natürlich
nicht von ferne daran, ihn dafür zu rügen.
Tatsächlich, da waren mindestens dreißig Russen auf einem
Haufen und von einem Wachtmann war nichts zu sehen.
"Das sind doch überhaupt unsere Russen, Herr Leutnant." Er
hatte recht: es war eine Gruppe von "Unseren" Russen. Sie waren einfach ausgerückt und fünfzehn Kilometer zu Fuß gelaufen, um mir zum Abschied noch mal die Hand zu schütteln.
Als der Zug sich in Bewegung setzte, stimmten sie eine
schwermütig-traurige russische Volksweise an und selbst Titus schien
zu spüren, daß es ein Abschied für immer war, er ließ den schönen Kopf
hängen.
Ich mußte mich vom Fenster wegwenden. –
Kapitel VI
Partisanenkrieg - Panzerschlacht
Aber was hilft trauern - Vergangenheit kehrt nie zurück die Zukunft liegt vorne - die gilt es zu erobern.
Mensch, nimm dich bei den Ohren, dachte ich und begann mich
für meine Umgebung zu interessieren.
Ich saß in einem Urlauberzug, die Männer alle in bester Laune, ging es doch der Heimat zu. Ach ja, es ging in den Urlaub. Wo hatte ich Mau zuletzt gesehen? Richtig, damals in Warschau. Die RikschaFahrt zwischen den Panzern. - - Fünfzehn lange Monate ist das her,
rechnete ich mir aus - Huch, war das eine lange Zeit. "Uns haben sie aber vielleicht eine lahme Ente verpaßt,"
wandte ich mich an meinen Nachbarn. "Die dürfen nicht schneller fahren," erwiderte er, "nicht mehr als 30 km pro Stunde. Wegen der Minen- 41 -
gefahr. Haben Sie nicht gesehen: vorne vor der Lok sind zwei leere Wagen. Wenn der Zug aufläuft, gehen nur die kaputt und nicht etwa auch
die Maschine. Wir sind knapp dran mit Lok's, die sind schon Mangelware."
"Die Wagen vor der Lok habe ich gesehen, aber ich wußte
nicht, was sie zu bedeuten hatten. Aber die Geleise, die bleiben doch
nicht heil?" "Dafür haben wir einen Bautrupp mit; die haben Schienen,
Bolzen, Schwellen und natürlich auch Winden und Hebewerkzeuge dabei."
"Donnerwetter, woher wissen Sie denn das alles so genau? Sie sind aber
gut orientiert", staunte ich.
"Ich bin Eisenbahn-Pionier, wir arbeiten ja damit, Herr
Leutnant." Ach ja, Leutnant - ich hatte immer noch keinen Stern - wo
sollte ich ihn da draußen auch herkriegen? Ich fand es nicht so übermäßig wichtig.
"So so," nahm ich das Gespräch wieder auf, "EisenbahnPionier sind Sie? Wie ist denn das eigentlich: man hört so vieles munkeln von Überfällen auf Urlauberzüge. Ist das wirklich so schlimm?"
"Anfangs waren wir bei der Bahn auf den Partisanenkrieg noch
gar nicht eingestellt, da passierte so manche Schweinerei und der
Nachschub für die Truppe draußen war mitunter ernstlich gefährdet.
Heutzutage ist alles durchorganisiert, es sind nur noch Nadelstiche,
aber auch die sind unangenehm."
"Außerdem bindet dieser Guerillakrieg viele wertvolle Kräfte," überlegte ich, "daß man die Brüder nicht fassen kann!"
"Das ist ja gerade das Problem: so einer spielt tage- und
wochenlang den Harmlosen. Dann, im geeigneten Moment und das ist natürlich nachts, wenn's keiner sieht, legt er eine Mine. Das dauert nur
eine halbe Stunde, dann ist er wieder der brave, kleine Iwan, der keiner Fliege etwas zu leide tut. Und irgendwo - ganz woanders - macht's
bumm."
"Na, und die "Nähmaschinen", diese alten Flickerkisten aus
Stoff und Bambus, die jede Nacht über unseren Köpfen burbeln, die werfen wohl das Material ab?" fragte ich. "Und die Agenten und Anführer
dazu", ergänzte er.
Langsam aber sicher erreichten wir dann doch noch mal Orscha, den großen Eisenbahnknotenpunkt. Wir stiegen um in den nächsten
Zug und waren auf der Hauptstrecke. Jetzt ging es schneller, alle 100
Meter stand ein Posten, die ganze Strecke war unter ständiger Bewachung.
In Minsk kamen wir frühmorgens an. "Aber Sie können vorläufig nicht weiterfahren," erklärte mir der Bahnhofskommandant. "Die
Strecke ist kaputt und erst in 24 Stunden wieder befahrbar." - Also
schön, gehen wir in's Städtchen. Die stattliche Oper, ein Prachtbau,
sehr eindrucksvoll auf einem Hügel gelegen. Das Stalin-Haus, groß und
modern, ganz in weiß gehalten. Der Rest: Straßen, Plätze, Häuser, wie
man sie in jeder Stadt im Osten fand: alt, schmutzig - teilweise zerstört.
Nach zwei Stunden bereits fing ich an mich zu mopsen. Irgend
jemand sagte mir: "Gehen Sie doch in's Offizierskasino." Also stiebelte ich los. Ich hatte es bald gefunden: ein einfacher Bau, aber - an
der Tür ein Schild:
FÜR FRONTOFFIZIERE EINTRITT VERBOTEN
Ich war starr vor Staunen. Ich machte kurz kehrt, sah an mir
herunter - sicher, mein Rock war schäbig, die Hosen geflickt.
- 42 -
Hier war ich also nicht gesellschaftsfähig. Der Tod draußen
war nicht so "fein", der machte keine Unterschiede.
Eintritt verboten - - - Ja, der Dank des Vaterlandes ist
euch gewiß - - -.
"Na schön, denn nich'," sagte ich und ging und verbrachte
den Abend bei - besseren Leuten.
Am nächsten Tag ging es weiter nach Bialystok. Aus Langeweile bummelte ich durch den Zug. " Herr Leutnant, Herr Leutnant, aus Tomaszow," brüllte ein Soldat und grinste, daß die Ohren Besuch bekamen.
Es war einer meiner Männer aus jener Zeit. Große Freude auf beiden
Seiten. "Und wissen Sie noch dies" - "und wissen Sie noch jenes?" und
im Nu waren wir an der ostpreußischen Grenze. Mein Kamerad stieg aus
und versprach, Mau zu benachrichtigen.
In Königsberg empfing Mau mich freudestrahlend auf dem Bahnhof. Vierzehn Tage Urlaub, volle zwei Wochen.
Wir fuhren nach Georgenswalde hinaus, legten uns an den
Strand und aalten uns nach Herzenslust.
"Sage mal, Mau", nahm ich das Gespräch auf, "wie steht es
eigentlich mit der allgemeinen Lage, ich meine, Kriegslage? Wir draußen erfahren so wenig, daß man sich gar kein richtiges Bild machen
kann."
"Wir wissen auch nicht viel, aber eins ist klar: in Nordrußland und im Mittelabschnitt, da ist die Front seit zwei Monaten gleich
geblieben, also Stellungskrieg. Im Süden ist es noch anders. Zwar wird
nur langsam Gelände gewonnen, aber es geht überhaupt noch vorwärts. Im
Kaukasus und in der Nähe von Stalingrad wird gekämpft, aber von dem
großen Angriffsschwung des Jahres 41 ist nichts mehr zu merken."
"Ja, der Winter hat die Truppe unheimlich mitgenommen," erklärte ich ihr," in unserem Abschnitt müssen die Verluste ungefähr 25
bis 30 % der Normalstärke erreicht haben, ganze Armeen sind zum Teufel
gegangen, weil kein Winteröl vorhanden war. Die Materialverluste sind
noch verheerender gewesen, an motorisierten Fahrzeugen konnte fast
nichts gerettet werden."
"Und an Waffen wird ja auch allerhand futsch sein," meinte
Mau.
"Natürlich. Die fehlen jetzt an allen Ecken und Enden und
wir kriegen viel zu wenig neu geliefert, die Industrie kann nicht mehr
genug schaffen. Im vorigen Sommer, ja, da waren wir den Russen haushoch überlegen, was die Bewaffnung anging und die Moral der Truppe war
entsprechend gut. Aber jetzt bekommen die Russen ständig Lieferungen
von den Amerikanern, in kurzer Zeit werden sie uns überlegen sein ..."
"Hm," macht Mau, "dann werden die Russen also immer stärker
und wir immer schwächer? Das würde demnach bedeuten, daß die Front
bald zurückgenommen werden muß. Na, vorläufig ist ja noch 'ne Menge
Platz, aber wie soll das weiter gehen?"
Und wieder saß ich im Zug, Richtung Osten. Rußlands weite
Ebenen. Kursk. - Weiter: Richtung Woronesch. - Nach diversen Irrfahrten landete ich bei einem Bataillonsstab unmittelbar vor Woronesch.
"Sehen Sie dort am Horizont vor der rauchenden Stadt den abgebrochenen Baum?" fragte mich der Adjutant. Wir lagen beide auf der
Erde. "Etwa 300 Meter rechts davon ist ein Unterstand und das ist der
Gefechtstand Ihrer Kompanie. Bei Tage können Sie da natürlich nicht
hin, aber nachts geht es manchmal ganz gut, wenn nicht gerade Leuchtkugeln am Himmel stehen."
- 43 -
Na ja, da bist du ja wieder im richtigen Schlamassel drin,
dachte ich.
"Die Stadt dort", fuhr der Adjutant fort," gehört uns und
den Russen auch. Sie liegt im Niemandsland. Der Kampf geht von Keller
zu Keller, nur die Handgranate regiert. - Jetzt muß ich aber gehen.
Hals- und Beinbruch!"
"Danke gleichfalls!" Gehen hatte er gesagt und - robbte davon. - Ich merkte mir die Kompaniezahl und wartete auf die Dunkelheit.
Bis auf die unterirdischen Kämpfe im Niemandsland war der
Abschnitt ziemlich ruhig. Es wurde wenig geschossen. Beide Seiten waren gut eingegraben. Man sah nichts voneinander. Wehe, wenn einer aber
mal die Nase etwas zu hoch hob, dann knallte es sofort aus allen Rohren. Selbst mit dem Rauchen mußte man vorsichtig sein.
Eines Nachts - wir saßen zu fünf Mann in einem verfallenen
Kellerloch zwischen Schutt und Balken - bewegte sich etwas nebenan.
Stimmen - Russen - - Die Handgranaten raus! Fertig machen! Ruhe - kein
Laut mehr - hatten sie etwas gemerkt? Hatte einer da nebenan etwas gehört? Wir warteten - warteten - warteten -.
Jeden Augenblick konnten Handgranaten krachen. - Leise, ganz
leise zogen sich die Russen zurück. - "Eintritt verboten", fiel es mir
ein. Galt das für mein Kasino hier vielleicht auch? Etwa zehn Tage später wurden wir herausgezogen, Infanterie
übernahm die Stellungen.
Vorsichtig orientierten wir uns nach rückwärts. Der neue
Einsatzbefehl lautete für den Raum 30 Kilometer weiter südlich. In
aufgelöster Ordnung begannen wir den Nachtmarsch.
Eine Lastwagenkolonne kreuzte unseren Weg. Hielt an, ein
Meldegänger übergab mir einen Befehl: "Die Kompanie wird zum sofortigen Einsatz gegen Partisanen befohlen. Die Lkw's werden Sie in den
Raum von U. bringen."
Wir fuhren Stunde um Stunde, immer gen Westen.
Beim Morgengrauen meldete ich die Kompanie einem Oberst.
"Gut, daß Sie kommen," sagte er. "Sehen Sie her", dabei beugte er sich
über eine Karte, "wir sind im Moment hier. Die Stadt U. da, die ist
seit drei Tagen von Partisanen eingeschlossen. Dem General haben sie
ein Übergabe-Ultimatum gestellt. Im Ort sind nur wenige Versorgungseinheiten, die sind der Übermacht nicht gewachsen. Wir haben in aller
Eile ein Dutzend Kompanien zusammengerafft. Der Angriff beginnt um 10
Uhr, dies hier ist Ihr Abschnitt.
"Aber, Herr Oberst, eine regelrechte Schlacht gegen Partisanen, das habe ich noch nicht erlebt."
"Ja, wir eigentlich auch nicht, aber die großen Wälder hier
sind vollkommen unübersehbar. Anscheinend haben sich da ganze russische Einheiten zusammengefunden."
Wir lagen in einer Talmulde und warteten, daß es 10 Uhr werden sollte.
Was war das für ein Krieg! Vorne, da ging es nicht mehr weiter, dafür entbrannte im Hinterland ein anderer Krieg, unheimlich, unfaßbar, der Partisanenkrieg. Sie tauchten auf und verschwanden wieder
spurlos, aber nur um anderorts erneut zu erscheinen.
So hatte es angefangen und jetzt - - - jetzt mußten schon
Fronttruppen heran, um einen General in einer Stadt hundert Kilometer
hinter der Front zu befreien.
War man sich in Berlin darüber im Klaren, was das bedeutete?
- 44 -
Im Westen, ja, da hatte man gesiegt, da war noch Ruhe und
Ordnung. Aber hier, hier wurde die Ruhe und Ordnung jede Nacht in die
Luft gesprengt. Und nicht nur hie und da ein paar Geleise, eine Brükke, ein Transport oder mal ein Zug - nein, jetzt griff der Gespensterkrieg bereits nach einer ganzen Stadt.
Der Angriff begann, wir stießen in's Leere. Die Partisanen
waren in die Wälder verschwunden.
Die Stadt war wieder Etappe geworden. Für wie lange wohl?
"Nee, wissense, Herr Oberleutnant, so'ne Fahrt in's Jriene
und dann janz, janz trocken, det is' nischt", kommentierte Müller II
aus Tegel," da jeh' ich lieber mit die Emma an die Krumme Lanke!" "Das
könnte dir so passen", meinte ein anderer, "aber recht hast du, 'nen
Schnaps hätten die Brüder wenigstens rausrücken können; die Etappenhengste haben doch alles."
Wir wandten uns wieder nach Osten, der anderen Front zu.
"Eigentlich haben wir Sie schon vorgestern erwartet", empfing mich der
Kommandeur.
"Jawohl, Herr Oberstleutnant, ich wäre auch hier gewesen,
aber ....." und ich erzählte ihm die Geschichte.
"Nun ja, lassen Sie Ihre Männer hier und suchen Sie Major
E., der führt das dritte Bataillon und gewöhnlich wimmelt er irgendwo
da ganz vorne herum. Der Feind kann hier nicht einsehen bis zu den Höhen dort ist keine Gefahr, von da ab müssen Sie sich aber einen Laufgraben suchen, um weiter nach vorne zu kommen."
So kam ich bis in den vordersten Graben und fand den Major
auf einer Munitionskiste hockend, mehrere meiner Männer um ihn herum,
ganz im Gespräch vertieft.
"Da bin ich ganz entschieden anderer Ansicht", hörte ich ihn
sagen und dann nahm er einen Zug aus seiner Pfeife und wandte sich an
einen Gefreiten. "Nach meiner Erfahrung ist eine Fliege immer noch das
beste. Zugegeben, ich bin nun mal auf Fliegen eingeschworen. Besonders
in den frühen Morgenstunden angelt es sich am besten ..."
Ich meldete mich zur Stelle. "Famos, daß sie da sind," begrüßte er mich, "ich hatte Sie schon früher erwartet." "Ja, Herr Major
..." und ich mußte wiederum die Geschichte von unserer unfreiwilligen
Landpartie hersagen.
"Nun ja, jetzt sind Sie aber hier und können anfangen", begann er wieder, "wir sind hier in unserer vordersten Linie. Der Bach
mit den Büschen, da etwa 120 Meter vor uns ist schon Niemandsland. Der
Russe sitzt dort etwa 800 Meter entfernt am jenseitigen Rande des Tales. Wir rechnen hier mit einem Panzerangriff, das Gelände bietet sich
förmlich dazu an. Mit Artillerie und Panzerabwehrwaffen sind wir ganz
gut versehen, aber wir meinen es müßte noch etwas mehr getan werden".
"Dann soll ich wohl den Bach als Hindernis ausbauen?" fragte
ich.
"Ganz recht!, sagte er, "wenn Ihre Leute geschickt genug
sind, könnten sie den diesseitigen Rand beinahe senkrecht abstechen.
Am Tage ist das nicht zu machen, aber nachts schützen die Büsche Sie
ganz gut gegen Sicht."
"Jawohl, Herr Major, das geht. Wenn man es vorsichtig macht,
dürfte der Feind nichts merken. Aber wo sollen meine Leute sich tagsüber aufhalten?"
"Dort, das Wäldchen da hinten, das können Sie haben. Aber
machen Sie sich gute Deckungslöcher, mit einem Artillerieüberfall müs- 45 -
sen Sie immer rechnen. So und nun frisch an's Werk". Damit war ich
entlassen.
Noch in derselben Nacht begannen wir. Jeder Mann bekam einen
Abschnitt, die Chargen mit den MG's machten die Feindsicherung. Sprechen oder Rauchen war streng verboten. Der Russe durfte keinesfalls
etwas merken. der frische Erdaufwurf war durch die Büsche der Feindeinsicht entzogen. Wo sie nicht dicht genug waren, flochten wir Äste
ein und setzten Sträucher.
Vormittags schliefen wir, aber am Nachmittag ging ich meist
zu Infanterie und zur Artillerie auf Besuch. Wir waren schon fast eine
Woche da und ich ging wieder einmal so um die frühe Kaffeestunde zu
meinem neuen Freund Herbert, Leutnant und Führer einer Batterie.
Der Unterstand war eng und schmal. Auf einem Stapel Munition
hatten wir unser Schachbrett aufgebaut. Sinnend saßen wir über den Figuren, aus Holz roh geschnitzt. Er hatte mich schwer in die Enge getrieben. Das "Gardez" war äußerst ernst, die Dame wohl kaum noch zu
retten. Zweifellos war er der bessere Spieler.
"Na, mach' schon", sagte er, "es gibt keinen Ausweg, die Königin ist futsch."
Plötzlich wurde es dunkel im Unterstand, weil irgend jemand
den Kopf hineinsteckte. "Panzer, Panzer", brüllte er. Schachbrett, Figuren, alles flog. Wir stürmten hinaus.
Tatsächlich, drüben auf der russischen Seite hoben sich
deutlich die Silhouetten einiger Panzer am Horizont ab.
Rechts und links stiegen bei uns Leuchtkugeln hoch. Auch
Herbert schoß einen grünen Feuerball gen Himmel.
Alarm - Alarm - Alarm Etwa ein Dutzend Kolosse begannen den Berg hinunter auf uns
zu zu rollen, gleichzeitig fiel die russische Artillerie mit gezieltem
Feuer ein. Unsere Geschütze antworteten. Im Nu war aus dem stillen Tal
ein wüster Hexenkessel geworden.
Die Kanoniere mußten die feindlichen Geschütze bekämpfen und
auch die Panzer auf' Korn nehmen. Sie arbeiteten ungeachtet der Einschläge der russischen Granaten. Die Geschützrohre glühten fast.
Hier drehte sich einer der Panzer im Kreise, dort fing einer
Feuer - - Manch einer blieb liegen und rührte sich nicht mehr.
Erst die Dunkelheit beendete den wilden Tanz, achtunddreißig
zerschossene Panzer zählten wir. Nicht einer war durchgekommen. Aber
die Artilleristen waren auch vollständig am Ende mit ihrer Kraft und mit ihrer Munition. Nicht eine halbe Stunde länger hätten die Granaten
mehr gereicht.
Ich holte meine Leute heran: "Erster Zug zu Batterie A,
zweiter zu B, dritter zu C ..." befahl ich. Wir schleppten Munition
heran, in einem fort, bis zum Morgengrauen. Mit dem ersten Tageslicht begann es von Neuem. Welle auf
Welle rollten die Panzer heran. Die Munitionshaufen schwanden wie
Schnee in der Sonne.
Da, gegen Mittag, ging den Russen der Atem aus. Sechsundneunzig zerschossene Panzer zählten wir, auf den letzten Granaten sitzend. - Rund ein Drittel war unserem Panzergraben zu Opfer gefallen,
sie waren unschlüssig an der Steilwand hin und her gefahren, bis ein
Volltreffer sie erledigte. Wir waren direkt stolz.
Nach diesem eklatanten Schlußstrich war unsere Arbeit im Abschnitt beendet. Und so packten wir noch in derselben Nacht unser Bün- 46 -
del und wanderten davon. Mit den Schachpartien war es vorbei. Schade,
ich hätte von Herbert noch manch einen guten Zug abgucken können. –
Kapitel VII
Gelbsucht statt Staliningrad - Brücke über den Dnjepr – Größenwahn der
Industrie
Drei Tage lang marschierten wir und erreichten das Gebiet
der "schwarzen Erde".
"Die Straße von Kursk über T. nach G. ist für den kommenden
Winter auszubauen", lautete der Befehl. Keinerlei nähere Angaben. Die
Straße etwa 100 Kilometer lang, das Gelände ziemlich eben. Die Straße
selber, wie sie in Rußland so sind: ohne Bäume, ohne Markierung, nackt
und kalt.
Wir hatten die Strecke abgefahren. "Sie haben gesehen", sagte ich dem Zugführer, "daß der Weg an sich in keinem schlechtem Zustand ist. Die paar Löcher müssen wir natürlich zumachen. Aber es
heißt im Befehl: für den Winter fertig machen. Bei einer geschlossenen
Schneedecke ist die Straße gar nicht zu finden."
"Wäre es nicht ganz praktisch, meinte Zugführer Weinert,
"wenn man links und rechts der Straße lange Stangen eingräbt? Wir haben das im vorigen Winter vor Leningrad auch so gemacht." Das werden
wir machen", stimmte ich zu, "und von Kilometer zu Kilometer markieren
wir die Entfernung. Dann weiß man nachher in der Schneewüste wenigstens, wo man ist."
Wir sprachen weiter über eine Umleitung, die wir anlegen
mußten. Die Straße hatte eine sehr steile Stelle, die bei Glatteis
nicht zu bewältigen war. Am anderen schwierigen Stellen würde es wohl
mit Streusand eben noch so gehen.
"Also los, fangen wir an. Morgen beginnt jeder Zug in seinem
Abschnitt mit der Markierung: alle hundert Meter eine armdicke Stangen
von drei Metern Höhe und jede zehnte mit Kilometerzahl. Kursk ist Kilometer Null. So, in drei Tagen will ich schon eine ganze Menge Neues
sehen", schloß ich.
Als die ersten dringenden Arbeiten fertig waren, stellten
wir so nebenbei auch Wegweiser mit Kilometerangaben auf. So vergingen
etwa zwei Wochen. Niemand kümmerte sich um uns. Unser Bataillonsstab
lag irgendwo vierzig bis fünfzig Kilometer weiter südlich.
Der Kommandeur hatte sich noch nicht sehen lassen. Statt
seiner erschien eines Tages ein General, fuhr mit mir einen Teil der
Strecke ab und ließ sich dies und das erklären. Dann zog er mich in
ein längeres Gespräch über Straßenbau im Allgemeinen.
"Ein sehr verständiger Vertreter", dachte ich, als er sich
kameradschaftlich nett verabschiedete," der kann von mir aus bald wiederkommen".
Drei Tage später kam ein Befehl: "Der Oberleutnant Selb hat
sich mit allem Gepäck beim Pionierführer Süd in S. zu melden." Mit allem Gepäck - das heißt Versetzung. Ich war nicht sonderlich begeistert, kaum sechs Wochen hatte ich meine Kompanie gehabt, nun mußte
ich sie schon wieder hergeben.
Woronesch, - da hatten wir uns beschnüffelt, - die Partisanen vor U., - da waren wir uns schon etwas näher gekommen, - die Pan- 47 -
zerschlacht, - die hatte es geschafft, die hatte uns zu einer Einheit
zusammengeschweißt. Und nun war es schon wieder vorbei. - Ich packte meine sieben Sachen und zog gen Süden. "Pionierführer Süd", sagte ich mir, "daß
muß schon ein höheres Tier sein. - Es gab an der Ostfront nur Nord,
Mitte und Süd. - Aber wie kommst Du zu dem?"
Mit etwas gemischten Gefühlen kam ich in dem Nest an, wo der
Pionierführer Süd lag. Was wollte ich kleiner Kompanieführer bei solch
einer hohen Kommandostelle? Mir war entschieden etwas flau. Ach was,
fressen können sie dich nicht, dachte ich und stiebelte hinein.
"Was will denn der General eigentlich von mir?" versuchte
ich den Adjutanten zu verhören. "Das wird er Ihnen gleich selber sagen", lautete die ausweichende Antwort. Nicht eben unfreundlich, aber
irgendwie etwas unpersönlich, unbestimmt, zurückhaltend. Typische Vorzimmeratmosphäre, genau wie bei der Chefsekretärin eines Industriekapitäns. Weiter kam ich mit meinen Gedanken nicht, die Tür ging auf
und ich wurde mit leichtem Nachdruck hineinbugsiert.
Der General saß am Schreibtisch, erhob sich und kam mir entgegen. Er reichte mir die Hand. "Wir kennen uns bereits, erinnern Sie
sich an unser Gespräch auf der Straße?" fragte er. "Natürlich, Herr
General", antwortete ich.
"Nun ja", fuhr er fort, sehr freundlich, und bot mir dabei
eine (wirkliche, nicht moralische) Zigarre an, "ich möchte Sie gerne
hier in meinem Stab haben. Wie Sie Ihre Arbeit da draußen angefaßt haben, das hat mir gefallen. Wollen Sie hier den Nachschub für Pioniergerät bearbeiten? Major Schneider wird Sie in alles einführen."
Er stand auf, reichte mir erneut die Hand: "Ich hoffe, Sie
werden sich in meinem Stab wohlfühlen und auf gute Kameradschaft auch
weiterhin." Damit war ich entlassen.
Donnerwetter, Kameradschaft mit einem General, das war mir
noch nicht passiert. Ich war sehr zufrieden mit meinem neuen Chef und
ging auch dementsprechend an die Arbeit.
Weit kam ich damit nicht. Das Schicksal hatte es anders entschieden, - leider - dachte ich damals, - Gott sei Dank, - sagte ich
später.
Nach drei Tagen wurde ich gelb im Gesicht, gelber und gelber
und nach fünf Tagen war es sonnenklar: ich hatte eine faustdicke Gelbsucht und mußte in's Lazarett.
Da lag ich nun, sah aus wie in'nen gelben Farbtopf gefallener Chinese und wußte mit mir und meiner Zeit nichts anzufangen.
Den armen Stabsarzt quälte ich mit unablässigen Fragen: "Wie
lange dauert das da? - Muß ich dazu unbedingt im Lazarett liegen? Kann ich nicht ebenso gut bei meinem Stab sein? - Ich bleibe auch im
Bett, die Kameraden versorgen mich bestimmt."
Aber es war alles vergebens, ich durfte nicht zurück, er behielt mich eisern da.
Vierzehn Tage waren vergangen, man hatte alles Mögliche mit
mir versucht, aber mein Körper reagierte auf nichts. Täglich kontrollierte ich vor'm Spiegel mein Aussehen. Nein, trotz allem Optimismus:
die gelbe Farbe wich und wich nicht. Ja, wenn man ganz ehrlich sein
wollte, müßte man sogar zugeben, es war eher schlimmer geworden.
Dann erschien eines Tages der General an meinem Bett, brachte mir frisches Obst und Schokolade mit und setzte sich zu mir.
- 48 -
"Ja, ich bin gekommen, um Ihnen vorläufig Lebewohl zu sagen," erklärte er mir. "Wir haben eine neue Aufgabe bekommen, machen
Sie sich aber keine Gedanken, Sie bleiben bei uns, Ihren Posten halte
ich für Sie frei. Und sobald Sie wieder gesund sind, kommen Sie nach,
wir gehen morgen nach Stalingrad."
"Herr General, wie steht es denn eigentlich jetzt mit Stalingrad?", fragte ich ihn, "Man erfährt hier so wenig."
"Im Augenblick ist die Situation für uns nicht sehr günstig", sagte er, "um die Stadt Stalingrad wird nun schon drei Monate
gekämpft, ein Teil gehört uns, ein Teil den Russen. Sie wissen ja, der
Großangriff der Heerestruppe Süd begann Anfang Juli und kam gut voran.
Rostow wurde besetzt, der Don westlich Stalingrad erreicht, Im Kaukasus der Berg Elbrus genommen. Wir sind 400 km tief in die russischen
Linien vorgestoßen, aber der Keil ist nicht sehr breit und die Russen
greifen von den Flanken an, sie werfen immer mehr Truppen in die
Schlacht. Wir natürlich auch, aber die Russen haben mehr Reserven und
sie versuchen, unsere Truppen von hinten abzuschneiden. Falls ihnen
das gelingen sollte, nun, dann müssen natürlich Entlastungsangriffe
gemacht werden, damit die eingeschlossenen Truppen wieder befreit werden können."
"Ja, sicher", meinte ich, "vorigen Winter waren wir auch mal
drei Monate eingeschlossen und dann wurden wir wieder befreit". "Jetzt muß ich aber gehen, gute Besserung und auf Wiedersehen in Stalingrad", verabschiedete er sich.
Was war der General doch ein patenter Kerl, dachte ich, als
er fort war. Ganze fünf Tage war ich bei ihm gewesen. Und er kam persönlich mich besuchen, brachte lauter schöne Sachen mit und wollte
mich auch weiterhin behalten. Ich setzte ihn in Gedanken an die Spitze
aller Kommandeure, die ich je gehabt hatte und - diesen ersten Platz
sollte er für immer behalten.
Damals ahnte ich noch nicht, daß ich ihn nie wiedersehen
sollte.
Zwar kam sehr bald die Nachricht, daß Stalingrad vollständig
von den Russen eingeschlossen war und die sechste Armee sich in der
Festung verteidigte, aber wir hofften doch noch, daß ein Entlastungsangriff sie wieder befreien würde.
Eine weitere Woche verging, ich lag immer noch platt wie'n
Plättbrett. Der gute Stabsarzt gab sich alle Mühe mit mir. Eines Tages
kamen zwei Sanitäter mit einem Apparat, um mir den Darm auszupumpen.
Anfangs arbeiteten sie langsam und behutsam, da aber nichts herauskam,
pumpten sie schärfer und schärfer. Schließlich gaben sie es auf.
Ich wurde immer ungeduldiger. Der Stabarzt ließ mich täglich
einige Stunden aufstehen, verordnete kurze Spaziergänge. Es half alles
nichts, die gelbe Farbe wollte nicht weichen.
Sorgenvoll betrachtete ich mein Gesicht und die militärische
Lage, die immer deutlicher zu hörenden Abschüsse der Artillerie gaben
den Kommentar dazu. Dabei stand der Winter vor der Tür, ich dachte an
den überstürzten Rückzug vom Vorjahr und die Scheiterhaufen unter den
Traktoren...
Und dann setzte eine russische Granate, die ganz in unserer
Nähe einschlug, den Schlußstrich unter meine Überlegungen. Mein Entschluß stand fest. Ich ging zum Stabsarzt und erklärte ihm, ich wollte
weg. Sofort weg. Er wollte mich nicht fortlassen.
