Manuskript Beitrag: Der ERGO-Skandal – Versicherungsvertreter auf Lustreise Sendung vom 12. Juli 2016 von Jörg Göbel und Michael Haselrieder Anmoderation: Tausende Jobs in Gefahr und Millionenverluste. ERGO, der drittgrößte deutsche Erstversicherer, steckt in einer schweren Krise. Da kann der Konzern gar nicht gebrauchen, wenn die Justiz auch noch einen Sex-Skandal aus der Vergangenheit genauer untersucht. Vor neun Jahren vergnügten sich Vertreter mit Prostituierten - und die Firma zahlte. Über 300.000 Euro kostete die Feierlaune damals - und bis heute unendlich viel Vertrauen. All das sollte jetzt vor Gericht aufgearbeitet werden. Sollte! Jörg Göbel und Michael Haselrieder berichten. Text: Die Gellert-Therme in Budapest: Wo sonst Touristen und Einheimische ein bisschen Entspannung suchen, fand 2007 eine Party statt, die einen der größten deutschen Versicherungskonzerne, die ERGO, in eine tiefe Krise stürzte. Einer, der dabei war, erinnert sich: O-Ton Francisco Moraga, ehemaliger ERGOGeschäftsstellenleiter Frankfurt / Main: Es gab Gerüchte, aber wirklich, was da läuft, wusste keiner. Und was da letztendlich gelaufen ist, konnte sich auch keiner ausmalen, selbst nicht in so einer Organisation, in der, sag ich mal, schon der Slogan gilt: „außergewöhnlich ist für uns normal“. Eine Pool-Party mit 50 Hostessen und 20 Prostituierten für 64 Versicherungsvertreter. Sex als Belohnung - auf Firmenkosten. Alles bezahlt von der Hamburg-Mannheimer, einer Tochter des ERGO-Konzerns - und bestens organisiert: Hostessen hatten roten Bändchen um, Prostituierte gelbe. O-Ton Francisco Moraga, ehemaliger ERGOGeschäftsstellenleiter Frankfurt / Main: Die Prostituierten, die da engagiert waren, die haben natürlich dann uns akquiriert. In einem Bereich lagen da so, wie man das so kennt aus Beach-Clubs, diese Betten mit so weißen Tüchern. Und eine Dame saß davor, die hat dann Striche gemacht, wenn da irgendwie Leute verschwunden sind. Also, dort konnte man dann halt hingehen. Francisco Moraga lebt heute in Malaga, mehr als 20 Jahre war er selbstständiger Versicherungsvertreter, zuletzt Leiter der ERGODirektion Frankfurt. Solche Motivationsreisen seien im Konzern üblich gewesen. Moraga ist als Zeuge vor dem Landgericht Hamburg geladen. Dort sollte die Budapest-Reise aufgearbeitet werden. Rechtsanwalt Ulf-Diehl Dreßler vertritt einen der Angeklagten, einen ehemaligen mittleren Manager der ERGO. Der soll 52.000 Euro Firmengelder veruntreut haben, um damit die Prostituierten zu bezahlen. Dreßler hält den Vorwurf für abwegig. Sein Mandant habe auf Anweisung gehandelt. O-Ton Ulf-Diehl Dreßler, Rechtsanwalt: Er hat das gemacht, was ein Angestellter zu tun hat, nämlich das was die Vorgesetzten ihm gesagt haben, auszuführen. Und ich betrachte ihn, und er sich selbst auch, in diesem ganzen Komplex als Bauernopfer. Es ist ihm auch mitgeteilt worden, dass diese Reise, so wie sie erfolgt ist, auch vom Vorstand abgesegnet sei. Eine Sex-Party auf Firmenkosten - bis in die Konzernspitze bekannt? Fest steht: Der damalige Vertriebsdirektor der Hamburg-Mannheimer war in Budapest dabei und hielt eine Rede. Er erklärte sogar wofür die bunten Armbänder der Damen stehen: „Die einen, müsst ihr nur bitten“ – gemeint waren die Prostituierten. „Um die anderen müsst ihr kämpfen“ – die Hostessen. Die ERGO bestreitet, dass der komplette Vorstand informiert war, zeigt zwei angeblich involvierte Manager an, bringt damit weitere Ermittlungen ins Rollen. In einem Schreiben der ERGO an die Staatsanwaltschaft Hamburg heißt es, dass die „... Aktivitäten der Angeklagten nicht vom Unternehmensmanagement getragen wurden und auch weiterhin scharf missbilligt werden.