Gott und die Welt Autor

Abteilung:
Sendereihe:
Sendedatum:
Produktion:
Kirche und Religion
Gott und die Welt
10.07.2016
04.07.2016
Redaktion:
Autor/-in:
Sendezeit:
Anne Winter
Andreas Boueke
9.04-9.30 Uhr/kulturradio
9.15-17.00 Uhr/T9
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GOTT UND DIE WELT
Hunger im Westen - All-Inclusive im Osten
Die zwei Gesichter der Insel Hispaniola
Es sprachen:
Romanus Fuhrmann, Karim Cherif und Tonio Arango
Regie:
Clarisse Cossais
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ATMO 1: Trommel, Singen, Akkordeon
1. O-TON, Eliezer Lembert: „Yo iba mas a menudo a…es un pastor es muy difícil.“
1. OV-Sprecher
Ich bin oft in dieses Wüstenlager gekommen, aber in letzter Zeit nur noch selten, weil
ich keine Antworten für die Menschen habe. Wenn ich komme, wollen alle, dass ich
ihnen helfe. Für mich als Pfarrer ist es schwer zu akzeptieren, dass ich nicht jedem
helfen kann.
2. O-TON, Jean-Luc: “Aquí? Aqui no se puede … spricht Kreol...”
2. OV-Sprecher
Hier auf der haitianischen Seite der Grenze kann man nichts anbauen. Es ist wie in
einer Wüste, ohne fruchtbaren Boden, ohne Wasser. Die Leute haben keine
landwirtschaftliche Erfahrung. Wenn wir wenigstens Wasser hätten, könnten wir
zumindest Maniok pflanzen oder Kartoffeln.
3. O-TON, Oscar: “Miseria esta matando...aquí no hay nada.“
1. OV-Sprecher:
Alle sprechen von der Cholera. Die gibt es, aber in Wirklichkeit sterben wir an Hunger.
Die Kinder verhungern, die Erwachsenen, die Jugendlichen. Niemand tut etwas. Die
haitianische Regierung hat gesagt, sie würde unser Problem lösen, aber nichts ist
passiert. Wir werden alle sterben, denn hier gibt es nichts mehr, das uns am Leben hält.
Titelsprecherin
Hunger im Westen - All-Inclusive im Osten
Die zwei Gesichter der Insel Hispaniola
Eine Sendung von Andreas Boueke
ATMO 2: Jaquelin „Gloria a dios“
SPRECHER:
Sonntagabend in San Luis, ein Armenviertel haitianischer Migranten im Norden von
Santo Domingo, der Hauptstadt der Dominikanischen Republik.
ATMO 3: Lied „Cristo rompe la cadena“
SPRECHER:
“Christus zerbricht die Kette” singen die rund zwanzig Gottesdienstbesucher in einer
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kleinen Holzkirche. Dabei strecken sie die Arme in die Höhe und schwingen ihre Hüften
im Takt der Musik.
ATMO 3: Lied „Cristo rompe la cadena“
SPRECHER:
Die Kirchengemeinde gehört zur “Iglesia de los Hermanos” [„Igléßia de los Ermános“],
ein Ableger der US-amerikanischen “Church of the Brethren”, der “Kirche der
Geschwister”, eine der historischen Friedenskirchen neben den Mennoniten und
Quäkern.
ATMO 3: Lied „Cristo rompe la cadena“
SPRECHER:
Pastor Gustavo Lendi singt lauthals mit. Er trägt eine dezente Krawatte zu einem
grauen Anzug, der ein wenig glitzert. Das Outfit fällt auf, besonders in diesem karg
ausgestatteten Gottesdienstraum. Die meisten Besucher sind eher ärmlich gekleidet.
Einige Kinder laufen barfuss über den staubigen Erdboden zwischen den Stuhlreihen.
Gustavo Lendi bittet die Gemeinde, sich zu setzen.
