Vegetarierbund: Streit ums Hühnerei Sterben für vegetarische Mortadella mehr Tiere als für Mortadella aus Fleisch? ▶ Seite 7 AUSGABE BERLIN | NR. 11066 | 28. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ MONTAG, 11. JULI 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Grüne steuern irgendwohin FINANZPOLITIK Die Grünen wollen die Einkommensteuer erhöhen, schonen aber die eigene Klientel. Im Wahlkampf sollen eher Vermögen- und Erbschaftsteuer im Fokus stehen, sagt Parteichefin Simone Peter im taz-Interview. Doch in diesen beiden Punkten ist die Partei trotz zweijähriger Diskussion uneins ▶ SEITE 3 FUSSBALL Nach der EM ist vor der WM: Das nächste große Turnier findet 2018 in Russland statt. Was das für den Sport heißt ▶ SEITE 17 BERUFSAUSLÄNDERIN Warum Laila Oudray keine Expertin für Migration sein will ▶ SEITE 11 AKROBATIK Ein Zirkus in Bukarest will Straßenkindern eine Perspektive geben ▶ SEITE 14 Foto: Mario Lars VERBOTEN Guten Tag, dpa-KollegInnen! Wenn ihr am heißen Sonntag aus euren Redaktionsstuben Sätze wie „Unzählige Menschen haben am Wochenende das herrliche Sommerwetter genutzt und sich an Seen, in Freibädern oder am Meer getummelt“ rausschwitzt, ist das dann Selbstmitleid? Oder habt ihr einen der Schatten, den die Linke laut Ramelow überspringen muss (dpa), während Gauck sich in Südamerika um den der Vergangenheit kümmert (dpa) und es einem Diskuswerfer nicht gelang, aus dem seines Bruders zu treten (dpa)? Oder ist es etwa der Diesel-Schatten (dpa), der immer länger wird? TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 16.062 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Tausende Menschen zogen am Sonntag zum Gelände der Vereinten Nationen, um dort Schutz vor den Kämp- fen zu suchen, meldete das UNFlüchtlingshilfswerk UNHCR. Wegen der Spannungen hatte die Regierung die Feiern zum fünften Jahrestag der Unabhängigkeit am Samstag abgesagt. Truppen von Präsident Salva Kiir haben am Sonntag die Zentrale von Anhängern des Vizepräsidenten Riek Machar unter Beschuss genommen, berich- Wütender Protest BERLIN tete die Zeitung Sudan Tribune. Bereits am Freitag hatten sich Leibwächter und Wachmänner der beiden rivalisierenden Politiker Feuergefechte vor dem Präsidentenpalast geliefert. Südsudan wurde am 9. Juli 2011 vom Sudan unabhängig. Es ist trotz Ölvorkommen eines der ärmsten Länder Afrikas. ▶ Ausland SEITE 8 123 verletzte Polizisten nach linker Demo BERLIN dpa/taz | Bei Protesten ge- gen die Teilräumung eines Hauses sind in Berlin 123 Polizisten verletzt worden. Wie die Polizei am Sonntag mitteilte, gab es 86 Festnahmen. Es sei die aggressivste Demonstration der letzten fünf Jahre in Berlin gewesen. Am Samstagabend hatten laut Polizei rund 3.500 Menschen demonstriert. Polizisten seien mit Flaschen, Steinen und Knallkörpern beworfen worden. Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) sprach von einer „linken Gewaltorgie“. Die „Radikale Linke Berlin“ bedankte sich auf Facebook bei den Teilnehmern der Demo, man habe sich „trotz massiven Bullenaufgebots nix diktieren lassen“. ▶ Der Tag SEITE 2, Berlin SEITE 22 KOMMENTAR VON GEREON ASMUTH ÜBER KRAWALLSCHACHTELN IN BERLIN E Szenekämpfer und Wahlkämpfer s rumst mal wieder in Berlin. In der Hauptstadt gehen Schaufenster zu Bruch, ein paar Autos werden angezündet, Politikerbüros mit Parolen beschmiert. Tausende Linksradikale in modischem Szeneschwarz demonstrieren durch ein nächtliches Partyviertel, die Polizei teilt auch ordentlich aus, es gibt Verletzte auf beiden