taz.die tageszeitung

Wenn er die Energiewende schafft, schaffen wir sie alle
EnBW war lange ein Lieblingsfeind von Umweltschützern. Jetzt soll der Energiekonzern
grün werden. Kann das klappen? Ein Tag mit Konzernchef Frank Mastiaux SEITE 8, 9
AUSGABE BERLIN | NR. 11065 | 27. WOCHE | 38. JAHRGANG
SONNABEND/SONNTAG, 9./10. JULI 2016 | WWW.TAZ.DE
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DA LL AS
SIEGER Erst Gauland gegen Boateng, jetzt von Storch gegen alle: Rechtspopulisten haben
versucht, die Nationalmannschaft für ihre Zwecke zu kapern. Aber ein anderes
Deutschland hat dieses Spiel gewonnen EM taz SEITE 29–32
Deutscher Meister
Der amerikanische
Albtraum
Bei einem Protestmarsch
in Dallas töten
Heckenschützen fünf
Polizisten. Während die
Behörden noch ermitteln,
was eigentlich passiert ist,
beginnt das Ereignis
schon die Gesellschaft
weiter zu spalten SEITE 5
Nicht doch
Ein merkwürdiger Tag im Leben des Heinz
Fischer in Wien. Morgens die Krawatte gebunden, schwarz-weiß gestreift, das Haar
gebürstet. Letzter Tag als Präsident Österreichs. Zwölf Jahre im Amt, nun im Parlament noch mal geredet und zum Abschluss
„Baba“ gesagt. Und nun? Übernimmt ein
Triumvirat die Geschäfte, gebildet aus
dem Parlamentspräsidenten und seinen
Stellvertretern. Einer von den beiden ist –
Norbert Hofer. Ja, der! Der von der rechten
FPÖ, der dem Grünen Van der Bellen in der
Stichwahl unterlegen war, die jetzt wiederholt wird. Was für ein Schmarrn.
DER STÄ R KSTE SATZ
„Ich will mir
doch nicht von
einem Land
wie Belgien,
Bel-giii-um,
sagen lassen, was zu tun
ist. Wir sind
Großbritannien“
Eine Frau aus einem Strickklub in Lowestoft,
Nordengland, zum Brexit SEITE 17–20
taz.berlin
So sehen Sieger aus: Jérôme Boateng kommt erschöpft aus dem Halbfinale, geht aber beliebter denn je aus dem Turnier hervor Screenshot: ZDF/taz (Ausschnitt); Cira Moro/laif (oben)
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Vor 150 Jahren gründete
die Feministin Lina
Morgenstern Berlins erste
Volksküche SEITE 41, 44,45
02
TAZ.AM WOCH EN EN DE
Kompass
SON NABEN D/SON NTAG, 9./10. JU LI 2016
Aus dem Inhalt
Politik
USA Beim Protest gegen
Polizeigewalt töten He­
ckenschützen fünf Poli­
zisten. Was wird Dallas
verändern? Seite 5
Acker Wachstum ist
nicht alles. Deutschlands
größter Agrarkonzern
geht pleite Seite 7
Reportage
Transformation Lange
war EnBW Lieblingsfeind
der Klimaschützer. Jetzt
muss der Stromkonzern
grün werden. Ein Tag mit
dem neuen Chef Frank
Mastiaux Seite 8, 9
Argumente
Populismus Warum
Stuttgart alles andere als
der Anfang vom Ende des
AfD sein könnte Seite 10
Kultur
Film Großer Klamauk.
„Toni Erdmann“ war der
Kritikerliebling in Cannes.
Regisseurin Maren Ade
im Interview Seite 12
Literatur Die Kraft der
­Irritation. Warum ein
Text über ein Ei den
Bachmannpreis gewin­
nen musste Seite 13
Essen Ernsthafter
­Hedonist: Nachruf auf
Gastronomiekritiker
Wolfram Siebeck Seite 16
Gesellschaft
Drittland Wo ein Nein ein
Ja ist und ein Ja ein Nein:
Ein Ausflug auf eine Insel,
die noch kaum realisie­
ren kann, was der Brexit
bedeutet Seite 17–20
Erbe Einst das Jerusalem
des Balkans, will Thes­
saloniki heute nur eins:
griechisch sein Seite 26, 27
Vorschau Alle reden stän­
dig drüber. Aber woher
wissen wir, wie das Wet­
ter morgen wird? Zu Be­
such beim Wetterdienst
in Offenbach Seite 23
EM taz
Finale Frankreich gegen
Portugal, das heißt Effi­
zienzspiel gegen Destruk­
tivismus Seite 29–32
Medien
Serie Grande Dame.
