Kurzer Prozess: Teilräumung der Rigaer94 war illegal Kein Kampf

Kurzer Prozess: Teilräumung der Rigaer94 war illegal
BewohnerInnen bereiten sich auf Rückkehr in ihre Räume vor ▶ Seite 6, 21, 22
AUSGABE BERLIN | NR. 11069 | 28. WOCHE | 38. JAHRGANG
DONNERSTAG, 14. JULI 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
EU-Pläne für
strengere
Asylregeln
H EUTE I N DER TAZ
Ja May
KOREA „Sie sind Schlim-
Kommissar
Avramopoulos will
Verfahren angleichen
EUROPA
BRÜSSEL epd | Mit einer Anglei-
chung der Asylregeln will die
EU-Kommission Migranten den
Anreiz nehmen, innerhalb Europas ganz bestimmte Länder wie
Deutschland oder Österreich
anzusteuern. „Die Änderungen
werden ein echtes gemeinsames
Asylverfahren schaffen und gewährleisten, dass die Asylbewerber gleich und korrekt behandelt werden, egal in welchem Mitgliedstaat sie ihren
Antrag stellen“, erklärte Migrationskommissar Dimitris Avra­
mopoulos am Mittwoch. Die
Pläne sehen „strengere Regeln
gegen Asylmissbrauch“ und
Sanktionen vor. Zudem sollen
gemeinsame EU-Listen für sogenannte sichere Herkunfts- und
Drittstaaten erstellt werden, in
die dann einfacher abgeschoben
werden kann.
▶ Ausland SEITE 10
meres gewöhnt“: Die
Regisseurin Sung-Hyung
Cho über ihre Film­
arbeiten in Nordkorea
▶ SEITE 16
HERERO Warum die
Bundesregierung endlich offiziell von Völkermord in Namibia spricht
▶ SEITE 2, 12
BILDER Eine gegen alle:
Neue Ikonen des Widerstands ▶ SEITE 13
MIETERWECHSEL Was sollen diese Fragen: Ist
Fotos: C. Mang (o.); imago
die neue britische Regierungschefin eisern
hart wie Lady Thatcher? Oder so wie Merkel?
Hat sie Kinder? Und was für Schuhe trägt
sie?! What the fuck! Es ist 2016. Warum es
falsch ist, die Premierministerin Theresa
May auf ihr Geschlecht zu reduzieren
▶ SEITE 3, 14
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
Die deutsche Kanzlerin Angela
Merkel erwägt nach Medienberichten eine Abdankung. Die
61-Jährige denke über einen
solchen Schritt nach, berichteten Fernsehsender und Nachrichtenagenturen. Merkel habe
intern eingeräumt, dass ihr bei
Zeremonien bisweilen kleine
Fehler unterliefen. Das Kanzleramt hat deshalb vorgeschlagen, dass die Kanzlerin einige
ihrer Verpflichtungen abgibt.
Ob es einen Zeitplan für einen
Amtsverzicht gibt, ist nicht bekannt. Laut Medienberichten
müsste ohnehin das Gesetz
­geändert werden, weil ein
Merkel-Rücktritt bisher
Clinton will
versöhnen
nicht vorgesehen ist.
Der Kater nach dem Brexit: Die PremierministerInnen kommen und gehen, Larry bleibt in 10 Downing Street die Nummer 1 Foto: Facundo Arrizabalaga/dpa
WASHINGTON ap | Einen Tag
nachdem sie die Unterstützung
ihres bisherigen Rivalen Bernie
Sanders erhalten hat, kündigte
US-Präsidentschaftsbewerberin Hillary Clinton eine Rede
zur Versöhnung der gespaltenen Nation an. Der Parteilinke
Sanders hatte zuvor gesagt: „Ich
werde alles in meiner Macht Stehende tun, um sicherzustellen,
dass sie die nächste Präsidentin der USA wird.“ Als Kulisse
für ihre für Mittwoch geplante
Ansprache wählte Clinton das
Staatskapitol in Springfield in
Illinois. Hier hatte im Jahr 1858
Abraham Lincoln in einer Rede
vor Zwietracht im Umgang mit
Sklaven gewarnt. Hintergrund
von Clintons Rede sind die
tödlichen Polizeischüsse auf
Schwarze sowie die Ermordung
von fünf Polizisten in Dallas.