Seiten. Der Boulevard schreibt von Terrornächten. Typisch Berlin? Ja, typisch Berlin. Die Hauptstadt spielt mal wieder Häuserkampf. Fast so wie damals zu Beginn der 80er und 90er Jahre, als binnen wenigen Monaten jeweils weit über 100 Häuser besetzt wurden. Die Betonung liegt auf „fast“. Denn diesmal geht es um nur ein Haus in der Rigaer Straße. Genauer gesagt: ein Hinterhaus. Und das ist nicht einmal besetzt. Das war es mal. Vor 25 Jahren. Seither gab es Mietverträge. Das einzige Problem daran: Die Verträge wurden seither nie angepasst, obwohl Bewohner wie Besitzer mehrfach gewechselt haben. Aber solche Details interessieren kaum, die stören ja nur die Show. Und darum geht es. Da ist zum einen die linksradikale Szene, die sich freuen kann, mit der Rigaer 94 mal wieder ein Symbol im Kampf ums große Ganze zu haben, das konkret gegen Gentrifizierung, Kapitalismus, Spekulanten und Polizei verteidigt werden kann. Und da ist zum anderen der Berliner Innensenator Frank Henkel. Der ist im Nebenjob auch CDU-Spitzenkandidat für die Berlinwahl im September und hat mit der Rigaer 94 ebenfalls sein Symbol für den Kampf ums große Ganze gefunden. Denn Berlin hat zwar längst die höchste Polizeidichte aller Bundesländer, und die Zahl der Gewalttaten ist in den letzten Jahren gesunken. Aber wenn Radikalins- Die Hauptstadt spielt mal wieder Häuserkampf – und Stimmenfang kis Autos anzünden, kann er sich als starker Mann präsentieren, der für die weitere Aufrüstung der Polizei sorgt. Den Stimmenfang mit Polizeitruppen hat Henkel nicht exklusiv. Vor fünf Jahren gab es exakt das gleiche Eskalationsschauspiel. Die einst besetzte Liebigstraße 14 wird zum Terrornest hochgejazzt und geräumt – kurz vor der anstehenden Wahl. Nur dass der damalige Innensenator von der SPD gestellt wurde. Die erinnert sich heute an das probate Lösungsmittel der 80er und 90er Jahre und fordert Gespräche mit allen Beteiligten. Das hat immer ganz gut funktioniert – außer wenn Hardcore-Nichtverhandler auf der letzten Schlacht bestehen wollten. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN BESCHÄFTIGTE KAI RO UN D LAGOS Immer mehr haben einen Zweitjob Bis 2030 je rund 25 Millionen Einwohner NÜRNBERG | Immer mehr Be- Trainierte seit Wochen im Garten: Micah Xavier Johnson Foto: ap Der Schütze von Dallas E s gibt ein Foto, das Micah Johnson in bunt besticktem Gewand mit gereckter Black-Power-Faust zeigt, eher melancholisch als wütend in die Kamera blickend. Das Bild hat er auf seine Facebook-Seite gestellt. Jetzt soll es dazu beitragen, Antworten auf die Frage zu finden, warum ein 25-jähriger Afroamerikaner im Zentrum einer Großstadt ein Blutbad anrichtet und dabei systematisch Polizisten ins Visier nimmt. Micah Xavier Johnson, der sich am liebsten X nannte, nach seinem zweiten Vornamen, scheint sich akribisch vorbereitet zu haben auf seine Tat. Das zumindest glauben die Ermittler aus einem Tagebuch des 25-Jährigen herauslesen zu können, das in dem Haus gefunden wurde, in dem er gemeinsam mit seiner Mutter lebte, in Mesquite, einer Satellitenstadt am Rande von Dallas. Als er die Polizisten in Dallas attackierte, verschanzte er sich in einem Parkhaus und feuerte von oben auf die Beamten in den Straßen, wechselte seinen Standort und schoss erneut. Wenn stimmt, was Nachbarn erzählen, dann hat er den Garten des Anwesens in Mesquite als eine Art militärischen Übungsplatz benutzt, übrigens bereits vor den Polizistenschüssen auf Schwarze in Louisiana und Minnesota, in denen manche ein Tatmotiv sehen. In seiner Wohnung fand die Polizei zudem ein umfangreiches Arsenal von Waffen, Munition und Material zum Bau von Bomben. 