taz.die tageszeitung

Vegetarierbund: Streit ums Hühnerei
Sterben für vegetarische Mortadella mehr Tiere als für Mortadella aus Fleisch? ▶ Seite 7
AUSGABE BERLIN | NR. 11066 | 28. WOCHE | 38. JAHRGANG
H EUTE I N DER TAZ
MONTAG, 11. JULI 2016 | WWW.TAZ.DE
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Grüne steuern irgendwohin
FINANZPOLITIK Die Grünen wollen die Einkommensteuer erhöhen, schonen aber die eigene Klientel. Im
Wahlkampf sollen eher Vermögen- und Erbschaftsteuer im Fokus stehen, sagt Parteichefin Simone Peter
im taz-Interview. Doch in diesen beiden Punkten ist die Partei trotz zweijähriger Diskussion uneins ▶ SEITE 3
FUSSBALL Nach der
EM ist vor der WM: Das
nächste große Turnier
findet 2018 in Russland
statt. Was das für den
Sport heißt ▶ SEITE 17
BERUFSAUSLÄNDERIN
Warum Laila Oudray
keine Expertin für Migration sein will ▶ SEITE 11
AKROBATIK Ein Zirkus
in Bukarest will Straßenkindern eine Perspektive
geben ▶ SEITE 14
Foto: Mario Lars
VERBOTEN
Guten Tag,
dpa-KollegInnen!
Wenn ihr am heißen Sonntag
aus euren Redaktionsstuben
Sätze wie „Unzählige Menschen haben am Wochenende
das herrliche Sommerwetter
genutzt und sich an Seen, in
Freibädern oder am Meer getummelt“ rausschwitzt, ist das
dann Selbstmitleid? Oder habt
ihr einen der Schatten, den
die Linke laut Ramelow überspringen muss (dpa), während Gauck sich in Südamerika um den der Vergangenheit
kümmert (dpa) und es einem
Diskuswerfer nicht gelang, aus
dem seines Bruders zu treten
(dpa)? Oder ist es etwa der
Diesel-Schatten (dpa),
der immer länger wird?
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Steuererhöhungen hatten die Grünen zur Bundestagswahl 2013 im Programm: Nicht alle Parteianhänger sahen das so entspannt wie dieser Wahlkämpfer in Berlin Foto: Ipon/imago
Blutiges Jubiläum am Unabhängigkeitstag
SÜDSUDAN
Feuergefechte fordern mehr als 100 Menschenleben
FRANKFURT/M. epd | Im Südsu-
dan sind nach Monaten der
Friedensbemühungen wieder
heftige Kämpfe ausgebrochen.
Bei Feuergefechten wurden seit
Freitag Medienberichten zufolge mehr als 100 Menschen erschossen. Tausende Menschen
zogen am Sonntag zum Gelände der Vereinten Nationen,
um dort Schutz vor den Kämp-
fen zu suchen, meldete das UNFlüchtlingshilfswerk UNHCR.
Wegen der Spannungen hatte
die Regierung die Feiern zum
fünften Jahrestag der Unabhängigkeit am Samstag abgesagt.
Truppen von Präsident Salva
Kiir haben am Sonntag die Zentrale von Anhängern des Vizepräsidenten Riek Machar unter
Beschuss genommen, berich-
Wütender Protest
BERLIN
tete die Zeitung Sudan Tribune.
Bereits am Freitag hatten sich
Leibwächter und Wachmänner
der beiden rivalisierenden Politiker Feuergefechte vor dem Präsidentenpalast geliefert.
Südsudan wurde am 9. Juli
2011 vom Sudan unabhängig.
Es ist trotz Ölvorkommen eines
der ärmsten Länder Afrikas.
▶ Ausland SEITE 8
123 verletzte Polizisten nach linker Demo
BERLIN dpa/taz | Bei Protesten ge-
gen die Teilräumung eines Hauses sind in Berlin 123 Polizisten
verletzt worden. Wie die Polizei
am Sonntag mitteilte, gab es 86
Festnahmen. Es sei die aggressivste Demonstration der letzten fünf Jahre in Berlin gewesen.
Am Samstagabend hatten
laut Polizei rund 3.500 Menschen demonstriert. Polizisten
seien mit Flaschen, Steinen und
Knallkörpern beworfen worden.
Berlins Innensenator Frank
Henkel (CDU) sprach von einer
„linken Gewaltorgie“. Die „Radikale Linke Berlin“ bedankte
sich auf Facebook bei den Teilnehmern der Demo, man habe
sich „trotz massiven Bullenaufgebots nix diktieren lassen“.