­Zazie de Paris wird bald
Transfrau der Lindenstra­
ße. Ein Gespräch Seite 35
Reise
Weite Erst blieben die
Russen weg, nun sind es
die Deutschen. Ein Gang
über die leeren Strände
der Türkei Seite 38
PANTER PREIS SEITE 28
TV-PROGRAMM SEITE 34
LESERBRIEFE SEITE 37
DIE WAHRHEIT SEITE 40
Wie Brücken ihre
Bedeutung ändern
LEKTIONEN
5 Dinge, die wir
diese Woche
gelernt haben
1. Snapchat bekommt ein
­Gedächtnis
Snapchat gilt ja als der neueste
heiße – äh – Scheiß des Internets. Wobei man nie weiß, wie
lange neu „neu“ ist. Geht alles
so schnell. Wie auch immer:
Snapchat verliert sein Alleinstellungsmerkmal. Bislang verschwanden die gesnappten Bilder oder Filmchen nach 24 Stunden im Nirgendwo. Flüchtige
Gedanken,
verweht.
Jetzt
kommt „Memories“, damit können Snapper ihre Dateien aufbewahren. Experten sehen darin einen Angriff auf Facebook.
Steht da eine Marktbereinigung
J
etzt wird sie wohl wieder
losgehen, die Diskussion
über die Nachfolge von
Joachim Gauck, die gnädigerweise kurz von Fußballthemen abgelöst worden war. Dabei ist die Zukunft der nächsten First Lady wichtiger als der
Name des nächsten Staatsoberhauptes, falls es denn erneut ein
Mann werden sollte.
Die Frau an der Seite des
Bundespräsidenten hat einen
Vollzeitjob, als selbstverständlich gilt, dass sie repräsentative
Pflichten übernimmt. Mehr als
das: Sie hat einen eigenen kleinen Stab und ein eigenes Büro.
Nur bezahlt wird sie nicht.
Selbstverständlich
nicht.
Schließlich ist es von alters her
die vornehmste Pflicht einer
Frau, ihrem Mann zur Seite zu
stehen. Für Gotteslohn.
Es ist ja nie sicher, dass Ironie
als solche verstanden wird, also
ernsthaft: Im Umgang des deutschen Staates mit seiner First
Lady drückt sich ein reaktionäres Verständnis von der Rolle der
Frau in der Gesellschaft aus. Ich
im Sektor Social Media an? Wir
beobachten das und snappen
vielleicht auch mal drüber.
2. 73 ist kein Alter
Große Dirigentenkarrieren fanden ihren Beginn oft unverhofft.
Weil der Maestro krank wurde,
sprang der Jungspund ein. Legendär: Leonard Bernstein, 25,
1943 am Pult der New Yorker
Philharmoniker als Ersatz für
Bruno Walter. A star was born. In
Bayreuth geht das andersrum:
Da kündigt Andris Nelsons, 37,
kurz vor der Premiere, den „Parsifal“ wird nun Hartmut Haenchen dirigieren. Ein Debütant
am Grünen Hügel mit 73 Jahren. Einer, der seine eigene Geschichte mit Wagners Bühnenweihfestspiel hat. In der DDR, wo
Haenchen bis 1986 lebte, war es
verboten und wurde doch aufgeführt – zur Not wurden die Karten an Stasileute vergeben, damit nichts von der Geschichte
Schon die Nazis wollten eine Brücke von der Krim auf das russische Festland bauen. Infrastruktur für die
Invasion. Sie fingen an, dann zerbombten sie, was sie gebaut hatten, damit nicht umgekehrt die Russen
auf sie zukamen. 2008 planten die Ukraine und Russland gemeinsam eine Brücke, das war aber zu teuer.
Jetzt reicht das Geld, natürlich. 2018 soll die Brücke über die Straße von Kertsch fertig sein.
