Kurzer Prozess: Teilräumung der Rigaer94 war illegal BewohnerInnen bereiten sich auf Rückkehr in ihre Räume vor ▶ Seite 6, 21, 22 AUSGABE BERLIN | NR. 11069 | 28. WOCHE | 38. JAHRGANG DONNERSTAG, 14. JULI 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND EU-Pläne für strengere Asylregeln H EUTE I N DER TAZ Ja May KOREA „Sie sind Schlim- Kommissar Avramopoulos will Verfahren angleichen EUROPA BRÜSSEL epd | Mit einer Anglei- chung der Asylregeln will die EU-Kommission Migranten den Anreiz nehmen, innerhalb Europas ganz bestimmte Länder wie Deutschland oder Österreich anzusteuern. „Die Änderungen werden ein echtes gemeinsames Asylverfahren schaffen und gewährleisten, dass die Asylbewerber gleich und korrekt behandelt werden, egal in welchem Mitgliedstaat sie ihren Antrag stellen“, erklärte Migrationskommissar Dimitris Avra mopoulos am Mittwoch. Die Pläne sehen „strengere Regeln gegen Asylmissbrauch“ und Sanktionen vor. Zudem sollen gemeinsame EU-Listen für sogenannte sichere Herkunfts- und Drittstaaten erstellt werden, in die dann einfacher abgeschoben werden kann. ▶ Ausland SEITE 10 meres gewöhnt“: Die Regisseurin Sung-Hyung Cho über ihre Film arbeiten in Nordkorea ▶ SEITE 16 HERERO Warum die Bundesregierung endlich offiziell von Völkermord in Namibia spricht ▶ SEITE 2, 12 BILDER Eine gegen alle: Neue Ikonen des Widerstands ▶ SEITE 13 MIETERWECHSEL Was sollen diese Fragen: Ist Fotos: C. Mang (o.); imago die neue britische Regierungschefin eisern hart wie Lady Thatcher? Oder so wie Merkel? Hat sie Kinder? Und was für Schuhe trägt sie?! What the fuck! Es ist 2016. Warum es falsch ist, die Premierministerin Theresa May auf ihr Geschlecht zu reduzieren ▶ SEITE 3, 14 VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel erwägt nach Medienberichten eine Abdankung. Die 61-Jährige denke über einen solchen Schritt nach, berichteten Fernsehsender und Nachrichtenagenturen. Merkel habe intern eingeräumt, dass ihr bei Zeremonien bisweilen kleine Fehler unterliefen. Das Kanzleramt hat deshalb vorgeschlagen, dass die Kanzlerin einige ihrer Verpflichtungen abgibt. Ob es einen Zeitplan für einen Amtsverzicht gibt, ist nicht bekannt. Laut Medienberichten müsste ohnehin das Gesetz geändert werden, weil ein Merkel-Rücktritt bisher Clinton will versöhnen nicht vorgesehen ist. Der Kater nach dem Brexit: Die PremierministerInnen kommen und gehen, Larry bleibt in 10 Downing Street die Nummer 1 Foto: Facundo Arrizabalaga/dpa WASHINGTON ap | Einen Tag nachdem sie die Unterstützung ihres bisherigen Rivalen Bernie Sanders erhalten hat, kündigte US-Präsidentschaftsbewerberin Hillary Clinton eine Rede zur Versöhnung der gespaltenen Nation an. Der Parteilinke Sanders hatte zuvor gesagt: „Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um sicherzustellen, dass sie die nächste Präsidentin der USA wird.“ Als Kulisse für ihre für Mittwoch geplante Ansprache wählte Clinton das Staatskapitol in Springfield in Illinois. Hier hatte im Jahr 1858 Abraham Lincoln in einer Rede vor Zwietracht im Umgang mit Sklaven gewarnt. Hintergrund von Clintons Rede sind die tödlichen Polizeischüsse auf Schwarze sowie die Ermordung von fünf Polizisten in Dallas. TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 16.062 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Die Verhältnisse in den einzelnen Ländern lassen sich