- 49 -
"Dann gehe ich Ihnen in der Nacht durch, Sie können mich ja
nicht anbinden".
"Es geht wirklich nicht, wir haben im Moment gar keine
Transportmittel da."
"Dann gehe ich eben zu Fuß", erklärte ich ihm kategorisch.
Da gab er nach. Ich zog mich an und verließ den Heeresverbandplatz
Urizkoje zu Fuß - ohne jeden Ballast. Aha, dachte ich, so sieht die
Lage aus: die Krankenwagen sind schon alle abgezogen worden - - Ich beeilte mich wegzukommen. Irgendwer ließ mich auf seinem
Planwagen aufsitzen, ein anderer nahm mich im Lkw mit. Ich sah zwar
fürchterlich aus, aber sie halfen mir kameradschaftlich weiter.
Irgendwo erwischte ich einen Urlauberzug. "Bitte, Ihren Urlaubsschein, Herr Oberleutnant", sagte der Streifenführer. "Ich habe
keinen." "Wie?, ist doch nicht möglich?", meinte er, "Sie müssen doch
Papiere haben." "Nein, nur in gelbes Gesicht. Ist das nicht genug? Ich
bin auf dem Wege in's Lazarett." "Danke sehr," er salutierte und ich
war rehabilitiert.
Am 27. November kam ich in Kiew an und meldete mich dort in
einem Lazarett. Sie verpaßten mir die ganze Skala von Medikamenten
noch einmal, die ich schon im Feldlazarett geschluckt hatte. Mit demselben negativem Erfolg. Die gelbe Farbe wich nicht. Nun waren es
schon zwei Monate.
Da kam eines Abends Schwester Luise, die mich betreute an
mein Bett und ließ sich meine Krankengeschichte in allen Einzelheiten
erzählen. "Haben die Sanitäter damals ziemlich scharf gepumpt?", wollte sie wissen. "Sehr sanft gerade nicht" erinnerte ich mich. "Dann haben sie Blutungen veranlaßt, da müßte man unbedingt Warmwasserspülungen machen, um das geronnene Blut heraus zu bringen. Wir machten das
so bei Dr. Lahmann im "Weißen Hirsch" bei Dresden."
Ich ging zum Oberstabsarzt. "Unsinn", sagte der, "hilft doch
nichts, nur Quälerei. Und bei dem Personalmangel ..."
Eine halbe Stunde später war ich wieder bei ihm: "Schwester
Luise will es in ihrer Freizeit machen." "Meinetwegen, aber bloß, damit Sie endlich Ruhe geben."
Es war zwei Tage vor Weihnachten. Schwester Luise kam abends
sehr spät. Arbeitete lange, sehr lange. Plötzlich, geronnenes Blut,
Schorfstücke, immer mehr. Endlich blieb das Wasser klar, sie packte
zusammen. "Danke schön", flüsterte ich noch, dann schlief ich ein.
Die Besserung trat umgehend ein. Schon nach drei Tagen war
mit dem Chinesen kein großer Staat mehr zu machen, er schimmerte bedenklich weiß durch.
Die Lazarette in Kiew mußten soweit wie möglich geräumt werden, die Schlacht um Stalingrad war im vollen Gange. Ich wurde in das
Genesungsheim nach Krynica überwiesen. In Rzeszow hielt der Zug, alles
mußte aussteigen. Wir kamen in ein miserables Sammellager.
"Warum geht es nicht weiter nach Krynica?", fragte ich den
Ortskommandanten. - Ich hatte ihn aufgesucht, um Mau Bescheid zu geben. Er wurde sichtlich verlegen und sah ostentativ zum Fenster
hinaus. Aber ich ließ nicht locker. Schließlich bequemte er sich dann
doch zu einer Antwort.
"Die da oben wollen noch Sylvester und Neujahr unter sich
feiern", sagte er, "sie nehmen erst wieder am 2. Januar Patienten auf,
haben sie mir telefoniert. Ich kann da nichts machen, die paar Tage
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müssen Sie schon mit dem Lager vorliebnehmen, es ist nichts anderes
frei. Die Stadt ist voller Blitzmädels."
Nun, die drei Tage müßte man dann eben in dem Lager aushalten, dachte ich, setzte mich hin und schrieb einen ausführlichen Brief
an Schwester Luise. Sie hatte mir ein fürstliches Weihnachtgeschenk
gemacht: ich war wieder gesund.
Von Blitzmädeln hatte der Kommandant gesprochen? Richtig,
das Städtchen wimmelte davon. Die langweilten sich ebenso wie wir, im
Nu waren allenthalben Bekanntschaften geschlossen. Wir waren zwar keine großartigen Kavaliere - allesamt als Genesende noch ein bißchen
klapprig - aber zu einem Tänzchen reichte es doch schon und die improvisierte Sylvesterfeier wurde sehr gemütlich und ziemlich ausgedehnt.
Nach einem langen Dauerschlaf war es dann soweit. Wir bestiegen das Bähnle nach Krynica. Etwa 70 bis 80 Mann an der Zahl, alles Offiziere, ließen wir uns erwartungsvoll in die Berge entführen.
"Waren Sie schon mal oben?", fragte mich mein Nachbar, ein
Oberarzt. "Nein, leider nicht." "Warum leider?" wollte er wissen. "Es
soll wunderbar sein, das polnische Baden-Baden und Garmisch zugleich."
"Garmisch? wegen des Schnees?" "Ja natürlich!" "Au fein," sagte er,
ich möchte so gerne mal wieder Schi laufen." "Ich auch, ich freu' mich
schon die ganze Zeit, wie es draußen schneit. Sehen Sie mal, wie die
gute Frau Holle ihre Betten für uns schüttelt."
Juchhei, wieder mal auf die Brettln steigen, das gibt einen
Spaß! Gegen Abend kamen wir an. Das Heeresgenesungsheim war in einem Hotel untergebracht, wir Patienten in den feudalen Villen ringsum.
Oberarzt Keller, mein Nebenmann, ein halbes Dutzend anderer Kameraden
und ich zogen in das Palais des Filmstars Jan Kiepura ein. Herjeh, kamen wir paar Männeken uns da verloren und verlassen vor! Ob man in dem
großen Kino saß, durch den riesigen Festsaal schritt oder in einem der
Empfangsräume seine Zigarre schmauchte, immer hatte man irgendwie ein
beklemmendes Gefühl. Für soviel Raum und soviel Pracht waren acht
Halbkranke eben nicht die richtigen Bewohner.
Die gute Verpflegung, die würzige Bergluft und wahrscheinlich auch der halbe Meter Schnee brachten mich rasch wieder zu Kräften.
Ich machte kleinere Ausflüge und begann mich nach Brettln
umzusehen. Eine Funkeinheit sollte welche haben. Also hin! Zuerst
machten die Einwendungen, aber schließlich borgten sie mir alles was
ich brauchte.
"Sieh' mal, was ich hier habe," ging ich zu Dr. Keller. Der
wurde blaß vor Neid und am nächsten Tage kam er ebenfalls mit Schiausrüstung an.
Nun standen wir den ganzen Tag auf den Brettern, immer größere und steilere Hänge suchten wir uns aus und immer weiter gingen
unsere Ausflüge. Nur schade, daß wir zu den Mahlzeiten zuhause sein
mußten. Und fein brav und gesittet mußten wir erscheinen, damit keiner
etwas merkte. Wir waren Genesende und jede Anstrengung strengstens
verboten.
Nach vierzehn Tagen fragte ich den Arzt. "Wenn Sie durchaus
schon schilaufen müssen," meinte er, "dann aber nur je eine halbe
Stunde vor- und nachmittags. Und hier auf der Ebene, schön langsam.
Keine Anstrengung, bitte!"
Und wir tobten weiter wie die Wilden von morgens bis abends.
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Schwester Annemirl aus Oberstaufen im Allgäu, die müßte doch
eigentlich Verständnis für unsere Passion haben? Wir vertrauten uns
ihr an.
"Ach so, darum sieht man Euch hier nie fahren, Ihr Hallodris", lachte Annemirl, "und ich dachte schon, Ihr hättet keinen Spaß
dran."
"Nein, Schwester, wen der Schnee mal bei den Brettln gepackt
hat, den läßt er nicht eher wieder los, als bis er selber verschwindet. Geht's Ihnen denn nicht auch so? Im Allgäu, da sollen die Kinder
erst schilaufen und dann gehen lernen, habe ich gehört!"
"Na ja, so ähnlich soll's wohl sein. Ich habe mein Zeug auch
hier. Wollt ihr mal sehen?" Sie öffnete eine Schranktür und zum Vorschein kam alles, was zur Kunst gehört.
"Machen Sie doch mit uns mit", baten wir.
"Wenn Ihr mich mitnehmt, gerne. Aber ich kann erst Sonntag,
da habe ich frei. Ich falle Euch auch bestimmt nicht zur Last", versprach sie mit einem verschmitzten Lächeln.
Sie war eine Meisterin im Fach, wir lernten eine Menge von
ihr. Leider hatte sie wenig freie Zeit, sie nahm ihren Dienst sehr
ernst.
Abends saßen wir gerne bei ihr im Zimmer und plauderten. Es
war da soviel gemütlicher als in unserem filmherrlichen Steinbaukasten.
Mit großer Spannung verfolgte ich die Ereignisse um Stalingrad, war da doch auch mein Stab und mein General. Die Lage wurde von
Tag zu Tag kritischer und dann kam die Nachricht von der Kapitulation.
Schweigend saßen wir vor dem Apparat, Annemirl zog ihr Taschentuch. Dann sprang sie auf und zeigte nach draußen. Ihre Stimme
zitterte vor Erregung: "Und die da, die nehmen keinen auf! Sind Genesungsheim, haben das größte Hotel hier und Ärzte und Pflegerinnen,
Personal und an die zweihundert Betten. Fahren Dienstwagen mit Wehrmachtsbenzin und kassieren jeden Monat ihr Gehalt für nichts und wieder nichts."
"Wie? Was?", fragte Dr. Keller konsterniert.
"Ja", schimpfte Annemirl, "die haben sich zum ReserveGenesungsheim erklären lassen und meinen "Reserve" wäre das Wichtigste
daran. Die kleinen Doktors sind ja hier und machen aus lauter Langeweile Privatpraxis, auch weil es was einbringt, natürlich. Aber die
großen Bonzen, die sitzen in Berlin und München, man hat sie hier
schon seit zwei Jahren nicht mehr gesehen".
"Und das im vierten Kriegsjahr, ist doch empörend“, meinte
Dr. Keller. Ich sagte gar nichts, meine Gedanken waren noch in Stalingrad. Unsere Zeit in Krynica neigte sich ihrem Ende zu. Am letzten
Sonnabend-Sonntag machten wir noch eine große Schi-Tour, einem der hohen Karpatenberge galt's. Der Schnee war prachtvoll, die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel.
Als wir aber am Sonntag gegen Abend in's Tal zurück kamen,
wurde der Schnee schlechter und schlechter. Den letzten Kilometer mußten wir die Bretter tragen.
Abschied vom Wintersport - Abschied von Krynica.
Aber wo wollte ich hin? Mein Stab war in Stalingrad geblieben, einen Heimattruppenteil hatte er nicht. Also, erstmal nachhause,
nach Königsberg. Dort gaben sie mir noch vierzehn Tage Nachurlaub.
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Es war Ende Februar 43, die Stimmung allgemein sehr gedrückt, alles stand noch unter dem Eindruck der Kapitulation von Stalingrad. Mau fragte mich sorgenvoll: "Wie beurteilst Du die Lage?"
Ich konnte ihr nur sagen: "Es sieht traurig aus. Der Verlust
an Menschen ist ungeheuer und von dem bißchen Material, das wir noch
hatten, ist wieder ein erheblicher Prozentsatz verloren gegangen. Die
russische Dampfwalze wird kaum noch aufzuhalten sein. Sie haben viel
mehr Soldaten als wir und sie sind viel besser ausgerüstet. Vorläufig
sind sie ja noch weit weg, aber wir müssen damit rechnen, daß sie eines Tages vor den Toren von Königsberg erscheinen."
"Das ist ja entsetzlich," meinte Mau, "Man hört doch soviel
von den Wunderwaffen, die bald fertig sein sollen. Ist das nur Propaganda?"
"Das weiß ich nicht, es kann schon sein, daß da etwas in der
Entwicklung ist, aber vorläufig sind sie jedenfalls noch nicht da und
wir verlieren eine Schlacht nach der anderen. Und außerdem wird der
Gegner auch nicht müßig sein und kann genauso gut eines Tages mit neuen Waffen aufkreuzen. Ich meine, wir müssen uns auf das Schlimmste
vorbereiten."
Wir legten einen Fluchtplan für alle Fälle zurecht, ehe ich
wieder nach Rußland zurück mußte.
Ich kam nach Dnjepropetrowsk zu einem Pioneerstab z.b.V, an
und für sich eine interessante Sache. Nur leider war der Stab eine
rein österreichische Angelegenheit. Die Kameraden, samt und sonders
aus Wien, waren durchaus angenehme Leute, nur der Kommandeur war ein
Ekel. Typisch k.u.k., übrig geblieben aus der Zeit Maria Theresias,
ein Preußenfresser comme il faut und ich, ich war als einziger Preuße
im ganzen Stab ein gefundenes Fressen für den Herrn.
Ein Gutes hatte es aber doch, daß er mich nicht riechen
konnte. Er schickte mich dauernd auf Reisen, möglichst weit weg. Ich
lernte den ganzen russischen Süden kennen: Charkow, Kiew, Kursk, Krementschug, Stalino, Saporoschje, Rostow, Taganrog.
In Saporoschje arbeitete das riesige Kraftwerk schon wieder
Tag und Nacht, es lieferte den Strom für ein Industriegebiet, so groß
wie das Ruhrgebiet.
"Ja, unser E-Werk arbeitet wieder", erzählte mir der Leiter
stolz, "es hat uns zwar allerhand Mühe gemacht, aber die Russen waren
ja so nett zu uns." "Die Russen nett zu uns?", wiederholte ich ungläubig, "sind die doch sonst nicht. Außerdem, der Damm war gesprengt, das
sieht man ja an der Flickstelle."
"Das schon, aber es fehlte nur ein kleines Stück und das haben wir mit ein paar Monaten Arbeit wieder in Ordnung gekriegt."
"Und die Maschinen," wandte ich ein, " die haben doch sonst
überall alles rausgerissen und weggefahren." "Stimmt, die Maschinen
waren weg, aber nur die alten und das ist ja gerade das Nette von den
Russen: die alten Maschinen haben sie weggefahren, aber die neuen haben sie uns da gelassen."
"Machen Sie keine faulen Witze," sagte ich, "die Russen werden sich auch gerade die Arbeit machen, die alten Maschinen abzumontieren, nur um uns, dem bösen Feind, dann die entsprechenden neuen
hinzustellen? Nein, das erzählen Sie man lieber wem anders."
"Kommen Sie mit, ich zeige es Ihnen!"
Tatsächlich: alles neue deutsche Maschinen, AEG, Siemens ,
Mannesmann etc. "Klar", sagte ich," die habt Ihr über das OKW bekom- 53 -
men, um die Industrie hier im Donez-Becken wieder anzukurbeln." "Nein,
nein, die haben wir von den Russen bekommen, aber ich will Ihnen keine
Rätsel aufgeben, Sie raten bestimmt daneben. Also hören Sie zu."
Er setzte sich in seinem Sessel zurecht und holte seine
Pfeife heraus. Genießerisch stoppte er sie und warf mir den Tabaksbeutel zu.
"Mögen Sie lieber einen Cognac oder einen Weißen?" fragte er
höflich. "Natürlich einen Cognac, bitte." Umständlich langte er nach
Gläsern, goß ein und freute sich sichtlich, daß ich vor Neugier kaum
noch stille sitzen konnte. Als er nun beim besten Willen nichts mehr
zu tun fand, fing er wieder an:
"Wo waren wir eigentlich stehen geblieben?", fragte er mit
dem harmlosestem Gesicht.
"Sie wollten mir erklären, wie Sie zu den neuen Maschinen
dank der Nettigkeit der Russen gekommen sind", erinnerte ich ihn.
"Ach so, ja richtig", - neue ausgesprochen selbstzufriedene
Qualmwolken - "nun ja, ehe Sie ganz platzen ...
Als wir hier ankamen, sah es trübe aus: alle Maschinen gewaltsam herausgerissen und alles weg. Wir standen ziemlich ratlos da
und wußten eigentlich nicht so recht, was wir tun sollten.
Das Loch im Staudamm, das konnte man flicken, aber was nützt
das, wenn nicht mehr eine Maschine im Kraftwerk ist?
Ich dokterte noch an der Meldung herum, da - vielleicht
möchten Sie noch einen Cognac? - - Ja, also da kommt doch mein Werkmeister Kiechle angesaust, ganz außer Atem, vor Aufregung kann er kaum
reden: Herr Ingenieur, Herr Ingenieur, Maschinen, Herr Ingenieur, Maschinen ... Endlich brachte er es heraus: Herr Ingenieur, am Bahnhof
sind Maschinen. Da ist eine Lagerhalle bis obenhin voll Kisten, ganz
große Kisten mit AEG und Siemens und so was als Absender drauf. Das
sind Maschinenkisten, Herr Ingenieur, das müssen doch Maschinen für's
E-Werk sein Herr Ingenieur.
Mit viel Hau-Ruck und schwerer Mühe wuchteten wir eine Kiste
nach der anderen heraus. Riesige Biester. - Meinen Leuten tat's richtig leid, daß sie die leeren Dinger nachher nicht nachhause schicken
konnten. Ein so'n Ding reicht aus für'ne Laube in'n Schrebergarten,
Herr Ingenieur, haben sie mir erzählt. - Ja, wo war ich gleich? Ach
so, ja ..." Kunstpause, das fand er doch zu schön! "Wir brachen die Kisten auf und heraus kamen Transformatoren, Motore, Turbinenteile, kurz und gut, alles was wir brauchten.
Wir hatten einen kompletten Satz neuer Maschinen für das EWerk vor uns. Beste Werkmannsarbeit, jedes Schraubenloch paßte genau.
Und jetzt läuft der Laden mit den neuen Maschinen und die alten verrosten irgendwo hinterm Ural!" "Na, denn Prost, ein Hochachtungsschluck
für die Russen", sagte er lachend.
Das E-Werk staut den Dnjepr mehr als hundert Kilometer zurück, bei Dnjepropetrowsk ist der Fluß noch gewaltig breit. Die Stadt
liegt am rechten Ufer und steigt den Berg hinauf. Es gibt da nur eine
Brücke über den Dnjepr. Ungeheuer hoch und lang, in zwei Etagen ausgeführt. Oben fährt die Eisenbahn mit 4 Geleisen, unten läuft der normale Verkehr. Die Brückenpfeiler, wahrhafte Kolosse, wohl zehn oder
zwölf an der Zahl, überragen noch erheblich die obere Fahrbahn.
Das imposante Bauwerk war unversehrt in unsere Hand gefallen. Ich hatte den Auftrag, die Sprengkammern in den Pfeilern unter
der Brücke zu untersuchen - für den Fall der Fälle - und stellte fest,
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daß zwar solche vorhanden waren, aber die waren viel zu klein. Also
mußten wir neue anlegen und die wenigen alten entsprechend vergrößern.
Auf jedem Brückenpfeiler standen zur Fliegerabwehr zwei
Schnellfeuergeschütze und ein gutes Dutzend Flaksoldaten. Auch am Ufer
war eine Menge Flak aufgefahren.
"Sagt mal, was ist denn hier eigentlich los?" erkundigte ich
mich. Soviel Flak auf einem Haufen habe ich noch nie gesehen".
"Sie sind wohl noch nicht lange hier" meinte der Angesprochene. "Nein, mein Stab liegt zwar hier, aber da habe ich nur'ne
Gastrolle gegeben, ich bin immer unterwegs gewesen." "Seien Sie erst
mal drei Wochen hier, dann fragen Sie bestimmt nicht mehr", mischte
sich ein anderer ein, "die Flak, die ist hier verdammt nötig, weil die
Russen jeden Tag einen Angriff auf die Brücke machen."
Ach so ist das, dachte ich, deswegen hat der Herr k.u.k. zur
Abwechselung mal einen Auftrag für dich hier in der Stadt ...
"Ja, das machen sie schon seit Monaten, mal mit ein paar
Flugzeugen, mal mit 'nen ganzen Dutzend," erklärten mir die Kameraden,
"dann ist jedesmal für fünf Minuten der Teufel los."
Sie hatten recht, für gewöhnlich kamen die Flieger in den
frühen Nachmittagsstunden. Es war ein fürchterlicher Aufruhr: ein halbes Hundert Geschütze bellten, Duzende von Bomben krachten, riesige
Wasserfontänen hüllten die Brücke ein - dann war alles vorbei. Kaum war die letzte Bombe gefallen, dann ging ein wilder
Zirkus los. Halbwüchsige Burschen stürzten sich von der Brücke, - obwohl sie sehr hoch war - kopfüber in den Fluß, eine Unzahl Boote und
Schiffchen stieß zum Wettrennen von den Ufern ab. Dann begann die
Schlacht: Kähne wurden geentert und umgekippt die Insassen flogen in's
Wasser.
Hunderte von Fischen in allen Größen, bis zu zwei Meter Länge, trieben auf der Oberfläche - vom Druck betäubt. Aber schnell,
schnell mußte es gehen, spätestens nach zwei, drei Minuten kamen die
Wassertiere wieder zu sich und tauchten blitzschnell weg. Dann war es
zu spät.
Nur wenn zufällig noch ein Nachzüglerflugzeug ankam, waren
die Fische auf einmal Nebensache. Alles riß aus, aber nur um nachher
ebenso schnell wieder da zu sein. Beim Kampf um die Fische entschied
die Zehntelsekunde genau wie beim Hundertmeterlauf.
Die Russen waren beharrlich, tagtäglich versuchten sie auf's
Neue die Brücke mit ihren Bomben zu zerstören. Ich stellte mir einen
Arbeitsplan auf, mit Berücksichtigung der "Besuchszeiten", um möglichst ungestört schaffen zu können und die Russen hielten sich auch
eine ganze Weile an unseren Plan. Jedoch, eines Tages - und der Tag hatte kaum begonnen, - da
war ich mitten auf dem Fluß und steuerte den kleinen Dampfer selber,
um meine Leute abzusetzen. Natürlich waren wir genau unter der Brücke,
da hörte ich ferne Flak schießen. Ein Blick den Fluß entlang: "Die
Russen", brüllte ich und dachte: "Aus!"
Zwei, drei, vier Flugzeuge, kaum hundert Meter hoch, kamen
angebraust. Zu spät zu allem, es ging schneller als ein Gedanke.
Ein Dutzend Bomben krachten wenige Meter von uns entfernt in
den Fluß. Der Kahn war halb voll Wasser. Unglaublich: es war gut gegangen. Wir konnten es kaum begreifen.
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Von den vielen Fischen sahen wir nichts mehr, die waren eingesammelt, bevor wir wieder fähig waren einen klaren Gedanken zu fassen. Wir selber pflegten mit Handgranaten zu fischen, eine einzige genügte und man hatte ein halbes Dutzend prachtvoller Fische. Das
reinste Fisch-Schlaraffenland dieser Fluß! Zwischen Dnjepropetrowsk und Saporopschje ist der Dnjepr eigentlich kein Fluß mehr - ein riesiger, hundert Kilometer langer Stausee. Scharen von Wasservögeln bevölkern ihn, wilde Schwäne, Gänse,
Reiher und die vielen buntschimmernden Enten.
Zu Tausenden treiben sie sich auf dem See herum und ziehen
um die Abendstunden in pfeilschnellem Zug über's Wasser. Mir als passioniertem Jäger schlug das Herz höher. Wie gern hätte ich mich da ein
paar Wochen lang mit nichts Anderem befaßt als Jagen, Fischen und Beobachten.
Aber es war Krieg und der forderte seinen unerbittlichen
Tribut, nur ab und an mal konnte ich ihn ein bißchen hinters Licht
führen.
Nach Saporoschje oder flußaufwärts nach Krementschug war die
beste Verbindung über Wasser, ich hatte da öfters zu tun. Und wenn ich
zum Wasserschutzdienst ging, ließen sie sich meist nicht lange bitten,
eine dienstliche Patrouillenfahrt nach Saporoschje oder Krementschug
zu machen.
Die glitzernde Wasserfläche des weiten Sees, die vielen
Wildvögel, das leise Plätschern der Wellen, das monotone Summen der
Dieselmotoren und man selbst lang und faul hingestreckt, nur mit der
eigenen Haut bekleidet - es war traumhaft schön.
Wären nicht die Maschinengewehre und die Schnellfeuerkanonen
an Bord gewesen, man hätte es für eine Vergnügungsfahrt eines Multimillionärs halten können. Unbeschreiblich die Stimmung schon bei Tag,
bei Nacht und Mondenschein feenhaft.
In Krementschug war der Dnjepr wieder ganz Fluß, scharfe
Strömung, Inseln, Riffe. Imponierend war hier die lange Pontonbrücke.
Der starken Strömung wegen, im Halbkreis geschwungen, überquerte sie,
dreieinhalb Kilometer lang, den Fluß.
Bei einer gelegentlichen Reise nach Kriwoj Rog sah ich mir
dort die neue Motorenfabrik von Mercedes an. Sie war noch nicht ganz
fertig, die leeren Räume einer abmontierten russischen Fabrik waren
ihr Domizil. Ich war erstaunt über den Optimismus und das Geld, das
man da hineinsteckte. Wir hatten Sommer 1943, Stalingrad war längst
verloren.
"Glauben Sie wirklich, daß all das hier lohnt?" fragte ich
den Direktor. "Es braucht doch Jahre bis die teuren Maschinen sich
amortisiert haben. Halten Sie die militärische Lage für so gesichert,
daß Kriwoj Rog - nun, sagen wir mal - noch fünf Jahre in deutscher
Hand bleibt?
Lange sah er mich an, maß mich von oben bis unten: "Wie soll
ich Ihre Frage verstehen?" antwortete er vorsichtshalber mit einer Gegenfrage.
"Es ist doch eine sehr riskante Sache, solch eine Fabrik im
Feindesland aufzubauen", meinte ich, "und noch dazu mitten im Krieg."
"Da haben Sie ja eigentlich nicht so ganz unrecht, aber in
Berlin hat man die Ukraine schon offiziell angegliedert, sie gilt dort
bereits als ein Stück des neuen größeren Reiches."
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Damit war alles gesagt, ich wußte, er dachte genau wie ich,
aber als braver Untertan hatte er keine Neigung, Kopf und Kragen zu
riskieren, also schwächte er lieber ab: "Unsere Privatmeinungen sind
auch vollkommen belanglos. Wir bekommen unsere Befehle und haben sie
auszuführen. Genau so wie Sie, auch wenn wir keine Uniform anhaben. Im
totalen Krieg ist jeder Soldat." Einen schönen Abgang hatte er sich
verschafft, das mußte man ihm lassen. Noch schlimmer lag der Fall mit Krupp in Taganrog. Da hatten
wir die riesigen, leeren Hallen einer russischen Traktorenfabrik vorgefunden, in denen einstmals 20 bis 30 Tausend Arbeiter geschafft hatten. In diesen Hallen sollte Krupp seinen Rüstungsbetrieb aufbauen.
Mehrere hundert Arbeiter kamen aus Essen und mit Tausenden von Einheimischen zusammen, montierten und wirkten sie dort.
Unaufhörlich rollten die Züge mit neuen Maschinen heran. Man
tat, als ob man im tiefsten Frieden wäre und dabei stand der Russe
schon vierzig Kilometer vor der Stadt. Der Angriff war da zum Stehen
gekommen, aber für wie lange? Der Gegner sammelte doch nur neue Kräfte, um nach Monaten, vielleicht auch nur Wochen, erneut vorzustoßen.
Oben plante man lustig darauf los, die saßen in einem Wolkenkuckucksheim. Führerbefehl hieß es und damit hörte jede Kritik, jedes Denken auf. Nur das Kriegsgeschehen gehorchte dem Führerbefehl
längst nicht mehr.
Kapitel VIII
Bunkertest - Rückzug an den Djnepr - Die Dnjepr-Brücke
Ab und zu fand das blinde Huhn auch mal ein Korn, dann konnte es passieren, daß ein Projekt mal Hand und Fuß hatte. So wurde ich
eines Tages mit einer Handvoll Soldaten nach Woroschilowsk geschickt.
In einer kleinen Zementfabrik lagerte noch Material, das sollt ausgenutzt werden. Wir blieben einige Monate da und machten Eisenbetonträger für Unterstände.
"Herr Major", wandte ich mich an einen Artilleristen, "ich
habe da verschiedene Trägertypen entwickelt und wüßte gern, welche
sich in der Praxis am besten bewähren. Ließe es sich machen, daß wir
mal ein Versuchsschießen arrangieren?"
"Aber sicher, ich bin sofort dabei, wenn Sie soweit fertig
sind", sagte er bereitwilligst.
Wir bauten also ein paar feldmäßige Unterstände auf und dann
ging ich erneut zur Artillerie.
"Schön", sagte der Major, "ich muß nur noch den Pionierführer der Armee anrufen, der interessiert sich dafür."
So stieg der große Tag. Eine Batterie 12,5 cm Geschütze war
aufgefahren, ein Haufen Munition bereit gestellt. Mehrere Autos mit
Wimpeln kamen an. Der General mit seinem Stabe besichtigte die Bunker,
ich mußte die technischen Erklärungen geben.
Dann zogen wir uns zurück und die Geschütze begannen ihr
Bombardement. Bum - bum - bum - bum Die Autos sprangen an, wir fuhren hin. Nichts getroffen?
Drei Meter daneben saß der beste Schuß. "Achtung Feuer", die nächste Salve. Alles stürzte zu den Autos, nur der General blieb stehen: "Schicken Sie doch mal lieber erst
einen Kradmelder hin", ließ er vernehmen.
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Der Kradmelder kam zurück: "Nichts". Der Major wurde nervös,
korrigierte seine Geschütze persönlich. "Das Ziel ist doch sehr, sehr
klein," bemerkte er etwas zu laut in unmittelbarer Nähe des Generals.
Die nächsten Geschosse wurden mit lautem "Bum" auf die Reise
geschickt. Der Kradmelder berichtete, ein Schuß säße ganz dicht neben
einem Bunker.
"Na, wenigstens haben die Pappkameraden schon gebibbert",
sagte der Oberst trocken und der General ergänzte: "Die trauen sich
nun nicht mehr zurückzuschießen, wir können also ruhig hier stehen
bleiben." Allgemeines Gelächter, nur der Artillerie-Major hatte keinen
Sinn für Humor. Er tat mir leid, ich hatte ihn wirklich nicht in solch
eine unangenehme Situation bringen wollen.
Es folgte Salve um Salve, bis die Munition alle war. Bei der
Schlußbesichtigung ergab sich, daß nur ein Treffer auf einen Bunker
erzielt war, auf einem anderen lag ein Blindgänger.
Immerhin konnte man sich ungefähr ein Bild machen und so
wurde ein Trägertyp ausgewählt.