Foto: Maxim Shipenkov/dpa
um den Gral ins Volk diffundieren konnte.
3. In der Krise wächst die Liebe
Nun, da nach dem Brexit das
Gebilde EU so fragil dasteht,
empfinden die Deutschen Zuneigung zu ihm: Laut ZDF„Politbarometer“ gaben 51 Prozent der Befragten an, dass die
EU-Mitgliedschaft eher Vorteile bringe. Okay, eine zurückhaltend geäußerte Liebesbezeugung. Aber der Wert so hoch wie
noch nie bei dieser Umfrage.
4. Ein Bordstein ist nicht
­immer nur ein Bordstein
Die Stadtverwaltung von Hayward in Kalifornien sorgt unter
Erdbebenforschern für Unmut,
weil sie eine hervorstehende
Bordsteinkante
begradigen
ließ. Weg mit der Stolperfalle!
Im Prinzip richtig gedacht, nur
war die Kante in erster Linie ein
von Seismologen geschätztes In-
diz für tektonische Verwerfungen in dieser erdbebengefährdeten Region. Über Jahrzehnte
wurden Bewegungen des Bordsteins dokumentiert, weil unter
ihm die Hayward-Verwerfung
verläuft. Zwei Erdplatten beharken sich da. Beruhigend für
die Bebenforscher ist nur, dass
die tektonischen Kräfte die Arbeit der Bauarbeiter schnell zunichtemachen könnten. Fragt
sich nur, in welchem Ausmaß.
5. Kleiner Vogel, großer Wille
Eine Kollegin hat ein Vogeljunges gefunden, groß wie eine Kirsche, schon voller gieriger Ameisen. Sie hat Berlins einzige Vogelfrau ausgemacht und das
Tierchen in ihre Obhut gegeben.
Es hieß, es habe keine Chance.
Einige Stunden später die Nachfrage per SMS: Lebt er noch? Die
erlösende Antwort: Ja! Klein Albatros, wir drücken dir die Daumen. FELIX ZIMMERMANN
Das Zitat
„Das Ende der
patriarchalen
Systeme ist
eingeläutet“
JUSTIZMINISTER
HEIKO MAAS ÜBER
DIE FRAUENQUOTE. BEI RUND 50
DAX-UNTERNEHMEN LIEGT SIE
NUN BEI 30
PROZENT
Foto: dpa
MACHT
Gebt ihr Geld
DI E FI RST LADY BEKOMMT KEI N GEHALT. EI N BEWEIS FÜR DAS REAKTIONÄRE
VERSTÄN DN IS VON DER ROLLE DER FRAU I N DER GESELLSCHAFT
halte es deshalb für skandalös,
dass sie für ihre Arbeit kein Gehalt bekommt.
Als ich das kürzlich während
einer Podiumsdiskussion sagte,
bekam ich viel Applaus. Vor allem von den Frauen im Publikum. Ein Kollege, der mir widersprach, bekam ebenfalls
viel Applaus. Vor allem von den
Männern. Manchmal schlägt die
Realität jedes Klischee.
Der Kollege sagte hinterher
zu mir, er fände meine Forderung grotesk. 200 000 Euro Jahreseinkommen für den Bundespräsidenten und lebenslanger
Ehrensold seien doch wahrlich
genug. Er hat tatsächlich nicht
verstanden, worum es geht.
Dabei ist es doch gar nicht so
schwierig. Daniela Schadt, die
nicht mit Joachim Gauck verheiratet ist, arbeitet für lau. Am
Ende der Amtszeit ihres Lebens-
BETTINA GAUS
IST POLITISCHE KORRESPONDENTIN
DER TAZ
gefährten wird die Journalistin
fünf Jahre lang keine Rentenansprüche erworben haben. Ob die
Betroffene das für pro­
ble­
ma­
tisch hält, ist nicht bekannt. Sie
könnte sich auch nicht entsprechend äußern, ohne dass ihr
Gier unterstellt würde.
Für das Prinzip, um das es
geht, ist ihre persönliche Ansicht jedoch nicht von Belang.
Gehälter werden üblicherweise
nicht abhängig von Meinungen bezahlt. Auch privatrechtliche Vereinbarungen, die möglicherweise getroffen wurden,
spielen in diesem Zusammenhang keine Rolle.