nicht vergleichen, ebenso wenig wie deren Politikerinnen. Theresa May hat gewonnen, weil sie bessere Nerven hatte als alle anderen. Angela Merkel ist, auch wegen der starken Kein Kampf der Geschlechter Position des Bundestages, weniger mächtig, als das Ausland glaubt. Wie man im Inland weiß. Und Hillary Clinton? Na ja. Abwarten. Der Abschied ihres Rivalen Bernie Sanders war quälend. Er hat ihn so lange hinausgezögert, dass er nicht mehr visionär und tapfer, sondern lediglich starrköpfig erschien. Mag sein, dass er gehofft hatte, seine Rivalin werde knapp vor der Ziellinie doch noch über ihre E-Mail-Affäre stürzen. Aber das ist nicht geschehen. Sanders hat sich vermutlich verzockt. Was nicht bedeutet, dass er am Ende nicht doch der bessere Kandidat gewesen wäre – wenn es darum geht, Donald Trump zu verhindern. Bei seinem Kampf gegen Clinton spielt die Frauenfrage eine untergeordnete Rolle, es sei denn ex negativo: Mag sein, dass manche Frauen am Ende Hillary wählen – und nur deshalb Hillary wählen! –, weil Donald einfach nicht müde wird, ihnen unentwegt ins Gesicht zu schlagen. Ob das reichen wird, steht jedoch nicht fest. Die jüngsten Meinungsumfragen besagen vor al- Der Abschied von Clintons Rivale Bernie Sanders war quälend lang lem eines: dass das Rennen noch nicht gelaufen ist. Sowohl Hillary Clinton als auch Donald Trump sind bei denen, die sie nicht begeistert unterstützen, bemerkenswert unbeliebt. Das liegt bei Clinton nicht in erster Linie daran, dass sie eine Frau ist. Sie gehört zum Establishment. Für Bernie Sanders gilt das nicht. Wer auf „die da oben“ wütend ist, hätte ihn wählen können. Das hat nichts mit dem Kampf der Geschlechter zu tun. Es steht zu befürchten, dass Donald Trump nun auch bei den Demokraten erfolgreich auf Stimmenfang gehen kann. Beunruhigend. Er könnte tatsächlich Präsident der Vereinigten Staaten werden. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG NACH RUF NACH RICHTEN EU-AUSLÄN DER I N DER BUN DESWEH R SYR IE N Regierungspläne stoßen auf Widerstand UNO ruft zu Hilfe für Aleppo auf BERLIN | Die Pläne der Bundesre- Der brutale Mafiaboss Bernardo Provenzano ist tot Foto: ap Vom Viehdieb zum Oberboss W ährend seiner ganzen Karriere begleitete ihn der Spitzname „u tratturi“, sizilianisch für: der Traktor. Und das war nicht etwa eine Anspielung auf seine ländliche Herkunft. „Traktor“ wurde Bernardo Provenzano getauft, weil seine Opfer erbarmungslos unter die Räder gerieten. 1933 geboren, brach Provenzano nach nicht einmal zwei Jahren die Grundschule ab, arbeitete als Landarbeiter, später als Viehdieb. Schon als Jugendlicher schloss er sich dem Mafia-Clan des Bergdorfs Corleone an, gemeinsam mit einer weiteren vielversprechenden Nachwuchskraft: Salvatore „Totò“ Riina. Im Duo wurden die beiden, die durch auch für Mafia-Standards außergewöhnliche Brutalität auffielen, 1974 die Bosse von Corleone. Doch ihr Aufstieg hatte erst begonnen. Im Jahr 1981 entfesselten sie, die den Mafiosi aus der Provinzhauptstadt Palermo als ungeschlachte Landeier galten, einen Krieg gegen die Bosse aus der Großstadt. Wenige Jahre später sind sie am Ziel: Riina ist nun Boss der Bosse auf Sizilien, Provenzano seine rechte Hand. Gemeinsam verantworten sie Dutzende Morde an Polizisten, Politikern, Richtern und Staatsanwälten. Ihren Höhepunkt erreicht die Cosa-Nostra-Offensive gegen