ATMO 4: Applaus, Pastor „Dios le bendiga a todos, a sentarse por favor.“
SPRECHER:
Der Pastor erzählt von einer Exkursion, die er kürzlich in die Provinz Pedernales an der
westlichen Landesgrenze zu Haiti gemacht hat. Jenseits der Grenze habe er im
Nachbarland das Lager Parc Cadeau [“Pakadó”] besucht. Dort leben Hunderte
Menschen, die vor wenigen Monaten aus der Dominikanischen Republik geflohen sind
oder deportiert wurden, berichtet der Pastor sichtlich erschüttert:
4. Atmo-O-TON, Gustavo Lendi: „Me toco la mala experiencia… lo que pudimos ver.“
1. OV-Sprecher:
Ich habe Kinder gesehen, die vor Hunger Lehm gegessen haben. Es gibt kein sauberes
Wasser. In der Nähe fließt ein Fluss. Der ist verseucht mit allen möglichen Mikroben, die
Krankheiten verursachen. Viele Menschen haben Cholera. Sie sterben. Die Kinder
haben dicke Bäuche und kleine Köpfe. Es ist traurig, das zu sehen.
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Musik
SPRECHER:
Haiti und die Dominikanische Republik sind Nachbarn auf ein und derselben Insel der
großen Antillen, aber die wirtschaftliche Situation der beiden Länder ist grundverschieden. Während Haiti vor allem durch Katastrophen wie das Erdbeben 2010 für
kurze Zeit in die Schlagzeilen gerät, gibt es in der Dominikanischen Republik eine
erfolgreiche Tourismusindustrie. Gerade für viele deutsche Besucher sind Palmenstrände mit Sonnengarantie und All-Inclusive-Service die wichtigsten Ingredienzien
ihres Karibikurlaubs. So trägt der Tourismus dazu bei, dass die meisten Menschen in
der Dominikanischen Republik sich deutlich mehr leisten können als die in Haiti. Das
Nachbarland gilt als die ärmste Nation des amerikanischen Kontinents.
ATMO 6: Auto, Stimmen, Moto
SPRECHER:
Jahrzehntelang haben Hunderttausende Haitianer die schlecht gesicherte Grenze
überquert, auf der Suche nach besseren Lebenschancen in der Dominikanischen
Republik. Dort haben viele Migranten Kinder bekommen, manche sind sogar schon
Großeltern. Doch die meisten haben ihren Aufenthaltsstatus nie legalisiert, erklärt der
dominikanische Grenzbeauftragte der Provinz Pedernales, Antonio Cintrón [“ßintrón”].
5. O-TON, Antonio Cintron: „Pero la entrada para los…ilegal no son dominicanos.“
2. OV-Sprecher:
Für die Haitianer war es immer einfach, in unser Land zu kommen. Doch dann wurde
die Situation untragbar. Die Dominikanische Republik ist ja auch ein armes Land. Wir
können es uns nicht leisten, zwei Millionen Haitianer aufzunehmen, die alle in den
Städten kriminell werden, die staatlichen Dienstleistungen nutzen, die durch die
Straßen vagabundieren und an den Ecken betteln. Das ist schon sehr unangenehm. Sie
halten sich auch in den touristischen Gebieten auf und vermitteln ein schlechtes Bild
unserer Nation. Außerdem ist die Verfassung eindeutig: Personen, die illegal in der
Dominikanischen Republik geboren wurden, sind keine Dominikaner.
SPRECHER:
Im Jahr 2014 begann die dominikanische Regierung mit einem Deportations-
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programm. Gleichzeitig schlug die Stimmung in der Gesellschaft gegen die
haitianischen Einwanderer und ihre Nachkommen um. Es kam zu rassistischen
Übergriffen gegen Menschen mit dunkler Hautfarbe. Die meisten Haitianer stammen
von Afrikanern ab. Die meisten Dominikaner hingegen sehen sich als Nachkommen
spanischer Kolonisatoren. Das bedeute aber nicht, dass sie Rassisten seien, erklärt
diese Dominikanerin. Sie sei weltgewandt und reisefreudig, aber Haiti, das einzige
direkte Nachbarland ihrer Heimat, habe sie noch nie besucht.