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40628
4 190254 801600
KOMMENTAR VON BETTINA GAUS ÜBER BERNIE SANDERS UND FRAUEN AN DER MACHT
J
etzt gibt es keinen vernünftigen
Zweifel mehr: Hillary Clinton wird
von den US-Demokraten als Kandidatin für die Präsidentschaft nominiert.
­Theresa May ist die neue britische Premierministerin. Bundeskanzlerin Angela
Merkel wurde vom US-Wirtschaftsmagazin Forbes zum sechsten Mal in Folge zur
mächtigsten Frau der Welt gekürt. Frauen
sind also unaufhaltsam auf dem Vormarsch? Ach, Quatsch.
Die Verhältnisse in den einzelnen
Ländern lassen sich nicht vergleichen,
ebenso wenig wie deren Politikerinnen.
Theresa May hat gewonnen, weil sie bessere Nerven hatte als alle anderen. Angela Merkel ist, auch wegen der starken
Kein Kampf der Geschlechter
Position des Bundestages, weniger mächtig, als das Ausland glaubt. Wie man im
Inland weiß.
Und Hillary Clinton? Na ja. Abwarten.
Der Abschied ihres Rivalen Bernie Sanders war quälend. Er hat ihn so lange hinausgezögert, dass er nicht mehr visionär
und tapfer, sondern lediglich starrköpfig
erschien. Mag sein, dass er gehofft hatte,
seine Rivalin werde knapp vor der Ziellinie doch noch über ihre E-Mail-­Affäre
stürzen.
Aber das ist nicht geschehen. Sanders hat sich vermutlich verzockt. Was
nicht bedeutet, dass er am Ende nicht
doch der bessere Kandidat gewesen wäre
– wenn es darum geht, Donald Trump
zu verhindern. Bei seinem Kampf gegen
Clinton spielt die Frauenfrage eine untergeordnete Rolle, es sei denn ex negativo: Mag sein, dass manche Frauen am
Ende Hillary wählen – und nur deshalb
Hillary wählen! –, weil Donald einfach
nicht müde wird, ihnen unentwegt ins
Gesicht zu schlagen. Ob das reichen
wird, steht jedoch nicht fest. Die jüngsten Meinungsumfragen besagen vor al-
Der Abschied von Clintons
Rivale Bernie Sanders
war quälend lang
lem eines: dass das Rennen noch nicht
gelaufen ist. Sowohl Hillary Clinton als
auch Donald Trump sind bei denen, die
sie nicht begeistert unterstützen, bemerkenswert unbeliebt. Das liegt bei Clinton nicht in erster Linie daran, dass sie
eine Frau ist. Sie gehört zum Establishment.
Für Bernie Sanders gilt das nicht. Wer
auf „die da oben“ wütend ist, hätte ihn
wählen können. Das hat nichts mit dem
Kampf der Geschlechter zu tun. Es steht
zu befürchten, dass Donald Trump nun
auch bei den Demokraten erfolgreich
auf Stimmenfang gehen kann. Beunruhigend. Er könnte tatsächlich Präsident
der Vereinigten Staaten werden.
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
NACH RUF
NACH RICHTEN
EU-AUSLÄN DER I N DER BUN DESWEH R
SY­R I­E N
Regierungspläne stoßen auf Widerstand
UNO ruft zu Hilfe
für Aleppo auf
BERLIN | Die Pläne der Bundesre-
Der brutale Mafiaboss Bernardo
Provenzano ist tot Foto: ap
Vom Viehdieb
zum Oberboss
W
ährend seiner ganzen
Karriere begleitete ihn
der Spitzname „u tratturi“, sizilianisch für: der Traktor. Und das war nicht etwa eine
Anspielung auf seine ländliche Herkunft. „Traktor“ wurde
Bernardo Provenzano getauft,
weil seine Opfer erbarmungslos unter die Räder gerieten.