den Staat mit den Bombenattentaten von 1992, denen die Staatsanwälte Giovanni Falcone und Paolo Borsellino sowie Falcones Ehefrau Francesca Morvillo und acht Begleitschützer zum Opfer fallen. Endlich reagiert der Staat: Im Januar 1993 wird Riina verhaftet, Provenzano bleibt auf freiem Fuß. Seitdem halten sich Gerüchte, er habe Riina an den Staat verkauft. Seitdem auch steht der Verdacht im Raum, es habe einen Deal zwischen Staatsvertretern und Provenzano gegeben. Sicher ist, dass Provenzano in all den Jahren trotz diverser präziser Hinweise nie verhaftet wurde. Er, der seit 1963 zur Fahndung ausgeschrieben war, der ungezählte Verurteilungen zu „lebenslang“ einkassiert hatte, konnte sein Leben als höchster Mafiaboss ungestört weiterführen. Erst am 11. April 2006 wurde er endlich verhaftet. Die letzten zehn Jahre seines Lebens verbrachte er im Hochsicherheitsgefängnis. Am Mittwoch starb er nach langer Krankheit. MICHAEL BRAUN Gesellschaft + Kultur SEITE 14 Der Tag DON N ERSTAG, 14. JU LI 2016 gierung zur Aufnahme von EUAusländern in die Bundeswehr stoßen auf Widerstand. Der Bundeswehrverband, die größte Interessenvertretung der Soldaten, lehnt eine solche Öffnung klar ab. „Die deutsche Staatsangehörigkeit ist für uns elementar und muss es bleiben – wegen des besonderen gegenseitigen Treueverhältnisses von Staat und Soldat und der gesetzlichen Verankerung“, sagte Verbandschef André Wüstner. Auch CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach ist kritisch. Die Union habe immer die Über- zeugung vertreten, dass das „ganz besondere, gegenseitige Treueverhältnis von Staat und Soldaten“ die deutsche Staatsangehörigkeit für einen Dienst in der Truppe notwendig mache, sagte er der NOZ. Aus seiner Sicht solle es dabei bleiben. Verteidigungsministerin von der Leyen betonte zwar, „das ist nicht etwas, was in Kürze passiert“. Gleichzeitig verteidigte sie die geplante Öffnung. „Ich glaube, die Soldatinnen und Soldaten haben eine tiefe Überzeugung, wofür sie einstehen – es ist nicht die Scholle, sondern es sind die Werte“, sagte sie. (dpa) GENF | Mehreren hunderttau send eingeschlossenen Bewoh nern von Aleppo in Nordsyrien drohen nach Angaben der UNO Probleme mit der Versorgung von Nahrungsmitteln, wenn die Belagerung durch Regierungs truppen anhält. Die UNO und weitere Hilfsorganisationen hätten nur noch ausreichend Lebensmittel, um 145.000 Men schen im Osten Aleppos einen Monat lang zu ernähren, teilte die UNO gestern in Genf mit. 200.000 bis 300.000 Bewoh ner könnten von der Blockade betroffen sein. (rtr) GROSSES KI NO Große Kinostreifen, kleine Perlen, Flops und Oscarkandidaten sowie Interviews mit Regisseuren und Schauspielern: Alles nachzulesen auf taz.de/film Rezensionen Filmtipps Interviews www.taz.de GEPLANTE BÖRSEN FUSION Belgien und Portugal protestieren LISSABON | In Portugal und Bel- gien regt sich Widerstand gegen die geplante Fusion der Deutschen Börse mit der Londoner LSE. Die Finanzminister beider Staaten appellierten in Briefen an EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager, die Fusion zu verhindern, weil er die Konkurrenz unter den Börsen in Europa störe. Die Börsen in Lissabon und Brüssel gehören – wie Paris und Amsterdam – zur französischen Euronext, die gegenüber einer deutsch-britischen Börse noch stärker ins Hintertreffen geraten würde. (rtr) Unter