2009, unmittelbar nach dem Highschool-Abschluss, ging Johnson zum Militär. Von Herbst 2013 bis Sommer 2014 war er im Einsatz in Afghanistan. Wegen des Vorwurfs der sexuellen Belästigung einer Soldatin wurde er vorzeitig nach Hause geschickt. Nach seiner Rückkehr vom Hindukusch soll er sich nach und nach radikalen afroamerikanischen Gruppen zugewandt haben, obskuren Nachfolgern der Black-Power-Bewegung der sechziger Jahre, die die Polizei in Amerika pauschal als Instrument der Unterdrückung von Schwarzen begriff. Eindeutige Beweise für seine Mitgliedschaft in einer dieser Organisationen gibt es nicht, doch auf seiner inzwischen gesperrten Facebook-Seite waren Hinweise zu sehen, dass er mit ihnen zumindest sympathisierte. Ausland SEITE 9 Der Tag MONTAG, 1 1. JU LI 2016 schäftigte verdienen neben ihrem Hauptberuf mit einem Minijob Geld dazu. Bundesweit übten zum 30. Juni 2015 bereits rund 2,5 Millionen Arbeitnehmer neben ihrer sozialversicherungspflichtigen Stelle einen Nebenjob aus – in der Regel auf 450-Euro-Basis. Das ergibt sich aus einer Sonderauswertung der Arbeitsagentur im Auftrag der Linken-Abgeordneten Sabine Zimmermann. 2004 lag die Zahl der Doppel-Jobber nach den Angaben aus Nürnberg noch bei 1,4 Millionen. „Für immer mehr Be- schäftigte reicht ihr Einkommen aus einem Job nicht aus, und sie müssen sich mit einem Minijob etwas dazuverdienen“, erklärte Zimmermann den Zuwachs. Ein Sprecher der Bundesagentur relativierte diese Interpretation: „Es ist nicht allein das Geld, es gibt genügend andere Gründe, die für einen Nebenjob sprechen.“ Er verwies darauf, dass Beschäftigte zunehmend im Hauptjob die Arbeitszeit reduzierten. Dann könne es reizvoll sein, gleichzeitig mit einer anderen Tätigkeit und steuerlich begünstigt in einem Mini job hinzuzuverdienen. (dpa) WIESBADEN | Die Bevölkerungs- zunahme in Afrika lässt die Großstädte in den nächsten Jahren massiv wachsen. Während es dort derzeit sieben Städte mit mehr als 5 Millionen Einwohnern gebe, seien es bis 2030 voraussichtlich 18, erklärte das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden. In diesen Metropolen lebten dann rund 176 Millionen Menschen. Kairo in Ägypten und Lagos in Nigeria dürften mit je rund 25 Millionen Einwohnern die bevölkerungsreichsten Städte Afrikas werden. (epd) TAZ.DE / TZI Unser Ziel: Unabhängiger Online journalismus ohne Bezahlschran ke. Schon 8.027 Menschen zahlen freiwillig für taz.de. Alles rund um unsere Pay-Wahl unter taz.de/zahlich Anknüpfen im Netz www.taz.de BÜRGERSTEIGE New York verbietet Klimaanlagen NEW YORK | Wer in New Yorks Straßen ins Schwitzen gerät, freut sich über offene Türen klimatisierter Läden. Deren kühler Luftstrom bietet an heißen Tagen eine nette Abkühlung. Um den Energieverbrauch zu senken, hat die Stadt diese total verschwenderische Kühlung der Bürgersteige verboten. Bei Missachtung der neuen Richtlinie drohen 250 Dollar Strafe. Laut Stadtverwaltung entsprechen die CO2-Einsparungen durch das konsequente Schließen von 10.000 Türen den Emissionen von 3.600 Autos. (ap) Kleinkrieg um die Rigaer94 LINKE SZENE In Berlin-Friedrichshain führen HausbesetzerInnen, Innensenator und Polizei einen Kampf um das Hausprojekt in der Rigaer Straße 94 – ein Symbol für die selbst verwalteten Freiräume der Stadt ger, der sich heute auf rechtsextremen Demonstrationen Jeden Abend um 21 Uhr wird es herumtreibt und von dem sich