▶ Der Tag SEITE 2, Berlin SEITE 22
KOMMENTAR VON GEREON ASMUTH ÜBER KRAWALLSCHACHTELN IN BERLIN
E
Szenekämpfer und Wahlkämpfer
s rumst mal wieder in Berlin. In der
Hauptstadt gehen Schaufenster zu
Bruch, ein paar Autos werden angezündet, Politikerbüros mit Parolen
beschmiert. Tausende Linksradikale in
modischem Szeneschwarz demonstrieren durch ein nächtliches Partyviertel,
die Polizei teilt auch ordentlich aus, es
gibt Verletzte auf beiden Seiten. Der Boulevard schreibt von Terrornächten.
Typisch Berlin? Ja, typisch Berlin. Die
Hauptstadt spielt mal wieder Häuserkampf. Fast so wie damals zu Beginn der
80er und 90er Jahre, als binnen wenigen
Monaten jeweils weit über 100 Häuser
besetzt wurden. Die Betonung liegt auf
„fast“. Denn diesmal geht es um nur ein
Haus in der Rigaer Straße. Genauer gesagt: ein Hinterhaus. Und das ist nicht
einmal besetzt. Das war es mal. Vor 25 Jahren. Seither gab es Mietverträge. Das einzige Problem daran: Die Verträge wurden
seither nie angepasst, obwohl Bewohner
wie Besitzer mehrfach gewechselt haben.
Aber solche Details interessieren kaum,
die stören ja nur die Show. Und darum
geht es.
Da ist zum einen die linksradikale
Szene, die sich freuen kann, mit der Rigaer 94 mal wieder ein Symbol im Kampf
ums große Ganze zu haben, das konkret
gegen Gentrifizierung, Kapitalismus,
Spekulanten und Polizei verteidigt werden kann.
Und da ist zum anderen der Berliner
Innensenator Frank Henkel. Der ist im
Nebenjob auch CDU-Spitzenkandidat für
die Berlinwahl im September und hat mit
der Rigaer 94 ebenfalls sein Symbol für
den Kampf ums große Ganze gefunden.
Denn Berlin hat zwar längst die höchste
Polizeidichte aller Bundesländer, und die
Zahl der Gewalttaten ist in den letzten
Jahren gesunken. Aber wenn Radikalins-
Die Hauptstadt spielt mal
wieder Häuserkampf –
und Stimmenfang
kis Autos anzünden, kann er sich als starker Mann präsentieren, der für die weitere Aufrüstung der Polizei sorgt.
Den Stimmenfang mit Polizeitruppen hat Henkel nicht exklusiv. Vor fünf
Jahren gab es exakt das gleiche Eskalationsschauspiel. Die einst besetzte Liebigstraße 14 wird zum Terrornest hochgejazzt und geräumt – kurz vor der anstehenden Wahl. Nur dass der damalige
Innensenator von der SPD gestellt wurde.
Die erinnert sich heute an das probate
Lösungsmittel der 80er und 90er Jahre
und fordert Gespräche mit allen Beteiligten. Das hat immer ganz gut funktioniert
– außer wenn Hardcore-Nichtverhandler
auf der letzten Schlacht bestehen wollten.
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
NACH RICHTEN
BESCHÄFTIGTE
KAI RO UN D LAGOS
Immer mehr haben einen Zweitjob
Bis 2030 je rund 25
Millionen Einwohner
NÜRNBERG | Immer mehr Be-
Trainierte seit Wochen im Garten:
Micah Xavier Johnson Foto: ap
Der Schütze
von Dallas
E
s gibt ein Foto, das Micah
Johnson in bunt besticktem Gewand mit gereckter
Black-Power-Faust zeigt, eher
melancholisch als wütend in
die Kamera blickend. Das Bild
hat er auf seine Facebook-Seite
gestellt. Jetzt soll es dazu beitragen, Antworten auf die Frage zu
finden, warum ein 25-jähriger
Afroamerikaner im Zentrum
einer Großstadt ein Blutbad anrichtet und dabei systematisch
Polizisten ins Visier nimmt.
Micah Xavier Johnson, der
sich am liebsten X nannte,
nach seinem zweiten Vornamen, scheint sich akribisch vorbereitet zu haben auf seine Tat.