Aber wenn das Paar im Bellevue verheiratet wäre, dann
stellte sich das Problem doch gar
nicht, oder? Wunderbares Argument. Ehefrauen sind ohnehin
versorgt, die brauchen kein eigenes Geld? Das habe ich schon
mal irgendwo gehört.
Die Frau an der Seite des
Bundespräsidenten ist allerdings nicht gewählt worden,
oder? Stimmt. Ihre Sekretärin
wurde auch nicht gewählt und
bekommt trotzdem ein Gehalt.
Wie übrigens die Mehrheit der
arbeitenden Bevölkerung. Dass
Arbeit bezahlt wird oder zumindest bezahlt werden sollte, das
ist noch immer ein weithin akzeptierter Grundsatz.
Bis zur Wahl des nächsten
Staatsoberhauptes wäre genug
Zeit für einen fraktionsübergreifenden Gruppenantrag im Bundestag, in dem die Bezahlung
der First Lady – und, natürlich:
eines First Husband – gefordert
wird. Man könnte ja die Bezüge
des Staatsoberhauptes um den
entsprechenden Betrag kürzen.
Vielleicht würde ein solcher
Antrag abgeschmettert. Aber
die Argumente, die dafür ins
Feld geführt würden, möchte
ich sehr, sehr gerne hören.
Ach, noch etwas: Das Auswärtige Amt soll Nachwuchssorgen
haben. Unbegreiflich, oder? Welche Lehrerin oder Ärztin würde
nicht gerne Beruf und Einkommen aufgeben, um ihrem Mann
in den Tschad zu folgen und dort
als Frau des Botschafters ohne
Entgelt repräsentative Aufgaben zu übernehmen? Hm. Vielleicht läge es ja im nationalen
und nicht nur im Interesse der
Frauen, die Gesetzeslage zu ändern?
Die Drei
SON NABEN D/SON NTAG, 9. /10. JU LI 2016
TAZ.AM WOCH EN EN DE
03
Das andere Establishment
Theresa
May war gegen
Großbritanniens
EU-Austritt,
macht ihn aber
nun zu ihrer
Sache – und hat
beste Chancen,
Premierminister
David Cameron
zu beerben
PARTEI
VON DOMINIC JOHNSON
G
roßbritanniens nächster
Premierminister wird
eine Premierministerin.
Die Parlamentsfraktion
der regierenden Konservativen
hat bei ihrer zweiten Abstimmung über die Nachfolge des
Premiers David Cameron zwei
Kandidatinnen übrig gelassen:
Andrea Leadsom, Staatssekretärin für Energie, und Theresa
May, Innenministerin. Sie müssen sich der Basis jetzt in einer
Urwahl stellen.
Die meisten Beobachter sind
sich darüber einig, dass das Rennen damit so gut wie gelaufen
ist. May ist die klare Favoritin.
Sie bekam am Donnerstag im
ersten Wahlgang die Stimmen
von genau 150 der 330 konservativen Unterhausabgeordneten, im zweiten 199. Leadsom
steigerte sich lediglich von 66
auf 84. In Umfragen an der Parteibasis liegt May gar mit einer
Zweidrittelmehrheit vorn.
Es gibt bei den Konservativen
eine alte Regel, wenn eine neue
Führung gewählt wird. Sie besagt, dass der Favorit der Abgeordneten immer bei den Parteimitgliedern durchfällt. Diesmal
scheint sie außer Kraft gesetzt
– wohl auch, weil es in diesem
Fall nicht um die Benennung eines Oppositionsführers geht, in
dem die Aktivisten einen Repräsentanten finden, sondern um
die Kür zum Premierminister,
der das ganze Land regiert.
Dennoch bietet der kommende Wahlkampf – Andrea
Leadsom vs. Theresa May – in
den nächsten Wochen einen
Klassiker des englischen Konservatismus: Outsider gegen Insider, Aktivisten gegen Apparat.