Ausschluss der Betroffenen POLITIK Erstmals hat die Bundesregierung den Mord an den Herero und Nama als Völkermord bezeichnet. Doch die Volksgruppen sind von den Gesprächen zwischen Deutschland und Namibia ausgeschlossen AUS NAIROBI ILONA EVELEENS Jetzt ist es offiziell. Die Bundesregierung hat zum ersten Mal den Mord an den Hirtenvölkern der Herero und Nama in der früheren Kolonie Deutsch-Südwestafrika als Völkermord bezeichnet. Diese Einstufung der Ereignisse zwischen 1904 und 1908 „spiegeln die Position der Bundesregierung wider“, hieß es in einer Antwort der Regierung auf die parlamentarische Anfrage des Linken-Entwicklungspolitiker Niema Movassat. Bis zu 85.000 Herero und mindestens 10.000 Nama wurden Anfang des 20. Jahrhunderts von deutschen Truppen unter Führung von General Lothar von Trotha ermordet. Bereits im vergangenen Jahr hatte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) das Verbrechen als Völkermord bezeichnet. Nach wie vor bleibt die Bundesregierung auf dem Standpunkt, dass aus der Verwendung des Worts „Völkermord“ keine Rechtsfolgen für Deutschland entstünden. Die Opposition lobte das Bekenntnis zwar als Kurskorrektur; Movassat bezeichnete es jedoch als völlig inakzeptabel, dass die laufenden Verhandlungen zwischen Deutschland und Namibia über den Genozid ohne Repräsentanten der beiden betroffenen Völker statt finden. Ähnlich äußert sich auch der namibische Politiker Kazenambo Kazenambo von Hoch zu Ochs: drei Herero-Männer im einstigen Namibia, 1904. Damals begann ihr Widerstand Foto: Ullstein-Bild „Wir warten schon seit hundert Jahren. Wir haben es nicht eilig“ MIKE KAVEKOTORA, NAMIBISCHER POLITIKER der regierenden Swapo-Partei. Durch den Ausschluss von Vertretern der Herero und Nama würden die „historischen Emotionen und Empfindlichkeiten nicht berücksichtigt“, kritisiert Kazenambo, einstiger Berater von Präsident Hage Geingob. Geingob sieht das anders: Die Gespräche mit Deutschland seien Angelegenheit aller Na- mibier, sagte er. Organisationen der Herero und Nama wollen jedoch mitreden. Die Ovaherero Traditional Authority (OTA) droht Deutschland mit einer Klage. Anwälte der Organisation sollen die Bundesregierung bereits brieflich aufgefordert haben, Herero- und Nama-Vertreter an den Gesprächen teilnehmen „Das konstituiert Völkermord“ taz: Herr Zimmerer, seit 1884 galt Südwestafrika vertraglich als deutsches Schutzgebiet. Wie muss man sich das Zusammenleben zwischen Siedlern und einheimischen Herero- und Nama-Stämmen vorstellen? Jürgen Zimmerer: Die Schutzgebietserklärung von 1884 war lediglich ein Anzeigen der Absichten des Deutschen Kaiserreiches gegenüber anderen europäischen Mächten. Die deutsche Kolonialherrschaft war von Anfang an auf das Militär gestützt. Im Grunde hatte man einen Eroberungs- und Besiedlungsprozess, der zunehmend zu Konflikten und Übergriffen führte, weil immer mehr Deutsche kamen. Es kam zu Viehund Landenteignungen, aber auch zunehmend zu körperlichen, einschließlich sexuellen Übergriffen von Deutschen auf Afrikaner und Afrikanerinnen. Die Deutschen wollten das Volk der Herero vernichten, sagt der Afrikaforscher Jürgen Zimmerer. Und fordert eine Resolution GESCHICHTE Jürgen Zimmerer ■■Jahrgang 1965, ist Professor für Geschichte Afrikas an der Universität Hamburg. Foto: Uni Hamburg Das alles trug dazu bei, dass der Wille zum Widerstand