Das zumindest glauben die Ermittler aus einem Tagebuch
des 25-Jährigen herauslesen zu
können, das in dem Haus gefunden wurde, in dem er gemeinsam mit seiner Mutter lebte, in
Mesquite, einer Satellitenstadt
am Rande von Dallas. Als er die
Polizisten in Dallas attackierte,
verschanzte er sich in einem
Parkhaus und feuerte von oben
auf die Beamten in den Straßen,
wechselte seinen Standort und
schoss erneut.
Wenn stimmt, was Nachbarn erzählen, dann hat er den
Garten des Anwesens in Mesquite als eine Art militärischen
Übungsplatz benutzt, übrigens
bereits vor den Polizistenschüssen auf Schwarze in Louisiana
und Minnesota, in denen manche ein Tatmotiv sehen. In seiner Wohnung fand die Polizei
zudem ein umfangreiches Arsenal von Waffen, Munition und
Material zum Bau von Bomben.
2009, unmittelbar nach
dem
Highschool-Abschluss,
ging Johnson zum Militär. Von
Herbst 2013 bis Sommer 2014
war er im Einsatz in Afghanistan. Wegen des Vorwurfs der sexuellen Belästigung einer Soldatin wurde er vorzeitig nach
Hause geschickt.
Nach seiner Rückkehr vom
Hindukusch soll er sich nach
und nach radikalen afroamerikanischen Gruppen zugewandt
haben, obskuren Nachfolgern
der Black-Power-Bewegung der
sechziger Jahre, die die Polizei
in Amerika pauschal als Instrument der Unterdrückung von
Schwarzen begriff.
Eindeutige Beweise für seine
Mitgliedschaft in einer dieser
Organisationen gibt es nicht,
doch auf seiner inzwischen gesperrten Facebook-Seite waren
Hinweise zu sehen, dass er mit
ihnen zumindest sympathisierte.
Ausland SEITE 9
Der Tag
MONTAG, 1 1. JU LI 2016
schäftigte verdienen neben ihrem Hauptberuf mit einem
Mini­job Geld dazu. Bundesweit
übten zum 30. Juni 2015 bereits
rund 2,5 Millionen Arbeitnehmer neben ihrer sozialversicherungspflichtigen Stelle einen
Nebenjob aus – in der Regel auf
450-Euro-Basis. Das ergibt sich
aus einer Sonderauswertung der
Arbeitsagentur im Auftrag der
Linken-Abgeordneten Sabine
Zimmermann.
2004 lag die Zahl der Doppel-Jobber nach den Angaben
aus Nürnberg noch bei 1,4 Millionen. „Für immer mehr Be-
schäftigte reicht ihr Einkommen aus einem Job nicht aus,
und sie müssen sich mit einem
Minijob etwas dazuverdienen“,
erklärte Zimmermann den Zuwachs. Ein Sprecher der Bundesagentur relativierte diese Interpretation: „Es ist nicht allein das
Geld, es gibt genügend andere
Gründe, die für einen Nebenjob sprechen.“ Er verwies darauf, dass Beschäftigte zunehmend im Hauptjob die Arbeitszeit reduzierten. Dann könne es
reizvoll sein, gleichzeitig mit einer anderen Tätigkeit und steuerlich begünstigt in einem Mini­
job hinzuzuverdienen. (dpa)
WIESBADEN | Die Bevölkerungs-
zunahme in Afrika lässt die
Großstädte in den nächsten Jahren massiv wachsen. Während
es dort derzeit sieben Städte mit
mehr als 5 Millionen Einwohnern gebe, seien es bis 2030 voraussichtlich 18, erklärte das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden. In
diesen Metropolen lebten dann
rund 176 Millionen Menschen.
Kairo in Ägypten und Lagos in
Nigeria dürften mit je rund 25
Millionen Einwohnern die bevölkerungsreichsten Städte Afrikas werden. (epd)
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BÜRGERSTEIGE
New York verbietet
Klimaanlagen
NEW YORK | Wer in New Yorks
Straßen ins Schwitzen gerät,
freut sich über offene Türen klimatisierter Läden. Deren kühler
Luftstrom bietet an heißen Tagen eine nette Abkühlung. Um
den Energieverbrauch zu senken, hat die Stadt diese total
verschwenderische Kühlung
der Bürgersteige verboten. Bei
Missachtung der neuen Richtlinie drohen 250 Dollar Strafe.