"Wissen Sie", erzählte mir der Major später," der Blindgänger, das war gar keiner. Ich hatte ein bißchen corriger-la-fortune gemacht, und dem Kradmelder heimlich zwei Granaten mitgegeben, die sollte er auf je einen Bunker legen. Ich schwitzte Blut und Wasser der
Schwindel würde rauskommen, aber meine Kanoniere schossen zum Glück
nicht so sehr vorbei und die Erschütterung der Einschläge reichte aus,
daß wenigstens der eine der beiden "Blindgänger" explodierte und einen
Volltreffer abgab. Zwei Blindgänger und ausgerechnet beide auf 'nem
Bunker drauf, das wäre dem General aufgefallen. Der eine, na ja, der
konnte ja echt sein. Wir tranken diverse Schnäpse und schieden als gute Freunde.
"Aber noch mal lasse ich mich nicht von Ihnen verführen, mit Kanonen
auf Spatzen zu schießen", sagte der Major zum Abschied, "da ist zu
viel Platz nebenbei und drum herum."
Auf der Suche nach Eisen für meine Träger kam ich in eine
russische Rohr-Fabrik in Makejewka. Beim Anblick der dicken Rohre kam
mir der Gedanke: könnte man nicht aus kurzen Stücken - Durchmesser ein
bis anderthalb Meter - ganz nette kleine Panzertürmchen bauen?
Eine Pioniereinheit schnitt mir mit dem Schweißbrenner eine
Anzahl Rohrenden herunter und ich machte meine Versuche. Gegen Infanterie - und MG Beschuß hielten die kleinen Türme stand. Also baute ich
ein paar Modelle auf und bat den Pionieroberst zur Besichtigung. Der
fand sie sehr brauchbar und ließ sofort die Produktion in der RohrFabrik anlaufen.
Die ersten Serien erlebte ich noch, dann wurde ich nach
Dnjepropetrowsk zurück gerufen. Unser k.u.k. Stab war einer Heldengreifkommission zum Opfer gefallen. Ich wurde an die Front geschickt
und bekam eine Kompanie.
Es ging damals schon unaufhaltsam zurück. Die kurzen Zwischenpausen täuschten freilich viele noch über das wahre Bild der Lage.
Meine Kompanie arbeitete an einer neuen Auffanglinie, der
Rückzug der Truppen auf diese neue Linie sollte in der Nacht zum
15.12.[1943] vor sich gehen.
Vor uns lag ein Ort, in dem wir große Vorräte von Sonnenblumenkernen entdeckt hatten. Die kamen uns gerade recht, unsere Verpflegung war gar nicht großartig. Wir holten uns also große Mengen, preß- 58 -
ten sie primitiv aus und der Koch machte uns knusprige Bratkartoffeln
mit dem Sonnenblumenöl.
Am 12.12., also drei Tage vor dem Rückzug, kam da plötzlich
so ein Landwirtschaftsbeauftragter bei mir an und machte mir einen
Höllenspektakel.
"Ihre Einheit hat meine Vorratslager aufgebrochen und wertvolle Kerne gestohlen, die Heimat hungert und Sie vergeuden das kostbare Material."
"Immer langsam mit den jungen Pferden", wehrte ich ab, "was
wollen Sie denn mit den Unmengen von Kernen machen?"
"Ich baue eine Ölmühle auf, die Maschinen sind gestern von
Deutschland gekommen," erklärte er stolz, "in vier bis sechs Wochen
läuft die Fabrik. Und dann", fügte er hinzu, "dann produzieren wir Öl
genug, um die Ernährungslage der Heimat zu verbessern."
Er sah mich triumphierend an. Ich schwieg nachdenklich. Die
militärische Geheimhaltung verbot mir, ihm klipp und klar zu sagen,
daß seine neuen Maschinen und sein Vorratslager binnen drei Tagen in
russischer Hand sein würden. Also fragte ich ihn: "Haben Sie sich in
letzter Zeit eigentlich mal über die militärische Lage informiert?"
"Nein, dazu habe ich keine Zeit. Ich habe Dringenderes zu
tun, das habe ich Ihnen doch eben schon erklärt."
"Ja ja, aber trotz allem sollten Sie sich unbedingt noch
heute - noch heute," wiederholte ich mit Nachdruck - "auf einen Sprung
zur Division und dem IA Ihre Geschichte vortragen."
Ob er meinen Rat befolgt hat, weiß ich nicht. Wohl kaum. Die
Division räumte den Ort termingemäß. Kurz nach Neujahr begann der russische Großangriff. Wir mußten zurück. Der Feind stieß nach. Wir mußten weiter zurück. Einen Tag und eine Nacht hatte ich mit meiner Kompanie das
Himmelfahrtskommando. Wir gruben uns rechts und links der Hauptrückzugsstraße ein. Wir hatten den Befehl, die Stelle unter allen Umständen bis zum anderen Morgen um neun Uhr zu halten.
Am Nachmittag - es wurde schon früh dunkel - wurden unsere
Truppen heimlich, still und leise herausgelöst und begannen den Rückmarsch. Die Situation war brenzlich. Wir wußten, daß wir 70 bis 80
Mann ganz alleine waren, ohne Anschluß nach beiden Seiten.
Aber Petrus hatte Mitleid mit uns. Noch während der Nacht
kam ein unheimlich dicker Nebel auf. Man konnte keine drei Schritt
weit sehen und es wollte auch gar nicht Tag werden. So sammelte ich
kurz vor neun Uhr meine Kameraden zusammen und um neun Uhr marschierten wir ab. Unbehelligt erreichten wir unsere neue provisorische Linie, einen kleinen Brückenkopf am Dnjepr. Der konnte zwei Tage gehalten werden, bis der größte Teil der Truppen - auch meine Kompanie das jenseitige Ufer erreicht hatte.
Wir hatten den Fluß etwa 150 Kilometern südlich von Saporoschje nachts in Booten überquert, kurz vor seiner Mündung in's
Schwarze Meer. Da ist der Dnjepr schon gewaltig breit, die letzte
Brücke war erheblich weiter nördlich. Deshalb wurde der gesamte Troß
des Bataillons eine Woche vorher herausgezogen und auf die Reise geschickt. Vierzehn Tage später, stieß er, wie vorgesehen, wieder zu
uns.
"Herr Oberleutnant, Ihr ganzes Gepäck ist weg", meldete mir
mein Troßführer, Feldwebel Grünert, "ein General hat es eigenhändig
von der Brücke in's Wasser geschmissen."
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"Wie, was, ein General? Eigenhändig?", fragte ich vollkommen
verdattert, ich verstand nichts ...
"Wirklich, Herr Oberleutnant, ein General hat Ihren Rucksack
und Ihren Koffer genommen und alles in den Fluß geworfen: zur Erleichterung der Fahrzeuge, hat er gesagt."
"Hören Sie Feldwebel", sagte ich, "erzählen Sie mir keine
Märchen, Sie haben das Zeug verloren, geben Sie es schon zu." Aber er
blieb hartnäckig bei der unglaublichen Version von dem General, der
alles von der Brücke in's Wasser geworfen hätte.
"Es ist alles weg, Herr Oberleutnant, auch das Gepäck von
den anderen und meins auch."
Ich wollte und konnte ihm nicht glauben. Ein General, der
sich während des Rückzuges auf eine Brücke stellt, Fahrzeuge anhält
und sie "erleichtert" ?
"Aber Grünert, das muß doch Riesenverstopfungen vor der
Brücke gegeben haben?"
"Ja, Herr Oberleutnant, wir brauchten mehr als 24 Stunden,
um überhaupt auf die Brücke hinauf zu kommen. Es ging und ging nicht
weiter. Und die Russen schmissen dauernd Bomben in die wartenden Fahrzeugkolonnen. Unsere vierte Kompanie hat die Hälfte ihrer Fahrzeuge
verloren und der Troß von der Zweiten ist irgendwie abgedrängt worden,
den haben die Russen geschnappt."
"Wissen Sie was, Grünert, ich glaube Ihr seid einem Verrückten oder aber einem Russen auf den Leim gegangen, so sieht mir das
aus."
Ich ging zum Adjutanten, der den ganzen Troß geführt hatte.
"Sagen Sie mal, was war denn da eigentlich los auf der Brükke?" erkundigte ich mich.
"Na, ich kann Ihnen nur flüstern: das war vielleicht eine
Schweinerei! Sie wissen ja, ich war mit dem Troß fast eine Woche
Djnepr-aufwärts gefahren, unterwegs haben die Russen uns mal mit Bomben und mal mit MG-Feuer beharkt, aber sie trafen nicht viel und wir
kamen ziemlich heil bis in die Nähe der Brücke.
Da drängte sich eine Unmenge Fahrzeuge zusammen, so dicht
beieinander, daß es nicht mehr weiter ging. Gelegentlich mal ein paar
Meter und dann wieder: Halt! Für rund tausend Meter brauchte ich einen
Tag und eine Nacht. Und immer die russischen Flieger über uns! Es war
eine üble Situation.
Schließlich kamen wir dann doch mal bis an die Brücke und
fuhren hinauf".
"Nun muß ich aber erst einen Weißen verlöten", unterbrach er
sich, "sonst packt mich hinterher noch die Wut. Trinken Sie einen
mit?"
"Also, wir waren kaum auf der Brücke, da kamen wir an eine
Postenkette. Die Fahrzeuge mußten sich in e i n e r Reihe formieren."
"In einer Reihe, aber das gibt doch einen mächtigen Zeitverlust und wo die Russen schon so dicht dran waren, war doch Eile, und
zwar größte Eile geboten", warf ich ein.
"Sehen Sie, das dachte ich auch, aber die Posten ließen uns
nicht durch: der General hat es befohlen, der General steht da hinten
und kontrolliert die Fahrzeuge. Uns blieb nichts anders übrig, als eine lange Reihe zu bilden, ein Wagen nach dem anderen zottelte los. Die nächste Postenkette:
- 60 -
Soldaten mit Maschinenpistolen bewaffnet, sperrten den Weg, resp. die
Brücke.
Abladen! Vier, fünf Mann griffen auch schon zu, die Plane
flog hoch und alles, was im Wagen war, wurde auf der Brücke ausgebreitet, gewissenhaft sortiert. Ein General stand daneben und überwachte
die Prozedur. Höchst eigenhändig warf er einen großen Teil der Sachen
über das Geländer in den Fluß.
Donnerwetter, dachte ich, das geht hier doch nicht mit rechten Dingen zu. - Wem nützt es, für wen ist's gut?, überlegte ich. Für
uns bestimmt nicht, aber für die Russen schon, die kriegen eine Unzahl
Fahrzeuge und Tausende Gefangene dadurch.
Ich wandte mich an den nächsten Posten: Sagen Sie mal, wer
ist denn das eigentlich? Kennen Sie den General persönlich? - Jawohl,
das ist Generalfeldmarschall Sch. und wir sind seine Wachkompanie,
lautete die verblüffende Antwort.
Einpacken, brüllte der General, pardon, Generalfeldmarschall. Ein kümmerliches Häufchen war übrig geblieben, nur Munition
und Lebensmittel. - Wir konnten weiterfahren."
"Das ist aber ein starkes Stück", fiel ich ein, "hat denn
ein geschlagener Feldherr beim Rückzug seiner Armee wirklich keine anderen Sorgen, als den Troß zu revidieren?"
"Und dabei kam er sich noch vor wie'n Napoleon" - Und nach
einer kleinen Pause: "Sie können mir glauben, am liebsten hätten wir
den Kerl selber über's Geländer geworfen, "zur Erleichterung" für die
Kameraden, die vor der Brücke warteten und wegen seiner Idiotie nicht
mehr rüberkamen. Aber die Maschinenpistolen seiner Leibgarde hielten
uns in Schach. Das erste mal im ganzen Krieg, daß mich deutsche Maschinenpistolen in Schach halten mußten ... "
Meine Sachen waren weg, ich besaß nur noch, was ich auf dem
Leibe hatte. Also ging ich zum nächsten Bekleidungslager und holte mir
das Notwendigste. Hinter mir sagte ein Landser zum anderen: "Mensch,
wenn ich gewußt hätte, was für 'ne hohe Ehre meinen ollen Knobelbechern widerfahren würde, ich hätte sie immer "von" Stiebel genannt". Die Russen hatten noch einige Brückenköpfe über den Dnjepr
erobert, dann stoppten sie den weiteren Angriff ab. Das machten sie
immer so, sie stürmten nie sinnlos weit vor. Uns brachte das eine Ruhepause ein. In den zwei Monaten bauten wir wie immer neue Stellungen, nur daß diese nachher niemand mehr
besetzte.
Ende Februar [1944] bereiteten die Russen ihren neuen Angriff vor und machten überall kleine, begrenzte Vorstöße. Von einer
zusammenhängenden Front war bei uns keine Rede mehr.
Eines späten Abends klopfte es an meiner Tür, jemand trat
ein, bis zur Unkenntlichkeit in Pelze vermummelt.
"Kann ich mich bei Ihnen ein bißchen aufwärmen, ich bin so
schrecklich durchgefroren", sagte die Gestalt.
"Aber natürlich", antwortete ich, obwohl ich nicht recht
wußte, was in dem Pelzsack steckte, "wollen Sie nicht etwas ablegen?"
"Nein, das lohnt nicht, ich muß gleich weiter, ich bin so schon spät
dran."
Ich holte Flasche und Gläser. "Oh, das tut gut", brummelte
mein Bär und ich merkte, das er wesentlich erschöpfter war als er
zugeben wollte.
- 61 -
Also erklärte ich rund heraus: "Wissen Sie was, Sie bleiben
hier bis morgen früh. Bei dem Wetter lasse ich Sie nicht weg. Es
schneit ja immer noch und hören Sie mal, wie der Wind heult. Kommen
Sie, ziehen Sie Ihren Pelz aus. - Mach' mal'n anständiges Abendbrot,
Anton!" rief ich meinem Burschen zu.
Mein später Gast wehrte verzweifelt ab, ich ließ mich auf
nichts ein. "Ich mache von meinem Recht als Hausherr Gebrauch", erklärte ich energisch, "Sie bleiben hier und schlafen sich ordentlich
aus und morgen früh werden wir weitersehen."
Mit Antons Hilfe begann ich ihn aus seinen Hüllen zu schälen. Ich zog ihm die Mütze herunter, ein weißer Kopf erschien. Also,
ein erheblich bejahrter Herr, dachte ich, nun erst recht. Bald hatten
wir auch den Pelz herunter und ich sah dicke Raupen und Sterne zum
Vorschein kommen. "Oberarzt Schramm", stellte sich der so gewaltsam
behandelte mit leisem Lächeln vor.
Es wurde einer jener gemütlichen Abende, die man noch lange
im Gedächtnis behält. Ich gab mir alle Mühe, den alten Herrn auf's Beste zu bewirten, sein bescheidenes Auftreten hatte so angenehm mit
seinem Rang kontrastiert.
Nachdem wir uns ein gutes Mahl einverleibt hatten - gewürzt
mit einigen Cognacs - und er an einer dicken Zigarre zog, fing er an
zu erzählen. "Ich bin schon drei Tage unterwegs", berichtete er, "ich
mußte zur Armee und konnte sie nicht finden, es ist ja alles auf dem
Rückzug. In meinem Alter ist solch eine Reise im kleinen Pferdeschlitten und bei dem Wetter gar nicht mehr so einfach", schloß er und der
Schneesturm draußen heulte die Begleitmusik dazu.
Natürlich sprachen wir über die allgemeine Lage, das heißt
über den allgemeinen Rückzug und ich erzählte ihm die Geschichte von
dem Feldmarschall und seiner Fahrzeugkontrolle auf der Brücke.
"Sind Sie sicher, daß es wirklich ein Feldmarschall gewesen
ist?", fragte er zweifelnd. "Ja, bestimmt, denn eine ganze Menge Landser kannten den Herrn von Angesicht, er war es wirklich". "Ja, wenn
die Landser ihn kannten, dann besteht allerdings kein Zweifel an der
Echtheit", gab er zu.
"Uns ist da mal eine Sache passiert, aber das war im Westen", begann er zu erzählen, "im Dezember 39 und wir lagen im Westwall. Unsere Nachbareinheit avisierte uns einen General, der von Berlin käme und uns besichtigen wollte.
Der General kam, war sehr leutselig, sah sich alles genau an
und verabschiedete sich sehr befriedigt. Zum Schluß sagte er: Ach,
würden Sie die Liebenswürdigkeit haben, mich für morgen bei Ihrem
rechten Nachbarn anzumelden? Natürlich, Herr General, sehr gerne.
Zwei Tage später erhielten wir ein Fernschreiben aus Berlin:
General X - und es folgte die genaue Personalbeschreibung unseres
charmanten Besuchers - ist zu verhaften. Französischer Spion. - Aber
der "General" war und blieb verschwunden."
Am nächsten Morgen verabschiedete sich der alte Herr und lud
mich herzlich ein, ihn mal zu besuchen. "Wenn ich in die Gegend komme,
sehr gerne, Herr Oberstarzt." Wir trennten uns mit einem kräftigen
Händedruck.
Er setzte sich auf den Schlitten und fuhr davon. –
Kapitel IX
- 62 -
Der Treffer - Güterwagenfahrt nach Odessa - Flug nach Lemberg - Lazarettzug nach Bocholt - Genesungsurlaub
Wir lagen unweit des Flusses Ingulein, der bei Cherson in
den Dnjepr mündet. Die Russen griffen wieder an und unser Troß sowie
drei Kompanien wurden über den Fluß verlegt in einen Ort etwa dreißig
Kilometer weiter westlich. Meine Kompanie mußte da bleiben, um einen
schmalen Steg über den Fluß zu bauen, damit der kleine Brückenkopf von
etwa dreihundert Mann, der noch östlich des Flusses lag, sich in der
zweiten Nacht absetzen konnte.
"Grünert", befahl ich meinen Troßführer, "Sie führen befehlsgemäß den gesamten Fuhrpark mit dem Bataillon zurück. Aber entgegen dem Befehl lassen Sie drei Gummiwagen - so nannten wir die Fahrzeuge mit Gummibereifung - mit Stroh beladen und voll bespannt, am
jenseitigen Flußufer zurück. Aber gut gedeckt, versteht sich. Die Leitung der Fahrzeuge übernimmt der Obergefreite Bolze, er hat stets mit
mir Verbindung zu halten. Wir bleiben hier zu dreihundert Mann im
Brückenkopf, da gibt es bestimmt Verwundete und solange ich befehle,
fällt mir keiner in russische Hände, wenn es überhaupt noch eine Möglichkeit gibt, ihn zu retten. Haben Sie mich verstanden?"
"Jawohl, Herr Oberleutnant", knallte er die Hacken zusammen
und verschwand. Ich wußte, er hatte verstanden, worum es ging und er
würde es auch verstehen, dem Bataillonsbefehl ein Schnippchen zu
schlagen.
Bei Tagesanbruch erschien dann prompt am anderen Ufer der
Obergefreite und hielt ostentativ drei Finger hoch. Also hatte es geklappt. Ich war beruhigt. Wenn nun etwas passierte, konnten die Verwundeten im Schlauchboot über den Fluß transportiert werden und die
Fahrzeuge standen bereit, um sie in's Lazarett zu schaffen.
Sonst war sonntäglicher Frieden, die Russen schossen nicht
und wir dann natürlich auch nicht. Die Sonne strahlte, es war ganz angenehm warm, obwohl es erst Anfang März war.
Man hätte an eine Pionierübung an der Elbe denken können,
nur einmal zog ganz hoch ein feindlicher Aufklärer über uns hinweg,
drehte zwei Kreise und verschwand wieder.
Es war Nachmittag geworden, kurz vor'm Dunkelwerden. Unser
Steg war fast fertig, eben sollte das letzte Stück, das wir am Ufer
zusammengebaut hatten, eingefahren werden. Ich saß mit einem meiner
Männer im Schlauchboot, um das Manöver zu leiten.
Da kam urplötzlich ein russischer Jäger, keine zwanzig Meter
über dem Land, blitzschnell dahergejagt. Genau in Richtung unseres
Steges flog er. Der Aufklärer heute früh, der hat fotografiert, dachte
ich noch.
Bumm - bumm - bumm, krachten die Bomben auf und neben den
Steg. Ich fühlte einen stechenden Schmerz in der rechten Seite und befahl meinem Mann, mich an's Ufer zu rudern. Ich sah noch, daß der Jäger den Steg leider nur zu gut getroffen hatte. "Wir haben zwei Tote und außer Ihnen noch sechs Verwundete,
Herr Oberleutnant", sagte mir mein Hauptfeldwebel, als ich wieder zu
mir kam. Der Bataillonsarzt bemühte sich um mich. Ich hatte gar nicht
gewußt, daß er bei meiner Kompanie geblieben war. Das sah unserem Doktor aber ähnlich, er war immer da, wo es brenzlich war.
"Der Hauptfeldwebel hat mir gesagt, daß Sie noch Gummiwagen
hier haben. Ihr Glück!", sagte der Doktor zu mir.
- 63 -
Nachdem alle versorgt waren, wurden wir auf einen der Wagen
gepackt und in's nächste Lazarett gefahren. In dem tiefen Stroh lag es
sich ganz gut und man merkte auch nicht so die schlechte Straße.
Im Lazarett kam ich sofort auf den Operationstisch: "Drei
Einschüsse rechts, Schußkanäle sehr tief, bis in die Lunge hinein."
Nach einiger Zeit war ich fertig und sollte hinausgefahren
werden. Da ging die Tür auf und mein Gast von der vorigen Woche kam
herein.
"Herr Oberstarzt, ich bin gekommen, Ihnen meinen Gegenbesuch
zu machen", sagte ich mit möglichst fester Stimme.
Er fuhr herum, sah mir scharf in's Gesicht: "Oberleutnant
Selb?" sagte er fragend. "Jawohl, selbst", antwortete ich.
"Nanu, was ist passiert? So hatte ich meine Einladung aber
wirklich nicht gemeint, nein, wirklich nicht", wiederholte er.
"Ich weiß", versicherte ich ihm, "ich meinen Gegenbesuch ja
eigentlich auch nicht."
"Was ist mit dem Herrn Oberleutnant, er ist ein sehr guter
Freund von mir", hörte ich ihn zu den Assistenzärzten sagen. Sie erstatteten Bericht.
"Ich will es persönlich sehen", befahl er. Und so wurde ich
wieder auf den Operationstisch gepackt und der ganze Verband noch einmal abgenommen. Er untersuchte meine Verwundung eingehend, behandelte,
tat dies und das.
"Meine Herren", wandte er sich an die Assistenzärzte: "ich
bitte um Vorschläge. Was könnte man noch tun? Es ist mein Freund."
Zwei Stunden drehten sie mich auf dem Tisch hin und her, dann wußte
niemand mehr etwas und ich wurde in den großen Saal gebracht.
Später saß er an meinem Bett. Mehrmals setzte er zum Sprechen an, brach wieder ab - Ich merkte, daß er etwas auf dem Herzen
hatte.
"Wie ist es mit mir? Sagen Sie es mir unverblümt", bat ich.
- "Man kann noch nicht Bestimmtes sagen", antwortete er, "es ist
ernst, aber bei guter Pflege können Sie durchkommen." Und nach einer
Pause: "Nur - wir müssen Sie leider hierlassen, das Restkommando geht
in wenigen Stunden weg. Die Russen sind schon ganz nahe."
"Nehmen Sie mich mit, unter allen Umständen", bat ich ihn
flehentlich.
"Es geht nicht, wir haben keine Krankenwagen mehr da." "Und
was geschieht mit all den Verwundeten hier?" fragte ich. "Was transportfähig war, haben wir schon weggebracht. Die hier" - und dabei
machte er eine kreisende Handbewegung - "alles Neuzugänge, die müssen
hierbleiben."
"Nein", wehrte ich mich mit aller Energie, die ich noch aufbringen konnte, "nein, ich bleibe nicht. Haben Sie einen Kradmelder?"
"Warum?", wollte er wissen. "Meine Kompanie marschiert etwa
25 km von hier entfernt, die hat drei Gummiwagen mit. Der Obergefreite
Bolze soll sich sofort mit ihnen hierher in Marsch setzen. Wie spät
ist es jetzt?"
"Neun Uhr", sagte er. "In zwei Stunden müßte der Melder die
Kompanie gefunden haben und in weiteren drei Stunden müßten die Wagen
hier sein. Bitte besorgen Sie sofort einen zuverlässigen Melder", bat
ich.
"Wird gemacht", sagte der alte Herr, "wo kann der Melder die
Kompanie finden?"
- 64 -
"Schicken Sie mir den Mann lieber her, damit ich es ihm selber erklären kann, sonst können Irrtümer vorkommen."
"Geht nicht", erklärte er mit Nachdruck, "der Melder bin
ich." Ich wollte es ihm ausreden, aber er blieb fest: "Wenn ich
mein ganzes Lazarett noch räumen kann, dann fahre ich eben selber!"
Ich mußte ihn genau informieren und dann war er auf einmal weg.
Hatte ich geschlafen? "Obergefreiter Bolze mit drei Gummiwagen zur Stelle". Träumte ich? Nein, sie packten mich in tiefes Stroh
in die Mitte vom Wagen, wo es am wenigsten Stieß. Stunden und Stunden
ging es eine holprige Straße entlang.
Prrrr! Der Wagen stand. Wieder wurde ich ergriffen und mit
Bolzes Hilfe vorsichtig in einen Eisenbahnwagen - einen einfachen Güterwaggon, getragen. "Herrn Oberleutnant und 63 Mann habe ich hergefahren", sagte Bolze noch, dann war er weg, zum mindesten sah ich
nichts mehr von ihm, ich sah überhaupt nichts mehr.
"Die Waggons sind fertig", hörte ich einmal eine Stimme,
dann Stille - Stille.
Draußen fuhr ein Zug, davon wurde ich wach. Der nimmt uns
mit, dachte ich. Gleich kommt der Ruck des Rangierens - dann das monotone Geräusch der Schienenstöße - komisch, daß man so wenig davon
merktWieder Stimmen draußen, es war schon dunkel: "Alles Verwundete, die werden unbedingt mitgenommen -" "Aber das Sprengkommando ist
im letzten Wagen, da können wir nichts mehr anhängen -" "Wird angehängt! Befehl!"
Ein Ruck, eine leichte Erschütterung: "Wir sind dran, jetzt
geht's los -" Der Zug zog an, ich merkte es deutlich: tak-tak-tak die
Schienenstöße. Süße Musik in meinen Ohren. Jedes Tak hieß: weg von den Russen. Plötzlich scharfes Bremsen! Der Zug hielt! Stimmen! Gelaufe!
Ein furchtbarer Knall! Das drang bis in meine halbe Bewußtlosigkeit.
Der Zug fuhr wieder an, es ging weiter.
Neuer Halt! Knall! Weiter! Immer noch dämmerte ich zwischen
Schlaf und Wachen.
Wieder: Halt! Knall! Weiter! - Ach ja, das Sprengkommando!
Die sprengten die Geleise hinter uns! Dann blieben wir stehen, eine
Ewigkeit lang stehen. Hatten sie uns abgehängt? War die Strecke nicht frei? Was
war los? Ich konnte mich nicht rühren.
Mit einem Male ging es wieder weiter. Endlich!
Heftiges Geschieße! Geschosse durchschlugen mit hellem
"Klack" unseren Wagen - Dann Ruhe.
Stimmen! Jemand riß die Tür auf, ein russischer Fluch. Russisch? Ja, das war russisch - wir sind in Gefangenschaft. Deutlich zu
hören, wie sie den Lebensmittelwaggon vor uns plünderten. Schnaps natürlich. Ich in russischer Gefangenschaft - ich konnte kein Glied
rühren - ist ja auch alles egal. Wieder Schüsse, auch Artillerie mit dabei - vielleicht einen
halben Tag später, vielleicht einen ganzen Tag später. - Ein heftiger
Kampf tobte da draußen. "Kameraden, Ihr seid wieder befreit, hier sind deutsche Panzer", ertönte es. Deutsch, nicht russisch! Deutsch! - 65 -
Ich kam wieder zu mir. Lange - lange warteten wir, daß es
weitergehen sollte. Ob sie keine Lok hatten? Nein, aber es wurde eine
besorgt und mit "Gute Fahrt" verabschiedeten sich die Panzerkameraden.
Das Bähnchen dampfte mit uns davon. Tak-tak-tak sangen die Räder.
Schlafen - schlafen - Halt - sehr, sehr lange Halt - Tak-tak-tak, die
Räder rollten wieder. Schlafen - schlafen - schon wieder Halt - ach
was, halt - nur schlafen - schlafen - Zwei Tage oder drei oder vier?
Ich wußte es nicht.
Schüsse draußen, erst einzelne, dann MG-Feuer - Gebrüll wieder russisch - also doch wieder in russischer Gefangenschaft - obwohl noch Schnaps da war, vor uns im Waggon? - Ist ja auch egal - nur
schlafen. Bumm-bumm-bumm, das war Artillerie, MG dazwischen ... Ich
wurde wieder einmal fast wach. - "Kameraden, wir sind ein Panzerzug aus Nikolajew, wir
schleppen euch ab, eure Lok ist zerschossen". - Tak-tak sangen die Räder wieder und ich konnte wieder schlafen - Wieder halt! Die Tür wird aufgerissen. Leute kletterten hinein, verteilten irgend was, sprachen - so undeutlich - es war so wenig
zu erkennen ...
Plötzlich in der Tür ein Gesicht: "Keller", rief ich so laut
ich konnte, "Mensch, Keller, komm mal her!" "Selb, altes Haus, was
machst Du denn hier?" "Mich hat's erwischt. Wo sind wir denn hier?"
"In einen Vorort von Nikolajew." "Mensch, Keller, hol mich hier heraus. Ich liege seit Tagen schon hier ohne Verpflegung und ohne Betreuung."
"Kann ich nicht, in Nikolajew sind schon die Russen, es sind
bereits Straßenkämpfe in der Stadt. Ich muß sehen, daß ich eine Lok
für euch kriege, damit ihr noch rauskommt." Und weg war er. Nicht einmal etwas zu Trinken hatte ich bekommen.
Stunde um Stunde verging, das ferne Schießen wurde deutlicher und deutlicher. Würde Keller eine Lok auftreiben?
Das Schießen kam immer näher. Geht es hier endgültig zu Ende
mit uns?
Schon ganz nahe die Einschläge ... Also: aus! Da ein Ruck, eine leichte Erschütterung! Wir bewegten uns
...
Dem Himmel und Keller sei Dank! Wir fuhren die ganze Nacht hindurch, dann hielt unser Zug.
Stimmen. Viele Stimmen. Die Waggons wurden aufgerissen. Sanitäter mit
Tragbahren. Krankenwagen standen bereit. Wir waren in Odessa. "Schwester, was für einen Wochentag haben wir denn heute?",
fragte ich im Lazarett. "Heute ist Sonntag, wissen Sie das nicht?"
"Nein, Schwester."
Ich rechnete nach: verwundet am Montagnachmittag, Dienstag
hatte Bolze mich verladen. Fünf volle Tage hatte ich also gelegen, ohne ein Glied zu rühren, ohne Nahrung, ohne Wasser, ohne Betreuung. Jetzt, jetzt lag ich in einem richtigen Bett mit weißer Wäsche und eine Schwester kam und fragte nach meinen Wünschen. Ich hatte
es geschafft, ich war im Paradies angekommen.
Ach, war es schön, wunderbar schön, man konnte die schmerzenden Glieder recken und strecken. Und man konnte schlafen, nach Herzenslust schlafen, ganz tief, ohne immer zu lauschen: ist das deutsch
- 66 -
oder russisch da draußen? Machten die Räder tak-tak oder nicht? Und
wenn der Zug fuhr: geht es nach Westen oder ...