anwuchs. Der Widerstand der lokalen Bevölkerung begann 1904 und war ja dann erst einmal erfolgreich. Das stimmt. Die Herero töteten 123 Männer, schonten aber Frauen und Kinder. Damit gelang es ihnen, das gesamte Herero-Land, mit Ausnahme der militärisch befestigten Stationen, zu besetzen. Dann entsandte das Deutsche Kaiserreich aber General Lothar von Trotha mit 15.000 Mann und brach diesen Widerstand. Weshalb ist das nun ein Völkermord und kein Kriegsverbrechen? Es war Völkermord und Kriegsverbrechen, das ist ja kein Gegensatz. Ein Kriegsverbrechen besteht ja auch darin, dass man Frauen und Kinder tötet, was die deutsche Armee ebenfalls zu lassen. Bob Kandetu, Sprecher der Gruppe, meint: „Namibia soll bei den Verhandlungen zwischen Deutschland und den Opfern vermitteln.“ Doch von den Besprechungen dringt nur sehr wenig an die Öffentlichkeit. Namibia will eine Entschuldigung und Wiedergutmachung. Der deutsche Botschafter in Windhoek, Christian Schlaga, hat jedoch vor Kurzem klargestellt, dass Deutschland keine Wiedergutmachung zahlen wird. Man denke aber über die Erhöhung finanzieller Mittel für namibische Entwicklungsprojekte nach. Mike Kavekotora von der Oppositionspartei RDP bezeichnet die deutsche Haltung als arrogant. „Die deutsche Regierung sollte nicht vergessen, dass wir hier von Menschenleben sprechen. Wir warten schon seit hundert Jahren auf eine Wiedergutmachung. Wir haben es nicht eilig.“ Aber Deutschland hat es eilig. Der langjährige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Ruprecht Polenz (CDU), verhandelt stellvertretend mit Namibia. Er drängt auf eine Lösung noch vor Ende des Jahres. Diese Forderung bezeichnete Albertus Aochamub, Pressesprecher von Präsident Geingob, als unangemessen. „Die Abgeordneten der Bundesrepublik Deutschland sollten mehr Respekt und Höflichkeit für ihre namibischen Kollegen zeigen“, sagte er. Meinung + Diskussion SEITE 12 THEMA DES TAGES tat. Auch standrechtliche Erschießungen von gefangenen Herero gab es. Das war also von deutscher Seite kein Krieg, bei dem man dem Gegner gewisse Rechte zugestand, sondern von Anfang an hieß es, wer Widerstand leistet, hat sein Leben verwirkt. Und auch nach der zentralen Schlacht von Waterberg wurden die Herero – auch Frauen, Kinder und Greise – in die Wüste Omaheke getrieben und die Wasserstellen am Rande besetzt, sodass die Herero verdursten mussten. Das konstituiert Völkermord, weil es mit der Absicht begangen wurde, die Herero als Volk zu vernichten. Sie haben zu den Völkermorden an den Herero, Armeniern und zum Holocaust geforscht. Gibt es eine Verbindung? Nicht im Sinne einer Kausalität. Der Holocaust war keine unausweichliche Folge des Völker- mords an den Herero. An allen drei Verbrechen war aber das deutsche Militär beteiligt: als ausführender Akteur in Afrika, als Verbündeter des Osmanischen Reichs und als Wegbereiter im Vernichtungskrieg im Osten im Zweiten Weltkrieg. Die Logik der Beherrschung war immer gleich, nämlich Kontrolle von „Raum“ durch „Rasse“ und durch die Ersetzung einer Bevölkerung durch eine andere. Müsste der Bundestag eine Resolution zum Völkermord an den Herero und Nama verabschieden? Ja, ich hoffe dass der Bundestag die Meinung der Wissenschaft bald übernimmt. Die Völkermordforschung ist sich ja ebenso einig wie die historische Afrikaforschung, dass es ein Völkermord