6. O-TON, dominikanische Frau: „De verdad es que seria imposible… esta muy bien.“
1. OV-Sprecherin:
Für uns Dominikaner ist es unmöglich, auch nur daran zu denken, nach Haiti zu fahren.
Das tut hier niemand. Haiti ist kein Ort, der einen Besuch wert wäre. Auch nicht, um
sich mal das Land anzuschauen. Das sind ja offensichtlich Menschen, die nicht an das
Gute glauben. Die widmen ihr Leben dem Satan. Uns ist schon klar, dass die Haitianer
Hilfe brauchen, aber die können sie dort bekommen, in ihrem Land. Sie sollen mal
schön drüben bleiben.
Musik
SPRECHER:
1492 landete Christoph Kolumbus auf der Insel Hispaniola. Zehn Jahre später hatten
die spanischen Eroberer die einheimischen Indios fast vollständig ausgerottet – daher
wurden Zehntausende Sklaven aus Westafrika in die Karibik verschleppt. Ab Ende des
17. Jahrhunderts schufteten sie auch auf den Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen der
Franzosen, die nun den Westteil der Insel beherrschten. Immer wieder kam es zu Aufständen, die schließlich in eine Revolution mündeten. 1804 proklamierten die
Schwarzen ihren eigenen Staat: Haiti. Das einzige Land der Welt, in dem es afrikanischen Sklaven gelang, ihre weißen Herren zu entmachten und unabhängig zu werden –
allerdings forderten die ehemaligen Plantagenbesitzer horrende Entschädigungen.
Innere Machtkämpfe, Korruption und Unruhen kamen dazu. Zudem erleben die
Haitianer immer wieder die Grausamkeit der Natur mit ihren tropischen Stürmen und
Erdbeben. So bekam Haiti nie die Chance, eine eigenständige Volkswirtschaft zu
entwickeln. Auch deshalb sind in den vergangenen hundert Jahren viele Haitianer in
die Dominikanische Republik gezogen. Anfangs waren die billigen Arbeiter willkommen,
vor allem auf den großen Zuckerrohrplantagen des Landes. Doch mit der Zeit fanden
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viele Haitianer auch in anderen Bereichen der dominikanischen Wirtschaft Arbeit.
Einige studieren erfolgreich an den Universitäten. Sie machen den Dominikanern
Konkurrenz. So hat sich das Blatt gewendet,
7. O-TON, Eliezer Lembert: „Los mismos vecinos…tiempo viviendo aquí.“
1. OV-Sprecher:
Als Pastor habe ich in letzter Zeit immer wieder erlebt, wie Dominikaner Druck auf
langjährige Nachbarn haitianischer Herkunft ausgeübt haben: “Geht weg, wir wollen
Euch Haitianer hier nicht mehr haben!” Das hat ganz plötzlich angefangen. Ich kann es
mir noch immer nicht erklären. Sie haben gerufen: “Haut ab!” Obwohl diese Leute
schon seit sehr langer Zeit hier leben.
SPRECHER:
Eliezer Lembert Caraballo [spanische Aussprache] ist Pastor einer Pfingstkirche. Der
Dominikaner betreut eine Gemeinde in Pedernales nahe der Grenze zu Haiti. Zwar ist
auf beiden Seiten der Insel Hispaniola der Katholizismus Staatsreligion, in Haiti ist
jedoch auch der Voodoo als religiöse Praxis anerkannt. Für den dominikanischen
Grenzbeauftragten Antonio Cintrón ist dieser Volksglauben eine Ursache der rückständigen Entwicklung des Nachbarlandes.
8. O-TON, Antonio Cintrón: „Si llamarlo religion es posible…tema de ignorancia.“
2. OV-Sprecher:
Ich weiß nicht, ob man diesen Glauben als Religion bezeichnen kann. Ich sehe darin
eher eine Ignoranz, die diese Leute aus Afrika mitgebracht haben.
9. O-TON, Bridget Wooding: „When people want…is mentioned negatively.“
2. OV-Sprecherin:
Wenn Dominikaner sich rassistisch über Haitianer äußern oder Vorurteile
unterstreichen, dann sprechen sie besonders häufig über den Voodoo...