Schlafen in weißer Wäsche - welch eine Atmosphäre von Ruhe
und Geborgenheit. Am Nachmittag wurde ich in den Operationssaal gebracht. Das
Röntgenbild ergab: drei Splitter, etwa in der Mitte des Körpers. "Im
Moment wollen wir sie nicht heraus holen", sagte der Arzt, "warten wir
bis Sie wieder bei Kräften sind. Aber wir müssen Blut aus der Lunge
abzapfen, jetzt gleich."
Ein Sanitäter kam: "Kann ich anfangen?" fragte er. "Natürlich, man immer los."
Nach einer Weile: "Herr Doktor, soll ich aufhören? Ich habe
dreiviertel Liter." "Nein, noch etwas mehr."
Der Sanitäter arbeitete weiter und weiter. "Mann, hören Sie
bloß auf, Sie haben ja schon anderthalb Liter. Wir sind hier doch
nicht auf dem Schlachthof!" - Mir war aber erheblich leichter geworden.
Schwester Elsa kam mit dem Abendbrot. Viel zu wenig! Sie gaben mir nicht mehr, ich sollte mich erst allmählich wieder an das Essen gewöhnen.
"Schwester Elsa, wie lange muß ich denn hier bleiben?" "Na,
Sie sind mir der Richtige! Keine zehn Stunden sind Sie hier und da
wollen Sie schon wieder weg? Das geht nicht los!"
"Ich will ja gar nicht so schnell weg, mir gefällt es ausgezeichnet bei euch. Nur Eines möchte ich gerne wissen: wir sind doch
hier am Schwarzen Meer, gibt es nicht Lazarettschiffe, die die Donau
hochfahren über Budapest, Wien, bis Regensburg vielleicht? Solch eine
Fahrt wäre doch wunderhübsch, wenn es mir ein bißchen besser geht."
Schwester Elsa lächelte: "Sicher, das wäre sehr hübsch, aber
so etwas gibt es leider nicht, da muß ich Sie enttäuschen."
Um eine Hoffnung ärmer schlief ich trotzdem wunderbar, tief
und traumlos.
Am nächsten Morgen wurde ich schon sehr früh wach: "Schwester Elsa, was ist das für ein Gelaufe da draußen?"
"Wir räumen." - "Was? Räumen?"
"Die Russen sind nicht mehr sehr weit und besser ist besser."
"Schon wieder die verdammten Russen" Soll ich vor denen denn
nie Ruhe haben? Wann komme ich dran, Schwester?"
"Das weiß ich nicht, ich werde aber auf der Liste nachsehen." Fort war sie. - Stunde um Stunde verging, draußen wollte das
Packen und Rumoren kein Ende nehmen. Endlich, um die Mittagszeit kam
Schwester Elsa wieder, blieb zögernd in der Tür stehen: "Sie sind
nicht auf der Liste, Herr Oberleutnant", sagte sie kleinlaut.
"Was, nicht auf der Liste", ich konnte vor Aufregung kaum
sprechen. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich sofort aufgesprungen, aber
- "Ich möchte sofort den leitenden Arzt sprechen, hören Sie,
Schwester, sofort!" Sie verschwand. Ich wartete und wartete.
Erst gegen Abend erschien ein Arzt. "Sie wollten mich sprechen?", fragte er höflich.
"Bitte, Herr Doktor, wann werde ich abtransportiert?" "Das
kann ich Ihnen im Moment noch nicht sagen. Für einen Lazarettzug kommen Sie nicht in Frage, Sie vertragen keine Erschütterungen. Wir wol- 67 -
len versuchen, noch ein Flugzeug zu bekommen, aber bisher haben wir
keine Zusage." Damit war er auch schon zur Tür hinaus.
Ich konnte ihm nicht mehr sagen, daß ich fünf Tage im Güterwagen gelegen hatte und es vertragen hatte. Warum sollte ich nun eine
Fahrt im Lazarettzug nicht aushalten können? - Ich verbrachte eine
schlaflose Nacht, grübelte hin und her ...
Morgens, ziemlichfrüh kam Schwester Elsa mit Sanitätern.
"Das Flugzeug steht bereit", sagte sie. Hätte ich das große Los gewonnen, ich wäre lange nicht so glücklich gewesen wie über diese vier
Worte.
Auf dem Flugplatz stand eine alte Ju52, ein Frachter. Wir
wurden mitsamt den Bahren hineingeschoben, drei nebeneinander, in vier
Reihen. Ich bat, ganz vorne an der Kanzel abgestellt zu werden.
"Wohin bringen Sie uns?", fragte ich den Piloten. "Nach Lemberg". "Wozu brauchen wir die beiden MG's, die Sie hier drin haben?"
"Tja," meinte er etwas gedehnt, "Manchmal treiben sich hier russische
Jäger herum." "Aber gegen die richten Sie doch mit den beiden kleinen
Dingern nichts aus." "Stimmt schon, aber es beruhigt doch etwas." Beruhigt, dachte ich, hmm, na ja, ...
Die Motoren heulten auf, langsam und bedächtig erhob sich
die gute alte Tante Ju, machte eine Schleife und zog davon.
Der Sitz des Kopiloten war leer, er hypnotisierte mich geradezu. "Fünf Stunden Flug", lockte er, "wie schön es sich hier sitzt. und die Aussicht!"
Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, rührte ein Bein
... es ging ... das andere... Die Füße waren auf dem Boden, die Hände
auch ... nur zwei Schritte ... auf allen Vieren, ganz langsam ...
jetzt konnte ich ihn schon fassen ... jetzt war ich neben ihm ... eine
letzte Anstrengung und ich saß tief eingebettet in dem bequemen Sessel.
"Warum bringen Sie uns nach Lemberg", fragte ich den Piloten. Ich habe gehört, da sind die Russen auch nicht mehr sehr weit
weg. Wäre es nicht besser, nach Bukarest oder Belgrad zu fliegen?"
"Oh nein," meinte er, das kommt nicht in Frage, der ganze
Balkan ist schon sehr unruhig. Sie wissen, mit dem Krieg steht es sehr
schlecht. Wir haben doch überhaupt keine zusammenhängende Front mehr
hier im Osten. In Lemberg sind Sie ganz gut aufgehoben, von da geht
wenigstens noch eine Eisenbahn bis in's Reich."
"Was hält man bei der Luftwaffe von den Wunderwaffen?" wollte ich wissen.
"Wenn sie nicht bald kommen, kommen sie zu spät. Und außerdem sagt man bei uns, sie wären im Osten nicht zu gebrauchen, da sollen umfangreiche Abschußbasen nötig sein und die Vorbereitung soll
sehr lange dauern."
"Und die technische Entwicklung ist offenbar auch noch nicht
beendet," sagte ich, es wäre das erste Mal, daß ein praktisch schon
verlorener Krieg durch eine Waffe noch gewonnen würde."
"Ja, ich glaube auch nicht mehr an einen radikalen Umschwung", beendete er das Gespräch. Ich sah hinaus. Der Flug über des
Karpatenmassiv bei strahlend schönem Wetter war ein einzigartiges Erlebnis. Und zu unserem Glück hatten die russischen Jäger an dem Tage
andere Ziele.
In Lemberg wurden wir erwartet. Zwei Sanitäter hoben mich
aus meinem Sessel heraus. Wir kamen in's Lazarett. Erneute Untersu- 68 -
chung: "Drei Splitter, ja, die stecken aber verdammt tief drin", sagte
der Arzt, "das gibt eine größere Operation, die verschieben wir besser
noch etwas."
Dann schrieb ich an Mau und berichtete kurz von meiner Verwundung und lang und breit von dem herrlichen Flug über die Karpaten.
Drei Tage war ich in Lemberg, dann war es wieder soweit: die
Russen ante portas! Eiligst wurde das Lazarett geräumt. Ein Lazarettzug - elegant, luxuriös, vom Krieg noch unberührt - brachte uns fort.
Richtung Breslau.
Ich war den Russen endgültig entwischt. Verdammt noch mal,
es hatte aber viele Male auf des Messers Schneide gestanden. Ich war
mit meinem Schutzengel sehr zufrieden, als ich so gemütlich durch
Schlesien schaukelte.
Hinter Breslau, in sicherer Entfernung von den Russen, fing
ich an zu überlegen: wohin fahren sie uns wohl? Vielleicht nach Königsberg? Das wäre schön, aber wohl doch zu schön, um wahr zu sein.
Nein, der Lokführer erwischte die falsche Weiche, er fuhr in Müncheberg links statt rechts und wir kamen nach Berlin.
Kurzer Aufenthalt. Weiter. "Hannover" schrie jemand auf dem
Bahnsteig. Weiter ging es Stunde um Stunde ...
Erneut halt! "Herr Oberleutnant, wollen Sie ein Glas Dortmunder, frisch vom Faß?", kam ein Sanitäter. "Aber ja, ein ganz großes
und für Sie auch eins." Köstlich kühl und frisch, wie lange hatte ich
kein Dortmunder mehr an Ort und Stelle verlötet! Wieder ruckte die Lok an, quietschend zwängten sich die Räder durch viele Kurven, rack-rack ging es über unzählige Weichen - das
Ruhrgebiet.
Wo wollten die denn bloß mit uns hin? Anscheinend irgendwo
an's Ende der Welt! Sollten wir da vielleicht die berühmten Bretter
neu pinseln?
Dann war das Ziel doch erreicht, Bocholt an der holländischen Grenze. Wir wurden ausgeladen, mit Autos ging es in das liebliche Städtchen Rhede.
Wir waren im Kloster untergebracht, im Hilfslazarett Sankt
Gudula, und wurden sehr herzlich aufgenommen. Mittlerweile ging es mir
schon wieder ganz gut. Ich hatte ewigen Krieg mit den Sanitätern,
schließlich wurde ich erster Sieger: sie ließen mich aus dem Bett.
Für meine erwachten Lebensgeister war da viel zu wenig los.
In dem friedlichem Winkel sagten sich die Füchse gute Nacht, aber wir
konnten sie dabei nicht mal belauschen. Die gestrenge Hausordnung gebot, daß wir um acht Uhr im Bett zu sein hatten. Bald entdeckten wir
ein Hintertürchen, durch das wir still und heimlich entweichen konnten. Wir fuhren ungeniert nach Bocholt.
Als Genesende waren wir natürlich noch sehr anlehnungsbedürftig und darauf bedacht, uns eine Stütze - für den rechten Arm,
versteht sich - anzuschaffen. Es lief sich soviel besser und war entschieden auch sehr viel unterhaltsamer.
Nach acht Tagen stach mich bereits der Hafer und außerdem
konnte ich den Lokführer nicht vergessen, der in Müncheberg nicht hatte links und rechts unterscheiden können. "Herr Doktor", sagte ich bei der Visite, "ich bin über ein
Jahr nicht in Urlaub gewesen. Meine kleine Tochter [Helgard] ist fünf
Monate alt und ich habe sie noch gar nicht gesehen. Meinen Sie nicht
- 69 -
auch, daß meine Wunden in Königsberg eben so gut wie in Rhede heilen
würden?"
"Natürlich, aber ich kann Ihnen leider nicht dazu verhelfen.
Offiziere mit Fronterfahrung sind zur weiteren Genesung an ihren Ersatztruppenteil zu überweisen und das ist in Ihrem Falle nicht Königsberg Pr., sonder Schwäbisch-Gmünd in Württemberg. Tut mir leid. Führerbefehl!"
"Herr Doktor, seien Sie kein Unmensch", bettelte ich. "Ich
kann wirklich nicht." Damit mußte ich mich zufrieden geben, ich hatte aber das Gefühl, er hätte mir gerne geholfen, er konnte es nur nicht. Einige Tage
später kam er verschmitzt lächelnd an: "Kennen Sie in Königsberg einen
Arzt, der ein Lazarett unter sich hat und für Sie einen kleinen Dreh
machen würde?"
"Ja, mehr als einen, Herr Doktor. Schießen Sie los!" "Wie
wäre es, wenn Sie über Ostern [1944] zum Wochenend-Urlaub nach Königsberg fahren würden? Wochenend-Urlaub kann ich Ihnen geben, zwar nur
für 150 km, aber zu Ostern kann's schon mal ein bißchen weiter sein,
nicht war?"
"Hurra!", schrie ich vor Begeisterung, " in drei Tagen, am
Gründonnerstag, kann ich also fahren?"
"Ja, und ich werde Ihnen die Fahrkarte selber besorgen, damit Sie da keine Schwierigkeiten haben", sagte der gute Doktor und
verschwand.
So fuhr ich Donnerstag mittag von Bocholt ab, endlich Richtung Königsberg. Mau bekam von Berlin ein Telegramm. Sonntag früh erst
kam ich zu zuhause an.
Am Montag ging ich, leicht beklemmt in's Lazarett zu meinem
Freund Oberfeldarzt D. "So so, auf Sonntagsrückfahrkarte von Bocholt
bis hierher, Du alter Gauner. Und jetzt soll ich Dich für so krank erklären, daß Du nicht zurück kannst?" Er untersuchte mich. "Ja, die
Splitter, die hast Du ja immer noch drin. Die sind aber schon ganz
schön eingewachsen. Weißt Du, die holen wir jetzt nicht mehr heraus.
Vorschlag zu Güte: Du kommst erstmal für drei Wochen in ambulante Behandlung in's Lazarett Yorkstraße, verstanden?"
"Jawohl, Herr Oberfeldarzt", lachte ich.
Wieder lag ich mit Mau in Georgenswalde am Strand. Da kam am
6.6.44 die Nachricht von der Landung der Amerikaner und Engländer an
der französischen Küste. Ihr Brückenkopf wurde größer und größer und
damit war eine zweite Front entstanden.
"Mau", sagte ich, "jetzt ist alles verloren. Wir hatten
nicht genug Menschen und Material, um uns der Russen zu erwehren.
Jetzt greifen beim Gegner viele Millionen neuer Soldaten in den Krieg
ein. An die Wunderwaffen glaube ich nicht, es wäre auch bereits zu
spät. Das Gescheiteste wäre, Schluß zu machen mit dem ganzen Krieg.
Wir für unseren Teil müssen nun ernsthaft unsere Vorbereitungen treffen."
"Wir werden eine Reihe Ausweichadressen festlegen", meinte
Mau, "schließlich haben wir genug Verwandte und Freunde im Westen. Am
besten schicken wir jetzt schon einen Teil von unserem Zeug dorthin
und außerdem wissen wir dann wenigstens, wo wir uns wiederfinden können."
- 70 -
"Ja, ist gut", sagte ich, "aber bleibe nicht zu lange mit
den Kindern hier, zu leicht kann der Russe ganz Ostpreußen abschneiden, große Umzingelungsschlachten macht er nun mal gerne."
Meine Verwundung heilte langsam aus und eines Tages war es
soweit, daß ich zu meinem Ersatztruppenteil nach Schwäbisch-Gmünd auf
die Reise geschickt werden konnte.
Rekruten drillen - Papierkrieg - Nichts für mich!
Der Adjutant kam: "Hätten Sie Lust, auf die Pionierschule zu
gehen? Berlin-Karlshorst. Wir müssen einen Offizier zum Festungsbau
abstellen."
"Mit dem größten Vergnügen!" Und schon drei Tage später fuhr
ich nach Karlhorst.
Man sagte, der alte Fritz hätte die Pionierschule gegründet
und den Eindruck machte sie auch: übrig geblieben aus dem Siebenjährigem Krieg.
Alte Herren - mit viel Lametta aus dem ersten Weltkrieg dozierten: "Die Kunst des Erbauers ist es, möglichst wenig davon den
Feind sehen zu lassen". - Verflucht noch mal, ist die Bank aber eng,
auf Sexta in der Burgschule waren sie größer - "Dazu muß er ..." - ob
man hier wohl Papierkugeln schmeißen kann, wie auf der Sexta - "sich
künstlicher Schirme bedienen, die man einfachhalber ..." - was sagte
die blonde Inge gestern: ohne Männer ist das Leben langweilig, ob ich
sie heute abend mal anrufe, "einfachhalber" - ach ja, einfachhalber
könnte ich ja auch gleich hingehen. Nein, die Sextaner wollten nicht mehr. Es war sinnlos, alten, beschossenen Fronthasen etwas zu predigen, was sie in der Praxis
gelernt hatten und zwar zehnmal besser gelernt hatten als ein noch so
gelehrtes Haus es ihnen vortragen konnte.
Der ganze Spuk dauerte nur kurze Zeit, bis zum Juli-Putsch.
Die Schule flog auf und ich sah mich ziemlich plötzlich und unerwartet
in der Nähe von Lomza wieder.
Adieu, Inge, es war zu schnell gegangen, ich hatte mich
nicht einmal mehr verabschieden können. Du wirst Dich mit einem anderen trösten und ich, ich liege bereits wieder im heißgeliebten russisch-polnischen Dreck.
Kapitel X
Die Partei macht es besser - Panzer stören den Frieden - Panzersperren
für Berlin
Bei Lomza arbeitete die Partei fieberhaft am Ausbau neuer
Stellungen. Ich wurde äußerst mißtrauisch empfangen: "Die Wehrmacht
hat den Krieg verloren, jetzt wird die Partei ihn gewinnen. Wir wollen
mit Ihnen nichts zu tun haben, wir wünschen auch keine Ratschläge. Der
Gauleiter hat das uneinnehmbare Stellungssystem erfunden und das bauen
wir. Jawohl, das bauen wir und Sie haben damit nichts zu tun." - Ich
war persona non grata. Das "neu erfundene" Stellungssystem unterschied sich in
nichts von dem, was jeder Landser draußen schon seit vier Jahren täglich praktizierte. Nur fehlte den Parteigewaltigen die praktische Erfahrung in der Geländenutzung, sie machten gewaltige Fehler. Sie waren
zwar hundertfünfzigprozentig von sich überzeugt, aber das Ergebnis war
bestenfalls mittelprächtig. Ich konnte nichts dagegen machen, Kritik
- 71 -
war nicht erwünscht. Sie behandelten mich, als ob ich nur daran interessiert wäre, den Krieg endgültig zu verlieren.
So verbummelte ich meine Zeit mit Nichtstun, fuhr auch mal
nach Ostrolenka, sah mir dort die Stellungen an, fand keinerlei Gegenliebe und fuhr wieder zurück nach Lomza.
Da kam ein Brief von Mau: Otto und Christine sind ganz in
der Nähe von Lomza, kannst Du sie nicht mal besuchen? [Diese Verwandten verwalteten ein polnisches Gut]
Das kann man tun, dachte ich und fuhr los.
Otto, der sonst immer vor Vergnügtheit und Schabernack überschäumte, empfing mich reichlich bedrückt.
"Nanu, Otto, was hast Du denn? Warum läßt Du die Nase hängen? Du lebst doch wie die Made im Speck."
"Komm mit, ich werde Dir den Speck zeigen und auch die Löcher, die die Maden da hineingebohrt haben," sagte er so ernst, daß
ich erschrak. Er schritt voran in's Haus, wir stiegen die Treppe hinauf.
"Sieh Dir das an, Hans!" Und er zeigte auf eine schwere Tür,
die mit Schußlöchern übersät war. "Kannst sie zählen, es sind sechsunddreißig, genau sechsunddreißig Löcher, keines mehr und keines weniger."
Eine Zimmertür mitten im Haus voller Durchschüsse, die Wand
gegenüber hatte auch eine Unzahl Einschläge.
"Ja," meinte Otto und da kam der alte Schalk doch wieder zu
Vorschein, "ein paar späte Besucher kamen neulich um Mitternacht und
da haben wir Pistolenschießen geübt. Sie von unten, ich von oben."
"Mensch Otto, mach keine Witze. Wo ist Christine?" "Zuhause,
in Raudensee, ich habe sie weg gebracht," sagte Otto nun schon wieder
ganz ernst.
Wir setzten uns zusammen. "Zu Trinken habe ich nicht mehr",
sagte er trocken, "also die Sache war so:
Wir, Christine und ich lagen im Bett, plötzlich weckte sie
mich: Du, da unten sind Stimmen ... und schon flog ein Stein in die
Fensterscheibe unseres Schlafzimmers. Schwere Schläge krachten von unten durch das Fenster gegen die Zimmerdecke. Kalk und Mörtel kamen in
Stücken herunter."
"Waren das Partisanen?", wollte ich wissen.
"Ja ja, so nannten sich die Räuber, klingt auch besser,
weißt Du, und so an die hundert Mann.
Na ja, es gab einen Moment Ruhe und eine Stimme ertönte in
gebrochenem Deutsch: Ergeben oder schießen tot! - Ich gab keine Antwort. Da prasselten die ersten Schläge gegen die Schlafzimmertür. Die
hielt stand, ich hatte sie wohlweislich verstärken lassen, als wir
hier einzogen.
Von draußen wurde geschossen, ich schoss zurück. Die Schießerei ging hin und her, für uns wurde die Situation bald kritisch. Ich
hatte keine Munition mehr.
Die Partisanen forderten mich erneut zur Übergabe auf. Ergeben - oder Handgranaten durch's Fenster, drohten sie. Kaum hatten sie
die Drohung ausgesprochen, als draußen ein großes Heulen und Wehklagen
losging. Die Frauen aus dem Dorf warfen sich den Partisanen zu Füßen
und baten: Aber die Frau, die Frau ist mit drin! Und umständlich erklärten sie den Partisanen: die Frau ist immer so gut gewesen, sie hat
uns immer geholfen, wenn einer krank war."
- 72 -
Otto unterbrach sich: "Du weißt, Christine ist ausgebildete
Rotkreuzschwester, sie hat hier immer Arzt und Hebamme in einer Person
gemacht." Dann fuhr er fort. "Die Partisanen waren verdutzt und berieten. Wir hörten ja alles durch die Tür mit. Die Männer aus dem Dorf
waren mittlerweile auch dazu gekommen, sie mischten sich nicht ein,
aber die Weiber, die jammerten immer noch: die Frau ist drin, die Frau
ist drin! Die Partisanen hielten es doch für besser, erneut zu verhandeln."
"Da hast Du ja hier eine regelrechte Belagerung gehabt, Otto, wie ist denn das nun weiter gegangen?"
"Die Partisanen erklärten mir durch die Tür, sie würden alles an Lebensmitteln und Kleidung mitnehmen, aber uns beide in Ruhe
lassen. Ich hatte keine Munition mehr. Also öffnete ich die Tür und
der Partisanenführer, ein Student, der ganz gut deutsch konnte, kam
herein, hinter ihm ein Haufen anderer Kerle."
"Stärk' Dich, Otto", ich hielt ihm die Feldflasche hin. "Sie
stellten mich an die Wand und ich mußte die Hände hochnehmen. Ein Posten bewachte mich. Christine, meine immer so korrekte Christine, saß
nur mit Schlüpfer und BH bekleidet, auf dem Bett und heulte jämmerlich.
Der Partisanenführer sah unschlüssig von einem zum anderen.
Die weinende Frau, für die seine eigenen Landsleute so eingetreten waren, tat ihm leid. "Nicht weinen, Frau", sagte er und setzte sich zu
Christine auf's Bett und legte tröstend den Arm um sie, "Du gut zu Polen, wir Dir nichts tun." Christine heulte natürlich unentwegt weiter,
der Mann sah sich ratlos um. Seine Leute zuckten die Schultern. "Du
alles behalten, was Deine Sachen", meinte er schließlich und trocknete
ihr die Tränen ab.
Weißt Du, Hans, das war ein Bild! Wenn die Situation nicht
so verteufelt ernst gewesen wäre, hätte ich sie komisch gefunden. Es
endete damit, daß Christine mit dem Partisanenführer durch's ganze
Haus wanderte, die Partisanen die geschnürten Bündel wieder aufmachten
und Christine ihre persönlichen Sachen wieder heraussammelte. Mein
Zeug haben sie restlos mitgenommen, ich mußte mir im Dorf was zusammenpumpen."
"Da hast Du Deinen Teil vom Krieg aber auch abbekommen",
sagte ich nachdenklich.
"Und ohne Christine wäre es mein letzter Teil gewesen", ergänzte er.
"Daß Du sie weggebracht hast, war das einzig Richtige, aber
Du solltest auch selber sehen, daß Du hier bald weg kommst," riet ich
ihm.
"Du meinst, die neuen Stellungen werden die Russen auch
nicht aufhalten?", fragte Otto.
"Kaum. Sieh' mal, vor sieben Monaten lag ich am Dnjepr, am
Unterlauf, da hatten wir auch solche Gräben und obendrein noch drei
Kilometer Wasser davor - die ganze Flußbreite - und die Russen kamen
trotzdem fast mühelos herüber. Glaubst Du, ein Graben von sechzig Zentimeter Breite wird sie hier aufhalten?"
"Eigentlich, nein, aber man hofft doch immer noch ..."
"Ja, natürlich, aber wenn man sich das richtig überlegt, muß
man doch zugeben, daß es mit dem Krieg sehr, sehr übel aussieht."
Wir trennten uns, ich konnte nicht so lange wegbleiben und
wollte nun erst recht nicht mehr des Nachts unterwegs sein. - 73 -
In Lomza suchte ich mir einen Zeitvertreib. Irgendwo trieb
ich ein paar Radioteile auf und baute mir damit einen Einröhrenempfänger zusammen, hübsch, klein, handlich mit Kopfhörer. Das war insofern
sehr praktisch, als man damit auch ausländische Sender gefahrlos abhören konnte. Unsere Wehrmachtsberichte gingen schwer nach, die Meldungen von BBC London um ebenso viel vor, nahm man die Mitte, so kam man
der Wahrheit ziemlich nahe. Für die Berichterstattung im Kriege galt
eben immer noch das alte Wort: Es wird nie mehr gelogen, als vor der
Wahl, während des Krieges und nach der Jagd.
Als ich gerade nach einer weiteren für mich irgendwie nutzbringenden Beschäftigung umsah, kam mein Versetzungsbefehl nach Sternberg.
Sternberg, was ist das für'n Lausenest, dachte ich, muß doch
da wo bei Berlin liegen. Zum Stab des Pionierführers I, stand im Befehl. Ich rekapitulierte: damals der Süd unterstand dem Ost und der
dem Eins. Muß also ein verdammt hohes Tier sein. Ich schnürte mein Bündel und fuhr nach Berlin, die dirigierten mich nach Sternberg weiter, da lag der hohe Stab.
Einer der höchsten Stäbe der Wehrmacht. Eine schauerlich
verstaubte Angelegenheit. Alles piekfein, vornehm, steif - alles hyperkorrekt. Ein fehlender I-Punkt brachte die Schreibstube in größere
Aufregung als eine verlorenen Schlacht draußen.
Ein Hauptmann und ich waren die Einzigen, die von der Front
kommend, dahin versetzt waren. Wir konnten uns alle beide gar nicht
hereinfinden. Etikette hatte es an der Front keine gegeben und Herr
General hier und Herr General da, auch nicht.
Alles erstarrte vor Achtung und Ehrerbietung, wenn der General nur in die Nähe kam. Nur mein Leidensgenosse, der Hauptmann flüsterte mir mal hinter vorgehaltener Hand höchst respektlos zu: "Achtung, der Vorgartenzwerg kommt".
Abends, nach dem Essen zog der ganze Verein mit General an
der Spitze, streng nach Rangordnung, in den Salon. Der General hielt
Cercle, alles mußte ehrfurchtsvoll um ihn herum sitzen, er redete und
niemand durfte sich rühren.
Der bewußte Hauptmann und ich setzten uns einmal etwas abseits, um etwas zu besprechen. Schon erhob sich der Kleine zu seiner
ganzen Größe und hauchte uns an: "Wenn Sie, meine beiden Herren da,
sich schon absondern, dann seien Sie wenigstens ruhig und stören Sie
nicht die Unterhaltung". - Wir waren in Ungnade gefallen. Wenige Tage später kam ich fünf Minuten zu spät zum Essen,
ich entschuldigte mich zwar höflich, daß ich eine Panne mit dem Wagen
gehabt hätte, aber ... mein Maß war voll.
Am nächsten Tag wurde ich in den Außendienst versetzt. Ich
atmete auf. - Er hatte mich soweit weggeschickt, wie er nur konnte:
Unruhstadt. Da war wenigstens frische Luft, ich war wieder draußen bei
der Buddelei.
Dasselbe Bild wie in Lomza. Nur waren die Schipper hier Berliner und die Bewohner der kleinen Nester drumherum, sie schaufelten
mit wahrer Aufopferung, die Männer gaben ihr Bestes.
Die Obermacher, genau wie in Lomza, alles nur Partei. Der
Oberste, ein Organist aus einem kleinen Städtchen der Umgebung, empfing mich sehr herablassend. Aha, dachte ich, die Wehrmacht hat den
Krieg verloren, die Partei wird ihn gewinnen, genau wie in Lomza. Die
Masche kenne ich ...
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"Sie sind mir als militärischer Berater zugeteilt. Wenn ich
Ihren Rat haben will, werde ich Sie rufen lassen", erklärte er mir von
oben herab. Damit storzelte er davon. Der kleine Dicke war aber gut
durch den Kriegswinter gekommen. Der Schipper, neben dem ich gerade
stand, sah meinen abschätzenden Blick: "Das ist die Sorte: Genieße den
Krieg, der Frieden wird fürchterlich, meinen Sie nicht auch, Herr
Oberleutnant?" - Na, wenn das kein Berliner war! Der Adjutant, des Dicken kam und wies mir mein Zimmer an.
Durchaus passable und bewohnbar, stellte ich fast erstaunt fest. "Der Oberführer wohnt auch hier gleich nebenan", bemerkte er wie zufällig.
Abends, ich wollte eben in's Bett verschwinden, hörte ich im
Nebenzimmer Geschnaufe und Gestöhne. Nanu, dachte ich, macht der da
Wege zu Kraft und Schönheit oder übt er etwa Robben und Anschleichen,
um nachher recht viele Iwans fangen zu können?
Dann Klopfen an der Wand: "Herr Oberleutnant, wuchten Sie
mal an der Tür, ich kriege den Schrank nicht weg", ertönte es gedämpft.
Ich stand auf, schob die Schulter gegen die Verbindungstür,
Hau-Ruck und nochmals Hau-Ruck und durch die Ritze lugte mein kleiner
Dicker. "Ach bitte, Herr Oberleutnant, entschuldigen Sie, ich hätte
gern noch mit Ihnen gesprochen."
Na, denn man los. Ich klemmte mich hindurch. Er bot mir eine
anständige Zigarre an und ich war sehr gespannt, was er denn so Geheimnisvolles vor hatte, daß ich nicht den erheblich bequemeren Anmarschweg durch den Hausflur hatte nehmen können.
"Sie dürfen mich nicht falsch verstehen, Herr Oberleutnant,"
begann er ziemlich verlegen, "wir arbeiten in der Partei mit viel Propaganda. Sie wissen ja: die Wehrmacht hat den Krieg verloren, ist die
Parole, und jetzt steht die Partei auf wie ein Mann und wird den Feind
aus dem Lande hinausjagen."
Er wartete auf eine Antwort und da ich ihn nur schweigend
ansah, fuhr er fort. "Wir müssen die Leute mit Propaganda füttern, um
sie an die Arbeit zu bringen. Man muß dem Volk noch eine Hoffnung lassen, finden Sie nicht auch?"
Erneutes Schweigen meinerseits. Hoffnung???