war. INTERVIEW FELIX HACKENBRUCH Schwerpunkt Großbritannien DON N ERSTAG, 14. JU LI 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 David Cameron meistert seine letzte Sitzung als Premierminister, Theresa May wechselt an die Spitze der Regierung Weil 2016 ist FEMINISMUS Nach wie vor scheint eine Frau an der Macht für tiefe Verunsicherung zu sorgen. Der herablassende Spin, mit dem nun über Theresa May geschrieben wird, ist eine Zumutung – und geht an den relevanten Fragen vorbei VON ANJA MAIER Man konnte bereits ahnen, wohin sich die Debatte entwickeln würde, als es um ihre Kinderlosigkeit ging. Theresa May, die neue Premierministerin des Vereinigten Königreichs, hat keine Kinder. Eigentlich eine private Angelegenheit. Dennoch war sich Mays Mitbewerberin um die Nachfolge von David Cameron nicht zu schade, genau damit gegen die Tory-Politikerin punkten zu wollen. „Ich bin sicher, sie ist sehr traurig, dass sie keine Kinder hat“, hatte Andrea Leadsom gegenüber Journalisten der Times gesagt. Es ist exakt diese Art von Vorurteil, die Frauen an der Macht entgegenschlägt. Die Botschaft: Sie hätte eigentlich lieber Kinder bekommen, stattdessen kümmert sie sich jetzt um Politik. Noch herablassender fällt der Spin aus, wenn die Politikerin im Ergebnis einer dramatischen Krise Verantwortung übernimmt. Von Lady Macbeth über die Eiserne Lady bis zur Trümmerfrau – wie in der taz – wird dann jede Zuschreibung strapaziert. Der Kniff: Sie hat gar nicht gewonnen. Die anderen haben nur vor ihr verloren. Nach wie vor scheint eine Frau an der Macht für tiefe Verunsicherung zu sorgen. Medial, politisch, privat. Schafft die das überhaupt? Was für einen Eindruck vermittelt sie? Und: Welchen Mann hat sie für diesen Job aus dem Weg geräumt? Das ist das Kaliber an Fragen in der Berichterstattung. Gern genommen wird das Klischee, Frauen machten doch irgendwie anders Politik. Weniger Testosteron bedeute: Bewahren statt erobern. Also Politik als eine Art Hormonbingo. Dieser Logik folgend kapriziert sich die Berichterstattung auch schon mal auf Mays Schuhgeschmack oder auf ihren selbstlosen Ehemann. Die britische Sun beschreibt Philipp May als Theresas „rock“, ihren Fels in der Brandung. Und die Süddeutsche Zeitung denkt über die Kochkünste der Neuen in 10 Downing Street nach und fragt: „Wie viel Angela Merkel steckt in Theresa May?“ Die sei ja wie May Pfarrerstochter und Pragmatikerin. Ja, könnte man ergänzen: Sie kocht auch gern, zum Beispiel Kartoffelsuppe. Aber das meldet da schon die dpa. Mit Blick auf die Ernennung der neuen britischen Premierministerin jedoch gilt eigentlich: Theresa May ist Theresa May. Ja, sie ist eine Frau, und ja, dieser Umstand wird anderen Frauen und Männern einmal mehr zeigen, dass Frauen alles genauso gut – oder schlecht – können wie Männer. Aber May ist weiß Gott kein unbeschriebenes Blatt. Sondern eine erfahrene Politikerin, eine große Nummer in ihrer Partei. Das könnte man spätestens seit 2010 wissen, da wurde sie nämlich zur Innenministerin ernannt. Seither genießt sie den Ruf einer harten Verhandlerin und Strategin. Einer Frau, die vor Entscheidungen lieber mehrfach nachfragt. Die Brexit-Kampagne ihrer Partei hat sie nicht unterstützt, aber auch nicht für einen Verbleib ihres Landes in der Europäischen Union geworben. Noch bevor sie in den Buckingham Palace aufbrach, um sich von