SPRECHER:
...sagt die britische Sozialwissenschaftlerin Bridget Wooding, die seit zwölf Jahren in
Santo Domingo lebt. Als Direktorin des Studienzentrums für Migration in der Karibik
macht sich Bridget Wooding Sorgen um die zunehmenden religiösen Spannungen
innerhalb der dominikanischen Gesellschaft, die zu Gewalt gegen haitianische
Migranten geführt haben.
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10. O-TON, Bridget Wooding: „When the authorities here...move across the border.“
2. OV-Sprecherin:
Die dominikanischen Behörden haben endlich ein Regularisierungsprogramm für
haitianische Migranten begonnen. Doch gleichzeitig haben die ethnischen Spannungen
in der Dominikanischen Republik deutlich zugenommen. Das hat dazu geführt, dass
einige Dominikaner haitianischer Herkunft um ihr Leben fürchten mussten, um ihr Hab
und Gut und um die Sicherheit ihrer Familien. Deshalb sind viele über die Grenze nach
Haiti geflüchtet.
SPRECHER:
Andere Haitianer wurden von den dominikanischen Behörden in das Nachbarland
abgeschoben, obwohl sie dort weder Freunde noch Verwandte haben. Rund hundert
Flüchtlingsfamilien sind in dem Lager Parc Cadeau gelandet.
ATMO 8: Junge trommelt rhythmisch auf Blechdose, Mädchen singen
SPRECHER:
Ein barfüßiger Mann, der ein paar schmutzige Lumpen trägt, deutet mit seinem dürren
rechten Arm auf ein Schlaflager aus alten Plastiktüten und Pappkartons. Er spricht
Kreol. Sein Nachbar übersetzt auf Spanisch.
11. O-TON, Mann: „ … spricht Kreol … „
Bernardo übersetzt: „El dijo tiene hijo...tiene con que para enterarlo.“
2. OV-Sprecher:
Der Mann sagt, dass er einen Sohn hatte. Der ist vor ein paar Tagen hier an dieser
Stelle verstorben. Der Vater hatte kein Geld, um ihn ordentlich zu begraben. Als der
Leichnam zu verwesen begann, hat er ihn einfach verscharrt.
ATMO 8: Junge trommelt rhythmisch auf Blechdose, Mädchen singen
SPRECHER:
Viele der Menschen, die in den vergangenen Monaten nach Parc Cadeau gekommen
sind, haben nicht lange überlebt – einige sind regelrecht verhungert. Einer der wenigen
Hilfsarbeiter, die regelmäßig ins Lager kommen, ist Arion Terrill [„Ärión Teríl“] von der
US-amerikanischen Organisation Soylent. Er bringt Beutel mit, die mit je einem Pfund
weissen Spezialpulver gefüllt sind, das den Hunger bekämpfen soll.
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12. O-TON: Arion Terrill: „The camps keep getting bigger…government shows up.“
1. OV-Sprecher:
Die Flüchtlingscamps hier werden immer größer. Das ist ein Problem. Sauberes Wasser
und Grundnahrungsmittel sind jetzt am wichtigsten. Mit diesen beiden Dingen könnten
die Leute überleben und auch nach Vorne schauen, bis endlich die Regierung
auftaucht und sich kümmert.
ATMO 9: Stimmen, Mann zählt „Un, deux...“, streitende Stimmen
SPRECHER:
Bei der Verteilung der Beutel kommt es zu Streit und Chaos, weil sich einige
Hungernde benachteiligt fühlen. Arion Terrill bleibt gelassen.
13. O-TON: Arion Terrill: „I've been coming here ever… So that's a little hard.”
1. OV-Sprecher:
Ich komme seit Beginn des Camps immer wieder hierher. Deshalb weiß ich, wie
schwierig die Situation ist. Ich hatte schon damit gerechnet, dass alles immer
schlimmer werden wird. Daran bin ich gewöhnt. Ein paar Freunde von mir sind krank
geworden, einige sind an Cholera gestorben. Jetzt verhungern ihre Kinder. Es ist schon
ein bisschen schwer, damit umzugehen.