May steht für Stabilität
Leadsom war eine Wortführerin der beim EU-Referendum
siegreichen Brexit-Kampagne
„Vote Leave“, May eine stille Unterstützerin des Verbleibs in der
EU. Die kaum bekannte Leadsom entpuppte sich in öffentlichen Auftritten als die positive
Überraschung des Brexit-Wahlkampfs. Die allen vertraute May
agierte als ruhige Hand der Regierung im Hintergrund. Leadsom gilt als eloquent, May als
besonders intelligent. Leadsom
gibt sich als Liebling der aufsässigen Basis, die den Brexit
auch als Denkzettel für das eigene lasche Establishment versteht; May die Kandidatin ebenjenes Establishments, das nach
Wochen der Aufregung wieder
Ruhe einkehren lassen will.
Wann immer es besonders
turbulent wird in Großbritannien, gibt es in der Politik Momente des Innehaltens; Momente, in denen sich die Akteure im Stillen neu zu besinnen
scheinen, um eine brenzlige
Theresa May, 2016 Foto: Stefan Wermuth/reuters
­ ituation nicht noch eskalieren
S
zu lassen.
Ob der vom Establishment
erzwungene Rücktritt des jungen Königs Edward VIII. 1936,
die an Massenhysterie grenzende Volkstrauer nach dem
Tod von Prinzessin Diana 1997
oder auch die lang anhaltende
tiefe Wirtschaftskrise der 1970er
Jahre – manchmal erlebt Großbritannien außergewöhnliche
Situationen, in denen die politischen Selbstverständlichkeiten erschüttert scheinen. Auch
der Sieg der Brexit-Befürworter
am 23. Juni gehört in diese Kategorie. Aber nie kommt es zum
Äußersten. Alle politischen Akteure müssen sich dann zwischen Umsturz und Restauration entscheiden, und regelmäßig schrecken alle vor dem
Umsturz zurück. Theresa May
fügt sich hier ein.
Die Kräfte der Restauration
sind in Großbritannien mächtig und diskret und nicht automatisch konservativ. Manchmal
fegen sie Altes hinweg, das nicht
mehr funktioniert. Sie agieren
im der Verschwiegenheit verpflichteten Privy Council der
Queen, dem alle wichtigen Politiker angehören; in den vielen Redezirkeln und Clubs der
Hauptstadt; eher im informellen Austausch zwischen Gleichgesinnten als in der formellen
Konfrontation zwischen Gegnern. Diese Ebene der institutionalisierten persönlichen Interaktion des britischen Staats,
der keine schriftliche Verfassung hat, nennt der Historiker
Peter Hennessy die „verborgene
Verkabelung“. Wenn Krisen drohen, offenbart sie ihre einzigartige Stärke und Flexibilität.
Theresa May ist jetzt die Kandidatin einer Restauration, die
bereit ist, um der Stabilität des
Landes willen den Austritt der
EU zu ihrer Sache zu machen,
obwohl sie nicht dafür war. Das
macht sie für beide Lager wählbar. Als Premierministerin
scheint sie alternativlos zu sein.
Als sich die Partei über den
Brexit zerfleischte, baute May
Nicht Cameron
„Gebraucht wird
eine starke,
bewährte Führung,
um aus Großbritannien ein Land zu
machen, das nicht
für wenige Privilegierte funktioniert,
sondern für alle“
THERESA MAY AM DONNERSTAG
Koalitionen. Ihre Rivalin An­drea
Leadsom kann keine nennens­
werte Regierungserfahrung aufweisen und hat kein politisches
Gewicht; ihren Aufstieg verdankt sie einzig dem Umstand,
dass sich alle anderen konservativen Brexit-Wortführer gegenseitig gemeuchelt haben.
May wird seit Jahren als mögliche Nachfolgerin David Camerons gehandelt. Sie ist überhaupt
erst die zweite Frau Großbritanniens neben Margaret Thatcher,
die je eines der vier Spitzenämter innehatte – Premierminister,
Finanzminister, Außenminister
oder Innenminister.
May ist seit 2010 im Amt, kein
Innenminister Großbritanniens
amtierte je länger als sie. Auch
jenseits des Amtes ist sie eine Insiderin der Sicherheitsapparate
und der drum herum vernetz-
ten Vordenker der britischen
Staatsräson, ohne deren Einverständnis in der britischen Politik gerade in schwierigen Zeiten
nichts geht. Sie hat konsistent einen harten Kurs gegen radikale
Islamisten und illegale Migranten gefahren, aber zugleich Interessengruppen wie die Polizeigewerkschaft in die Schranken
gewiesen, ohne dadurch Schaden zu nehmen.