Wir versprechen uns viel von der Wirkung dieser Propaganda
und Sie müssen es mir nicht übelnehmen, wenn ich Sie tagsüber wie Luft
behandle. Ich kann nicht anders", entschuldigte er sich.
"Hm, das verstehe ich schon und es geht ja letztenends auch
nur um die Sache und nicht um die Person", bemerkte ich.
"Ja, kommen wir zur Sache", nahm er den Faden beglückt auf,
"hier sind die Karten von der Umgebung von Unruhstadt. Was halten Sie
von den Arbeiten? Sind sie militärisch und technisch richtig?"
"Nur teilweise", war meine lakonische Antwort.
"Bitte, machen Sie mich nur auf alles aufmerksam, man hat
mir gesagt, Sie hätten fünf Jahre an der front gestanden."
"Na, das ist ein bißchen übertrieben, die ganze Zeit bin ich
nicht draußen gewesen", wehrte ich ab.
Es endete damit, daß wir alle Fragen gründlich durchsprachen
und er am Schluß bat, diese nächtliche Konferenz zur ständigen Einrichtung werden zu lassen.
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Am Tage kannten wir uns kaum. Er stakte durch die Felder,
ich desgleichen, jeder für sich allein. Was mir auffiel, erklärte ich
ihm abends und am nächsten Tag ließ er es ändern.
Unsere Zusammenarbeit klappte so gut, daß bei einer Besichtigung unser Abschnitt vollkommen aus dem üblichen Rahmen herausfiel.
Drei Tage danach wurde ich zum Höheren-Landes-Bau-PionierFührer nach Meseritz versetzt. Wieder einmal hatte ich eine Versetzung
in der Tasche. Ja, meditierte ich, die wievielte Versetzung war das
nun eigentlich? Ich fing an, an den Fingern abzuzählen ... acht ...
neun ... zehn ..., , die Schuhe wollte ich nicht auch noch ausziehen,
da gab ich es lieber auf.
Mal war es bergauf gegangen, mal war ich die Leiter wieder
heruntergepurzelt. Also, auf zum neuen Stab. Der Titel klang ja ziemlich pompös. Hoffentlich ist das nicht wieder so'n Marionettenklub wie
in Sternberg, dachte ich noch und ging mit leisem Zögern hinein.
Der Stab mit dem langen Namen erwies sich als ganz manierlich, durchaus auf dem Boden der Tatsachen stehend. Ein Oberst, ein
Oberstleutnant, ein Major und noch etwas Kleingemüse wie ich. Die Arbeit war ganz interessant. Damals schufteten an die
hunderttausend Mann im Raume Kreuz-Unruhstadt-Guben-Küstrin, um ein
Gewirr von Gräben, Stollen, Panzerhindernissen etc. anzulegen. Die
Erdbewegung war enorm, fünf Monate hatte es gedauert, bis alles fertig
war. Leider war all die Arbeit umsonst vertan: im entscheidenden Augenblick stand nicht ein Soldat in einem der vielen hunderttausend
Schützenlöchern, um die Anlage zu verteidigen.
An einem Sonntag gegen Ende Januar 45 hatten wir kurz nach
dem Mittagessen eine Besprechung. Der Oberstleutnant als Vertreter des
Kommandeurs - der Oberst war von einer Dienstreise nach Berlin immer
noch nicht zurück, er war schon zehn Tage weg - dozierte über die militärische Lage: "Der Kampf wogt um Posen, das noch gehalten wird. Die
Russen sind also noch gut hundert Kilometer entfernt. Irgend welche
Maßnahmen brauchen daher vorläufig nicht ergriffen zu werden. Mit dem
Auftauchen einzelner Spähtrupps muß in etwa acht bis zehn Tagen gerechnet werden."
"Und nun, meine Herren, wollen wir uns den Nachmittag recht
gemütlich machen, ich schlage eine Partie Doppelkopf vor."
Na schön, ich spielte die erste Runde mit, dann schied ich
aus, da wir zu sechs Mann waren.
"Hören Sie mal, Oberleutnant Selb", wandte sich der Oberstleutnant zu mir, "nehmen Sie den DKW und fahren Sie die Straße nach
Züllichau runter. Seit drei Tagen ist die Telefonverbindung unterbrochen, da muß irgend ein Hammel einen Mast von der Leitung umgefahren
haben."
Ich holte den Karren aus der Garage, tankte und fuhr los.
Kaum fünfhundert Meter war ich gefahren - und noch zwischen den letzten Häusern von Meseritz - da sah ich - das konnte doch gar nicht
sein, das Dorf vor mir in zwei Kilometer Entfernung - ich traute meinen Augen nicht - ein Flammenmeer. Komisch, dachte ich, und die Feuerwehr weiß von nichts, warum ist die nicht alarmiert?
Was ist da nur los? Blitzschlag kann's nicht sein, mitten im
Winter. Sabotage-Akt auch nicht, was gäb's da schon zu sabotieren? Racheakt? Ist ja auch Unsinn ...
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Da sah ich ein paar Radfahrer in wilder Hast heranpreschen.
Sie winkten mir schon von weitem aufgeregt zu, ich sollte anhalten.
Dann kamen sie heran.
"Russische Panzer, Herr Oberleutnant, um Himmelswillen fahren Sie nicht weiter." "Unmöglich!" "Doch, Herr Oberleutnant, russische Panzer, wir haben sie selber gesehen." "Wie viele?" "Viele, mindestens ein Dutzend, es können auch mehr sein."
Zurück in die Stadt. Die Treppe zum Kasino hinaufgestürmt,
die Tür aufgerissen.
Ich prallte zurück. Eine Wolke von Tabaksqualm und Bierdunst
schlug mir entgegen, wie im Nebel nur sah ich die Männer am Tisch.
"Hau rin, Koslowski", eine Faust knallte auf die Tischplatte, "Gib ihm
Saures, hier alter Vater hinten".
"Panzer, russische Panzer gleich hier im Dorf X", sagte ich
ziemlich laut aber möglichst ruhig.
"Na, denn Prost Doppelkopf," sagte der Major, "machen Sie
bessere Witze, Selb".
"Nein, es ist wahr, das Dorf brennt", widersprach ich. Der
Oberstleutnant sah mich mitleidig an: "Wer gibt? Ich glaube Sie, Herr
Hauptmann", und schob ihm die Karten hin.
"Herr Oberstleutnant", wiederholte ich," russische Panzer
sind in X, das Dorf brennt."
"Angsthase, wenn eine alte Scheune in Flammen steht, reißen
Sie gleich aus. Lassen Sie uns in Ruhe! Bitte, Herr Hauptmann, ich bekomme die erste Karte. Prost, meine Herren!"
Geschrei auf der Straße. Herr Oberstleutnant horchte, wurde
nervös, stürzte an's Fenster, sah das Volk in panischem Schrecken
flüchten.
"Weg, sofort weg", schrie er, "meinen Chauffeur, meinen Wagen!" Weg war er! Und wir standen da. Der Major behielt die Ruhe: "Sofort die Lkw's beladen. Abfahrt in dreißig Minuten", befahl er, "was dann nicht drauf ist,
bleibt hier. Oberleutnant Selb, Sie bilden die Nachhut und schicken
noch eintreffende Einheiten sofort weiter."
"Jawohl, Herr Major", sagte ich und dachte: ach nee, wer ist
nun der Angsthase?
Die kleine Stadt, soeben - vor zehn Minuten - noch sonntäglich dahindösend, änderte ihr Aussehen in rasendem Tempo. Alles rannte
nachhause, packte in fliegender Hast ein paar Habseligkeiten zusammen
und stürzte davon. Weg - nur weg - jedes Mittel war recht.
Unser sonst so beschaulich-gemütlicher Stab hatte es so mit
der Eile, daß er auf die Sekunde genau abbrauste. Herr Oberstleutnant
mit dem großen Opel war sicherlich schon fünfzig Kilometer voraus,
wahrscheinlich machte er gerade Quartier für uns ...
"Nachfolgende Einheiten orientieren!", lautete mein Befehl.
Hirnverbrannter Blödsinn. Als ob in dem Tohuwabohu noch Einheiten existieren! Sauve qui peut, lautete die Parole und jeder war sich selbst
der Nächste.
In der Stadt herrschte ein fürchterliches Gedränge, die
Straße nach Norden schien noch frei zu sein, alles strömte da hinaus.
Autos der Partei, Motorräder, Pferdewagen, Kinderwagen und unübersehbare Massen zu Fuß, alles durcheinander.
Der Bahnhof wurde von der Menge gestürmt, man arrangierte
drei vier Züge. Bis unter's Dach vollgestopft dampften sie ab. Beim
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dritten Stellwerk eine Detonation, Gleisstücke flogen. Ein Übereifriger hatte das Ausgangsgleis gesprengt. Aus! Kein Entrinnen mehr!
Zwei Stunden nach der ersten Meldung vom Auftauchen der Russenpanzer schlugen bereits die Granaten in der Stadt ein. Vom Bahnhof
her hörte man Gewehrschüsse und MG-Salven peitschen, da kämpfte die
Wache wohl noch. Man hörte Panzer rattern, näher und näher, jetzt waren sie schon im Zentrum der Stadt. Mit den letzten Versprengten schlich ich mich davon. Ein Urlauber sammelte mich auf und nahm mich in seinem Wagen mit. Wir hofften nur, daß der Brennstoff bis über die Oder reichen würde ...
"Sagen Sie mal," begann mein Kamerad, nachdem wir einige Kilometer gefahren waren, "wo kamen die Russen bloß auf einmal her?"
"Ja, so genau weiß ich das natürlich auch nicht", antwortete
ich, wahrscheinlich sind die irgendwo nördlich oder südlich von Posen
losgefahren."
"Wie ist denn das nur möglich, sie müssen doch auf eine
deutsche Front gestoßen sein", meinte er.
"Oh nein, das müssen sie nicht", entgegnete ich, "eine zusammenhängende Front gibt es schon lange nicht mehr. Um die Stadt Posen wird schon ziemlich lange gekämpft, da sind alle Verbände links
und rechts längst weggezogen und mit eingesetzt worden. Die Russenpanzer sind gefahren und gefahren, ohne überhaupt einen deutschen Soldaten zu sehen."
"Na ja, schon möglich, daß das so war, aber heutzutage im
Zeitalter des Rundfunks kann doch nicht einfach ein Haufen russischer
Panzer durch die Gegend rollen, ohne sofort gemeldet zu werden."
"Sehen Sie", sagte ich, "da sind Sie gewaltig im Irrtum. Die
Nachrichtenorganisation funktioniert überhaupt nicht. Wir waren doch
wirklich ein sehr hoher Stab, aber wir hatten kein Funkgerät. Unsere
Befehle gingen alle über das Fräulein vom Amt."
"Was, durch's Telefon?", wunderte sich mein Urlauber.
"Jawohl, durch's Telefon", bestätigte ich. "Und die Telefonverbindung nach Züllichau, die war nun seit drei Tagen gestört, da waren eben schon die Russen drin, unser Stab in Meseritz, ganze fünfunddreißig Kilometer weiter, der wußte nichts davon. Funkamateure gibt es
ja nicht mehr, die hat man immer bekämpft statt sie zu organisieren.
Sie hätten vielleicht mal BBC oder Beromünster abhören können, nicht
wahr?"
"Wissen Sie im Ersten Weltkrieg," erzählte ich ihm, während
wir weiter nach Westen fuhren, "da bekam mein Vater in einer Kleinstadt bei Königsberg Körbe und Körbe mit Brieftauben und mußte die auf
die Dörfer verteilen. So konnten wichtige Meldungen sofort weitergegeben werden und die Führung war über jede Bewegung des Feindes unterrichtet."
"Und im zweiten Weltkrieg können feindliche Panzer tief in's
Land hineinfahren, ohne daß man überhaupt etwas davon weiß, das ist
doch ein Unding", sagte mein Fahrer kopfschüttelnd.
Wir erreichten Frankfurt an der Oder. In der Stadt schwirrten die wildesten Gerüchte. Tatsache war, daß die berühmte Maginotlinie mit 96 versenkbaren elektrischen Panzertürmen - in den Jahren
1920-35 erbaut, zum Schutze gegen einen polnischen Überraschungsangriff auf Berlin - kampflos in russische Hand gefallen war. Sie war
unbesetzt, weil die Truppen, die dort lagen, zehn Tage vorher nach der
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Westfront abgezogen worden waren. Dort kamen sie zu spät, um die Amerikaner aufzuhalten und hier fehlten sie.
Meinen Stab sah ich auch in Frankfurt nicht wieder, ich traf
ihn erst in Berlin am Wannsee, sie hatten ein ausgezeichnetes Quartier
besorgt, aber nicht für mich. Mich schickten sie nach Berlin-Mitte
in's Scherlhaus.
Ich saß nun für's erste mal wieder relativ sicher. Aber was
war aus Mau und den Kindern geworden? Zuletzt waren sie in Pommern,
aus Königsberg waren sie längst weg. Aber nun?
Wenn sie weggekommen sind, müssen sie über Berlin gefahren
sein. Also telefonierte ich alle Bekannten und Verwandten der Reihe
nach durch. Immer: nein ... nein ... nein ...
Fast war ich am Ende meiner Liste angelangt, da in Steglitz:
"Ja, Mau hat gestern angerufen, ist weitergefahren nach Thüringen." Ich hätte die ganze Welt umarmen können. Lustig pfeifend wanderte ich
durch die Straßen, erst die erstaunten Gesichter der anderen bewogen
mich dazu, mich leiser zu freuen. Alles weitere war kein Problem, ich
wußte die beiden Ausweichadressen in Thüringen auswendig. Militärischer Berater bei der Parteidienststelle sollte ich
sein, die war im Scherlhaus untergebracht. Nach einigem Hin und Her
traf ich den Leiter und fragte, was für eine Aufgabe wir hätten. "Das
Zentrum von Berlin zur Verteidigung vorbereiten", erklärte er. Ich muß
wohl ein wenig geistreiches Gesicht gemacht haben, denn er wiederholte: "Das Zentrum Berlins zur Verteidigung vorbereiten!"
"Entschuldigen Sie", sagte ich, "aber das ist doch gar nicht
möglich."
"Aber klar, das ist sogar sehr einfach", belehrte er mich,
"wir bauen in allen Straßen, die nach draußen führen, Panzerhindernisse."
"Und die Straßenbahn", fragte ich, "fährt die oben drüber
oder bekommt die einen Tunnel?" Er sah mich nicht eben freundlich an:
"Na ja, für die müssen wir eine Gasse freilassen." "Und durch diese
hohle Gasse muß sie kommen und der ganze andere Verkehr auch", spottete ich. "Das gibt dann aber schöne Stauungen. Nach einem Luftangriff
kann nicht einmal mehr die Feuerwehr durch!"
"Dann dürfen wir den Durchlaß nicht zu eng machen", meinte
er verärgert.
"Also machen wir die Panzersperre am besten wohl nur auf dem
Bürgersteig", entfuhr es mir. - Das war zuviel, er drehte sich kurz um
und ließ mich stehen.
Verteidigung des Stadtzentrums von Berlin? Was sollte das
für einen Sinn haben? Im Westen gingen die Amerikaner schon über den
Rhein, im Osten standen die Russen diesseits der Oder.
"Herr Oberleutnant, was haben Sie denn mit unserem Alten gemacht", fragte mich die Tippse, eine niedliche Berliner Göre. "Wieso?
Warum denn?" "Na, hören Sie, seitdem Sie drin waren, rennt der herum
mit einem Gesicht wie Casanova bei Gewitter und donnert jeden an!"
"So? Dann hat's wahrscheinlich bei ihm eingeschlagen", antwortete ich
ihr.
Pflichtgemäß setzte ich mich hin und überlegte: Verteidigung
des Stadtzentrums - was kann man da überhaupt an praktischen Vorbereitungen treffen? Ich wußte es nicht. Da es sowieso bald Abend war, verschob ich alle weiteren
Überlegungen erst mal auf den nächsten Tag und sah mich nach einem
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Quartier um. So schnell fand ich keines, also verbrachte ich die Nacht
im Büro. Es war bitter kalt. Am Morgen hatte ich eine Saulaune, ich
hatte kaum geschlafen. Jetzt Dienst machen? Und noch solchen Quatsch
dazu? Die Arbeit kann auch noch ein paar Stunden länger warten, entschied ich und rief einen Studienfreund an. "Hallo, Heinz, ich bin
hier in Berlin und habe keine Bleibe. Kannst Du mir ein Quartier besorgen?" "Quartier? Ein richtiges Quartier nicht, aber in meinem Hotelzimmer in der Friedrichstraße, da ist 'ne Couch drin und wenn Du
damit vorlieb nehmen willst, kannst Du gern das Zimmer mit mir teilen."
"Großartig," sagte ich, "wann kann ich mein Gepäck bringen?
"Jederzeit, ich verständige gleich den Portier."
So ergriff ich mein bescheidenes Bündel und marschierte los.
Ich war kaum hundert Meter gegangen, da heulten die Sirenen los: Fliegeralarm. Na, welche Ecke haben die denn heute vor, dachte ich noch,
als schon die ersten Bomben in der Nähe krachten.
Schnell sprang ich in das nächste Haus, es war in der Friedrichstraße, und kam noch in den Luftschutzkeller hinein.
Draußen ging die Hölle los. Bombe auf Bombe. Das Licht ging
aus. Einschlag auf Einschlag schwerer Kaliber, der Keller schwankte
wie ein Schiff auf hoher See. Ein furchtbarer Schlag und unheimliches
Gepolter hinterher. Kalk uns Staub hüllte uns ein - die Frauen weinten. Das Nachbarhaus war getroffen worden und eine Ecke unseres Kellers auch.
Als alter Frontsoldat ist man ja einiges gewohnt, aber mir
ist ein Trommelfeuer lieber, hier sitz man wie die Maus in der Falle.
- Entwarnung. Ich krabbelte aus dem Keller an's Tageslicht, das Zentrum sah wüst aus, es brannte an vielen Stellen. Das Scherlhaus und
mit ihm meine Dienststelle war durch Volltreffer zerstört. Es war der
schwere Luftangriff vom 2.2.45. Mein Hotel stand noch. -
Kapitel XI
Berlin wird waffenlos verteidigt - Der lange Weg bis zur Trave
Meine Dienststelle existierte nicht mehr, also meldete ich
mich bei meinem Stab zurück. Sie schickten mich nach Pankow, dort, im
Rathaus, saß der Parteistab, der den Raum Oranienburg-PankowWeissensee-Bernau militärisch ausbauen sollte. Die Leute in der Führung waren erfreulich vernünftig, die Zusammenarbeit durchaus gut.
Uns standen etwa zwanzig bis fünfundzwanzigtausend Mann zur
Verfügung, die schaufelten als gälte es hier dem Kriege sein endgültiges Grab zu graben. Zu Anfang hatten wir für unseren Bezirk auch noch
Bewaffnete, nicht gerade reguläre Truppen, aber immerhin Leute mit
Waffen, so an die viertausend Mann. Das war nicht für lange, sie wurden nach und nach abgezogen - in die große Abwehrschlacht an der unteren Oder.
Bald sah es trübe aus mit einer eventuellen Verteidigung unserer Gräben von 150 Kilometer Länge, kaum fünfhundert Mann hatten wir
noch und die setzten sich zusammen aus einer Polizeihundeschule, einer
Brieftaubenstation, Industriepolizei von Borsig und anderen bunt gemischten Truppchen. Und eines Tages wurden auch die noch weggeholt.
"Stellen Sie sich vor", sagte so ein Taubenmann zu mir, "da
müssen wir nun nach Norden, Fundamente bewachen gehn."
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"Wie bitte, ich verstehe Sie nicht ganz?"
"Eigentlich ist es streng geheim, aber nun ist ja doch schon
alles egal. Da in den Wäldern nördlich von Berlin sollte mal 'ne Flugzeugfabrik gebaut werden und das ganze Gelände wurde zur Geheimhaltung
abgesperrt und ständig bewacht. Führerbefehl von wer-weiß-wann, wissen
Sie! Mehr als die Fundamente ist nie fertig geworden und die gucken
nur gerade so aus dem Boden heraus. Jetzt schicken sie die Wache nach
Schwedt in die Schlacht und wir, wir werden hier abgezogen - die letzten Waffen, die überhaupt noch hier sind - und gehen jetzt die Fundamente bewachen."
Ich glaubte ihm die Geschichte nicht so ganz, aber am nächsten Tag kam der Befehl, daß ich noch zweitausend Mann mit Spaten hinterherzuschicken hatte, "zum Ausheben weiterer Fundamente".
Schwarz auf weiß! Ich mußte es glauben! Und der Russe stand
dreißig Kilometer davon entfernt! Diese "neuen Flugzeugwerke" lagen
genau auf der Mitte zwischen uns und der Front.
Immer noch hatten wir etwa zwanzigtausend Mann zum Graben
da, meistens Arbeiter aus Tegel. Aber keine Waffen mehr. - Volkssturmarmbinden hielt ich nicht für einen vollgültigen Ersatz. Täglich versprach man mir Truppen, ich mahnte unaufhörlich.
Die Russen waren nur sechzig Kilometer entfernt. Ich hatte am Dnjepr
und bei Meseritz unbesetzte Stellungen erlebt, die ohne einen Schuß
überrannt wurden ... Was nützt alles Schipp-Schipp-Hurra, wenn nachher
die Waffen fehlen?
Oranienburg ging durch einen Luftangriff in Rauch und Flammen auf. Auch das Warnungssignal fruchtete nichts.
Dann meldete sich der Russe selber an, einige Granaten
schlugen in Heinersdorf ein. Bernau wurde in Brand geschossen.
Am Sonnabend, den 21. April hielt der Volkssturmführer Heerschau ab. Es waren nur noch etwa fünfhundert Mann gekommen. Bewaffnung: 20 Gewehre griechischer Herkunft mit insgesamt 35 Schuß Munition
und 18 Gewehre belgischer Fabrikation mit insgesamt 42 Schuß Munition.
Das 38 Gewehre für eine Frontlinie von 150 Kilometern Länge,
d.h. alle vier Kilometer ein Gewehr mit zwei Schuß Munition. Und der
Russe kam mit sechshundert Panzern die Straße Bernau-Weissensee entlang gefahren.
Als Berater im Festungsbau hatte ich an sich mit der militärischen Verteidigung nichts zu tun, aber es war zum Weinen! Ein letztes Mittagessen bei meinem guten Quartierwirt, seine
Frau hatte sich noch ganz besondere Mühe gegeben. Dann verabschiedete
ich mich, er gab mir noch kräftige Wegzehrung mit und um 14 Uhr klappte ich die Haustür hinter mir zu. (Um 15 Uhr 30 machten die Russen sie
wieder auf, schrieb er mir später). Ich ging zur Garage. Da standen meine Dienstfahrzeuge, ein
Auto und ein BMW Motorrad, außerdem ein Fahrrad, das ich mir ganz privat besorgt hatte. Die beiden Kraftfahrzeuge sahen sehr verlockend aus
und - ich nahm den Tretesel.
Mehr als einen Rückzug hatte ich schon erlebt. Autos ohne
Benzin - Gedränge, daß es nicht mehr weiter ging - Gewalt - Faustrecht. Die alte Mühle würde mir keiner neiden und so trampelte ich
los. Die Russen schossen schon in die Stadt hinein, die Granaten
sausten über mich hinweg, um da vorne wo zu explodieren. Mal wurde ei- 81 -
ne Wand weggerissen, mal entstand ein großer Krater auf der Fahrbahn.
Einige Male mußte ich in Deckung gehen.
So kam ich ganz gut bis in's Zentrum. Ich fuhr die Linden
entlang, die Charlottenburger Chaussee, immer noch von Einschlägen begleitet. Ich radelte weiter nach Wannsee zu meinem Stab.
Das Haus stand unversehrt und leer da. Die Vögel waren ausgeflogen ... wann? ... wohin? ... Ich fragte die Nachbarn: "Der Stab,
ja, der Stab ist nach Hamburg zum Festungsbau". So, so, dachte ich,
die haben sich also rechtzeitig verdünnisiert ... nach Hamburg? Klar,
da stehen die Engländer vor den Toren und nicht die Russen - Nachtigall, ick hör' dir tapsen, auf dem Teppich der Natur ...
Es war schon ziemlich dunkel geworden, heute konnte ich also
doch nichts mehr anfangen. Ich fuhr zu guten Freunden nach Steglitz
und wurde herzlich empfangen. Ich ging in einem ganz zivilen Bett
schlafen, aber mit der Ruhe war es nicht weit her. Ich überlegte: ein
braver Soldat wäre freiwillig in Berlin geblieben und hätte sich da
totschießen oder gefangen nehmen lassen, aber ich fand weder das eine
noch das andere besonders reizvoll und zweckmäßig für mich ... Wem
hätte es schon genützt?
Und mein Stab, der war ja nach Hamburg getürmt ... was die
können, kannst Du auch ... Donnerwetter, wo kriegst du nun aber Papiere her? ... Menschenskind, sei nicht blöd', du hast ja noch die Blankoformulare, unterschrieben vom General der Pioniere - und bestempelt
sind sie auch - zwar nur gedacht für deine Befehle und Anordnungen an
die Schipperkolonnen, aber das steht ja nicht drauf.
Also, her damit und: Der General befiehlt dem Oberleutnant
Selb, sich mit dem Fahrrad nach Hamburg zu begeben und sich dort sofort beim General der Pioniere zu melden. Berlin, den 21. April 1945.
So das war fertig. Unterschrift - Stempel - alles echt! Nun schlief ich doch noch etwas, stand vor Tau und Tag auf, rief den
Freunden ein Lebewohl zu und verließ das Haus.
Die Straßen waren fast menschenleer. Vereinzelte Kirchgänger
wanderten in sich gekehrt zur Frühmesse. Hin und wieder waren schon
Leute in ihren Vorgärten und rupften das erste Unkraut sorgfältig aus.
Andere gossen liebevoll ihre Blumen.
Ein Frühlingstag, wie er nicht schöner sein konnte. Ein wolkenloser Himmel, eben lugte die Sonne über die Dächer der Villenkolonie. Ein Bild des Friedens ...
Sicher wußte niemand, daß im Norden Berlins schon die Russen
waren und die Einschließungszange um die ganze Stadt sich in Kürze
schließen würde.
Außer einer zweistündigen Reparatur an meinem Fahrrad - dazu
mußte ich einen biederen Mechaniker noch aus dem Bett holen - passierten keinerlei Pannen auf meiner Fahrt über Potsdam, Nauen, Wusterhausen bis nach Perleberg.
Dort meldete ich mich bei der Ortskommandatur, um Verpflegung zu erhalten. Sie steckten mich sofort in eine Kaserne, wo schon
etwa sechshundert Mann und fünfundzwanzig Offiziere versammelt waren.
Es gab Mittag und dann erfuhren wir, daß wir in ein kleines
Nest bei Neu-Ruppin sollten, zu General Meier, der die Umschließung
Berlins von außen angreifen wollte.
Na, dann man immer los, dachte ich und hielt erst mal Mittagsschlaf. Die ausgedehnte Fahrradtour in der Frühlingssonne hatte
mich rechtschaffen müde gemacht.
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Plötzlich wurde ich geweckt: "Herr Oberleutnant, wachen Sie
auf, Sie müssen das Bataillon führen."
"Was, ich? Kommt nicht in Frage, ihr habt doch soviel höhere
Chargen da, Raupenschlepper und so was."
"Nein, Herr Oberleutnant, Sie müssen es führen."
"Nein, mein Lieber, führen Sie es meinetwegen, aber ich
nicht."
"Aber, Her Oberleutnant, draußen steht das Bataillon angetreten, Sie müssen es führen, die anderen Offiziere sind alle ... sind
alle ... ausgegangen!" So redete ein Hauptmann auf mich ein. "Warum tun Sie es denn nicht selber?", fragte ich.
"Ich bin doch hier der Kommandant."
"Na schön," ich erhob mich, sah durch's Fenster. Tatsächlich
600 Mann angetreten. Eine Kapelle voraus.
Ein Leutnant machte mir Meldung.
Herrjeh, mein Fahrrad, es stand noch oben neben dem Bett,
nein, eigentlich hinter dem Bett, oder ganz genau: zwischen Bett und
Wand geklemmt. Ich holte es selbst.
"Aber Herr Oberleutnant, das geht doch nicht, Sie können das
Fahrrad doch nicht mitnehmen", meinte der Hauptmann ganz entsetzt.
"Und wie ich kann und wie das geht! Wollen Sie mal sehn?", sagte ich
bockig.
Ich rief einen Mann aus dem Glied heraus: "Hier, Sie tragen
das Fahrrad", - sichtbar und hörbar ließ ich das Schloß einschnappen "auf der Schulter, immer am Wegrand vor mir her. Verstanden? Aber keine Faxen, ich habe eine Pistole."
"Jawoll, Herr Oberleutnant", und damit schulterte er meine
Drahtkommode und setzte sich an die Spitze.
Plötzlich stutzte ich: "Herr Hauptmann, die Leute haben ja
gar keine Waffen, mit denen soll ich in den Krieg ziehen? Wie denken
Sie sich das? Nein, das tue ich nicht."
"Herr Oberleutnant, ich bitte Sie, der General Meier hat alles, der hat Waffen für die Männer", der Hauptmann war merkwürdig devot ...
"Und wo haben Sie Ihre Pistole?", hauchte ich den Leutnant
an, ein ganz grünes Jüngelchen.
"Verloren, Herr Oberleutnant, verloren", stotterte er.
So war also mein Schießeisen die ganze Bewaffnung des Bataillons. - Die Musik begann einen Marsch zu spielen, alles wurde aufmerksam. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich hinter meinen Fahrradträger zu begeben.
Ich hob die Hand, die Musik schwieg.
"Im Gleichschritt Marsch", kommandierte ich.
Die Musik intonierte: "Muß i denn, muß i denn zum Städtele
hinaus" - und so mußten wir denn zum Städtele hinaus ...
Wir setzten uns in Bewegung. Tücherschwenken und Gewinke,
als ob es gälte, Moskau zu erobern ...
Nach drei Stunden, bei Anbruch der Dunkelheit, bezogen wir
in einem Dorf Quartier. Wir schliefen sanft und selig.
Für sechs Uhr früh hatte ich antreten befohlen.
Es traten an: ein Leutnant und acht Mann.
Ich wartete fünf Minuten - zehn Minuten -
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Wo waren denn die Langschläfer? Alle noch in den Betten?
Dann wurde es mir klar: 592 Mann waren in der Nacht durchgegangen,
acht hatten es verschlafen.
Ich bekam einen Schreck. Donnerwetter, was sagst du nun dem
General? Wie bringst du dem das bei? So eine Blamage, aber ich hatte
doch nicht jeden von den Kerlen einzeln anbinden können.
Mir war gar nicht wohl zumute, schweigend marschierten wir
ab. Nach fünf Stunden kamen wir in die Nähe des Ortes, wo General Meier sein sollte.
Nanu, warum qualmt denn das so? Ein Bauer kam angelaufen.
"Heh, was ist da los?" "Die Russen, die Russen", schrie er uns zu. Wir drehten um, ich war meinen Auftrag los. Ich stellte jedem frei, hinzugehen wo er wollte und bald waren wir nur noch zu
zweit, der kleine Leutnant und ich.