der Queen zur Premierministerin ernennen zu lassen, hat sie angekündigt, mehrere Spitzenämter mit Tory-Frauen besetzen zu wollen. Vor Jahresfrist hat der neue kanadische Ministerpräsident Justin Trudeau sein Kabinett vorgestellt. Der dreißigköpfigen Mannschaft gehörten fünfzehn Der Vergleich wird bemüht: Ist sie wie Margaret Thatcher? Wie Angela Merkel? Theresa May, seit 2010 britische Innen-, seit Mittwoch Premierministerin Foto: Peter Nicholls/reuters Frauen und fünfzehn Männer an. Auf die Reporterfrage, warum das denn so sei, antwortete Trudeau: „Weil 2015 ist.“ Genau dies ist die korrekte Erwiderung auf Bemerkungen zum Geschlecht von Politikerinnen und Politikern. Voraussetzung dafür, dass derlei Fragen obsolet sind, ist: Gleichstellung. Aber da hakt es eben. Weil das alles offenbar so verunsichert und weil die Neue sich vor ihrer Ernennung politische Handlungsoptionen offen lässt, wird schließlich der Vergleich bemüht. Und weil die Zahl mächtiger Politikerinnen aus oben genannten Gründen irritierend gering ist, werden die immer gleichen Frauen als Referenzgröße herangezogen. IWF-Chefin Christine Lagarde etwa, aber auch US-Präsident- für dessen Standhaftigkeit bewundere, „ähnlich dem schwarzen Ritter in ‚Monty Python‘, der weitermacht trotz einer Fleischwunde“. Cameron verteidigte seine Erfolge, die Senkung der Arbeitslosigkeit und die Schaffung von Lehrstellen, besseren Schulen und die Einführung eines existenzsichernden Lohns. Doch als Jeremy Corbyn aus Mays Wahlprogramm zitierte, „dass viele Arbeitnehmer von Bossen ausgebeutet würden“ und auf Cameron verwies, war der Aufruhr unter den Tory-Abgeordneten groß. Sie zeigten ihrerseits auf Corbyn, der sich weigert trotz eines Misstrauensvotum der Mehrheit seiner Abgeordneten zurückzutreten. Abgeordnete der schottischen SNP sowie aus Nordirland verwiesen mehrmals auf den Brexit. Letztere behaupteten sarkastisch, Cameron habe mehr für Schottlands Unab- hängigkeit getan, als irgendjemand sonst. Auf das Verhältnis zur Europäischen Union angesprochen, empfahl Cameron Beziehungen, die so eng wie möglich sein sollten. EU-Bürgern in Großbritannien versprach er ein Bleiberecht. Doch hätte dies auch etwas mit dem Respekt gegenüber Briten in der EU zu tun. Dann, nach einer Liebeserklärung für den Kater Larry von 10 Downing Street, der dort bleibt, verabschiedete er sich mit den Worten, dass nichts unmöglich sei, wenn man sich darauf einstelle. Und dass er einst die Zukunft gewesen sei, woraufhin im Unterhaus lang anhaltenden Applaus ausbrach. Bei vielen Argumenten Camerons nickte Theresa May zustimmend und blickte dabei direkt in die Labour-Ränge. Es wird erwartet, dass Camerons Nachfolgerin viele Frauen in ihr neues Kabinett holen wird, wie die ehemalige Energiemi- schaftskandidatin Hillary Clinton, Großbritanniens verstorbene Premierministerin Margaret Thatcher. Und natürlich Angela Merkel. Der müssen bei den Berichten über ihre neue Kollegin in London die Ohren klingeln. Auch Merkel galt als Trümmerfrau. Sie war die Frau aus dem Osten, die als Übergangskandidatin gehandelt wurde und nun seit sechzehn Jahren Parteivorsitzende und seit bald elf Jahren Regierungschefin ist. Die in der schwersten Glaubwürdigkeitskrise Helmut Kohl abgelöst und die Scherben von SPD-Kanzler Gerhard Schröder aufgesammelt hat. In all den Jahren hat Merkel kommentarlos