laut in Berlin-Friedrichshain, im die Rigaer94 öffentlich distansogenannten Nordkiez rund um ziert hat, weil er in einer polidie Rigaer Straße. Von Balkonen zeilichen Vernehmung über das Hausprojekt Auskunft gegeben und aus Fenstern klappert es, Topfdeckel auf Topfdeckel, Holzhatte. löffel auf Nudelsieb. Seit mehr Es ist ein Konflikt, der weit als zwei Wochen geht das so. über Friedrichshain und die „Solidarität mit der Rigaer94“ linksradikale Szene hinausreicht. Dass in Berlin die Mieist das Motto dieses nachbarten rasant steigen und gerade schaftlichen Protests, der auch in der Innenstadt selbstverwaldie Demonstration begleitete, Dass in Berlin gerade tete, unkommerzielle Räume die am Samstagabend mit etwa Wahlkampf ist, mag verschwinden, das beschäftigt 3.500 Menschen durch Friedseinen Teil dazu richshain zog (siehe Text unten). viele in der Stadt. Das Vorgehen der Polizei sorgt ebenfalls Die Rigaer94, 1990 besetzt, ist ei- beigetragen haben auch jenseits der autonomen Szene für Empörung: AnwohnerInnen fühlen sich von den seit Monaten stattfindenden anlasslosen Personenkontrollen in diesem als „kriminalitätsbelasteten Ort“ ausgewiesenen Gebiet schikaniert. Dass die Polizei als Erfüllungsgehilfe der Hausverwaltung auftritt und auch mal Fahrräder der BewohnerInnen aus dem Innenhof abtransportieren lässt, trifft ebenfalls auf Unverständnis. „Ich muss kein Freund der Rigaer Straße sein, um Grundrechtsverletzungen scheiße zu finden“, betonte etwa das Berliner Blog Metronaut schon Anfang des Jahres. Mit seiner Unversöhnlichkeit gegenüber den etwa 30 BewohnerInnen der Rigaer94 steht Innensenator Henkel deswegen ziemlich allein da. Selbst der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) hat sich öffentlich dafür ausgesprochen, das Gespräch zu suchen. Wer hier mit wem verhandeln würde und ob sich die BewohnerInnen der Rigaer94 auf BewohnerInnen und SympathisantInnen der Rigaer94 bei einem Protestkonzert gegen die Räumung Foto: Christian Mang Gespräche einlassen THEMA würden, ist allerdings DES unklar. Auf der linken TAGES Internetplattform Indymedia erklärten AutorInnen unter dem Namen „Autonome Gruppen“, dass sie mit „Vertreter/innen des StaaDEMO Beim Protest gegen die Teilräumung der Rigaer94 bleibt die befürchtete Randale aus tes“ nicht verhandeln würden. BERLIN taz | Fast bittend klingt 21 Uhr startenden DemonstraDamit gibt es wenig Gelegen- die verbleibenden Demonstran- Nur ein Abzug der Polizei und es aus dem Lautsprecherwa- tion. Dass es dabei nicht nur heit für Konfrontationen. Als die tInnen dann doch noch hefti- die Rückgabe der Räume an die gen: „Denkt daran, die Demo ist um Inhalte geht, sondern vor al- Spitze der Demonstration vor gere Auseinandersetzungen mit BewohnerInnen könne die Annicht alles!“, fordert eine Frau- lem auch um die Konfrontation der Rigaer94 ankommt, gibt es der Polizei. Die fliegenden Fla- schläge beenden. enstimme die DemonstrantIn- mit der Polizei, ist von Beginn dann doch erste Auseinander- schen treffen zum Teil auch DeKommende Woche wird erst nen immer wieder auf. Rund an klar. Diese ist zwar mit rund setzungen mit der Polizei, auch monstrationsteilnehmerInnen. einmal vor Gericht verhandelt 3.500 Menschen sind dem Auf- 1.800 zum Teil aus anderen Bun- Steine fliegen. Doch die Lage be- 123 verletzte BeamtInnen zählt werden: Die BewohnerInnen ruf des Ende Juni teilgeräumten desländern herangezogenen Be- ruhigt sich wieder, die Demons- die Polizei, 86 Personen wur- der Rigaer94 haben ein EilverHausprojekts