Richtung Norden nahmen wir, zu Fuß, denn Ernst hatte kein
Fahrrad. Gegen Abend kamen wir in ein größeres Dorf. Viel Flüchtlinge,
eine Menge Soldaten - aber ohne Waffen ...
Hier nahm ich mir den kleinen Leutnant vor und erklärte ihm:
"Höre, Ernst, morgen früh müssen wir uns trennen." "Warum denn?" wollte er wissen. "Sieh mal, Du hast kein Fahrrad und zu Fuß kommen wir
nicht schnell genug weiter, die Russen sind dicht hinter uns. Glaubst
Du, ich habe Lust, mich noch in den letzten fünf Minuten des Krieges
von denen greifen zu lassen? Nee, mein Junge, ohne mich!"
"Ja, aber, wo soll ich ein Fahrrad hernehmen?", fragte er
ganz kleinlaut. "Das weiß ich auch nicht." "Ich werde mal sehen", sagte er und verschwand. Schon nach einer halben Stunde war er wieder da,
mit Fahrrad.
"Alle Achtung, das ist aber schnell gegangen, wie hast Du
das gemacht?" Er wollte nicht mit der Sprache heraus. "Also geklaut",
sagte ich ihm unverblümt in's Gesicht. "Ja."
"Hm, wenn ich in Deiner Lage gewesen wäre ... aber welcher
Idiot läßt sich dann heutzutage noch so'n kostbares Ding stehlen?"
"Nun, das kam so", berichtete er. "Ich schlich um die Häuser
und Ställe herum und hielt Ausschau. Da sah ich ein Fahrrad an einer
Wand stehen. Ich schlenderte wie zufällig daran vorbei: es war nicht
angeschlossen. Darauf ging ich fünfzig Schritt weiter in Deckung hinter einer Scheune. Rief einen Landser heran: Sehen Sie das Fahrrad da?
- Jawohl, Herr Leutnant. - Holen Sie mir das mal her. - Er schob ab,
nahm das Fahrrad - niemand erhob Protest - und brachte es mir. Danke,
habe ich noch gesagt."
"Da hast Du aber Schwein gehabt und wenn einer Krach geschlagen hätte?" "Dann wäre ich um die Scheune herum ausgerissen. Und
der Herr Leutnant wäre nicht da gewesen", grinste er.
Ein Problem war gelöst. "Aber, Ernst, Du hast keine ordentlichen Papiere und es sind überall Streifen auf den Straßen, wie machen wir das?"
Wir hielten Rat und beschlossen endlich, sehr früh aufzustehen - früher als die Streifen - und nach Pritzwalk zu fahren. Dort
ging er in's Lazarett und zeigte die kaum verheilten Narben seiner
Verwundung vor. Der Leiter stellte ihm ohne weiteres einen Überweisungsschein für ein Hospital in Lübeck aus.
Das war geschafft! Es war aber auch höchste Zeit, die Russen
waren kaum noch zehn Kilometer entfernt, berichteten die letzten
Flüchtlinge.
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Aus meiner jahrelangen Praxis mit Rückzügen wußte ich genau:
solange die Straßen voller Flüchtlinge waren, war keine Gefahr. Wenn
aber alles gähnend leer war, dann war größte Eile geboten, der Feind
war unmittelbar hinterher.
"Die Straße ist so merkwürdig leer, Ernst," sagte ich "es
wird verdammt Zeit, daß wir hier wegkommen. Los dafür!"
Wir traten kräftig in die Pedale. Nach zwei Stunden hatten
wir den Flüchtlingsstrom eingeholt.
"Du, Ernst, jetzt müssen wir von der Hauptstraße herunter,
hier kommen wir nicht mehr richtig weiter." Wir waren in der Gegend
von Ludwigslust.
"Warum willst Du unbedingt nach Lübeck?", wollte Ernst wissen. "Ist es nicht praktischer, hier nach links abzubiegen und an die
Elbe zu gehen? Da stehen doch die Amerikaner."
Und lassen keinen rüber. Willst Du jetzt, Ende April, vielleicht nachts hinüberschwimmen?", gab ich zu bedenken.
"Ja, aber dann gehen wir doch besser nach Hamburg."
"Könnte man eventuell machen", räumte ich ein, "aber ich
will vorläufig nicht zu dicht an die Elbe. Wenn russische Panzer uns
überraschen, haben wir kein Gelände zum Ausweichen."
Hungrig und müde erreichten wir abends ein kleines Dörfchen
irgendwo bei Hagenau. Wir beschlossen da zu übernachten. Ein Haus sah
ganz solide aus, wir klopften an. Ein junges Mädel öffnete, lud uns
ein hineinzukommen. Noch zwei weitere Mädels hausten da, sonst niemand. Wir wurden sehr, sehr nett aufgenommen.
Wir bekamen ein kräftiges Abendbrot, Zigaretten und Likör,
viel Likör. Noch mehr Likör, dann machten uns die Mädels den Vorschlag, unsere Uniformen auszuziehen. Zivilkleidung könnten sie besorgen und wir sollten als "ihre Männer" da bleiben. Ihre Augen sprachen
so beredt, an ihrem guten Willen war nicht zu zweifeln.
Rundum satt und zufrieden, saßen wir in den tiefen Sesseln.
Draußen goß es in Strömen und der Wind heulte ...
Hierbleiben? Der Vorschlag war gar nicht schlecht, die Mädels waren reizend, alle drei. Ernst kapitulierte: "Wenigstens für eine Nacht" und setzte entschuldigend hinzu: "Hundemüde sind wir sowieso."
Ich holte mein kleines Radio vor. Vielleicht konnten wir
wirklich eine Ruhepause einlegen? Wir hatten am Tage ja allerhand Kilometer geschafft.
Zu der Zeit gingen die Meldungen von BBC nicht mehr vor, sie
hatten es ja nicht mehr nötig, sie hatten zu tun, daß sie mit den Ereignissen Schritt hielten.
BBC: "Die Russen sind im weiteren Vordringen nach Norden und
Westen. Unsere Truppen - meldete London weiter - sind bei Lauenburg
über die Elbe gegangen und setzen ihren Marsch nach Norden fort."
"Junge Du bist verrückt, wenn Du Dir für eine Nacht hier alles riskierst, die Russen schnappen Dich bestimmt, das ist der Spaß nicht
wert", sagte ich zu Ernst. "Ich hau' ab!"
Mein Entschluß stand fest. Nach Hamburg konnte ich nicht
mehr und Lübeck mußte ich noch unbedingt vor den Engländern erreichen.
Also zog ich um Mitternacht bei strömendem Regen und allein weiter.
Es goß mit Mollen, die Wege waren grundlos. Ein Wetter, daß
man keinen Hund vor die Tür jagt. Aber mir war das gerade recht, da
würden die Engländer auch nicht so schnell vorankommen.
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Die Landkarte hatte ich mir genau eingeprägt. Ich durfte
nicht zu weit nach links, da war der Travekanal und da hätte mich ein
Engländer abknallen können. Anderseits mußte ich aber links an den
Seen von Ratzeburg vorbei - rechts konnten schon die Russen stehen und
dann hätte es kein Entweichen mehr gegeben.
Der Krieg ist praktisch zu Ende, meditierte ich, während bei
Sturm und Regen ich mich auf nächtlicher Landstraße mühsam vorwärts
strampelte. Es ist alles futsch. In Kriegsgefangenschaft kommst Du bestimmt, darüber sei dir klar, alter Freund, aber die Russen - nein,
die sollen dich nicht kriegen. Wenn schon kriegsgefangen, dann doch
bedeutend lieber bei den Engländern. Gegen fünf Uhr früh war ich am Ende meiner Kräfte, sah Licht
in einem Haus abseits der Straße und trat ein. Ich sah aus wie ein
Schwein, über und über mit Dreck bespritzt. Keinen trockenen Faden
hatte ich mehr auf dem Leib.
Es war eine sehr elegante Villa, eine ältere Dame kam mir
entgegen. "Bitte, wo sind wir hier?", fragte ich. "Südlich des Sees,
bei Ratzeburg", antwortete sie, "ich will gerade weg, die Russen sind
nicht mehr weit." Und nach einer kleinen Pause: "Kann ich noch etwas
für Sie tun?"
"Ach ja, könnten Sie mir vielleicht etwas zu essen und zu
trinken geben", bat ich.
"Aber gerne, hier sind über hundert Weckgläser, was wollen
Sie haben? Sie können überhaupt alles haben, ich schenke es Ihnen, ich
kann ja doch nichts mitnehmen."
Ich wählte Schweinebraten und ein großes Glas Erdbeerkompott. Während ich noch beim Essen war, kam die Dame wieder, reichte
mir die Hand. "Leben Sie wohl", sagte sie freundlich," und im Wohnzimmer habe ich Ihnen ein Bett zurecht gemacht und trockene Wäsche von
meinem Mann liegt oben drauf."
"Vielen Dank", stammelte ich. "Nehmen Sie sich, was Sie
brauchen können", sie stand in der Tür und dann war sie fort - in
Sturm und Regen, beim ersten Tagesgrauen. Ich aß weiter, dann ging ich in's Wohnzimmer, zog mir die
trockene Unterwäsche an und hängte meine Uniform über die Zentralheizung zum Trocknen auf. Die Couch lockte gewaltig, warme, weiche Decken
dazu. Vierundzwanzig Stunden hatte ich nicht geschlafen und eine beachtliche Strecke Wegs trotz Schlamm und Regen geschafft.
Wenn du dich da hinlegst, wachst du erst spät abends wieder
auf ...
Ich ging in die Küche, setzte mich auf die harte Bank. Wenigstens eine Stunde ausruhen ...
Ich erwachte, mein Rücken schmerzte. Es war heller Tag. - Wo
bin ich denn überhaupt? Eine fremde Küche, ich hatte auf einer harten
Bank geschlafen. "Herrjeh, die Russen", fuhr es mir durch den Kopf und
ich war mit einem Schlage hellwach.
Hastig zog ich meine Uniform wieder an, sie war fast trokken. Da hast du aber verdammt lange geschlafen ... Ein Blick auf die
Uhr: elf Uhr! - Donnerwetter, sechs Stunden verschlafen ...
Vorsichtig lugte ich aus dem Fenster, draußen schien alles
ruhig. Ich ergriff mein Fahrrad, trat an die Tür, äugte, lauschte ...
Nichts rührte sich, es schien kein Russe da zu sein ...
Noch ein kurzer Blick auf die Landkarte, dann setzte ich
mich auf meinen Tretesel und fuhr los in Richtung Berkenthin. Nach
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zwei Stunden kam ich in die Nähe des Ortes. Sehr vorsichtig näherte
ich mich. - Ist er noch frei oder ist er schon besetzt? Und wenn besetzt, von wem? Engländern oder Russen?
In Berkenthin schien das Leben noch ganz normal zu sein.
Vorsichtig - sehr vorsichtig pirschte ich mich heran. Nein, es war
tatsächlich noch nicht besetzt.
So beschloß ich, den Travekanal hier zu kreuzen und radelte
ganz gemütlich über die Brücke. Bauern fuhren hin und her und niemand
kümmerte sich um mich.
"Hans - Hans", schrie jemand hinter mir. Ich fuhr weiter, in
dieser Gegend war ich noch nie gewesen, hier kannte ich keinen Menschen.
"Hans - Hans", eine Frauenstimme. Ich drehte mich um, ein
kleiner Einspänner kam hinter mir hergejagt, die Frau drosch erbarmungslos auf ihr Pferd ein. Anscheinend wollte sie etwas von mir.
"Hand - Hans", schrie sie immer noch. Da stieg ich ab und wartete. Das Wägelchen kam näher, hielt: "Hans, bist Du es wirklich?" "Ja, aber
ich ... Christine," rief ich, "Christine, bist Du es wirklich?"
So fand ich auf der Brücke in Berkenthin dieselbe Christine
wieder, die ich mal in Lomza hatte besuchen wollen. Sie erzählte mir,
daß sie ganz in der Nähe als Flüchtlinge hausten und lud mich ein. Nur
zu gern nahm ich die Einladung an, die Strapazen der letzten Tage waren reichlich groß gewesen.
Christinchen berichtete, wie sie im Treck von Masuren über
das Haffeis und dann immer an der Ostsee entlang, oft genug direkt am
Strand gefahren waren. Fast ohne Pause waren sie die lange Strecke
durchgefahren, die Russen immer dicht auf ihren Fersen. Wir kamen im Dörfchen an, am rechten Kanalufer, etwa drei
Kilometer weiter südlich. Erstmals bekam ich ordentlich zu Essen und
dann wusch ich mich tüchtig.
Gegen Abend ging ich die strategische Lage prüfen. Bis zum
Travekanal waren es zweihundert Meter, ein Schleusentor diente als
Fußgängerbrücke. Eine größere Straße war nicht in der Nähe. Vom Dorf
aus konnte man ziemlich weit in's Land sehen.
Da würden mich die Russen nicht so leicht fangen, dachte
ich, und blieb für's erste mal da. Christine und ihre alte Mutter
sorgten rührend für mich.
Ich hatte nichts weiter zu tun als aufzupassen, daß mich die
Russen nicht doch noch im allerletzten Moment erwischten. Ich hörte
fleißig Radio. Berlin fiel - Hitler tot - die Engländer rückten auf
dem linken Ufer des Kanals vor.
Da erschien eines Tages ein U-Boot-Kommandant mit etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Mann. Aber nicht etwa auf dem Kanal, nein, sie
hatten kein Schiff. Schon lange nicht mehr. Sie gingen zu Fuß und
spielten Infanterie.
Einen Tag ging alles gut, dann kamen Leute aus dem Dorf zu
mir: "Die graben da Schützenlöcher und der Anführer hat gesagt, er
wird das Dorf bis zum letzten Blutstropfen verteidigen. Bitte, setzen
Sie sich dafür ein, daß das nicht geschieht. Der Krieg ist schon verloren, vor uns sind die Russen und zehn Kilometer hinter uns sind die
Engländer. Man brennt nur unsere Häuser ab und nützen tut es gar
nichts mehr."
"Ihr habt ja recht", sagte ich, "aber ich kann dem Mann leider nichts befehlen." Ich machte einen Spaziergang durch das Dorf.
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Tatsächlich, Schützenlöcher, Schießscharten, kleine Steinwälle, frisch
aufgeschichtet ...
Darauf ging ich zu Christine und erklärte ihr: "Hör' mein
Kind, der Kerl ist total verrückt. Pack' all Dein Zeug auf Deine beiden Wagen und laß die Pferde angeschirrt im Stall stehen. Sieh' Dir
mal die Strohdächer hier an, wenn da auch nur eine Granate einschlägt,
brennt alles und wenn Du dann nicht alles fix und fertig hast, kommst
Du nicht mehr raus."
Der Tag ging vorüber, die Nacht auch. Alles schien in bester
Ordnung, da kam die Nachricht, daß die Russen schon im Nachbardorf wären. Und einige Minuten später zog ein langer Wagentreck aus unserem
Dörfchen in den benachbarten Wald.
Das Dorf war leer.
Ich packte meinen Rucksack, um für alle Fälle schleunigst
verschwinden zu können, - gerne verließ ich Christines Fleischtöpfe
natürlich nicht - da kam der Feldwebel an, ich sollte sofort zum Kapitänleutnant Hans Selb, dem Ritterkreuzträger, kommen.
"Wie heißt er?", fragte ich ganz verblüfft. "Hans Selb", war
die Antwort. Sieh da, ein Namensvetter, dachte ich.
Laut sagte ich: "Wenn der Kapitänleutnant etwas von mir
will, so möge er zu mir kommen."
Der Feldwebel verschwand. Eine halbe Stunde später trat der
andere Hans Selb in mein Zimmer - mit gezogener Pistole. Ich riß meine
Waffe heraus. Hans Selb und Hans Selb standen sich gegenüber, dem Finger am Abzug.
"Ich bin gekommen, Sie zu erschießen", begann der andere
Selb, "Sie sind ein Vaterlandsverräter! Sie haben die Dorfbewohner
weggeschickt. Wir müssen das Vaterland verteidigen, bis die Wunderwaffen eingesetzt werden." "Glauben Sie an die Wunderwaffen?", fragte ich
ihn kühl.
"Ein Schuft, wer daran zweifelt", brüllte er, machte kehrt
und war auch schon draußen. Hatte ihm mein Pistolenlauf zu drohend
ausgesehen? - Holte er sich Verstärkung, um den "Vaterlandsverräter" ohne Gefahr für die eigene Person - zu erledigen? Dem Fanatiker war
alles zuzutrauen, auch daß er das Dorf gegen die Engländer oder die
Russen - je nachdem, wer zuerst heran war - oder auch gegen beide,
verteidigte.
Ich ergriff meinen gepackten Rucksack und mein Fahrrad und
fuhr davon. -
Kapitel XII
Immer wieder in englische Kriegsgefangenschaft
Es war Abends, die Dunkelheit setzte ein, als ich die kleine
Schleuse überquerte, um in Richtung auf den Wald links des Kanals zu
verschwinden. Ich suchte mir ein Plätzchen im Wald, sammelte mir etwas
Laub zusammen, baute mir ein Versteck und schlief ruhig ein.
Es war noch etwas kühl, aber nicht mehr kalt, wir hatten Anfang Mai [1945]. In aller Gemütsruhe packte ich meine kleinen Vorräte
aus und begann zu frühstücken.
Dann setzte ich mich auf mein Fahrrad und fuhr Richtung Westen, bis ich die Straße Hamburg-Lübeck übersehen konnte. Im Schutze
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des Waldes legte ich mich auf die Lauer, um den Betrieb da unten zu
beobachten.
Sehr bald sah ich, was ich wissen wollte. Die Engländer waren schon bis hier. Anscheinend schon weiter vorne: Versorgungseinheiten zogen des Weges. Ich fuhr bis oberhalb des Ortes Klinkrade und sah hinunter:
ein halbes Dutzend englischer Panzer standen auf dem Dorfplatz.
Dann traf ich im Walde einen deutschen Unteroffizier, er
wollte nach Hamburg ... sich immer so in den Wäldern durchschlagen ...
Er hatte eine unheimliche Menge Lebensmittel von irgendwo mitgenommen
und lud mich zu einem opulenten Mahl ein - nur Büchsenöffner hatten
wir keinen und das war mühsam. Wir tafelten nach Herzenslust und besprachen die Lage. Er war Hamburger und wollte nachhause. Verständlich, aber was sollte ich da?
"Hier haben Sie noch etwas zum Abendbrot, mir ist es sowieso
zu schwer zum Tragen," sagte er, gab mir ein paar Büchsen und zog ab.
Ich bummelte ein wenig im Walde herum und kam an eine einsame Waldwiese, die im ersten saftigen grün prangte. Eigentlich müßten
hier doch abends Rehe austreten, vielleicht sogar Hirsche? - dachte
meine alte Jägerseele und so machte ich mir am Rande der Wiese ein gemütliches Lager. Als es dunkel wurde, war ich sehr gespannt; aber nur
ein paar Hasen fanden das appetitliche Grün verlockend. Ich war enttäuscht, offenbar hatte das Kriegsgeschehen das Großwild vergrämt. Ich schlief fest und traumlos, die zweite Nacht im Walde. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als ich erwachte. Ich
sammelte mir etwas trockenes Holz und machte mir ein Feuerchen, um eine Büchse Würstchen aufzuwärmen. Nach diesem Frühstück steckte ich mir
meine vorletzte Zigarette an und begann ernsthaft nachzudenken.
Hier im Walde bleiben ist ziemlich sinnlos, dachte ich mir.
Du mußt ein Ziel haben und folgerichtig handeln. Also: wo willst du
denn eigentlich hin? Hamburg? Kiel? Lübeck? Nichts reizte mich. Ja,
die Kriegsgefangenschaft, die reizte mich zwar auch nicht, aber die
ließ nach Lage der Dinge halt nicht umgehen.
Jetzt ist das Wetter schön, aber morgen kann es regnen, dann
wird es hier recht ungemütlich.
Wenn schon Kriegsgefangenschaft, dann wenigstens solange du
noch gesund und kräftig bist, nicht erst in drei Tagen, halb verhungert und geschwächt ...
Ich mußte mich freiwillig stellen, mein Entschluß stand
fest. Ich wanderte nach Norden, bis ich in das Dorf Sirksrade hinuntersehen konnte. Auch dort war eine Anzahl englischer Panzer. Ich ließ
mich am Rande des Waldes nieder - die Panzer waren etwa tausend Meter
vor mir. Dann packte ich alle meine Habseligkeiten aus und aß in aller
Ruhe und Gemütlichkeit alles Eßbare auf. Rauchte zum Nachtisch die
letzte Zigarette und sah, wie die Engländer unten geschäftig hin und
her liefen.
Dann sortierte ich alles aus, was ich nicht mitnehmen wollte. An Waffen blieb nur meine Pistole mit sechs Schuß, die mußte mit.
- Aber was tust du mit deiner Armbanduhr, überlegte ich. Das Werk ist
erstklassig, um die Uhr wäre es doch schade ... Ich montierte das Armband ab. dann drückte ich sie in daß ranzige Schmalz hinein, das sich
noch als kleiner Rest in einer Büchse befand. So nun noch ein bißchen
Dreck drauf, damit es unappetitlich genug aussieht - die Engländer
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sollen ja penibel sein! - Ich horchte, kein Ticken der Uhr war zu hören, sie war abgelaufen.
Zum Abschluß der Vorbereitungen eine gründliche Fußwäsche
mit Pediküre: Kriegsgefangene müssen viel laufen ... Ach so, neue Sokken auch noch, Christinchens Gabe. "So, nun ist wohl nichts weiter zu tun", erhob ich mich,
suchte den Weg zum Dorf und marschierte, schön mitten auf der Straße,
gemächlich hinab. Zu Fuß, das Fahrrad führte ich.
Unten empfing mich, sehr korrekt, ein englischer Offizier,
bat höflich um meine Pistole. Ich gab sie ihm. "Weapons?" fragte er
und zeigte auf meinen Rucksack, "No, Sir." "Thank you!"
Er bat mich etwas zu warten, sie würden in einer halben
Stunde abfahren. Ich schlenderte um die Panzer herum, besah sie mir
von allen Seiten und stellte fest, daß sie in vielen Details anders
konstruiert waren als unsere oder meine russischen T34 damals.
Dann trat der Offizier wieder auf mich zu: "Wir müssen jetzt
abfahren. Wollen Sie ihr Fahrrad mitnehmen oder hierlassen?" "Wenn es
geht, mitnehmen", antwortete ich, ebenfalls auf Englisch. So wurde
meine Drahtkommode auf einem Panzer festgebunden, ich kletterte auf
den des Offiziers und wir fuhren los.
"Was für ein Datum haben wir heute eigentlich?" fragte ich
ihn.
"Sonnabend, den 5. Mai", antwortete er.
Wir unterhielten uns kameradschaftlich während der Fahrt.
Dann hielt der ganze Zug, es mochte so gegen fünf Uhr nachmittags
sein.
"Ich muß Sie hier leider absetzen", sagte der englisch Offizier. "Sie werden verstehen, daß wir Sie nicht weiter mitnehmen können." - Ich sah ein eingezäuntes Gelände und viele Gefangene darin.
"Natürlich verstehe ich das", antwortete ich. Zwei englisch Soldaten
montierten mein Fahrrad ab und übergaben es mir. Ein kurzer, militärischer Gruß und ich Schritt dem Eingang des Lagers zu. Von diesem Augenblick an änderte sich die Situation, ich war
nur noch Nummer.
"Auspacken", rief man mir barsch zu. Einer ergriff gleich
mein Fahrrad und schob es weg.
Ich öffnete meinen Rucksack und breitete alles aus. Sie nahmen mir alles weg bis auf Zahnbürste und Seife. Meine Schmalzbüchse
mußte ich natürlich auch aufmachen, sie warfen sie mir verachtungsvoll
vor die Füße. Meine Kleidung wurde genau untersucht. Dann trat ich
in's Lager. Das war nur sehr provisorisch, einfach eine eingezäunte
Wiese. Kein Haus, kein Dach, alles unter freiem Himmel.
Das erste bekannte Gesicht: mein Namensvetter Hans Selb.
"Nanu, Sie? begrüßte ich ihn, ehrlich erstaunt. "Verteidigen Sie das
Vaterland jetzt hier? Und die Wunderwaffen?" Er drehte sich um und
würdigte mich keines Blickes mehr. Drei Tage blieben wir dort, dann
wurden wir in ein anderes Lager mit Baracken überführt. Es war in der
Nähe von Bad Oldesloe.
Hier erfuhren wir von der Kapitulation. Unser neues Lager
war schon sehr viel besser eingerichtet. Baracken und Küchen waren da,
aber auch hohe Stacheldrahtzäune und Wachtürme mit MG's.
Die Verpflegung war außerordentlich dürftig zu Anfang: "four
for four" sagte der englische Wachtposten zu mir, "vier für vier". Je- 90 -
der Vierte von uns bekam viel kleine Kekse in die Hand gedrückt und
mußte davon drei weitergeben: "four for four". In den letzten Kriegstagen waren die Reste der Wehrmacht da
oben zusammengedrängt worden und somit fiel eine solche Anzahl von Gefangenen an, daß die Engländer es gar nicht bewältigen konnten. Sie
hatten weder ausreichende Verpflegung noch Wachmannschaften bereit.
Als wir in das Lager einzogen, waren die Wachtürme alle mit
Soldaten besetzt, aber es waren deutsche Soldaten, die die deutschen
Kriegsgefangenen mit deutschen MG's bewachen mußten.
Die Wachmannschaften waren genau so Gefangene wie wir, die
Waffen mußten sie oben auf den Türmen lassen, wenn sie abgelöst wurden. Der Verantwortliche - natürlich deutsche - Anführer der Wachttruppen kam zu uns in die Offiziersbaracke und bat, wir sollten unseren ganzen Einfluß geltend machen, um Fluchtversuche zu verhindern.
"Meine Leute müssen schießen", sagte er, "sie riskieren
sonst ihr eignes Leben. Die Engländer haben uns erklärt, sie schießen
jeden nieder, der einen Gefangenen entwischen läßt."
Es ging aber alles gut: Zehntausend Kriegsgefangene wurden
von vierhundert Kriegsgefangenen bewacht und diese wiederum von fünfzig Engländern. Typisch englisch: Praktiker im Kolonialsystem!
Drei Tage hatte ich mich da friedlich ausgeschlafen, dann
fand ich das Essen viel zu wenig und den Stacheldraht viel zu viel.
Ausreißen? Geht nicht! Also ein legaler Ausweg: Außendienst!
Ich meldete mich bei der nächsten Gelegenheit als Dolmetscher und begleitete einen kleinen Trupp von einigen zwanzig Mann, die
im Garten des englischen Kommandeurs arbeiten sollten. Dessen Frau war
eben angekommen und hatte so allerlei Wünsche: Wege harken, Unkraut
jäten, Beete umgraben, Zäune reparieren und dergleichen mehr.
Also saß ich im Sessel auf der Terrasse, ließ mir die Sonne
auf den Balg scheinen und sah den Arbeiten zu. Aber auch das war auf
die Dauer nicht sehr unterhaltsam und so bat ich die Lady um ein paar
alte englische Zeitungen. Sie brachte mir einen ganzen Stoß. Hochinteressant, hatte ich doch seit einer Woche nichts mehr von der Außenwelt erfahren.
Ich las und las. Die Lektüre war nicht eben taufrisch, aber
für mich war alles neu. Eine Notiz erregte meine besondere Aufmerksamkeit: mehrere Staaten - Holland, Belgien, Frankreich, Rußland waren
aufgezählt - hatten an Großbritannien die Forderung gestellt, von den
Kriegsgefangenenmassen in Holstein - hm, das waren wir - Kontingente
zum zivilen Aufbau abzugeben.
Ich suchte weiter in neueren Nummern. Ja, da war es wieder:
Rußland verlangt Pioniere und technische Fachleute. - Pfui, Teufel,
das war ich beides. - Eine Stellungnahme der englischen Regierung
konnte ich nirgends finden, die stand offenbar noch aus.
Das sehr kräftige und reichliche Mittagessen, das die Kommandeuse mir auf die Terrasse rausschickte, schmeckte mir nur halb so
gut wie die Dame des Hauses mit Fug und Recht hätte erwarten können. Auslieferung nach Rußland? Sollte all meine Kunst der letzten Monate, jetzt nach Kriegsende, noch scheitern? Nein, da tu' ich
nicht mit, dann mach ich eben meinen Privatkrieg, wenn's sein muß.
Für's Erste war es entschieden am besten, wenn ich auf meinem Posten blieb. Das bißchen Dolmetschern war nicht weiter schwierig,
das Essen ausgezeichnet und den Stacheldraht sah ich nur abends, wenn
- 91 -
ich zum Schlafen in's Lager mußte. Außerdem waren die englischen Zeitungen zweifellos die beste Informationsquelle, die ich haben konnte.
Ich domletscherte, aß und las.
Die für mich so beunruhigende Notiz tauchte immer wieder
auf, aber das was die Engländer zu tun gedachten, das stand nirgendwo.
Das ging so bis zum 20. Mai, dann trat eine große Änderung
ein: das Lager wurde aufgelöst. Wir marschierten - diesmal unter
schwerer englischer Bewachung - in Richtung Nordwest ab. Nach Stunden
und Stunden kamen wir an eine Straße, die rechts und links von englischen Soldaten flankiert war.
Auf diese Straße wurden wir einzeln geschickt. Sehr gründliche Kontrolle, jeder wurde abgetastet. - Meine Schmalzbüchse ließen
sie mir mitleidig grinsend, die Uhr tickte natürlich nicht. Ein unübersehbarer Zug von Gefangenen wälzte sich auf der
Straße gen Nordosten. Ich trabte im Schwarme mit.
Wie eine Vieherde zwischen Stacheldrahtzäunen - nur daß diese "Zäune" schießen konnten - schoben sich Zigtausende von Gefangenen
die Straße entlang. Immer wieder traten rechts oder links - aus anderen Lagern kommend - neue Kameraden in großer Zahl zu dem dahinströmenden Fluß.
Niemand wußte, wohin es ging. Die Landkarte hatte ich im
Kopf: die Richtung ist Küste - etwa der kleine Hafen Neustadt? - Ei,
wenn da russische Schiffe auf uns warten?
Neben mir ging ein Unteroffizier, wir kamen in's Gespräch.
Rechtsanwalt im Zivilberuf, aus einem kleinen Städtchen links der Elbe. "Wissen Sie, was das bedeuten soll", fragte er mich recht besorgt,
"was haben die mit uns vor?"
"Keine Ahnung", sagte ich, von meinen privaten Bedenken
mochte ich im Moment noch nichts laut werden lassen.
"Mir ist dieser Marsch höchst unsympathisch", fing er wieder
an, "meine Heimat liegt genau entgegengesetzt Ob man hier wohl durchbrennen kann?"
"Nun, man muß die Augen offen halten, mir ist es auch nicht
geheuer und wenn es geht, mache ich mit", sagte ich.
Wir freundeten uns an und beschlossen, alles zu wagen, um
wegzukommen. Das Gelände in Holstein mit seinen vielen Hecken gibt ja
reichlich Deckung, aber wie durch die Postenkette kommen? Wir überlegten hin und her. Bei Beginn der Dunkelheit wollten wir einen Versuch
starten.