Laut Stadtverwaltung entsprechen die CO2-Einsparungen
durch das konsequente Schließen von 10.000 Türen den Emissionen von 3.600 Autos. (ap)
Kleinkrieg um die Rigaer94
LINKE SZENE In Berlin-Friedrichshain führen HausbesetzerInnen, Innensenator und Polizei einen Kampf
um das Hausprojekt in der Rigaer Straße 94 – ein Symbol für die selbst verwalteten Freiräume der Stadt
ger, der sich heute auf rechtsextremen Demonstrationen
Jeden Abend um 21 Uhr wird es
herumtreibt und von dem sich
laut in Berlin-Friedrichshain, im
die Rigaer94 öffentlich distansogenannten Nordkiez rund um
ziert hat, weil er in einer polidie Rigaer Straße. Von Balkonen
zeilichen Vernehmung über das
Hausprojekt Auskunft gegeben
und aus Fenstern klappert es,
Topfdeckel auf Topfdeckel, Holzhatte.
löffel auf Nudelsieb. Seit mehr
Es ist ein Konflikt, der weit
als zwei Wochen geht das so.
über Friedrichshain und die
„Solidarität mit der Rigaer94“
linksradikale Szene hinausreicht. Dass in Berlin die Mieist das Motto dieses nachbarten rasant steigen und gerade
schaftlichen Protests, der auch
in der Innenstadt selbstverwaldie Demonstration begleitete, Dass in Berlin gerade
tete, unkommerzielle Räume
die am Samstagabend mit etwa Wahlkampf ist, mag
verschwinden, das beschäftigt
3.500 Menschen durch Friedseinen Teil dazu
richshain zog (siehe Text unten).
viele in der Stadt. Das Vorgehen der Polizei sorgt ebenfalls
Die Rigaer94, 1990 besetzt, ist ei- beigetragen haben
auch jenseits der autonomen
Szene für Empörung: AnwohnerInnen fühlen sich von den
seit Monaten stattfindenden anlasslosen Personenkontrollen in
diesem als „kriminalitätsbelasteten Ort“ ausgewiesenen Gebiet schikaniert.
Dass die Polizei als Erfüllungsgehilfe der Hausverwaltung auftritt und auch mal
Fahrräder der BewohnerInnen
aus dem Innenhof abtransportieren lässt, trifft ebenfalls auf
Unverständnis. „Ich muss kein
Freund der Rigaer Straße sein,
um Grundrechtsverletzungen
scheiße zu finden“, betonte
etwa das Berliner Blog Metronaut schon Anfang des Jahres.
Mit seiner Unversöhnlichkeit
gegenüber den etwa 30 BewohnerInnen der Rigaer94 steht Innensenator Henkel deswegen
ziemlich allein da. Selbst der
Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) hat sich öffentlich dafür ausgesprochen,
das Gespräch zu suchen. Wer
hier mit wem verhandeln würde
und ob sich die BewohnerInnen der Rigaer94 auf
BewohnerInnen und SympathisantInnen der Rigaer94 bei einem Protestkonzert gegen die Räumung Foto: Christian Mang
Gespräche einlassen
THEMA
würden, ist allerdings
DES
unklar. Auf der linken
TAGES
Internetplattform Indymedia erklärten AutorInnen unter dem Namen
„Autonome Gruppen“, dass sie
mit „Vertreter/innen des StaaDEMO Beim Protest gegen die Teilräumung der Rigaer94 bleibt die befürchtete Randale aus
tes“ nicht verhandeln würden.
BERLIN taz | Fast bittend klingt 21 Uhr startenden DemonstraDamit gibt es wenig Gelegen- die verbleibenden Demonstran- Nur ein Abzug der Polizei und
es aus dem Lautsprecherwa- tion. Dass es dabei nicht nur heit für Konfrontationen. Als die tInnen dann doch noch hefti- die Rückgabe der Räume an die
gen: „Denkt daran, die Demo ist um Inhalte geht, sondern vor al- Spitze der Demonstration vor gere Auseinandersetzungen mit BewohnerInnen könne die Annicht alles!“, fordert eine Frau- lem auch um die Konfrontation der Rigaer94 ankommt, gibt es der Polizei. Die fliegenden Fla- schläge beenden.