ATMO 10: Stimmen im Raum bei Verteilung
SPRECHER:
Wie er das aushält? Arion Terrill antwortet nicht. Um den Hals des jungen Helfers
hängt eine Kette mit einem Holzkreuz, das er immer wieder zwischen Daumen und
Zeigefinger reibt, als brauche er selbst etwas, das ihm Halt gibt.
14. O-TON: Arion Terrill: „The children here a...are very satisfying to me.”
1. OV-Sprecher:
Die Kinder hier zeigen Symptome der Unterernährung. Aber ich bringe den Menschen
Nahrungsmittel und helfe mit der Trinkwasseraufbereitung. Das gibt mir große
Befriedigung.
ATMO 11: Musik, Männerstimmen
SPRECHER:
Im Schatten eines Hügels oberhalb des Lagers Parc Cadeau hocken vier junge Männer
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vor einer schwarzen Plastikplane. Sie hören haitianische Musik und starren auf ein
Brett im Staub, auf dem Spielsteine liegen. Feste Arbeit hat niemand in dieser Gegend
an der Grenze zur Dominikanischen Republik.
ATMO 11: Musik, Männerstimmen
SPRECHER:
Ein Mädchen kommt vorbei. Die Männer schauen zu ihr hinüber. Einer kommentiert
ihre hübschen Beine.
ATMO 12: Alicia ruft
SPRECHER:
Die sechzehnjährige Alicia [“Alíßia”] lacht und grüßt, so wie jeden Tag auf ihrem Weg
zum Wasserholen. Sie spricht Kreol, die Sprache der meisten Haitianer.
15. O-TON, Alicia: “... spricht Kreol...”
3. OV-Sprecherin:
Mein Großvater konnte sich noch an die Zeit erinnern, als es hier Quellen gab, Wälder
und Äcker. Heute gibt es keine Bäume mehr, das Wasser ist versiegt und der fruchtbare
Boden weggespült.
ATMO 13: schnelle Schritte
SPRECHER:
Alicia läuft über ausgetretene Pfade bis zu einer Stelle, an der Wasser aus einem faustdicken Plastikrohr fließt. Vor drei Jahren hat ein Ingenieursteam der Europäischen
Union das Rohr verlegt. Es leitet Wasser aus einem mehrere Kilometer entfernten
Flussabschnitt hierher – dem verseuchten Fluss, der unterhalb von Parc Cadeau fließt.
Doch ein Filtersystem war nicht Teil des Projekts.
ATMO 14: Alice säubert Plastikeimer mit Sand
SPRECHER:
Bevor Alicia ihren Plastikeimer mit Wasser füllt, reibt sie ihn mit Sand sauber.
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16. O-TON, Alicia: “...spricht Kreol...”
3. OV-Sprecherin:
Mein Vater schimpft, wenn ich nicht glasklares Wasser nach Hause bringe. Aber einige
Leute sagen, das Wasser aus dem Rohr sei verseucht. Vielleicht haben deshalb so viele
Menschen Durchfall und sterben.
ATMO 15: Eimer wird mit Wasser gesäubert
SPRECHER:
Die Wasserstelle ist ein sozialer Treffpunkt. Alle Kinder, Frauen und Männer, die hier
warten, kennen das Gerücht, dass das Wasser aus dem weißen Rohr voller gefährlicher
Bakterien sei. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass es zumindest etwas
gesünder ist als das Wasser aus dem Fluss, in dem sie baden und ihre Wäsche waschen.
ATMO 16: Wasser fließt in Eimer
SPRECHER:
Nachdem Alicia ihren Eimer gefüllt hat, ist ein kräftiger Mann Mitte dreißig an der
Reihe. Sein Körper ist von Kopf bis Fuß rußverschmiert. Unter dem Wasserstrahl
wäscht er sich die Hände, Füße und das Gesicht. Den Morgen über hat er Holzkohle aus
Baumwurzeln produziert, erzählt der Mann auf Spanisch. Er heißt Oscar.