“ Istanbul. Hier lebt heute Can Kakmaci. Bei der HamburgMannheimer war er einer der erfolgreichsten Verkäufer von Versicherungspolicen. Solche Leute nannte man „General“, sie verdienten Millionen. Auch er war bei der Party in Budapest dabei. Top-Verkäufer wie er trafen sich regelmäßig in sogenannten Generalskonferenzen mit Leuten aus der Konzernspitze. Kakmaci kann nicht glauben, dass die nichts gewusst haben. O-Ton Can Kakmaci, ehemaliger Generalrepräsentant ERGO: Das gibt es nicht, dass der Vorstand davon nicht weiß, weil wir in den Generalskonferenzen offen über diese heiße Party gesprochen haben. Und es gibt auch über jede Generalskonferenz ein Protokoll. Kakmaci wundert sich, dass heute niemand die Verantwortung übernehmen will für das, was damals üblich war. Schließlich ist über Budapest sogar in der Mitarbeiterzeitschrift groß berichtet worden - eindeutig doppeldeutig: „...ein Mordsspaß war es auf alle Fälle. Jedenfalls haben wir bis zu diesem Zeitpunkt noch niemanden gefunden, der dabei war und nicht sofort wieder loslegen möchte...“ Und so beginnt die Reiseplanung für die nächste Party. In einer Führungskräftekonferenz Ende 2007 soll sich ein Vorstandsmitglied offen für die Wiederholung der Sex-Reise ausgesprochen haben. Als die Sache 2011 auffliegt, erinnert sich ein Beteiligter in einer E-Mail, die Frontal 21vorliegt: Dieser Vorstand habe damals den Auftrag gegeben, „…die Veranstaltung in gewohnter Art und Weise und Diskretion zu organisieren.“ Der Verfasser der Mail sei dagegen gewesen, wollte seinen Vorstand „anschwärzen“ und forderte: Die Budapest-Reise „…in der Form auf keinen Fall noch einmal durchführen“. O-Ton Prof. Manuel René Theisen, Experte für Unternehmensführung: Also, spätestens nachdem diese Geschichte dem Vorstand bekannt geworden ist, vorausgesetzt er hat sie nicht von Anfang an mit unterstützt, wovon ich ausgehe, muss sofort gehandelt werden. Alles andere ist unglaubwürdig. Es ist in der Tat eine Frage des Managements, es ist eine Frage der Corporate Governance, also, des guten Verhaltens der Unternehmensspitze, Vorbild zu sein für die Mitarbeiter, aber auch für die Kunden. Und da hat das Management natürlich kläglich versagt. Denn trotz aller Bedenken soll es ein Jahr nach Budapest wieder eine Belohnung für die besten Verkäufer geben. Die Versicherungsvertreter können wählen zwischen einem teurem Laptop oder einer Reise. 15 nehmen den Computer, zwei verreisen - diesmal nach Ibiza, einer davon Can Kakmaci. O-Ton Can Kakmaci, ehemaliger Generalrepräsentant ERGO: Die Gesellschaft hat uns den Vorschlag gemacht, weil für zwei Leute lohnt sich nicht der ganze Aufwand in Budapest, lass es uns doch auf Ibiza machen, da kann man auch heiße Partys feiern. Es war eine Villa, toller Swimmingpool, Garten, da war eine Discoanlage aufgebaut. Wir fragen die ERGO: Waren auf Ibiza wieder Prostituierte dabei und hat die Versicherung dafür bezahlt? Die ERGO, die aus der früheren Hamburg-Mannheimer, kurz HMI, hervorgegangen ist, lässt diese und alle anderen Fragen unbeantwortet, verweist stattdessen auf den fünf Jahre alten Revisionsbericht zu Ibiza. Darin heißt es: „Auskunftsgemäß waren keine Prostituierten anwesend.