enstimme die DemonstrantIn- mit der Polizei, ist von Beginn dann doch erste Auseinander- schen treffen zum Teil auch DeKommende Woche wird erst
nen immer wieder auf. Rund an klar. Diese ist zwar mit rund setzungen mit der Polizei, auch monstrationsteilnehmerInnen. einmal vor Gericht verhandelt
3.500 Menschen sind dem Auf- 1.800 zum Teil aus anderen Bun- Steine fliegen. Doch die Lage be- 123 verletzte BeamtInnen zählt werden: Die BewohnerInnen
ruf des Ende Juni teilgeräumten desländern herangezogenen Be- ruhigt sich wieder, die Demons- die Polizei, 86 Personen wur- der Rigaer94 haben ein EilverHausprojekts Rigaer94 gefolgt amtInnen zahlreich vertreten, tration kann weiterziehen.
den in Gewahrsam genommen. fahren gegen die Teilräumung
und haben sich am Samstag- hält sich allerdings auf der kreuz
Mit Einbruch der Dunkelheit Im Laufe der Nacht brennen in des Hauses angestrengt. Da es
abend in Berlin-Friedrichshain und quer durch Friedrichshain macht sich zunehmend Unruhe Berlin mehrere Autos – zur De- keine Mietverträge gibt, befineingefunden, um gegen die führenden Demostrecke eher unter den zum Großteil schwarz eskalation im Konflikt um die det sich der Eigentümer rechtRäumung im Speziellen und zurück: Der Großteil der Ein- gekleideten DemonstrantInnen Rigaer94 hat dieser Samstag lich vermutlich auf der sicheren
die „neoliberale Stadtumstruk- satzkräfte ist in den Nebenstra- breit. Außergewöhnlich aggres- nicht beigetragen. Doch die im Seite. Wer allerdings politisch
turierung“ im Allgemeinen zu ßen der Route positioniert, die siv ist die Stimmung aber nicht. Vorfeld geschürten Randale-Er- aus diesem Konflikt als GewinNachdem die Demonstration wartungen haben sich nicht er- ner herausgehen wird, ist weniprotestieren. So formuliert es Demonstration läuft zu Beginn
MALENE GÜRGEN
ger klar.
ein Redner zu Beginn der um ohne direkte Polizeibegleitung. bereits beendet ist, liefern sich füllt.
AUS BERLIN MALENE GÜRGEN
nes der letzten Hausprojekte in
Berlin, in denen zumindest ein
Teil der Räume bis heute nicht
legalisiert oder geräumt wurde,
sondern tatsächlich noch besetzt ist.
Obwohl man jetzt in der Vergangenheit sprechen müsste,
denn ebendiese Räume im Erdgeschoss ließ der Hauseigentü-
mer, ein britischer Investor, am
22. Juni räumen. Und weil die Rigaer94 nicht irgendein Haus ist,
sondern seit Jahren ein Symbol
für die linken Freiräume Berlins, rückten mit den BauarbeiterInnen auch 300 PolizistInnen an. Dass in Berlin gerade
Wahlkampf ist und Innensenator Frank Henkel (CDU) sich in
den letzten Monaten immer vorwerfen lassen musste, sich vor
allem durch die Anzahl seiner
Dienstreisen auszuzeichnen,
mag ebenfalls seinen Teil dazu
beigetragen haben.
Seitdem brennen in Berlin
und anderen Städten von Bie-
Wenig Raum für Konfrontation
lefeld bis Würzburg jede Nacht
Autos, werden Farbanschläge
auf teure Neubauten verübt
oder die Fensterscheiben von
Banken eingeworfen. Viele dieser Anschläge wurden in Bekennerschreiben in Zusammenhang mit der Rigaer94 gestellt.
Senator Henkel ließ vor knapp
zwei Wochen eine eigene 14-köpfige Ermittlergruppe einrichten,
die „SoKo LinX“, um den linksradikalen BrandstifterInnen auf
den Leib zu rücken.
Bei einer ersten Festnahme
in der vergangenen Woche erwischte die Polizei dann ausgerechnet einen Szene-Ausstei-
Schwerpunkt
Finanzpolitik
MONTAG, 1 1. JU LI 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Heute stellt eine Arbeitsgruppe der Grünen unter Leitung von
­Parteichefin Simone Peter das neue Steuerkonzept der Partei vor
VON ULRICH SCHULTE
BERLIN taz | Bei der wichtigsten
steuerpolitischen Frage sind die
Grünen uneins: Sollen sie 2017
mit der Forderung nach einer
Vermögensteuer in den Wahlkampf ziehen? Oder sollen sie
lieber auf eine faire Erbschaftsteuer setzen?
Allein dass die Grünen diese
beiden Steuern alternativ verhandeln, ist ein Kompromiss.
Denn die Wünsche liegen weit
auseinander. Manche Grüne
wollen den Staatshaushalt stärken, andere die Wirtschaft. Manche wollen eine Umverteilung
von Reich zu Arm, andere nicht.