17. O-TON, Oscar: “Para cargarlos para…de mi familia mia tampoco.“
1. OV-Sprecher:
Eben gerade habe ich einen Sack voll Kohle in das Städtchen Anse-á-Pitre
[„französische, genäselte Aussprache“ „Ahnsapít“] getragen und ihn für zwei Pfund
Reis eingetauscht. Würde ich das nicht machen, hätten wir heute überhaupt nichts zu
essen. Aber wenn wir nichts essen, verhungern wir. Deshalb komme ich um sechs Uhr
morgens aufs Feld, um Wurzeln zu graben. Jetzt ist es vier Uhr. Ich habe heute noch
nichts gegessen und meine Familie auch nicht.
SPRECHER:
Oscar schüttelt die Plastiktüte mit dem Reis.
18. O-TON, Oscar: “Yo tengo seis hijos, y la mujer mia, siete, yo, ocho.
1. OV-Sprecher:
Ich habe sechs Kinder, und meine Frau, das macht sieben, mit mir acht. Schau' her, dies
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bisschen Reis ist die Tagesration für acht Personen.
Entonces mira (Tüte raschelt) esto para ocho gente.”
19. O-TON, Oscar: “Miseria esta matando...morir de hambre.“
1. OV-Sprecher:
Unser Elend interessiert niemanden, dieses Elend, dass allen den Tod bringt. Sie sagen,
es sei die Cholera. Alle sprechen von der Cholera. Aber in Wirklichkeit sterben wir an
Hunger. Die Kinder verhungern, die Erwachsenen, die Jugendlichen. Niemand tut
etwas. Die haitianische Regierung hat gesagt, sie würde unser Problem lösen, aber
nichts ist passiert. Wir werden alle sterben, denn hier gibt es nichts mehr, das uns am
Leben hält. Nicht einmal ein paar Kräuter oder Bananenstauden. Kein Zuckerrohr, das
die Kinder kauen könnten. Alle Welt hat eine Regierung, die ihnen hilft, aber uns hilft
niemand.
ATMO 17: Hacke
SPRECHER:
Auch jetzt noch graben einige Männer Löcher in den Hang. François, ein dürrer Mann,
der viel jünger ist als er aussieht, ist sich bewusst, dass seine Arbeit dem geschundenen Ökosystem einen weiteren Todesstoß versetzt.
20. O-TON, François: “... spricht Kreol ...”
2. OV-Sprecher:
Aber was sollen wir machen? Es tut mir weh, all die Löcher zu sehen, die wir
hinterlassen. Ich würde viel lieber etwas pflanzen. Aber hier wächst nichts mehr. Uns
bleibt nichts anderes übrig, als Holzkohle zu produzieren. Es ist ein Elend.
21. O-TON, Bridget Wooding: “The use of charcoal...and forest cover.”
2. OV-Sprecherin:
Die Produktion von Holzkohle ist ein Grund dafür, dass so viele Waldgebiete zerstört
wurden. Das hat zur nahezu vollständigen Entwaldung Haitis geführt.
SPRECHER:
Die britische Sozialwissenschaftlerin Bridget Wooding arbeitet in einem Büro, an
dessen Wänden Luftaufnahmen der Insel Hispaniola hängen. Darauf ist die Entwaldung
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auf der haitianischen Seite deutlich zu erkennen
22. O-TON, Bridget Wooding: “The issue of water...some 5 million people.”
2. OV-Sprecherin:
Das Ergebnis ist Wassermangel. Die haitianische Regierung hat es nie geschafft, ein
funktionierendes System für Naturreservate durchzusetzen. Der wichtigste Fluss des
Landes, der Artibonite [„französische Aussprache“ Artibonít“], führt immer weniger
Wasser. Doch in Haiti sind rund fünf Millionen Menschen von diesem Wasser abhängig.