“ Das stimme nicht, sagt Can Kakmaci. In der Villa hätten sehr wohl Prostituierte zur Verfügung gestanden. O-Ton Can Kakmaci, ehemaliger Generalrepräsentant ERGO: Ja sicher, das Ganze hat die HMI organisiert und auch bezahlt im Vorfeld. Und die Damen wurden auch von denen eingeladen, nicht von uns. Es müssen für zwei Personen, zwei Nächte Ibiza, 24.000, 25.000 Euro gekostet haben. Da können Sie sich vorstellen, dass da einige Kosten drin waren, also das Buffet und die Frauen, die man da eingeladen hat. Ich weiß nicht, was man denen da bezahlt hat. Und auch der Event-Manager, der die Ibiza-Reise organisiert hat, bestätigt Frontal 21: Es seien Prostituierte engagiert und von der Hamburg-Mannheimer bezahlt worden. Sex auf Vertreter-Reisen – das hat Tradition im Konzern. Nachdem das „Handelsblatt“ den Budapest-Skandal 2011 ans Licht brachte, musste das Unternehmen zahlreiche Verfehlungen einräumen: 1976, Zürich - Prostituierte mit Hubschraubern eingeflogen 2003, Rio de Janeiro - Prostituierte auf Hotel-Zimmern 2005, Mallorca - Bordellbesuch auf Firmenkosten 2009 und 2011, Jamaika - Urlaub im Swinger-Hotel Diese beiden Reisen nach Jamaika hat Francisco Moraga für seine besten Mitarbeiter organisiert, alles bezahlt von der Versicherung, berichtet er uns: O-Ton Francisco Moraga, ehemaliger ERGOGeschäftsstellenleiter Frankfurt / Main: Diese Reise wurde von der Firma vorgeschlagen, mit Wissen der Firma organisiert. Es gab drei – also, bei jeder Reise muss man drei Kostenvoranschläge machen. Sie können sowas gar nicht organisieren, ohne dass die Firma das mitkriegt. Es sei denn, Sie bezahlen es aus eigener Tasche. Das macht ja keiner. Seit Jahrzehnten sei das die immer gleiche Masche, um Umsätze zu steigern. O-Ton Francisco Moraga, ehemaliger ERGOGeschäftsstellenleiter Frankfurt / Main: Das Thema Sex, sag ich mal, war ein permanentes Motivationsmittel, was eingesetzt wurde. Also, das zieht sich auch durch meine ganzen 23 Jahre. Aber ich sage mal, wenn ich jede Reise melden soll, wo in irgendeiner Form Prostituierte dabei waren oder man zu Prostituierten gegangen ist oder deren Leistung in Anspruch genommen hat, ja, dann musst Du jede Reise melden. Der Sex-Skandal hat das Vertrauen der Kunden in den Versicherungskonzern massiv erschüttert. Das hat wirtschaftliche Folgen bis heute. Davon ist Gewerkschafter Frank Fassin überzeugt. Er sitzt auch im ERGO-Aufsichtsrat: O-Ton Frank Fassin, Gewerkschaft ver.di: Es ist so, dass Kunden sich fragen, wenn sie einer Versicherung viel Geld zur Verfügung stellen, damit sie Schutz bietet und dann feststellt, mit diesem Geld werden dann solche Dinge gemacht. Da hat man einen Ruf weg, wie man so schön sagt. Die ERGO kämpft und muss kämpfen gegen diesen Schaden, den sie damals sich selbst eingebrockt hat. Sie kämpft bis heute: fallende Marktanteile, steigende Kosten, hohe Verluste – die ERGO ist ein Sanierungsfall. Markus Rieß, der neue Vorstandsvorsitzende, will 1.800 Vollzeitstellen streichen. O-Ton Frank Fassin, Gewerkschaft ver.di: Die Abbaudimension ist brutal. Wir reden hier von fast 20 Prozent der gesamten Belegschaft in einer sehr kurzen Zeit. Das, was die Menschen jetzt ausbaden müssen, ist der Misserfolg der ERGO, und der ist durch das Management gemacht. Und das neue Management möchte am liebsten einen Schlussstrich ziehen unter den Budapest-Skandal. Obwohl die ERGO 2011 unter öffentlichem Druck Anzeige erstattet hatte, will sie jetzt, dass das Verfahren eingestellt wird. In einem Schreiben an die Hamburger Staatsanwaltschaft heißt es: „Indes scheint eine strafrechtliche Aufarbeitung dieses Sachverhalts im fünften Jahr nach Erstattung der Strafanzeige aus Sicht der ERGO nicht mehr sinnvoll.“ Vor wenigen Tagen wurde bekannt: Zu einem Gerichtsprozess wird es nun doch nicht kommen. Die Angeklagten haben eine Geldbuße akzeptiert. So entgehen sie einem langen Prozess. Versicherungsvertreter auf Lustreisen - eine öffentliche Aufarbeitung wird es nicht geben - ganz im Sinne der ERGO. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.
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