Rigaer94 gefolgt amtInnen zahlreich vertreten, tration kann weiterziehen. den in Gewahrsam genommen. fahren gegen die Teilräumung und haben sich am Samstag- hält sich allerdings auf der kreuz Mit Einbruch der Dunkelheit Im Laufe der Nacht brennen in des Hauses angestrengt. Da es abend in Berlin-Friedrichshain und quer durch Friedrichshain macht sich zunehmend Unruhe Berlin mehrere Autos – zur De- keine Mietverträge gibt, befineingefunden, um gegen die führenden Demostrecke eher unter den zum Großteil schwarz eskalation im Konflikt um die det sich der Eigentümer rechtRäumung im Speziellen und zurück: Der Großteil der Ein- gekleideten DemonstrantInnen Rigaer94 hat dieser Samstag lich vermutlich auf der sicheren die „neoliberale Stadtumstruk- satzkräfte ist in den Nebenstra- breit. Außergewöhnlich aggres- nicht beigetragen. Doch die im Seite. Wer allerdings politisch turierung“ im Allgemeinen zu ßen der Route positioniert, die siv ist die Stimmung aber nicht. Vorfeld geschürten Randale-Er- aus diesem Konflikt als GewinNachdem die Demonstration wartungen haben sich nicht er- ner herausgehen wird, ist weniprotestieren. So formuliert es Demonstration läuft zu Beginn MALENE GÜRGEN ger klar. ein Redner zu Beginn der um ohne direkte Polizeibegleitung. bereits beendet ist, liefern sich füllt. AUS BERLIN MALENE GÜRGEN nes der letzten Hausprojekte in Berlin, in denen zumindest ein Teil der Räume bis heute nicht legalisiert oder geräumt wurde, sondern tatsächlich noch besetzt ist. Obwohl man jetzt in der Vergangenheit sprechen müsste, denn ebendiese Räume im Erdgeschoss ließ der Hauseigentü- mer, ein britischer Investor, am 22. Juni räumen. Und weil die Rigaer94 nicht irgendein Haus ist, sondern seit Jahren ein Symbol für die linken Freiräume Berlins, rückten mit den BauarbeiterInnen auch 300 PolizistInnen an. Dass in Berlin gerade Wahlkampf ist und Innensenator Frank Henkel (CDU) sich in den letzten Monaten immer vorwerfen lassen musste, sich vor allem durch die Anzahl seiner Dienstreisen auszuzeichnen, mag ebenfalls seinen Teil dazu beigetragen haben. Seitdem brennen in Berlin und anderen Städten von Bie- Wenig Raum für Konfrontation lefeld bis Würzburg jede Nacht Autos, werden Farbanschläge auf teure Neubauten verübt oder die Fensterscheiben von Banken eingeworfen. Viele dieser Anschläge wurden in Bekennerschreiben in Zusammenhang mit der Rigaer94 gestellt. Senator Henkel ließ vor knapp zwei Wochen eine eigene 14-köpfige Ermittlergruppe einrichten, die „SoKo LinX“, um den linksradikalen BrandstifterInnen auf den Leib zu rücken. Bei einer ersten Festnahme in der vergangenen Woche erwischte die Polizei dann ausgerechnet einen Szene-Ausstei- Schwerpunkt Finanzpolitik MONTAG, 1 1. JU LI 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Heute stellt eine Arbeitsgruppe der Grünen unter Leitung von Parteichefin Simone Peter das neue Steuerkonzept der Partei vor VON ULRICH SCHULTE BERLIN taz | Bei der wichtigsten steuerpolitischen Frage sind die Grünen uneins: Sollen sie 2017 mit der Forderung nach einer Vermögensteuer in den Wahlkampf ziehen? Oder sollen sie lieber auf eine faire Erbschaftsteuer setzen? Allein dass die Grünen diese beiden Steuern alternativ verhandeln, ist ein Kompromiss. Denn die Wünsche liegen weit auseinander. Manche Grüne wollen den Staatshaushalt stärken, andere die Wirtschaft. Manche wollen eine Umverteilung von Reich zu Arm, andere nicht. Auch die Frage, was sich in einer Regierung ab 2017, etwa mit der Union, überhaupt durchsetzen