Auch die Frage, was sich in einer
Regierung ab 2017, etwa mit der
Union, überhaupt durchsetzen
ließe, ist umstritten.
Grünen-Chefin Simone Peter
und andere Vertreter des linken
Parteiflügels wünschen sich die
Vermögensteuer – und verweisen auf eine Modellrechnung
des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Die Einnahmen taxiert das DIW auf 10 bis
20 Milliarden Euro im Jahr, je
nach Ausgestaltung.
Zum Vergleich: Der Bund
rechnet 2016 mit Steuereinnahmen von 288 Milliarden Euro,
knapp die Hälfte davon spielen
Umsatzsteuer und Lohnsteuer
ein. Die Vermögensteuer wäre
also keine tragende Säule der
Staatsfinanzen, aber durchaus relevant. Für das Elterngeld gibt der Bund 2016 zum
Beispiel 6 Milliarden Euro aus,
diese Summe würde die Vermögensteuer mehrfach einspielen.
Die Vermögensteuer sei „ein
effektives Instrument (…), um
Haushalte mit hohen und sehr
hohen Vermögen stärker zu besteuern“, schrieb der DIW-For-
Die Grünen und die Steuern
■■Eine Arbeitsgruppe unter
Leitung der Grünen-Vorsitzenden
Simone Peter hat sich seit Sommer 2014 mit dem für die Partei
heiklen Thema Steuern befasst.
Die Realos wollen einen Steuererhöhungswahlkampf wie 2013
verhindern, die Parteilinken ihre
Umverteilungspläne nicht über
Bord werfen.
■■Das Ergebnis der Gruppe,
ein 14-seitiges Papier, wird am
Montag in Berlin von Parteichefin
Simone Peter, der Reala Anja
Haiduk und dem Parteilinken
Gerhard Schick vorgestellt.
■■Entscheiden wird der Parteitag
im November. (sr)
Als Umverteilung noch ein Wahlkampfthema zu sein schien: Demo am Aktionstag „Umfairteilen“ vor den Bundestagswahlen 2013 Foto: Christian Mang
Ein grüner Kompromiss
INHALTE Beim Thema Steuern bleiben die Grünen uneins. Sicher ist: Die Spaltung
der Gesellschaft in Arm und Reich werden ihre Reformvorschläge nicht aufhalten
scher Stefan Bach in einer Modellrechnung im Januar. Dies
ist wichtig für die Grünen. Ihre
WählerInnen sind überdurchschnittlich gut gebildet und verdienen entsprechend.
Spitzengrüne wollen unbedingt ein Desaster wie im Wahlkampf 2013 vermeiden, bei dem
der Eindruck entstand, die Grünen ließen mit einem Sammelsurium von Steuererhöhungen
ihre eigenen WählerInnen bluten. Allein der Name „Vermögensteuer“ klinge nach Reichtum, die Mittelschicht bleibe
außen vor, argumentieren Spitzengrüne.
In der Tat betrifft diese Steuer
nur Superreiche. Das Vermögen
ist in Deutschland in den Händen weniger konzentriert. Das
reichste Prozent der Bevölkerung besitzt 32 Prozent des ge-
samten Vermögens, die reichsten 0,1 Prozent besitzen 16 Prozent – die Masse der Deutschen
besitzt dagegen nichts.
Das DIW plant für die Vermögensteuer hohe Freibeträge von
mindestens einer Million Euro,
je nach Szenario würden überhaupt nur 150.000 bis 435.000
Steuerpflichtige in Deutschland
belastet. Das sind vor allem Unternehmensbesitzer, die meist
durch ein Erbe reich geworden
sind. Die DIW-Forscher rechnen
verschiedene Steuersätze durch,
etwa einen von einem Prozent
jenseits der Freibeträge.
Durch eine solche Steuer
würde der Vermögenszuwachs
von mehrfachen Millionären
nicht gestoppt, sondern nur etwas verlangsamt. Die Renditen, die sich über Immobilien,
Aktien oder Firmenbeteiligun-
Superreiche Erben
werden im Moment
faktisch vom Staat
von Steuern befreit
gen erzielen lassen, liegen weitaus höher. Eine Vermögensteuer
existierte in Deutschland bis
Ende 1996. Danach lief sie aus,
weil das Verfassungsgericht Kritik geäußert hatte und die damalige Regierung unter Helmut
Kohl gar nicht erst versuchte, sie
zu reformieren.