Härte verspricht sie auch in
den Brexit-Verhandlungen mit
der EU. Während Labour, Liberale und sogar das Brexit-Lager bis hin zu Nigel Farage als
Geste des guten Willens das Bleiberecht der bereits in Großbritannien ansässigen EU-Bürger
erhalten wollen, lehnt May dies
als einseitige Vorleistung und
Schwächung der eigenen Verhandlungsposition ab.
Maidenhead, Mays englischer
Wahlkreis, ist eine unscheinbare
Stadt, durch die man fährt, ohne
es zu merken, an der aber jeder
vorbeimuss, der vom Flughafen London-Heathrow in lieblichere ländliche Gefilde weiter
westlich will. Dort oben, in Richtung der Cotswold-Hügel, wo ein
etwas zu exklusiver Zirkel residiert – Macht und Geld, Pferde
und Millionäre –, hat D
­ avid Cameron sein Zuhause. Theresa
Mays Welt ist eine Stufe tiefer
angesiedelt, unscheinbarer, disziplinierter, der harten Arbeit
gewidmet, mit Respekt vor Kirche und Armee, mit konservativen Werten, nicht borniert, aber
auch nicht populistisch.
Bei wem, wie bei May im Alter
von 56 Jahren, der unheilbare
Typ-1-Diabetes diagnosti­ziert
wird; wer, wie sie, daraufhin
seinen Alltag komplett umstellen und sich unter permanenter Selbstkontrolle mehrmals
am Tag Insulin spritzen muss,
muss sich ohnehin auf das Wesentliche im Leben konzentrieren, ohne Show und Effekthascherei. May macht daraus eine
Tugend, von der jetzt auch Großbritannien profitieren soll.
Theresa May ist, ihres stillen
Naturells wegen, das im Ver-
borgenen wirkt, oft mit Angela
Merkel verglichen worden, so
oft, dass gar nicht mehr beachtet wird, wo dieser Vergleich besonders zutrifft: May setzte sich
zu Beginn ihres Aufstiegs mit ihren Konservativen ähnlich schonungslos auseinander wie einst
Merkel mit der CDU im Rahmen
der Spendenaffäre.
Eher Blair als Cameron
2002, als neue Generalsekretärin, sagte May auf dem Parteitag der Konservativen, sie seien
nicht wählbar, weil die Öffentlichkeit sie immer noch als „die
bösartige Partei“ (Nasty Party)
wahrnehme. Ein brutaler Ausspruch, den ihre Kollegen ihr
jahrelang übel nahmen, weil er
eine unbequeme Wahrheit ausdrückte.
Sie hat den Spruch offensichtlich nicht vergessen. Das
Land, sagte May am Donnerstagabend, brauche jetzt „eine
starke, bewährte Führung, um
den besten Deal für Großbritannien in den Verhandlungen zum
Austritt aus der Europäischen
Union zu erreichen, um unsere
Partei und unser Land zu ver-
einen und um aus Großbritannien ein Land zu machen, das
nicht für wenige Privilegierte
funktioniert, sondern für jeden
von uns“. Das war nicht nur ein
verstecktes Selbstlob, sondern
auch eine bewusste Abgrenzung
von Camerons Elitehintergrund
– und eine überraschende Anknüpfung an Tony Blair und dessen Wahlkampfparole von 1997,
Großbritannien solle ein Land
„für die vielen, nicht die wenigen“ sein.
Damals, bei Labours Erdrutschsieg 1997, kam Theresa
May frisch ins Parlament, und
in ihrer Antrittsrede wies sie belustigt darauf hin, dass ihre Kollegen sie ständig mit einer Labour-Abgeordneten verwechseln würden, mit der sie den
Vornamen teilt. „Ich sollte mir
ein Namensschild zulegen, auf
dem steht: Nein, ich bin die andere“, sagte sie unter Gelächter.
Neunzehn Jahre später ist Theresa May tatsächlich „die andere“ – und genau das könnte
sie bis nach ganz oben tragen.
■■Mehr zu Großbritannien:
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