Am Wegrand ein Wald. Zwischen zwei Posten, die noch sehr
jung und unerfahren aussahen, zogen wir blitzschnell die Hosen runter
und hockten uns an den Rand mit krummen Rücken... zu landwirtschaftlichem Zweck. Die Posten bemerkten es überhaupt erst, als wir schon da
hockten und uns unterhielten. Die beiden Engländer stutzten, zögerten,
aber sie erhoben keinen Einspruch. Sie standen auch jeder etwa dreißig
Meter von uns entfernt.
Rechtsanwalt Schülle beobachte den Posten links - ich den
Posten rechts von uns. Ein leises Zischen bedeutete: der Posten sieht
nicht her - wir hatten viel Zeit - wir mußten ja warten, bis es den
Posten zu langweilig wurde, uns ständig zu beobachten. Mal zischte
ich, mal zischte Schülle, aber beide zusammen ... nein ... Dann doch!
Also los! Zwei Sprünge und wir waren im Holz in Deckung. Die Schüsse
trafen uns nicht, es war schon dunkel. Die Posten konnten ihren Stand- 92 -
ort nicht verlassen. Bis Verstärkung kam, waren wir schon über alle
Berge.
Die ganze Nacht marschierten wir, am Morgen baten wir auf
einem einsamen Bauernhof um etwas zu essen. Wir bekamen nichts, es
trieb sich zuviel Gesindel herum und die Leute hatten auch selber
nicht viel.
"Schülle", sagte ich zu meinem Kameraden, "da muß etwas geschehen. Wir werden zu einem Bauern arbeiten gehen, wir müssen uns
aber einen Hof suchen, der abseits liegt, damit uns die Engländer
nicht schnappen."
Auf der Suche nach einem geeigneten Bauernhof kamen wir an
einigen zerschossenen Lastwagen vorbei. Wir untersuchten sie genau und
fanden - Heureka! - einen Kasten mit etwas Schuhmacherwerkzeug.
Gleich im nächsten Haus probierten wir unser Glück: "Haben
Sie vielleicht Schuhe zu reparieren?"
"Aber ja doch, es gibt hier schon lange keinen Schuster
mehr!"
"Dieses Paar nähen, kostet zwei Eier", das war Schülle.
"Einverstanden!" - Sohle festmachen, zwei Schnitten Brot",
das war ich. - Schülle nähte, ich nagelte. Mit Hammer und Nägeln konnte ich umgehen - Schuster, bleibe bei deinem Leisten - Nachbarn kamen hinzu ... Zwei Schuster sind da"... das ging
wie ein Lauffeuer durch's Dorf. Bald konnten wir uns nicht mehr retten
vor Arbeit. - Als wir rundum ganz satt waren, nahmen wir unser Werkzeug und zogen weiter.
Dieses idyllische Leben dauerte leider nur vier Tage. Da kam
irgendwo ein Jeep um die Ecke, bremste scharf, äugte noch schärferer
und ... nahm die beiden "Schuster" mit ...
Sie drehten den Film mit uns rückwärts. Wir waren wieder auf
der Landstraße mit den lebenden Zaunspfählen ... und wieder marschierten wir Richtung Ostsee. Es war alles noch genau so wie beim ersten
Mal. Genauso? Wir beobachteten scharf: nein, die Posten, die waren
nicht mehr so auf dem Posten, die glotzten nur noch vor sich hin. Eine
Woche lang standen sie schon da, die waren abgestumpft von dem ewigen
Einerlei der endlosen, grauen Reihen.
Es wurde dunkel. "Los auf ein Neues!"
Zwei krumme Rücken - es lebe die Landwirtschaft - niemand
nahm Anstoß daran. Ein paar kurze Sprünge - weg - der Wald nahm uns
auf. - Niemand hatte es bemerkt, die Posten schossen nicht einmal ...
die beiden Sitzhasen, nun die hatten sich wohl wieder eingereiht? Wir wanderten bis in die Gegend von Plön, fanden einen Bauernhof, der ziemlich abseits lag und baten um Quartier und um Arbeit.
"Schlafen könnt Ihr in meiner Scheune, aber sonst kenne ich Euch
nicht", sagte der Bauer. Er wollte keinen Ärger mit den Engländern.
Und Essen? Woher nehmen? "Im Dorf gibt es eine Kartenstelle,
vielleicht bekommt Ihr da Lebensmittelkarten, Ihr könnt's ja versuchen" und er wies uns den Weg.
Eine freundliche, alte Dame hörte sich unsere Geschichte an.
"Da habt ihr die Lebensmittelkarten", sie reichte sie uns. "Und wie
steht's mit Geld?" "Müssen wir erst verdienen." "Kommt morgen früh
noch mal her, ich denke, ich kann Euch einen kleinen Vorschuß besorgen," meinte sie nachdenklich. Wir bedankten uns herzlich und waren am
nächsten Morgen wieder da. Und sie hatte wirklich Geld für uns, einen
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ganz ansehnlichen Betrag sogar. Alles in kleinen Scheinen ... sie hatte im Dorf für uns gesammelt! Wir suchten Arbeit. Unser Bauer sagte: "Ja, wenn Ihr Euch in
Plön die Genehmigung holt, dann könnt Ihr bei mir arbeiten." Auf nach
Plön. Zwanzig Kilometer Fußmarsch. Kleinigkeit.
Der deutsche Ortskommandant Hauptmann S. war von den Engländern ermächtigt, Arbeitsgenehmigungen auszustellen. "Aber nur, wenn
ein schriftliches Gesuch des Arbeitgebers, in diesem Falle also des
Bauern Schacht, vorliegt", sagte er bedeutend.
Also zurück. Wieder zwanzig Kilometer Fußmarsch. Kleinigkeit? Wir waren wohl doch schon ein bißchen müde, wir hatten die englische Streife zu spät gesehen.
Sie nahm uns mit, zehn, zwölf Kilometer in die Gegend - "Ihr
bleibt schön im Jeep, wir sind gleich wieder da", ermahnten sie uns,
bevor sie in die Kneipe verschwanden.
"Alle guten Dinge sind drei", meinte Schülle, als wir schon
weit genug waren," da sind wir nun glücklich zum dritten Mal entwischt. Ob die uns wohl noch suchen?
Ob sie uns noch suchten, das wußten wir nicht, aber daß sie
uns einen extra Fußmarsch von drei Stunden verpaßt hatten, das war
leider klar.
Bereitwillig malte unser Bauer das Gesuch. Wir trugen es
nach Plön - zwanzig Kilometer Fußmarsch "Na ja, so ist es in Ordnung", sagte Hauptmann S. und wir
bekamen die Arbeitsgenehmigung: gültig für drei Tage, jawohl, drei Tage. "Anordnung der Engländer", sagte der Hauptmann, "die Genehmigung
gilt nur für drei Tage, dann müßt Ihr wiederkommen." Zwanzig kleine
Kilometerchen hin und zwanzig wieder zurück. Ach was, ein bißchen Bewegung ist gesund! Dafür waren wir nun aber wieder legale Bürger dachten wir. "Pass" schnauzte einer mit Uniform und Maschinenpistole.
"Hier bitte". Ein Blick. "Deutsches Papier" und ritsch-ratsch ... die
Fetzen flogen auf die Erde, die Streife nahm uns mit.
In einem Bauernhaus sperrten sie uns provisorisch ein, Tür
und Fensterladen waren verrammelt. Posten schien keiner da zu sein.
Wir ruckelten an dem Fensterladen, erst ein wenig, dann immer mehr.
Schließlich gab er nach und wir waren mit einem Satz draußen,
"Das war das vierte Mal", lachte Schülle.
Zurück nach Plön. Der Hauptmann kannte uns schon und gab uns
eine neue Genehmigung. Die brachten wir heil nachhause, wir hatten was
zugelernt! Wir arbeiteten auf dem Felde, das war ungefährlich. An dem
nackten Oberkörper und dem lehmigen Etwas, was wir als Hose anhatten,
konnte keiner eine Uniform erkennen. Aber auf zwei Arbeitstage folgte
immer wieder ein Wandertag nach Plön. Die englischen Streifen erwischten uns noch oft und ebenso oft entwischten wir ihnen wieder. Wir nahmen das Katz-und-Maus-Spiel auf beiden Seiten nicht mehr sonderlich
ernst.
Dann konnte Hauptmann S. uns plötzlich keine Arbeitsgenehmigung mehr geben. "Nur noch für Einheimische und für's eigene Dorf",
sagte er bedauernd.
Betrübt schoben wir ab und klagten unserer guten, alten Lebensmittelkarten-Verteilungsstellen-Tante unser Leid.
- 94 -
"Geht zum Bürgermeister, der frißt Euch nicht", riet sie
uns.
"Herr Bürgermeister, wir kriegen keine Arbeitsgenehmigung
mehr , weil ... !, jammerten wir.
"Hm, Ihr habt Euch aber in den Kriegsjahren mächtig verändert, alle beide", meinte er bedächtig, "fast hätte ich Euch gar nicht
mehr erkannt, aber Du, Du bist doch der Jochen und Du, Du bist wohl
der Hans?" "Natürlich, das sind wir!" Triumphierend überreichten wir
Hauptmann S. unsere "Heimatscheine". Der Vorschrift der Engländer war
genügt, wir bekamen die neuen Arbeitsgenehmigungen und die galten sogar für vierzehn Tage.
Aber zwei Wochen gehen schnell vorbei und so waren wir wieder bei Hauptmann S. Er machte ein ernstes Gesicht: "Neue Bestimmungen", sagte er. "Ich kann keinerlei Arbeitsgenehmigungen mehr ausstellen, auch an Einheimische nicht. Die sollen jetzt alle ärztlich untersucht werden und wer krank ist, d.h. nicht marschfähig ist, der kriegt
Entlassunspapiere. Die Untersuchungen sollen in drei Tagen anfangen,
aber für Sie kommt das ja nun wirklich nicht infrage, Sie müssen zurück in's Gefangenenlager."
"Wie bitte?", sagten wir, "das kommt für uns nicht infrage!
Herr Hauptmann, Einheimische sind wir jetzt schon und Sie können sich
darauf verlassen, in drei Tagen sind wir auch noch krank!"
Wir saßen draußen vor dem Vorzimmer des Arztes, im Wartezimmer war schon alles voll. Anscheinend war der Herr sehr gründlich, es
ging entsetzlich langsam voran.
Ich holte mir aus dem Wartezimmer eine alte englische Zeitung, las dies und das, alles nicht besonders wichtig. - Schülle wurde
hereingeholt. Nach einer Weile kam er, vergnügt seinen Zettel schwenkend, wieder heraus: sein Herzfehler hatte genügt. Ich zermarterte
mein Gehirn, was ich dem Doktor erzählen sollte. Na, ich werde mit dem
Lungensteckschuß anfangen ...
Dann griff ich wieder zur Zeitung. Jalta-Abkommen, olle Kamellen ... was hatten denn die Drei da eigentlich ausgeheckt? Mein
Blick fiel auf das Wort Thüringen. Ja, da saß Mau mit den Kindern ...
Thüringen werden die Amerikaner gemäß dem Jalta-Abkommen im
Juli an die Russen übergeben, las ich. Was? Mau an die Russen?
Ausgeschlossen! Da muß ich sofort hin und Mau herausholen!
Der Doktor rief mich erst gegen Abend hinein.
"Herr Doktor, ich habe ... " "Hm, nein gut verheilt ..."
"Ja und außerdem habe ich ..." "Hm? nein, nichts ..."
Das ging eine ganze weile so weiter, schließlich wurde ich
nervös, ich mußte entlassen werden, ich mußte nach Thüringen!
Der Doktor untersuchte geduldig alles, was ich ihm anbot.
Wir waren schon bei den Beinen angekommen, da fuhr er mich an: "Mann,
mit den Plattfüßen und den Krampfadern sind Sie doch nicht marschfähig
und das muß ich Ihnen sagen? Sie werden entlassen!"
So, das hätten wir, aber einen Schrecken hatte mir der Doktor eingejagt! Ich dachte schon, er wollte mir nicht helfen.
Kapitel XIII
Nach Thüringen und zurück
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Schülle und ich waren entlassen, aber in unserem "Heimatort", das Dörfchen bei Plön und der Entlassungsschein war von einer
deutschen Dienststelle ausgestellt. Solange wir im Dorf waren, hatte
er zweifelhaften Wert, außerhalb des Dorfes galt er gar nichts. Es war Mitte Juni und ich erklärte Schülle, daß ich nun unverzüglich aufbrechen müßte, um meine Familie aus Thüringen herauszuholen. "Ja, aber die Entlassung gilt doch nur für hier", meinte er.
"Seit wann liest Du die Bestimmungen so genau?", fragte ich.
"Hast recht, ich mache mit!" Wir machten unsere Uniformen so
zivil wie möglich, packten unser Bündel und marschierten los nach Hamburg, aber nur bei Nacht.
Das Umgehen englischer Streifen hatten wir ja zur Genüge geübt. Wir kamen unbehelligt bis in die Nähe von Hamburg. Da erfuhren
wir allerdings unerfreuliche Neuigkeiten.
Die Elbe war hermetisch abgesperrt, niemand kam herüber oder
hinüber. Jeder Deutsche, der sich der Elbe näherte, wurde rücksichtslos abgeknallt.
Das war eine schwere Panne. "Schülle," sagte ich zu meinem
Kameraden, "da hilft nichts, wir müssen uns hier Arbeit suchen, um
Geld und Essen zu verdienen und die Lage auszuspähen."
"Ja, Du hast schon recht", meinte er, "aber dann gehen wir
am besten gleich zu den Engländern selber, da erfährt man am meisten."
"Und zu einem hohen Stab," ergänzte ich, "da ist man am sichersten, die fragen am wenigsten nach Papieren."
"Machen wir, es sieht auch viel besser aus, wenn uns zur Abwechslung ein General in's Gefangenenlager zurück befördert und nicht
so'n Kleingemüse wie bisher."
Wir waren entschlossen, an der Hauptstraße zu bleiben und in
der Nähe von Hamburg.
In Ahrensburg fanden wir einen englischen Stab, der uns vertrauenderweckend aussah. Gleich an der Straße war ein Pferdestall, in
dem wohl ein Dutzend Gäule scharrten.
"Brauchen Sie nicht zwei Pferdepfleger?", fragte ich in meinem schönsten Englisch auf der Schreibstube, in die wir ungeniert hineinmarschiert waren. - Wenn die jetzt nach Papieren fragen, dann sind
wir aber geliefert! "Ja, können wir gebrauchen. Namen?"
Sie notierten unsere Namen und sonst nichts. - "Ihr könnt
gleich in den Stall gehen und Euch bei Unteroffizier Smith melden." "Siehst Du," sagte ich hinterher zu Schülle, "der alte Gaunertrick:
bei der Polizei selber ist man am sichersten!"
Voller Bereitwilligkeit gingen wir an die Arbeit, machten
den Stall gründlich sauber - putzten die Geschirre - schön ordentlich,
nicht übertrieben eilig - wir hatten ja Zeit. Und als wir keine Arbeit
mehr fanden, erfanden wir welche. Beschäftigungstheorie ...
Am nächsten Tage hieß es: "Morgen früh müßt Ihr schon um
sechs hier sein, Ihr sollt mit zwei Lastwagen mitfahren, Kartoffeln
holen."
Ich wunderte mich warum Schülle mit einem Male so aufgeregt
war. "Du," sagte er, weißt Du, was das heißt? Kartoffeln holen, das
kann nur jenseits der Elbe sein, im Hannover'schen. Hier in Holstein
gibt es schon seit Wochen keine mehr. Längst alles aufgefressen."
"Woher weißt Du das so genau?" "In dem Lager, in dem ich anfangs war, habe ich mich gleich zu Küchendienst gemeldet Du weißt
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doch, essen und dazu noch möglichst gut und reichlich, ist meine
Schwäche!"
"Ja", lachte ich, "das habe ich schon lange festgestellt.!
"Also, da haben wir immer Kartoffeln aus dem Lüneburgischem bekommen.
Ich wäre gern mal mitgefahren, aber es hat nie geklappt."
Unsere Hoffnungen stiegen gewaltig und vor lauter Ungeduld
waren wir am nächsten Morgen schon lange vor sechs zur Stelle. Endlich
kamen die beiden Lastwagen mit den leeren Säcken an. Wir stiegen auf
und fuhren ab, Richtung Hamburg.
Die große Elbebrücke kam in Sicht - unsre Aufregung wuchs
immer mehr - sollte das Unmögliche Wirklichkeit werden ... Der Brükkenposten trat heran. Unteroffizier Smith wurde energisch: "Befehl des
Generals erklärte er mit Nachdruck, "schriftlicher Befehl". Da gab der
Posten kleinbei. Wir fuhren über die Elbebrücke. Drüben dasselbe Palaver, aber ... der General erschlug alles.
"Siehst Du, wie recht ich hatte mit dem hohen Stab," brüstete ich mich, "irgend so'n kleiner englischer Wurstverein hätte uns
nichts genützt!"
Selig fuhren wir weiter. Es ging nach Nindorf. Lange Verhandlung mit dem Bürgermeister. Der behauptete stur, er hätte keine
Kartoffeln, die Engländer behaupteten genau so stur das Gegenteil.
Zwei ebenbürtige Gegner, wir hörten uns das vergnügt an.
Endlich hatte der Bürgermeister dann doch den Kürzeren gezogen, aber viel Zeit war verloren und die Kartoffelmiete, die lag außerhalb des Dorfes und einen guten Kilometer abseits der Straße, dicht
an einem Wäldchen.
Schülle und ich wurden dahin geschickt, die Miete aufmachen
und die Kartoffeln auf Bauernwagen zu laden, die sie bis zu den Lastwagen auf der Straße fahren mußten.
"Wir dürfen uns keineswegs überanstrengen", meinte mein
Rechtsanwalt, der sowieso nicht sehr für körperliche Arbeit war, "wir
müssen die Arbeit in die Länge ziehen, bis es dunkel wird."
"Warum?", fragte ich, "der nächste Engländer ist tausend Meter entfernt und der Wald bloß hundert."
"Na ja, aber ..."
"Hast recht", fiel ich ihm in's Wort," sie haben uns anständig behandelt, da werden wie sie auch nicht sitzen lassen. Wir werden
erst unsere Arbeit fertig machen, ehe wir ihnen durchgehen".
"Gentlemen agreement", sagte Schülle und griente wie'n Honigkuchenpferd. Wir arbeiteten brav. Der erste Lkw wurde voll und als
der zweite soweit war, war die Dämmerung schon erheblich vorgeschritten. Unsere Zeiteinteilung hatte tadellos funktioniert.
"Ihr sollt mit diesem Wagen mitkommen", sagte dann gegen
Schluß das Bäuerlein, "der Engländer hat's gesagt."
"Wir müssen hier noch ein bißchen aufräumen. Kannst ihm sagen, wir kommen in zehn Minuten nach", beauftragten wir den Kutscher.
- Er fuhr ohne uns los. Wir warfen die Kartoffelforken hin und verschwanden in den
Wald. Von ferne hörten wir dann Gebrüll: "Hallo, hallo, here, here
..." und ein paar Leuchtkugeln erhellten den Himmel. Es war auch schon
ganz dunkel ... sicher hatten die beiden deutschen Kartoffellader sich
in der Finsternis verirrt, sie hatten doch so - fleißig gearbeitet ...
Für alle Fälle marschierten wir erst noch zwei Stunden, bevor wir Rast machten.
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Schülle saß da und zählte eifrig an seinen Fingern. "Was
machst Du denn da?" "Ach, laß mich mal, einen Augenblick ..."
"Du", verkündete er dann stolz, "das war das sechzehnte Mal,
daß wir den Engländern ausgerissen sind."
"Kann doch nicht sein", zweifelte ich. - Wir rechneten und
zählten gemeinsam. Tatsächlich sechzehn Mal. "Du", sagte ich, "erzähl'
das lieber keinem, das glaubt Dir niemand. Jeder hält Dich für einen
schamlosen Lügner."
Wie wanderten noch eine Strecke zusammen weiter, dann mußten
wir uns trennen. Ich mußte schleunigst nach Thüringen. Ein Abschiedsfest konnten wir nicht veranstalten, aber wir verabredeten ein Wiedersehen für später.
So wandte ich mich, ohne den Kameraden so vieler bewegter
Tage, nach dem Süden - allein.
Ich kam gut weiter, den Übergang von der englischen in die
amerikanische Zone merkte ich gar nicht. Wie sollte ich auch!
Nachts sind alle Katzen grau, die englischen und amerikanischen auch. Es ging alles so glatt, viel zu glatt. Ich wurde leichtsinnig. Vielleicht war es auch die Vorfreude auf das Wiedersehen mit
Mau? Ich rechnete mir aus, Mau müßte die letzte Nachricht von mir Anfang März bekommen haben. Jetzt hatten wir Ende Juni.
In Weißenfels, nur noch fünfzig Kilometer entfernt von Jena
und Mau, ereilte mich erneut das Geschick. Es war heller Mittag, ich
wollte über die Saalebrücke. Nur am jenseitigen Ufer stand ein verschlafener amerikanischer Posten.
Die Leute gingen hin und her über die Brücke, er sah keinen
an. So schlenderte ich recht gemütlich und unauffällig auf die Brücke
zu, hinauf, hinüber. Fast war ich an dem Posten vorbei: "Pass", brüllte er. "Pass". Kein Zweifel, er meinte mich.
Ich holte mein Entlassungspapier von Plön vor und hielt es
ihm hin. Er besah den deutschen Stempel, steckte es in seine Tasche
und mich in seine Bude. "Deutsches Papier - nix", sagte er und langte
nach dem Telefon.
Nach einer halben Stunde kam ein Jeep mit einem Offizier und
zwei Mann. Der Offizier besah mein Dokument, dann schüttelte er den
Kopf: "Deutsches Papier ..."
Sie fuhren mit mir nach Naumburg - jetzt war ich nur noch 25
km von Jena ... "Wohin bringen Sie mich hin", fragte ich. "In's Gefangenenlager", erklärte er, aber in ganz freundlichem Ton. "Das hat keinen Zweck", sagte ich, "ich bin schon sechzehn Mal ausgerissen, ich
reiße auch noch das siebzehnte Mal aus." "Aber warum denn?" "Meine Familie ist in Jena und die muß ich herausholen, ehe die Russen kommen.
Deshalb bin ich immer wieder ausgerückt und zu Fuß von Hamburg bis
hierher gekommen."
"Ich verstehe", sagte der Amerikaner nachdenklich, "aber
diesmal bleiben Sie besser drin, es dauert nur drei Tage. Ich verspreche es Ihnen."
Nach einer Weile fing er wieder an: "Wenn Sie mir das Versprechen geben, daß Sie drei Tage im Lager bleiben, helfe ich Ihnen."
"Gut", sagte ich, "aber nur drei Tage!"
Er lieferte mich im Lager ab und ging zum Kommandanten. - Es
waren etwa fünf- bis sechstausend Mann im Lager, täglich gingen ca.
vierhundert durch die Ausfragemühle des CIC. Normalerweise mußte man
drei Wochen darauf warten, daß man an die Reihe kam.
- 98 -
Ich kam am nächsten Morgen dran. Nach zwanzig Minuten war
ich wieder draußen. Das Ergebnis der Befragung war für den CIC negativ.
Lastwagen brachte mich und weitere dreihundert Mann schon
einen Tag später in das große Entlassungslager nach Erfurt.
Erfurt - 45 Kilometer von Jena.
Also hier sollte der letzte Akt spielen. Aber etwas plötzlich, wenn ich bitten darf ... Es war höchste Zeit, daß ich nach Jena
kam.
Dreitausend Mann traten am Tage darauf, - es war mein dritter und letzter Tag - auf dem Kasernenhof an, im Halbkreis um einen
Tisch herum, auf dem sich riesige Stapel von Akten häuften.
"Interpreter", rief ein amerikanischer Offizier. Niemand
meldete sich. Und wieder: "Interpreter". Beim dritten Mal meldete ich
mich. Eigentlich hatte ich ja wirklich keine Lust, Dolmetscherdienst
zu machen, aber einer mußte es ja schließlich tun ...
"Dieses hier" und damit zeigte der Amerikaner auf den Papierhaufen, "sind die Entlassungspapiere. Sie rufen einen nach dem anderen namentlich auf, lassen sich den Entlassungsort des Betreffenden
zurufen und tragen ihn ein. Dann ordnen Sie die Männer und die Papiere
nach den Entlassungsorten. In den nächsten Tagen werden die Leute auf
Lkw's in ihre Entlassungsorte abtransportiert. Verstanden? Wiederholen
Sie!"
Ich wiederholte, er war zufrieden, stellte sich daneben und
ich fing an. Eine Weile sah er zu, dann wurde es ihm zu langweilig und
er ging weg.
Ich nahm Blatt auf Blatt, schrie Namen auf Namen, trug die
Orte ein und stellte die Männer danach zusammen. Und das Stunde um
Stunde. Ich war längst heiser, aber der Stapel war immer noch reichlich groß, also griff ich mir irgendeinen, ließ ihn die Namen ausschreien und machte nur den Rest.
Von Zeit zu Zeit erschien der Amerikaner, sah sich den Betrieb an und ging wieder fort.
Mit einem Male, so zwischendurch kam der Entlassungsschein
für den Oberleutnant Hans Selb. Ich trug die Heimatadresse ein: Jena,
Thüringen. Sorgfältig faltete ich ihn zusammen und ließ ihn in meiner
Tasche verschwinden.
Weiter ging es. Nach vielen Stunden erst, wurde der Haufen
sichtbar kleiner und bei Einbruch der Dunkelheit waren der letzte Mann
und das letzte Papier sortiert. Fertig!
Die Amerikaner kamen und trugen die Papiere, schön nach Ortschaften geordnet, wieder weg. Daß ein Entlassungsschein fehlte, merkten sie nicht. Wie sollten sie auch? Bei den Mengen? Und außerdem war
es auch wirklich nicht ihre Schuld ...
Dann machte ich einen Spaziergang auf dem Kasernenhof, immer
am Zaun entlang, besah mir die Gegend und die Löcher im Draht.
Was hatte der Amerikaner gesagt? In einigen Tagen beginnen
die Abtransporte ... Wann kommt Jena dran? Morgen schon? Oder erst
nächste Woche?
Nun, meine drei Tage waren um ... also, gehabt euch wohl. Ich wartete noch eine halbe Stunde, bis es ganz dunkel war, dann wanderte ich zu meiner Lücke im Zaun - ich hatte mir ja vorher genau angesehen, welchen Weg ich nehmen mußte - ein Blick nach links, ein
- 99 -
Blick nach rechts - es war überall rabenfinster. Ich kroch hindurch
und schlich mich auf einem Feldweg davon.
Plötzlich Stimmen - Amerikaner - ich kriegte einen heillosen
Schreck, als sie mich mit ihren Taschenlampen anleuchteten, aber die
"Fräuleins" waren offensichtlich interessanter als ich. Sie ließen
mich weiterziehen.
Zum siebzehnten und letzten Male entwischte, dachte ich und
diesmal zur Abwechselung amerikanische Unterschriften und amerikanische Stempel auf den Papieren.
Die große Durchgangsstraße war nicht weit, dort fand ich einen Lastwagenfahrer, der mich nach Jena mitnahm.
Noch vor Mitternacht hatte ich Straße und Haus gefunden, wo
Mau mit den Kindern als Flüchtlinge untergebracht waren.
Ich klopfte. Nichts ... Klopfte wieder. Nicht ... Ich trommelte mit den Fäusten gegen die Haustür. Oben ging ein Fenster auf,
eine ältere Dame sah heraus: "Frau Selb, nein, die ist nicht mehr
hier. Was wollen Sie von ihr?" "Ich bin ihr Mann", - "So, Sie sind
Hans Selb", fragte sie zögernd. Ich mußte es ihr mehrmals versichern,
dann erst kam sie herunter und ließ mich in's Haus. "Bitte, wo ist
meine Frau?", wollte ich wissen.
"Ihre Frau, ja, Ihre Frau ist fortgezogen ..." "Fortgezogen?
Wann? Wohin?"
"Etwa vor zehn Tagen, aber bleiben Sie hier, ich mache Ihnen
schnell ein Bett. Morgen werden wir Ihre Frau schon finden, jetzt können Sie sowieso nicht mehr weg, es ist schon lange Sperrstunde, Sie
werden von den Amerikanern aufgegriffen."
Am nächsten Morgen lud Frau Dr. Schneider mich zum Frühstück
ein. "Wissen Sie denn gar nicht, wo meine Frau mit den Kindern
steckt?, drang ich in sie. Sie redete hin und her: "Vielleicht noch
hier in Jena, vielleicht auch bei ihrer Freundin in Weimar, vielleicht
auch noch woanders."
"Ja, warum ist sie denn fortgezogen?" "Ach, wissen Sie, die
Bombenangriffe hatten ihren Nerven wohl zu arg mitgespielt", meinte
sie zögernd. Ich hatte den Eindruck, daß Sie mir etwas verschwieg.
"Bitte, sagen Sie mir alles rundheraus", bat ich.
"Es ist sehr traurig, aber einmal müssen Sie es doch erfahren: Ihre Frau muß in ein Sanatorium." "Mau in's Sanatorium?", wiederholte ich ungläubig.
"Ja, sie hat eine Art Verfolgungswahn, sie faselte immer davon, daß die Russen hierher kommen und dann hat sie die Kinder genommen und ist weggegangen."
"Heureka", schrie ich, sprang auf und tanzte um den Tisch
herum, "dann ist sie am Ende wohl aus Thüringen raus?"
Frau Dr. Schneider sah mich sichtlich verängstigt an: "Ja,
aus Thüringen raus, das sagte sie immer". - "Ach, das ist wunderbar,
Frau Doktor, Mau ist doch ein patenter Kerl", freute ich mich. "Dann
will ich nur gleich hinterher, bevor die Russen kommen!" - Die alte
Dame mochte wohl gedacht haben: nun hat der auch noch einen Dachschaden und war sicher froh, als ich mich korrekt und mit vielem Dank verabschiedete. Geh' mit Gott, aber geh', stand ihr im Gesicht geschrieben, als sie die Tür hinter mit zumachte. Ich nahm den nächsten Lastwagen in Richtung Weimar und kam
bei Mau's Freundin Elma an. "Ist Mau nach Gronau oder nach Geislingen?" fragte ich sie noch in der Haustür. "Nach Gronau", sagte sie,
- 100 -
"aber woher weißt Du das?" "Sehr einfach, es bleiben nur noch die beiden Ausweichadressen übrig von dem halben Dutzend, das wir ausgemacht
hatten." "Ja, Mau ist mit den Kindern zu Fuß weg, vor acht Tagen."
"Na, dann will ich aber schnell hinterher. Besten Dank!"
Mal fuhr ich ein Stück, mal wanderte ich zu Fuß. Ich war gerade zwei Tage jenseits der Grenze, als ich erfuhr, daß die Amerikaner
Thüringen bereits an die Russen übergeben hatten. Ich hatte es also
eben noch so so geschafft. So, dachte ich mir und reckte mich vergnügt: das sollte nun aber mein letzter Rückzug vor dem Iwan gewesen
sein, drehte mich um und machte ihm eine lange Nase. Mehr als drei
Jahre hatten sie mich gejagt. "Und gekriegt habt ihr mich doch nicht!