Wichtige Unternehmensverbände wie der DIHK hassen die
Vermögensteuer. In Deutschland sind viele Großkonzerne
im Besitz einzelner, sehr reicher
Familien, die die Öffentlichkeit
scheuen. Eine Vermögensteuer
„Mehr Ökologie, mehr Gerechtigkeit“
Die Grünen haben aus dem Wahldebakel von 2013 gelernt, sagt Simone Peter. Sie stellen nicht
mehr Instrumente wie die Vermögensteuer in den Vordergrund – sondern die Frage, wozu sie gut sind
ZIELE
taz: Frau Peter, 2013 haben die
Grünen schlechte Erfahrungen
mit der Forderung nach höheren Steuern gemacht. Welche
Konsequenz zieht die Partei
für 2017 daraus?
Simone Peter: Es gab 2013 eine
Reihe von Gründen für unser Ergebnis – die Steuern waren dabei nicht die Hauptsache. Aber
wir hatten zu viel in das Gesamtpaket hineingepackt und zudem
Probleme, den WählerInnen unsere Botschaft zu vermitteln. Wir
haben daraus gelernt, weniger
die steuerlichen Instrumente als
die politischen Ziele in den Vordergrund zu rücken: mehr Ökologie und mehr Gerechtigkeit. Es
gibt bei den Kommunen einen
Investitionsstau von 136 Milliarden Euro, eine wachsende Spal-
tung in Arm und Reich und viele
ungelöste Umweltprobleme. Die
Themen sind heute nicht weniger dringlich als 2013. Aber wir
werden sie anders kommunizieren.
2013 forderten die Grünen,
dass, wer über 60.000 Euro im
Jahr verdient, mehr Einkommensteuer zahlen soll. Davon
war ein Teil der grünen Klientel nicht sehr angetan. Wie ist
das jetzt?
2013 stellte die Grenze von
60.000 plus die Abschaffung
des Ehegattensplittings eine
Überforderung für manche unserer WählerInnen dar. Wenn
wir nach der Wahl den Einkommensteuertarif anfassen, dann
sollte eine Besteuerung erst ab
100.000 Euro Jahreseinkom-
03
men für Singles greifen. Wir legen den Fokus auf die Abgeltungsteuer und die Erbschaftund Vermögensteuer. Denn die
tiefe Spaltung gibt es in Deutschland bei Vermögen und Kapitalerträgen, mehr als bei den Arbeitseinkommen.
Aber genau in diesem Punkt ist
sich die grüne Arbeitsgruppe,
die Sie zwei Jahre geleitet haben, uneins. Es gibt bei Erbschaft- und Vermögensteuer
keine Einigung. Warum?
Weil derzeit nicht klar ist, wie im
Wahljahr der Stand bei der Erbschaftsteuerreform sein wird.
Der nicht verfassungskonforme
Gesetzentwurf der Großen Koalition ist jetzt dank der grün
regierten Länder zur Nachbesserung im Vermittlungsaus-
schuss – und wir müssen abwarten, ob es am Ende ein verfassungskonformes Gesetz gibt.
Falls ja, werden wir die Debatte
über die Erbschaftsteuer nur
schwer neu entfachen können.
Falls sich die Regierung aber
weiterhin stur stellt, haben wir
für eine neue Reform nach 2017
das Modell einer gerechten FlatTax für Privat- und Betriebsvermögen griffbereit. Damit sollte
der Staat dann aber auch mehr
einnehmen als bisher.
Und die Vermögensteuer?
Die favorisiere ich. Es kann nicht
sein, dass kleine und mittlere
Einkommen
überproportional viel für das Gemeinwesen
zahlen, während sich Superreiche entziehen. Deshalb ist es
gerecht, wenn wir Leuten, die
zwänge sie, ihre Besitztümer
gegenüber Finanzbeamten offenzulegen. Offiziell argumentieren die Verbände anders. Im
Wahlkampf 2013, als SPD, Grüne
und Linke für eine Vermögensbesteuerung warben, sagte der
DIHK voraus, dadurch gingen
450.000 Arbeitsplätze verloren.
Für solche Schreckensszenarien fehlte jeder Beweis, aber
sie wurden von Medien dankbar aufgegriffen. Wichtige Lobbys können einen Wahlkampf
relevant beeinflussen. Dies ist
ein Grund, warum viele Grüne
die Vermögensteuer für nicht
durchsetzbar halten. Die Union
lehnt sie ebenfalls strikt ab, und
Schwarz-Grün ist für die Ökopartei 2017 eine realistische
Machtoption.