ließe, ist umstritten. Grünen-Chefin Simone Peter und andere Vertreter des linken Parteiflügels wünschen sich die Vermögensteuer – und verweisen auf eine Modellrechnung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Die Einnahmen taxiert das DIW auf 10 bis 20 Milliarden Euro im Jahr, je nach Ausgestaltung. Zum Vergleich: Der Bund rechnet 2016 mit Steuereinnahmen von 288 Milliarden Euro, knapp die Hälfte davon spielen Umsatzsteuer und Lohnsteuer ein. Die Vermögensteuer wäre also keine tragende Säule der Staatsfinanzen, aber durchaus relevant. Für das Elterngeld gibt der Bund 2016 zum Beispiel 6 Milliarden Euro aus, diese Summe würde die Vermögensteuer mehrfach einspielen. Die Vermögensteuer sei „ein effektives Instrument (…), um Haushalte mit hohen und sehr hohen Vermögen stärker zu besteuern“, schrieb der DIW-For- Die Grünen und die Steuern ■■Eine Arbeitsgruppe unter Leitung der Grünen-Vorsitzenden Simone Peter hat sich seit Sommer 2014 mit dem für die Partei heiklen Thema Steuern befasst. Die Realos wollen einen Steuererhöhungswahlkampf wie 2013 verhindern, die Parteilinken ihre Umverteilungspläne nicht über Bord werfen. ■■Das Ergebnis der Gruppe, ein 14-seitiges Papier, wird am Montag in Berlin von Parteichefin Simone Peter, der Reala Anja Haiduk und dem Parteilinken Gerhard Schick vorgestellt. ■■Entscheiden wird der Parteitag im November. (sr) Als Umverteilung noch ein Wahlkampfthema zu sein schien: Demo am Aktionstag „Umfairteilen“ vor den Bundestagswahlen 2013 Foto: Christian Mang Ein grüner Kompromiss INHALTE Beim Thema Steuern bleiben die Grünen uneins. Sicher ist: Die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich werden ihre Reformvorschläge nicht aufhalten scher Stefan Bach in einer Modellrechnung im Januar. Dies ist wichtig für die Grünen. Ihre WählerInnen sind überdurchschnittlich gut gebildet und verdienen entsprechend. Spitzengrüne wollen unbedingt ein Desaster wie im Wahlkampf 2013 vermeiden, bei dem der Eindruck entstand, die Grünen ließen mit einem Sammelsurium von Steuererhöhungen ihre eigenen WählerInnen bluten. Allein der Name „Vermögensteuer“ klinge nach Reichtum, die Mittelschicht bleibe außen vor, argumentieren Spitzengrüne. In der Tat betrifft diese Steuer nur Superreiche. Das Vermögen ist in Deutschland in den Händen weniger konzentriert. Das reichste Prozent der Bevölkerung besitzt 32 Prozent des ge- samten Vermögens, die reichsten 0,1 Prozent besitzen 16 Prozent – die Masse der Deutschen besitzt dagegen nichts. Das DIW plant für die Vermögensteuer hohe Freibeträge von mindestens einer Million Euro, je nach Szenario würden überhaupt nur 150.000 bis 435.000 Steuerpflichtige in Deutschland belastet. Das sind vor allem Unternehmensbesitzer, die meist durch ein Erbe reich geworden sind. Die DIW-Forscher rechnen verschiedene Steuersätze durch, etwa einen von einem Prozent jenseits der Freibeträge. Durch eine solche Steuer würde der Vermögenszuwachs von mehrfachen Millionären nicht gestoppt, sondern nur etwas verlangsamt. Die Renditen, die sich über Immobilien, Aktien oder Firmenbeteiligun- Superreiche Erben werden im Moment faktisch vom Staat von Steuern befreit gen erzielen lassen, liegen weitaus höher. Eine Vermögensteuer existierte in Deutschland bis Ende 1996. Danach lief sie aus, weil das Verfassungsgericht Kritik geäußert hatte und die damalige Regierung unter Helmut Kohl gar nicht erst versuchte, sie zu reformieren. Wichtige Unternehmensverbände wie der DIHK hassen die Vermögensteuer. In Deutschland sind