sämtliche Zuschreibungen ausgesessen: Sie ist die Kanzlerin ohne Kinder. Sie ist wahlweise die eiskalte Machtpolitikerin oder die Strategin mit der ordnenden weiblichen Hand. Nur Vergleiche musste sie sich – mangels Möglichkeiten – wenige gefallen lassen. Das steht nun Theresa May bevor. Auf die Frage, wie die Kanzlerin das Verglichenwerden findet, antwortet ihr Sprecher Steffen Seibert, dies sei einzig „Sache von Journalisten“. Angela Merkel sei der künftigen Premier ministerin im Übrigen noch nicht persönlich begegnet, man werde aber bald Kontakt haben. Es ist anzunehmen, dass die beiden dann wichtigere Fragen zu besprechen haben als die, wie es passieren konnte, dass ausgerechnet eine Frau britische Premierministerin werden konnte. Showdown im Unterhaus David Camerons letzte Rede ruft viel Gelächter und Zustimmung seiner Nachfolgerin Theresa May hervor. Sie wurde am Abend von der Königin offiziell zur neuen Regierungchefin ernannt AMTSÜBERGABE LONDON taz | Prime Minister’s Question am Mittwoch, das ist normalerweise der wöchentliche parlamentarische Showtime-Tag – jene Stunde im britischen Unterhaus mit den schlagzeilenträchtigsten Gefechten zwischen dem Pre mierminister und dem Oppositionführer. An diesem Mittwoch war es jedoch eher ein Showdown. Es war das letzte Mal, dass David Cameron als Premierminister am Rednerpult im Amt des Parteiführer der konservativen Partei stand. Eigentlich hätte es einen Wettbewerb der Tory-Besten bis mindestens September geben sollen. Doch dieser war schneller beendet als erwartet, nachdem am Montag Innenministerin Theresa May als einzige Kandidaten im Rennen für die Parteispitze übrig geblieben war. Zwischen seiner Nachfolgerin Theresa May und seinem Kanz- ler George Osborne stehend sowie in Anwesenheit seiner Frau und seiner Kinder, gestand David Cameron, dass sein Terminkalender bis auf ein letztes Treffen mit der Königin recht leer sei. Unter dem Gelächter des vollen Hauses wurden Cameron Vorschläge für einen nächsten Job gemacht – etwa als Moderator der Motorsportsendung „Top Gear“ oder als Trainer des englischen Fußballteams. Oppositionsführer Jeremy Cor byn dankte Cameron für dessen Einsatz für den ehemaligen Häftling in Guantanamo Bay, Shaaker Aamer, sowie für die Einführung der Homoehe. Gleichzeitig kritisierte er, dass während Camerons Amtszeit die Anzahl von Obdachlosen stark angestiegen sei. Cameron sagte an die Adresse der Labour-Partei gerichtet, die gerade in einem Machtkampf um die Führungsspitze verwickelt ist, dass er Corbyn nisterin Amber Rudd und die frühere Arbeitsministerin Priti Patel, eine vehemente Verfechterin des Brexit. Es wird außerdem erwartet, das der neuen Regierung sowie Anhänger als auch Gegner des Brexit angehören werden, um diese gespaltene konservative Partei wieder zu vereinen. Nachdem sich Cameron von seinen Angestellten in Downing Street verabschiedet hatte, machte er einen letzten Ausflug in den Buckingham Palace, um dort offiziell zurückzutreten. Danach wurde Theresa May von der Königin zur Regierungschefin ernannt – die zweite Frau in diesem Amt seit Margaret Thatcher. Die Härte der Iron Lady wird von May vor allem gegenüber Einwanderern erwartet. DANIEL ZYLBERSZTAJN ■■Eine Bilanz von David Cameron als Premierminister finden Sie unter www.taz.de/cameron
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