Deshalb plädieren grüne
Wirtschaftspolitiker und viele
mehr als eine Million Euro besitzen, einen Beitrag abverlangen.
Die Vermögensteuer kommt
zudem den Bundesländern zugute, die angesichts der Schuldenbremse dringend Mittel für
Zukunftsinvestitionen benötigen.
Die Vermögensteuer bringt
laut Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung knapp 10 Milliarden
Euro im Jahr. Die Realos sperren sich gegen diese Steuer. Bekommen die linken Grünen sie
gegen die Realos durch?
Im Beschluss der Arbeitsgruppe
steht die Vermögensteuer schon
mal drin …
… aber als umstritten!
Wir sind uns einig, dass wir der
extremen und wachsenden Vermögensungleichheit mit einer
Vermögensbesteuerung entgegenwirken wollen. Über das
Instrument entscheiden wird
unser Parteitag im Herbst. Ich
weiß, dass viele unserer Mit-
Realos dafür, sich lieber auf die
Erbschaftsteuer zu konzentrieren. Die ist in der Praxis eingeführt und bekannt. Auch hier
sind superreiche Erben die interessante Zielgruppe. Jene zahlen im Moment faktisch keine
Steuer, weil der Staat sie befreit.
Anders ist das bei Privaterben,
die mehrere Immobilien übertragen bekommen – sie müssen
Erbschaftsteuer zahlen.
Im Dezember 2014 kritisierte
Karlsruhe diese Ungleichbehandlung – und mahnte eine
Reform an. Ein Gesetz der Bundesregierung hängt im Moment
im Vermittlungsausschuss von
Bundesrat und -tag. Mehrere
rot-grüne Länder hatten gegen das Gesetz protestiert, weil
es die Privilegien Superreicher
nicht antastet. Besonders die
CSU hatte zuvor auf weitgehende Ausnahmen gedrängt.
„Sehr hohe Vermögen werden
durch ausgedehnte Vergünstigungen am Ende niedriger besteuert als die Mittelschicht“, kritisiert Lisa Paus, Steuerexpertin
der Grünen-Fraktion. Die Partei
sympathisiert mit einem „FlatTax-Modell“: gleiche Steuern für
Betriebs- und Privaterben.
Die Freibeträge blieben unverändert, sie liegen im Moment bei 500.000 Euro für Ehepartner und bei 400.000 Euro
für Kinder. Wenn ein Vater ein
normales Einfamilienhaus an
seine Tochter vererbt, zahlt sie
deshalb keinen Cent Erbschaftsteuer. Die Grünen wollen jenseits dieser Freibeträge einheitliche Steuersätze von 15 Prozent,
viele Vergünstigungen würden
ersatzlos gestrichen.
Dieses Modell würde das Erbschaftsteuerrecht radikal vereinfachen und dem Staat mehr
Einnahmen bringen. Das DIW
kalkulierte bei Steuersätzen
von 10 Prozent einen jährlichen Ertrag von knapp 6 Milliarden Euro. Das wäre etwas mehr
als der Status quo: Im Moment
nimmt der Staat rund 5 Milliarden Euro pro Jahr ein.
Durch einen Flat-Tax-Steuer­
satz von 15 Prozent stiegen die
Einnahmen wohl auf rund
9 Milliarden im Jahr. Alle Rechnungen sind allerdings nur vage
Prognosen, weil keiner weiß,
wie hoch die Vermögen Superreicher in Deutschland wirklich
sind. Aber selbst die vagen Zahlen machen klar, dass die grünen Pläne das Auseinanderdriften der Vermögen in Deutschland nicht stoppen, sondern nur
verlangsamen würden.
glieder und WählerInnen Sympathien für die Einführung der
Vermögensteuer haben.
Also wird die Vermögensteuer
das Flaggschiff der Grünen für
den Wahlkampf 2017?
Nein. Sie ist ein Steuerinstrument, um mehr Gerechtigkeit
herzustellen, neben dem Kampf
gegen Steuerhinterziehung, der
ökologischen Finanzreform und
der besseren Familienförderung.
STEFAN REINECKE
Simone Peter
■■50, gehört zum linken Flügel
der Grünen. Seit Oktober 2013
ist sie zusammen mit Cem Özdemir Parteivorsitzende.
Von 2009
bis 2012
war sie
Umweltministerin des
Saarlands.
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