viele Großkonzerne im Besitz einzelner, sehr reicher Familien, die die Öffentlichkeit scheuen. Eine Vermögensteuer „Mehr Ökologie, mehr Gerechtigkeit“ Die Grünen haben aus dem Wahldebakel von 2013 gelernt, sagt Simone Peter. Sie stellen nicht mehr Instrumente wie die Vermögensteuer in den Vordergrund – sondern die Frage, wozu sie gut sind ZIELE taz: Frau Peter, 2013 haben die Grünen schlechte Erfahrungen mit der Forderung nach höheren Steuern gemacht. Welche Konsequenz zieht die Partei für 2017 daraus? Simone Peter: Es gab 2013 eine Reihe von Gründen für unser Ergebnis – die Steuern waren dabei nicht die Hauptsache. Aber wir hatten zu viel in das Gesamtpaket hineingepackt und zudem Probleme, den WählerInnen unsere Botschaft zu vermitteln. Wir haben daraus gelernt, weniger die steuerlichen Instrumente als die politischen Ziele in den Vordergrund zu rücken: mehr Ökologie und mehr Gerechtigkeit. Es gibt bei den Kommunen einen Investitionsstau von 136 Milliarden Euro, eine wachsende Spal- tung in Arm und Reich und viele ungelöste Umweltprobleme. Die Themen sind heute nicht weniger dringlich als 2013. Aber wir werden sie anders kommunizieren. 2013 forderten die Grünen, dass, wer über 60.000 Euro im Jahr verdient, mehr Einkommensteuer zahlen soll. Davon war ein Teil der grünen Klientel nicht sehr angetan. Wie ist das jetzt? 2013 stellte die Grenze von 60.000 plus die Abschaffung des Ehegattensplittings eine Überforderung für manche unserer WählerInnen dar. Wenn wir nach der Wahl den Einkommensteuertarif anfassen, dann sollte eine Besteuerung erst ab 100.000 Euro Jahreseinkom- 03 men für Singles greifen. Wir legen den Fokus auf die Abgeltungsteuer und die Erbschaftund Vermögensteuer. Denn die tiefe Spaltung gibt es in Deutschland bei Vermögen und Kapitalerträgen, mehr als bei den Arbeitseinkommen. Aber genau in diesem Punkt ist sich die grüne Arbeitsgruppe, die Sie zwei Jahre geleitet haben, uneins. Es gibt bei Erbschaft- und Vermögensteuer keine Einigung. Warum? Weil derzeit nicht klar ist, wie im Wahljahr der Stand bei der Erbschaftsteuerreform sein wird. Der nicht verfassungskonforme Gesetzentwurf der Großen Koalition ist jetzt dank der grün regierten Länder zur Nachbesserung im Vermittlungsaus- schuss – und wir müssen abwarten, ob es am Ende ein verfassungskonformes Gesetz gibt. Falls ja, werden wir die Debatte über die Erbschaftsteuer nur schwer neu entfachen können. Falls sich die Regierung aber weiterhin stur stellt, haben wir für eine neue Reform nach 2017 das Modell einer gerechten FlatTax für Privat- und Betriebsvermögen griffbereit. Damit sollte der Staat dann aber auch mehr einnehmen als bisher. Und die Vermögensteuer? Die favorisiere ich. Es kann nicht sein, dass kleine und mittlere Einkommen überproportional viel für das Gemeinwesen zahlen, während sich Superreiche entziehen. Deshalb ist es gerecht, wenn wir Leuten, die zwänge sie, ihre Besitztümer gegenüber Finanzbeamten offenzulegen. Offiziell argumentieren die Verbände anders. Im Wahlkampf 2013, als SPD, Grüne und Linke für eine Vermögensbesteuerung warben, sagte der DIHK voraus, dadurch gingen 450.000 Arbeitsplätze verloren. Für solche Schreckensszenarien fehlte jeder Beweis, aber sie wurden von Medien dankbar aufgegriffen. Wichtige Lobbys können einen Wahlkampf relevant beeinflussen. Dies ist ein Grund, warum viele Grüne die Vermögensteuer für nicht durchsetzbar halten. Die Union lehnt sie ebenfalls strikt ab, und Schwarz-Grün ist für die Ökopartei 2017 eine realistische Machtoption. Deshalb