SPRECHER:
Aber die Flüsse bringen den Menschen nicht nur Leben, sondern auch Tod. Sie haben
den Choleraerreger in die Küstenregion um den Ort Antes-á-Pitre gespült. Nach dem
Erdbeben im Januar 2010 gab es im Oktober die ersten Cholerafälle in Haiti schnell –
über 9.000 Menschen sind seitdem an der Cholera gestorben.
23. O-TON, Bridget Wooding: “Where colera...would need to be adressed.”
2. OV-Sprecherin:
Zur Zeit steigt die Zahl der Choleraopfer wieder an. Das ist sehr besorgniserregend.
Eigentlich müsste es eine umfassende Reaktion geben.
SPRECHER:
Auch im Urlaubsland Dominikanische Republik ist die Cholera längst angekommen wenngleich für Touristen kaum Gefahr besteht, sich anzustecken. Allerdings hat die
Choleraepidemie im Grenzgebiet Ausmaße angenommen, die nur noch schwer zu
kontrollieren sind, daher hat das dominikanische Gesundheitsamt einen sanitären
Notstand ausgerufen. Eigentlich sollte der Grenzübergang der Provinz Pedernales
geschlossen werden, um die Bevölkerung auf der dominikanischen Seite zu schützen.
Aber bisher hat sich niemand an diese Anweisung gehalten. Die Grenze ist noch immer
offen. Und ein paar Meter vom offiziellen Übergang entfernt, kann man ohnehin völlig
problemlos von einem Land ins andere gehen.
ATMO 18: Kinderstimmen, spielen mit Blechreifen
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SPRECHER:
In dem Lager Parc Cadeau in Haiti ahnt die sechzehnjährige Alicia nichts von den
Ängsten der Menschen jenseits der Grenze in der Dominikanischen Republik. Jeden
Tag trägt sie ihren Eimer Wasser über eine schattenlose Anhöhe, in deren trockenem
Boden die Toten des Lagers begraben werden. An einigen Kreuzen aus Draht hängen
Tonfiguren. Die werden bei Voodoo-Ritualen genutzt, um die heilenden Kräfte
verstorbener Angehöriger zu aktivieren.
ATMO 18: Kinderstimmen, spielen mit Blechreifen
SPRECHER:
Zurück im Lager stellt Alicia den Eimer in die Küche ihrer Familie, ein Verschlag aus
Wellblechplatten, Plastikmüll und wenigen Holzpfählen. Holz ist rar in der Gegend und
wertvoll. Es gibt ja so gut wie keine Bäume mehr.
ATMO 19: Trommel, Klapper, Singen
SPRECHER:
Plötzlich beginnt draußen jemand zu singen.
ATMO 19: Trommel, Klapper, Singen
SPRECHER:
Innerhalb weniger Augenblick stehen viele Menschen vor der Hütte und stimmen ein.
ATMO 19: Trommel, Klapper, Singen
SPRECHER:
Die Menschen in Parc Cadeau sind Opfer der Passivität der haitianischen Behörden und
der dominikanischen Abschiebepolitik, meint Pastor Eliezer Lembert. Der kräftige Mittvierziger bringt ab und zu ein paar Nahrungsmittel nach Parc Cadeau. Viel ist es nicht.
Der Pfarrer einer freikirchlichen Gemeinde direkt an der Grenze, verdient gerade mal
genug, um seine Familie zu ernähren.
24. O-TON, Eliezer Lembert: „Parc Cadeau es un símbol...puede vivir de esta forma.“
1. OV-Sprecher:
Parc Cadeau ist ein Symbol der Lüge der Politiker. Warum? Weil niemand etwas für
diese Leute tut. Ich kann sagen: Parc Cadeau liegt in einem Tal des Todes. Die Tage der
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Menschen hier sind gezählt. Kein Mensch kann lange so überleben.
SPRECHER:
Eliezer Lembert verteilt Kekse an ein paar Dutzend Kinder. Einige ausgemergelte
Erwachsene stehen daneben und nicken ihm freundlich zu. Einer von ihnen ist der
ehemalige Gastarbeiter und Familienvater Bernardo Graviel.