Ätsch!" -
Kapitel XIV
Zonenwechsel
In Gronau fand ich Mau und die Kinder, alle miteinander in
bester Verfassung. "Ihr seht aber wirklich gut aus", freute ich mich,
"wie hast Du das bloß zuwege gebracht? Elma hat mir doch gesagt, Du
bist mit den Kindern zu Fuß weg."
"Sind wir auch, aber gar nicht weit, dann sammelte uns ein
amerikanischer Lkw auf und nahm uns mit. Amerikaner sind nun einmal
Kindernarren und Heidi, der Fratz kann so unwiderstehlich lachen. Sie
war unser Reisemarschall." "Na, doch höchstens 'ne Miniaturausgabe davon", meinte ich. "Das schon, aber es reichte aus, daß wir immer von
einer Einheit an die andere weitergereicht wurden und einmal haben sie
uns sogar im Munitionszug mitgenommen. Hunger gelitten haben wir auch
nicht dabei. Nur das letzte Stück, schon in Westfalen, da haben wir
wieder laufen müssen." Das war dann aber nicht mehr weit bis Gronau?",
fragte ich.
"Nein, aber unangenehm war's schon, es war soviel Gesindel
unterwegs. Ich hatte keine Lust, mich ausplündern zu lassen und da habe ich alles, was mir lieb und wert war - die Schmuckkassette, mein
Silber, die beiden Fotoapparate, das Zeiss-Glas - auf den Boden von
Heidis Kinderwagen gepackt, Wäsche drüber und Heidi obendrauf. Es war
ein ganz schöner Berg und Heidi stieß mit dem Kopf gegen das Dach. Das
habe ich dann abmontiert, es war ja warm.
"Und damit bist Du glatt durchgekommen, hat denn keiner den
Kinderwagen revidiert?", wollte ich wissen.
Mau fing an zu lachen: "Ohne Schwierigkeit! Heidi ist doch
noch nicht ganz stubenrein. Da drunter wollte keiner die Nase stecken.
Wir haben fröhlich durch's Gelände gestunken!"
"Macht nichts! Die Hauptsache ist, Du hast das gute Zeug behalten. Non olet!", lachte sie mit.
"Wo ist denn eigentlich unsere Erika [Kindermädchen] abgeblieben?", erkundigte ich mich. - Mau wurde wieder ernst: "Ja, unsere
gute Erika, die habe ich leider aus den Augen verloren, ich bin doch
so überstürzt von Jena fort und Erika, die war gleich nach dem Einmarsch der Amerikaner in's Ausländerlager gekommen. Als Polin war sie
nun die große Dame ... "Unsere kleine Erika?" "Ja, Sieger und all so
was, das hinderte sie allerdings nicht, mit uns weiter gut Freund zu
sein. Ganz im Gegenteil, sie war rührend besorgt um uns. Jeden Tag
schickte sie uns eine Milchkanne voll Essen aus der Lagerküche und das
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Essen war erstklassig. Heidi war zum Schluß schon so vernascht, die
wollte bloß noch die Rosinen aus dem Pudding und ich habe Erika dabei
ertappt, wie sie sie ihr geduldig herausfischte!"
"Sie hat den Fratz immer mächtig verwöhnt, aber ohne Erikas
Extra-Rationen wäret Ihr auch verdammt schlecht dran gewesen", meinte
ich. "Weißt Du, eine arge Panne ist mir aber mit dem Geld passiert", berichtete Mau ziemlich beklommen," ich habe von der Bank in
Jena kein Bargeld bekommen - sie hatten keins - da haben sie mir einen
Scheck gegeben, zwar von einer anderen Bank noch gegengezeichnet, aber
das nützt auch nichts: hier im Westen wird der Scheck nicht eingelöst.
Was machen wir da?"
"Hm," machte ich, "bei der Höhe der Summe ist das zweifellos
peinlich. Ich habe noch dreitausend Mark auf dem Leib - in meinen
Kleidern eingenäht, aber mit dem Scheck muß etwas geschehen."
Am nächsten Morgen schon machte ich mich wieder auf die
Strümpfe. Vielleicht konnte man noch in irgend einer anderen Stadt
Geld auf den Scheck bekommen?
Münster - ohne Erfolg. Dortmund - dasselbe. Hamm - Soest nichts. Vielleicht in der Nähe der thüringischen Grenze? Kassel:
"Nein, nichts zu machen - kann nicht ausgezahlt werden - Verbot der
amerikanischen Besatzungsmacht."
Das Hoffnungsthermometer hatte den absoluten Nullpunkt erreicht. Mutlos wandte ich mich zum Ausgang der Bank zu.
"Hallo", rief einer. Ich drehte mich um. Einer der Bankangestellten kam auf mich zu: "Sind Sie nicht Herr Selb aus Königsberg?"
"Ja, das bin ich." "Kennen Sie mich nicht mehr? Ich war doch der Kassierer auf Ihrer Bank dort." "Ach ja, jetzt erkenne ich Sie wieder.
Wie kommen Sie denn hierher?" "Ich bin schon vor einiger Zeit hierher
versetzt worden, mir geht's hier gut, und was machen Sie hier?"
Ich erzählte ihm von meinem Kummer mit dem Scheck. Er hörte
sich das aufmerksam an. Schließlich meinte er: "Ach, wollen wir uns
nachher nicht ein Weilchen zusammen setzen? Die Bank schließt in zehn
Minuten, dann bin ich frei." - Eigentlich hatte ich nicht viel Lust,
aber zu versäumen hatte ich ja nun nichts mehr, also sagte ich nicht
nein.
Wir setzten uns auf einen Trümmerbalken, mein Landsmann sah
sich vorsichtig nach allen Seiten um. Was hat er nur? dachte ich.
"Vielleicht, wenn Sie Glück haben," sagte er halblaut,
"vielleicht können Sie ihr Geld auf den Scheck noch bekommen." Ich
fuhr in die Höhe: "Gibt es noch eine Möglichkeit?" - "Ja, aber sie ist
sehr dünn", erklärte er mir. "Sehen Sie, die Amerikaner, die in Thüringen Geld auf der Bank hatten, die haben auch kein Bargeld bekommen,
als sie ihre Konten auflösten, es war nicht genug da. Die mußten
Schecks nehmen."
"Die werden doch ihr Geld nicht verlieren", unterbrach ich
ihn ungeduldig.
"Nein, natürlich nicht. Wenn ein Amerikaner mit seinem
Scheck zur Ortskommandatur geht, ruft die an: Die Sperre ist aufgehoben." Der Ami erscheint auf der Bank und der, der bekommt seinen Kies.
Klar, nicht wahr?"
"Sonnenklar, der Deiwel macht immer auf den größten Haufen,
hieß es in Ostpreußen so schön und den armen Menschen trifft der Wind
immer von vorn", murrte ich.
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"Ja ja", sagte mein Landsmann und fuhr dann fort: kaum hat
die Kasse gezahlt, läutet das Telefon abermals. Die Sperre gilt wieder! Und wir dürfen keinen Scheck aus dem russischen Gebiet einlösen."
"Ach so wird das gemacht", sagte ich gedehnt.
"Genau so", bestätigte er, "in den allerersten Tagen passierte das sehr häufig, aber jetzt kommt nur noch ab und zu ein Nachzügler. Und die Schwierigkeit ist, daß Sie den Moment abpassen müssen.
Ich weiß nicht recht, wie man das machen kann."
"Nichts einfacher als das. Ich setze mich in die Ecke vom
Schalterraum, wenn die Bank aufmacht und Sie geben mir ein unauffälliges Zeichen, wenn ... Ein Blick genügt."
Am nächsten Morgen bezog ich meinen Posten auf der harten
Bank und wartete. Nichts. Der zweite Tag. Nichts. Der dritte Tag, wieder nichts, es war schon unmittelbar vor Dienstschluß. Da traf mich
der Blick.
Ich stand auf und ging zur Kasse. Anstandslos bekam ich mein
Geld. Außer mir vor Freude raffte ich es zusammen und rannte eiligst
davon, damit sie es mir nur ja nicht wieder abnehmen konnten.
Der amerikanische Offizier, dem ich in der Tür vor dem Bauch
rannte, schimpfte nicht eben salonfähig hinter mir her. Vielleicht war
ich ihm auch auf's Hühnerauge getreten, ich war ja so konfus im Moment.
"Das reicht für 'ne Weile", meinte Mau, die sich schon um
mich gesorgt hatte, weil ich über eine Woche weggeblieben war.
Das winzige Zimmerchen, das wir in Gronau hatten, war sehr
bescheiden, man konnte sich kaum umdrehen. Außerdem hatten wir sehr
bald auch noch Schwierigkeiten wegen der Lebensmittelkarten. Die Stadt
meinte, da sie ein paar Bomben abbekommen hatte, brauchte sie keine
Flüchtlinge aufzunehmen.
So sahen wir uns nach einer anderen Bleibe um und ich machte
mit Mau einen Nachmittagsspaziergang nach dem benachbarten Epe. Ohne
uns lange mit der Vorrede aufzuhalten, ließen wir uns beim Bürgermeister Kösing melden. Der besah uns recht kritisch: "Was wünschen Sie?"
fragte er. Wir erzählten ihm unumwunden unsere Geschichte. Darauf
langte er schweigend in eine Schublade seines Schreibtisches und holte
ein Ei und ein gutes westfälisches Butterbrot heraus.
"Das nehmen Sie mal Ihren Kindern mit und dann", er griff in
ein anderes Fach, "hier haben Sie Lebensmittelkarten. Einen Augenblick
..." - er wehrte mit einer Handbewegung unseren Dank ab, "eine Wohnung? Eine Wohnung?" Er dachte angestrengt nach. "Ich hätte wohl eine,
aber großartig ist sie nicht. Gehen wir doch eben gleich mal hin."
Er stand auf, wir folgten ihm durch's ganze Städtchen,
betraten die große Schule, kletterten diverse Treppen hinauf.
"Hier," sagte er, "etwas besseres habe ich leider nicht." Er
öffnete die Tür: zwei nette Mansardenzimmer mit Zentralheizung, eine
kleine Küche mit Gasanschluß. "Wunderbar, können wir die bekommen?"
"Wenn Ihr wollt, ja. Aber wie steht's mit Möbeln?"
"Zwei Matratzen und einen Hocker ohne Sitz, aber wir werden
im Laufe der Zeit noch was auftreiben, Herr Bürgermeister." "Hm, dann
gehen wir jetzt mal zu meinem Freund Gerber, das ist der Eisenhändler
nebenan. Wollen mal sehen, was wir dem locker machen können."
Bald war ein eisernes Bett, Kochtöpfe, eine Brennhexe - das
Gaswerk konnte nur zwei Stunden am Tag arbeiten - und etwas Geschirr
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unser eigen. "Da, nehmt noch dies mit - Hammer, Säge, Zange, Nägel dann könnt Ihr Euch dies und das selber machen."
Wir wußten gar nicht wie uns geschah ...
Am nächsten Tag zog das müde Pferd des Milchhändlers zwei
Matratzen, einen Hocker ohne Sitz, ein bißchen Krimskrams und zwei
Kinder gen Epe und Mau und ich schritten vergnügt hinterdrein, als
hätten wir ein Königreich geschenkt bekommen.
In unserer neuen Wohnung fanden wir noch allerlei nützliche
Dinge vor, fein säuberlich in einer Ecke aufgebaut: einen Gaskocher nicht neu, aber er tat's bestimmt noch - Decken, Wäsche, Sachen für
die Kinder. Außerdem einen großen Tisch und ein paar Holzschemel. Wir
gingen zum Bürgermeister, um uns zu bedanken und fragten, wo wir die
Miete bezahlen könnten.
"Miete, nein, für die Wohnung ist keine Miete festgesetzt",
sagte er, "das ist die Schuldienerwohnung, aber wir haben ja keinen.
Und außerdem werdet Ihr Euer Geld noch für was anderes brauchen."
Wir richteten uns in Epe häuslich ein. "Hier oben werden wir
ungestört schlafen können", meinte Mau, "hierher kommen die nächtlichen Militärkontrollen bestimmt nicht." Der Ansicht war ich auch. "Sieh mal, Mau, was ich hier noch habe", sagte ich uns holte eine alte
Büchse aus dem Rucksack heraus. Mau machte große Augen.
"Pfui Teufel, das Schmalz ist ja vollkommen ranzig und so
dreckig. Warum schleppst Do so was mit Dir herum?" Sie rümpfte die Nase. - "Langsam, langsam gib mir lieber mal zwei Streichhölzer, können
sogar abgebrannte sein."
Vorsichtig hob ich einen Klumpen aus der stinkenden Masse,
jetzt wurde mau neugierig. "Einen alten Lappen oder ein Stück Papier",
bat ich. - Ein bißchen hin- und hergerieben und schon kam meine gute
alte Armbanduhr zum Vorschein. Ich zog sie auf: tick-tick-tick machte
sie ganz regelmäßig. "Was, da hast Du sie aufbewahrt?", staunte Mau.
"Ja, und niemand hat sie gefunden. Alle Kontrollen waren von dem Büchseninhalt ebenso unangenehm berührt wie Du eben." Gleich neben uns war die hohe Besatzungsmacht: Belgier in
englischer Uniform. Unsere Bahnstation war Gronau, aber das Bähnle
fuhr so früh, daß man eine halbe Stunde vor Schluß der Sperrzeit aufbrechen mußte. Da gab es immer wieder Malheur mit der Streife.
"Curfew" - Sperrstunde - brüllte mich der Posten an und
machte Miene mich mitzunehmen. Ich sprach ihn auf englisch an. Er
verstand nicht, mehr als Curfew konnte er anscheinend nicht. Na schön,
du bist Belgier, dachte ich, also dasselbe noch mal auf französisch.
Er verstand immer noch nicht. Ich war am Ende mit meinem Latein. "Können Sie denn nicht deutsch?", fragte der uniformierte
ziemlich kläglich. Es war ein junger Flame. Wir schieden als gute
Freunde, nur mußte ich ziemlich rennen, um den Zug nicht zu verpassen
...
In unserer Wirtschaft fehlte noch so manches. Vieles machte
ich selber, aber alles ging nun mal nicht. "Mau," sagte ich eines Tages, "wir müssen beweglicher sein. Ein Fahrrad muß her, dann findet
man viel mehr Gelegenheiten" "Und ich hätte gern ein Radio, Zeitungen
gibt's keine und so ganz ohne Musik?", meinte sie.
Also holten wir die beiden Fotoapparate vor, wienerten sie
schön blank und ich ging damit hausieren. Das Fahrrad hatten wir bald
und wenig später auch einen holländischen Philips, fast neu und sehr
schön laut. - 104 -
Mit dem neu ertauschten Fahrrad kam ich in die entlegensten
Dörfer, die kleinen Tischlereien hatten noch beträchtliche Lager. Für
viel Geld und noch mehr gute Worte verkaufte der eine mir Bettgestelle, der andere Stühle, der dritte einen Wohnzimmertisch und einer sogar einen halben Kleiderschrank. Das Gerippe eines Schrankes, zur Verkleidung bekam ich anderswo winzige Sperrholzplättchen. Das fertige
Möbel sah sehr niedlich aus, war allerdings nicht übermäßig stabil.
Glanzstücke unserer Einrichtung wurden ein paar Bürosessel, schönes
Holz und kerzengrad', die reinsten Marterinstrumente. Her mit der Säge, die Beine schräg abgesägt, hinten tiefer als vorn und dann waren
es plötzlich bequeme, richtige Wohnzimmersessel.
Wir fühlten uns in Epe heimisch. Und die Einheimischen waren
wohl auch der Meinung, daß wir zu ihnen gehörten. Klopfte der Leichenbitter an die Türen, so klopfte er auch bei uns und der Sitte gemäß
gingen wir im Trauerzuge mit, auch wenn wir keine Ahnung hatten, wem
wir die letzte Ehre erwiesen.
Eines hatten wir in Epe nicht: Arbeit. Und so fingen wir an,
Bewerbungsschreiben zu tippen, als die Post wieder funktionierte. Mau
mit Erfolg - die Oberschulen brauchten alle Lehrkräfte - ich ohne die Industrie lag noch still. .
Mau stellte sich vor: die Schulen sagten ausnahmslos: ja die Wohnungsämter genau so ausnahmslos: nein. - Wir mußten einsehen,
daß wir in Westfalen und im Rheinland nicht weiterkommen konnten. "Na,
denn nich', dann gehn wir auf 'nen andern Hof spielen!"
Die Bewerbungsschreiben gingen nunmehr nach Süden: Bayern
und Württemberg. - Die Antworten kamen: alles für Mau, nichts für
mich. - Auf nach Süden!
Kempten im Allgäu, die alte Reichsstadt, hatte es Mau gleich
angetan, Liebe auf den ersten Blick. Sankt Lorenz, Barock, auf der Höhe - Sankt Mang, gotisch, drunten im Tal. Nur mühsam bekam ich sie weg
von der Residenz, vom Kornhaus und vom Rathausplatz - und in die Gegenwart zurück.
"Mau," mahnte ich, "das Wohnungsamt". - Die Schulbehörden
waren ja nicht das Problem.
Das Wohnungsamt seufzte: "Sehr schwierig, der Fall. Im Moment nichts zu machen. Vielleicht später ..."
In eine "vielleicht später"-Wohnung konnten wir nicht einziehen, "sehr schwierig der Fall" ...
"Schau, die Burgruine da", Mau war schon wieder der Gegenwart entrückt und befand sich irgendwo im Dreißigjährigen Krieg. "An
der Burghalde", las sie. Aus den in den Felsen gebauten Keller schauten in langen Reihen Allgäuer Käse heraus, eigentlich fand ich die
beinahe interessanter ...
"Das rote Haus", Mau stand bewundernd davor. "Da ist 'ne
Wirtschaft drin, komm vielleicht kann man da was essen", das war ich
natürlich. Mau hatte nichts dagegen, bestand aber auf einem Tisch am
Fenster. Der mittelalterliche Brunnen auf dem Platz und dahinter St.
Mang, sie war ganz in den Anblick versunken. - Mir war der Fensterplatz nicht sehr sympathisch, wir hatten keine Aufenthaltsgenehmigung
für die amerikanische Zone und jeden Augenblick konnte eine Streife
auftauchen.
Ein Radfahrer fuhr draußen vorbei, sah uns am Fenster, warf
sein Rad hin und war schon an unserem Tisch: "Hans, Hans Selb, ja , Du
bist doch Hans Selb?" Es war mein alter Schulfreund und Bankgenosse
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aus der Burgschule. "Gerhard, zwanzig Jahre warst Du verschwunden. Was
tust Du hier?" - "Ich wohne hier, ich habe hierhin geheiratet."
Natürlich mußten wir ihm unsere Situation schildern. Gerhard
kratzte sich bedenklich am Kopf: "Eine Wohnung? hier in der Stadt? Unmöglich." - Er überlegte: "Im Landkreis, da könnte es eher gehen. Die
Dringlichkeitsbescheinigung habt Ihr ja."
Und es ging. Wir bekamen drei Räume zugewiesen: eine Wohnküche parterre links, ein Zimmer im ersten Stock links und das andere im
ersten Stock rechts. Nicht gerade eine geschlossene Wohnung, aber es
war wenigstens alles unter ein und demselben Dach. Und das Haus, das
stammte nicht aus dem Mittelalter, stellte ich beruhigt fest.
"Lenzfried? - Das muß doch Lorenz-Fried sein", grübelte Mau.
Von mir aus konnte sie jetzt ungestört in der Geschichte spazieren gehen: wir hatten eine Wohnung. Und sie lag nicht zu weit von der Stadt
weg, Mau konnte zu Fuß zum Dienst laufen. Sehr zufrieden ging ich in Epe zur Bahn: "Ich bitte um einen
Güterwagen für Möbeltransport von hier nach Kempten im Allgäu". Der
Beamte sah verständnislos aus. Ich wiederholte. "Nein", sagte er, das ist ganz unmöglich. Wir können Ihnen
keinen geben. Ausgeschlossen! Nur auf ausdrücklichen Befehl der Besatzungsmacht."
Befehl der Besatzungsmacht? Wie sollte ich die wohl dazu
verleiten, mir das zu befehlen? Und in die amerikanische Zone obendrein, müßte der Umzugsbefehl sein... Ich sprach mit Bürgermeister Kösing, mit Ämtern in Gronau. Ein Urteil nur: Ausgeschlossen. Lastwagen? Unmöglich, wegen der Benzinzuteilung. Eine Fahrt über die Zonengrenze? Ausgeschlossen! Da standen wir nun: hatten im Allgäu eine gute Existenz und
ein Unterkommen. Aber wir konnten nicht hin.
"Angekettet wie Prometheus", fiel Mau in die klassische Bildung. "Du trainierst wohl schon auf Deutschlehrer? Davon bist Du aber
noch reichlich weit weg, fast siebenhundert Kilometer weit weg, wenn
Du's genau wissen willst", knurrte ich verbittert.
Es war auch wirklich zum Verzweifeln! Verzweifeln? Nein, das nicht! Verzweifeln? Nein, nie. - Ich
schrieb eine Anzahl Gesuche auf Englisch, sattelte den Tretesel und
fuhr zur nächsten englischen Kommandatur. Fast flog ich die Treppe
herunter, mein Gesuch flog mir als Konfetti um die Ohren. - Na, wenn
schon, Gesuche hatte ich noch ein Dutzend in der Tasche.
Auf zum Nächsten: "Was. Sie wollen hier weg? Kommt nicht infrage, Kohlen schippen werden Sie. Adjutant, nehmen Sie die Personalien von dem Kerl auf: kommt in's Bergwerk!" Mit Mühe und nur dank ausgedehnter Praxis konnte ich entwischen. Der Schreibstubenhengst war
mir auf dem Gebiet eben nicht gewachsen. So ging es munter fort, jeden Tag mindestens drei Kommandaturen. Immer weiter mußte der Esel traben, ein Paar neuer Reifen war
fällig ... Aufgeben? Nein! Endlich nach vier langen Wochen schien eines Tages die Sonne
und erleuchtete gnädigst den Geist so eines englischen Kommandanten.
Er schrieb mir den Umzugsbefehl, mit Hand. Eine Sauklaue hatte der hohe Herr! Der Text war kaum zu entziffern. An der Seite ließ er einen
breiten Rand frei.
Wir spannten den Bogen in die Maschine und setzten die deutsche Übersetzung daneben - auf den breiten Rand! "A special waggon is
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not necessary" ... stand da. Sinngemäß übersetzt hieß das, wir sollten
nicht einen ganzen Güterwagen bekommen, sondern irgendwo zugeladen
werden, aber Fracht von Epe nach dem Allgäu, das gab's ja damals nicht
...
Wir entschieden uns für die wörtliche Übersetzung wie in
fernen Pennälertagen und schrieben Wort für Wort: "Ein Spezialwaggon
ist nicht erforderlich". - Nein, bestimmt nicht, wir waren mit jedem
x-beliebigen Güterwagen zufrieden! - Ich ging zur Bahn - die Strecke
war inzwischen wieder bis Epe in Betrieb - und legte das kostbare Dokument vor. Der Beamte blieb mühsam ernst. - Sollte der etwa Hieroglyphen entziffern können und englisch verstehen? "Der Befehl ist in Ordnung, kein Zweifel, aber wir haben
keinen Waggon da. Wir müssen die leeren immer gleich zurückschicken.
Sobald wir einen haben, bekommen Sie Nachricht. Dann müssen Sie jedoch
innerhalb von zwei Stunden fertig beladen, wir können nicht warten"
erklärte er mir sehr freundlich und um seine Mundwinkel zuckte es verdächtig. - Er sah wohl auch nicht ein, warum er päpstlicher als der
Papst sein sollte! - Also, die Hürde war genommen, obwohl sie eigentlich viel zu hoch gewesen war für so kleine Pferdchen! Nun galt es ein Fahrzeug zu organisieren, das auf Abruf unsere Sachen zur Bahn bringen mußte. Ein Bauer versprach es.
Zwei Stunden Zeit, hatte die Bahn gesagt. Nicht übertrieben
viel, um einen ganzen Haushalt zusammen zu packen. Also fingen wir
lieber gleich an. Wir nahmen die Möbel auseinander und wohnten
daneben. Ein Kochtopf blieb draußen, es gab jeden Tag Eintopf. Wir
schliefen auf dem Fußboden: "Ich komme mir vor wie in Wallensteins Lager", stöhnte Mau.
Wir hatten mit einigen Tagen Wartezeit gerechnet, es wurden
zwei Wochen. Dann kam die Meldung von der Bahn: "Ihr Waggon ist da,
der Zug muß in zwei Stunden abfahren." Keine Überraschung, das hatten
sie ja gleich gesagt.
Hin zu dem Bauern. Der war nicht da. "Auf dem Felde?" "Wo
ist das?" - "Weiß ich nicht, wir haben so viele, alle verstreut." Als ich ihn endlich fand, ließ er alles stehen und liegen und kam sofort mit dem Leiterwagen an.
Nun trage einer mal den ganzen Krempel drei Treppen herunter. Laden. Zehn Minuten Weg zu Bahnhof. Die zweite, die dritte Fuhre.
- Es ließ sich nicht machen: der Zug bekam zehn Minuten Verspätung.
Die letzte Fuhre wurde abgeladen mit dem Stationsvorsteher und der
Kelle daneben, immer nur hineingeworfen, ruck-zuck - ruck-zuck - Noch
fehlten die letzten Sachen, da ruckte das Bähnle schon an und das
Kleinzeug flog in den schon fahrenden Zug. Plötzlich eine Staubwolke. Autobremsen quietschten, der Karren stellte sich quer. Heraus sprang unser Doktor, schleppte mit hängender Zunge eine übervolle Markttasche, schleuderte sie in kühnem
Schwung uns vor die Füße. Natürlich kullerte alles lieblich im Gelände
herum. "Gute Reise", rief er uns noch nach.
Epe war sich selber treu geblieben: mit einem Ei und einem
Butterbrot hatte es uns freundlich aufgenommen, mit einer Sonderverpflegung für die ganze Reise verabschiedete es sich von uns. Und das
zu einer Zeit, wo die Bäckerjungen die Brötchen durch's Schlüsselloch
warfen ...
In dem Waggon herrschte ein wildes Chaos. Alles durcheinander. Aber wir hatten ja Zeit zum Aufräumen. Wir legten die Matratzen
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aus und bauten den Kleiderschrank schön zu unseren Köpfen als Windfang
auf. Ich legte mich früh schlafen, ich war hundemüde. Mau versorgte
noch die Kinder. Da - beim Rangieren - ein heftiger Ruck. Der Schrank
kippte und prasselte auf mich herauf. Mau hievte das verfluchte Brettertier wieder hoch. Aber ich sah aus wie ein geschundener Raubritter.
Als es hell wurde, kam der Rhein in Sicht. Wir stellten die
abgesägten-Beine-Sessel in die Tür und fuhren so erster Klasse Aussichtswagen. Diese Rheinreise bei herrlichem Sonnenschein war bestimmt
ein einmaliges Erlebnis! Endlich kamen wir in Kempten an, die Bahn hatte uns fleißig
rangiert und auf großen Umwegen hingebracht, aber wir waren da. - Ich
besorgte ein Fahrzeug und fuhr mit dem beladenem Wagen mit. Mau blieb
am offenem Waggon als Wache zurück.
Die Fuhre hielt vor "unserem" Haus. Frau Fuchs kam heraus:
"Nein", erklärte sie kategorisch und versperrte die Tür, "nein, sie
kommen hier nicht herein. Sie Wollen der Herr Selb sein, dem die Wohnung zugewiesen ist? Nein, der sah ganz anders aus!" Es half nichts,
ich mußte erst Mau holen als Beweis meiner Identität. Mau durfte hinein und ich dann auch. Ich tat einen Blick in den Spiegel: Frau Fuchs
war entschuldigt, der Kleiderschrank hatte meiner männlichen Schönheit
ganz gewaltig Abbruch getan!
Aller Unbill zum trotz waren wir nun doch im Allgäu. Mau
verdiente die Brötchen, für mich war keine Arbeit zu bekommen. Ich
baute Radios und verkaufte sie, aber das war alles nicht das richtige:
das Leben als Prinzgemahl war eben nichts für meinen Unruhegeist. Und
je länger es dauerte, desto unerträglicher wurde es. Ich schrieb an Verwandte und Freunde im Ausland: habt Ihr
Arbeit für mich? Die Antworten kamen in freundlichen Briefen und Carepaketen - Arbeit? Natürlich! Aber die Einreise ist gesperrt! Aus Kanada und Südafrika. Nur der alte Onkel in São Paulo, der ließ sich Zeit
mit der Antwort. Dann kam sie: ein Haufen Formulare, dazu der Brief:
ich brauche Dich hier dringend in meiner Fabrik, Deiner Einreise steht
nichts im Wege. Nun bekam ich doch Angst vor meiner eignen Courage. Hin zum
Arbeitsamt: "Nein, wir haben nichts für Sie."
Hier arbeitslos - drüben warten sie auf dich ...
Die brasilianische Militärmission forderte Dokument an. Wir
schickten sie. Und dann passierte gar nichts, monatelang gar nichts! Am 10.1.49 kam ein Telegramm: Am 13.1. in Hamburg sein,
Schiff fährt am 15.1.
In Rekordzeit schlug ich ein paar Kisten aus Brettern zusammen, die Koffer wurden gepackt. Kaum hatten wir noch soviel Zeit, von
der Stadt Abschied zu nehmen, in der Mau sich so heimisch gefühlt hatte und in der ich mir immer so überflüssig vorgekommen war!
Wir waren am 13.1. in Hamburg, aber - das Schiff war nicht
da! "Das Schiff hat in Amsterdam Havarie gehabt und mußte zur
Reparatur abgeschleppt werden Sie müssen etwas warten," lautete die
Auskunft auf dem brasilianischen Konsulat.
"Wie lange?", fragten wir. "Ja, das wissen wir nicht so genau, es kann zwei Monate dauern mit der Reparatur. - "Dann fahren wir
doch besser zurück", erklärten wir, "und Sie schicken uns ein Tele- 108 -
gramm ..." "Nein, das geht nicht, wir wollen sehen, ein anderes Schiff
her zu dirigieren". Also wohnten wir in Hamburg bei Verwandten - Flüchtlinge und
Ausgebombten, die noch ein Plätzchen für uns hatten, obwohl sie selber
keinen Platz hatten - und warteten. Unsere unfreiwillige Muße benutzten wir dazu, den Freunden in Kempten wenigstens brieflich noch Lebewohl zu sagen. Es war so schnell gegangen, daß wir nicht herumgekommen
waren.
"Hier ist ein Brief für Sie", hieß es eines Tages auf dem
Konsulat. Unsere Kemptener Freunde fragten nach unserer Anschrift, um
uns das Geld zu schicken, das sie für uns gesammelt hatten. "Das Leben
in Hamburg ist doch so teuer", meinten sie. Wir dankten herzlich für
den guten Willen, wir brauchten den Beweis ihrer Freundschaft aber
nicht mehr anzunehmen, ein anderes brasilianisches Schiff hatte am Kai
festgemacht.
Wir gingen an Bord - und waren in einer fremden Welt.
Langsam drehte die "Almirante Alexandrino" ihre Nase in das
Fahrwasser, ganz langsam ...
Abschiedsrufe ertönten von Bord und am Ufer, Verwandte und
Freunde schwenkten die Tücher.
"Viel Glück in der Neuen Welt" erklang es erst laut, dann
immer leiser und leiser ... ...
E N D E
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