plädieren grüne Wirtschaftspolitiker und viele mehr als eine Million Euro besitzen, einen Beitrag abverlangen. Die Vermögensteuer kommt zudem den Bundesländern zugute, die angesichts der Schuldenbremse dringend Mittel für Zukunftsinvestitionen benötigen. Die Vermögensteuer bringt laut Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung knapp 10 Milliarden Euro im Jahr. Die Realos sperren sich gegen diese Steuer. Bekommen die linken Grünen sie gegen die Realos durch? Im Beschluss der Arbeitsgruppe steht die Vermögensteuer schon mal drin … … aber als umstritten! Wir sind uns einig, dass wir der extremen und wachsenden Vermögensungleichheit mit einer Vermögensbesteuerung entgegenwirken wollen. Über das Instrument entscheiden wird unser Parteitag im Herbst. Ich weiß, dass viele unserer Mit- Realos dafür, sich lieber auf die Erbschaftsteuer zu konzentrieren. Die ist in der Praxis eingeführt und bekannt. Auch hier sind superreiche Erben die interessante Zielgruppe. Jene zahlen im Moment faktisch keine Steuer, weil der Staat sie befreit. Anders ist das bei Privaterben, die mehrere Immobilien übertragen bekommen – sie müssen Erbschaftsteuer zahlen. Im Dezember 2014 kritisierte Karlsruhe diese Ungleichbehandlung – und mahnte eine Reform an. Ein Gesetz der Bundesregierung hängt im Moment im Vermittlungsausschuss von Bundesrat und -tag. Mehrere rot-grüne Länder hatten gegen das Gesetz protestiert, weil es die Privilegien Superreicher nicht antastet. Besonders die CSU hatte zuvor auf weitgehende Ausnahmen gedrängt. „Sehr hohe Vermögen werden durch ausgedehnte Vergünstigungen am Ende niedriger besteuert als die Mittelschicht“, kritisiert Lisa Paus, Steuerexpertin der Grünen-Fraktion. Die Partei sympathisiert mit einem „FlatTax-Modell“: gleiche Steuern für Betriebs- und Privaterben. Die Freibeträge blieben unverändert, sie liegen im Moment bei 500.000 Euro für Ehepartner und bei 400.000 Euro für Kinder. Wenn ein Vater ein normales Einfamilienhaus an seine Tochter vererbt, zahlt sie deshalb keinen Cent Erbschaftsteuer. Die Grünen wollen jenseits dieser Freibeträge einheitliche Steuersätze von 15 Prozent, viele Vergünstigungen würden ersatzlos gestrichen. Dieses Modell würde das Erbschaftsteuerrecht radikal vereinfachen und dem Staat mehr Einnahmen bringen. Das DIW kalkulierte bei Steuersätzen von 10 Prozent einen jährlichen Ertrag von knapp 6 Milliarden Euro. Das wäre etwas mehr als der Status quo: Im Moment nimmt der Staat rund 5 Milliarden Euro pro Jahr ein. Durch einen Flat-Tax-Steuer satz von 15 Prozent stiegen die Einnahmen wohl auf rund 9 Milliarden im Jahr. Alle Rechnungen sind allerdings nur vage Prognosen, weil keiner weiß, wie hoch die Vermögen Superreicher in Deutschland wirklich sind. Aber selbst die vagen Zahlen machen klar, dass die grünen Pläne das Auseinanderdriften der Vermögen in Deutschland nicht stoppen, sondern nur verlangsamen würden. glieder und WählerInnen Sympathien für die Einführung der Vermögensteuer haben. Also wird die Vermögensteuer das Flaggschiff der Grünen für den Wahlkampf 2017? Nein. Sie ist ein Steuerinstrument, um mehr Gerechtigkeit herzustellen, neben dem Kampf gegen Steuerhinterziehung, der ökologischen Finanzreform und der besseren Familienförderung. STEFAN REINECKE Simone Peter ■■50, gehört zum linken Flügel der Grünen. Seit Oktober 2013 ist sie zusammen mit Cem Özdemir Parteivorsitzende. Von 2009 bis 2012 war sie Umweltministerin des Saarlands. Foto: dpa
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