25. O-TON, Bernardo: „Cuanto esta en Santo Domingo, estaba...atendí esa finca.“
1. OV-Sprecher:
Als ich noch in der Dominikanischen Republik lebte, haben wir gut gegessen. Ich habe
gearbeitet und alle zwei Wochen bekam ich mein Gehalt. Ich habe Kochbananen und
Maniok gepflanzt und Kühe gemolken. Das war meine Arbeit auf der Finca meines
Patróns. Er lebt in New York und ich habe für ihn die Felder bestellt.
SPRECHER:
Als Bernardo Graviel noch in der Dominikanischen Republik lebte, hat er sich um einen
offiziellen Aufenthaltsstatus bemüht. Doch er hatte keinen Erfolg. So besitzt er bis
heute keine Papiere, weder für Haiti, noch für die Dominikanische Republik. Er ist
staatenlos.
26. O-TON, Bernardo: „Y por eso mismo lo imigración recoge...aquí en Parc Cadeau.“
1. OV-Sprecher:
Die von der Ausländerbehörde haben mich festgenommen, weil ich keine Dokumente
hatte. Sie sind um zehn Uhr Nachts gekommen und haben mich und meine Familie
mitgenommen. Sie haben gesagt: “Schwarzer Mann, du kommst jetzt in Haft.” Ich bin in
den Wagen gestiegen, hinter mir meine Frau und meine Kinder. Wir mussten alle unsere
Sachen zurücklassen. Sie haben dann noch mehr Leute aufgegriffen und uns direkt zur
Grenze gebracht. Wir sind nach Anse-á-Pitre gelaufen und von dort hierher gekommen,
nach Parc Cadeau.
SPRECHER:
Bernardo Graviel ist in einem Dorf im Norden der Dominikanischen Republik zur Welt
gekommen. Es war sein Großvater, der vor bald einem halben Jahrhundert Haiti
verlassen hat, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft im Nachbarland. Als Kind hat
Bernardo Graviel mit seinen Großeltern Kreol gesprochen, aber schon mit seinen
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Eltern und dann in der Schule hat er Spanisch gelernt, die Sprache der Dominikanischen Republik. Wahrscheinlich gibt es noch Cousins von Bernardo Graviel, die in Haiti
leben, aber er kennt keinen. So ist er vor acht Monaten in dem Lager Parc Cadeau
gelandet.
27. O-TON, Bernardo: „Ahora cuando nosotros…con todos los hijos míos.”
1. OV-Sprecher:
Seit wir in Haiti sind, leben wir im Elend. In der Dominikanischen Republik konnte ich
immer was zu essen auftreiben. Aber hier haben meine Kinder nichts. Es macht mich
traurig zu sehen, wie sie Hunger leiden.
28. O-TON, Eliezer Lembert: „He conocido personas, me llaman...de ellos fallecieron.“
1. OV-Sprecher:
Ich habe Leute kennengelernt, die mich später angerufen haben, um mich zu fragen:
“Kannst Du dich an diesen Jungen erinnern, an dieses Mädchen?” Und dann sagten sie
mir: “Der Junge, für den Du gebetet hast, ist gestorben.” Es sind viele Leute, die mich
so anrufen. Jeden Tag erzählen sie mir ihre Geschichten. Viele von ihnen sind schon
gestorben.
SPRECHER:
Pastor Eliezer hofft, dass eines Tages eine kompetente Organisation kommen wird, um
sich der Situation in Parc Cadeau anzunehmen. Was die abgeschobenen Haitianer hier
ertragen müssen, sei ein Skandal – die Menschen verhungern oder sterben an Cholera
und die Welt schaut weg.
Musik
Titelsprecherin
Hunger im Westen - All-Inclusive im Osten
Die zwei Gesichter der Insel Hispaniola
Sie hörten eine Sendung von Andreas Boueke
Es sprachen: Romanus Fuhrmann, Karim Cherif und Tonio Arango
Ton: Kaspar Wollheim
Redaktion: Anne Winter
Regie: Clarisse Cossais
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Das Manuskript der Sendung können Sie bei unserer Serviceredaktion bestellen, aus Berlin
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