1933 geboren, brach Provenzano nach nicht einmal zwei
Jahren die Grundschule ab, arbeitete als Landarbeiter, später
als Viehdieb. Schon als Jugendlicher schloss er sich dem Mafia-Clan des Bergdorfs Corleone
an, gemeinsam mit einer weiteren vielversprechenden Nachwuchskraft: Salvatore „Totò“ Riina. Im Duo wurden die beiden,
die durch auch für Mafia-Standards außergewöhnliche Brutalität auffielen, 1974 die Bosse
von Corleone. Doch ihr Aufstieg
hatte erst begonnen. Im Jahr
1981 entfesselten sie, die den
Mafiosi aus der Provinzhauptstadt Palermo als ungeschlachte
Landeier galten, einen Krieg gegen die Bosse aus der Großstadt.
Wenige Jahre später sind sie am
Ziel: Riina ist nun Boss der Bosse
auf Sizilien, Provenzano seine
rechte Hand. Gemeinsam verantworten sie Dutzende Morde
an Polizisten, Politikern, Richtern und Staatsanwälten.
Ihren Höhepunkt erreicht
die Cosa-Nostra-Offensive gegen den Staat mit den Bombenattentaten von 1992, denen die
Staatsanwälte Giovanni Falcone
und Paolo Borsellino sowie Falcones Ehefrau Francesca Morvillo und acht Begleitschützer
zum Opfer fallen.
Endlich reagiert der Staat:
Im Januar 1993 wird Riina verhaftet, Provenzano bleibt auf
freiem Fuß. Seitdem halten sich
Gerüchte, er habe Riina an den
Staat verkauft. Seitdem auch
steht der Verdacht im Raum,
es habe einen Deal zwischen
Staatsvertretern und Provenzano gegeben. Sicher ist, dass
Provenzano in all den Jahren
trotz diverser präziser Hinweise
nie verhaftet wurde. Er, der seit
1963 zur Fahndung ausgeschrieben war, der ungezählte Verurteilungen zu „lebenslang“ einkassiert hatte, konnte sein Leben
als höchster Mafiaboss ungestört weiterführen.
Erst am 11. April 2006 wurde
er endlich verhaftet. Die letzten zehn Jahre seines Lebens
verbrachte er im Hochsicherheitsgefängnis. Am Mittwoch
starb er nach langer Krankheit.
MICHAEL BRAUN
Gesellschaft + Kultur SEITE 14
Der Tag
DON N ERSTAG, 14. JU LI 2016
gierung zur Aufnahme von EUAusländern in die Bundeswehr
stoßen auf Widerstand. Der Bundeswehrverband, die größte Interessenvertretung der Soldaten, lehnt eine solche Öffnung
klar ab. „Die deutsche Staatsangehörigkeit ist für uns elementar und muss es bleiben – wegen des besonderen gegenseitigen Treueverhältnisses von
Staat und Soldat und der gesetzlichen Verankerung“, sagte Verbandschef André Wüstner.
Auch
CDU-Innenexperte
Wolfgang Bosbach ist kritisch.
Die Union habe immer die Über-
zeugung vertreten, dass das
„ganz besondere, gegenseitige
Treueverhältnis von Staat und
Soldaten“ die deutsche Staatsangehörigkeit für einen Dienst
in der Truppe notwendig mache, sagte er der NOZ. Aus seiner Sicht solle es dabei bleiben.
Verteidigungsministerin von
der Leyen betonte zwar, „das ist
nicht etwas, was in Kürze passiert“. Gleichzeitig verteidigte
sie die geplante Öffnung. „Ich
glaube, die Soldatinnen und Soldaten haben eine tiefe Überzeugung, wofür sie einstehen – es
ist nicht die Scholle, sondern es
sind die Werte“, sagte sie. (dpa)
GENF | Meh­re­ren hun­dert­tau­
send ein­ge­schlos­se­nen Be­woh­
nern von Alep­po in Nordsyrien
dro­hen nach Angaben der UNO
Pro­ble­me mit der Ver­sor­gung
von Nah­rungs­mit­teln, wenn die
Be­la­ge­rung durch Re­gie­rungs­
trup­pen an­hält. Die UNO und
wei­te­re
Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen
hät­ten nur noch aus­rei­chend
Le­bens­mit­tel, um 145.000 Men­
schen im Osten Aleppos einen
Monat lang zu er­näh­ren, teil­te
die UNO gestern in Genf mit.
200.000 bis 300.000 Be­woh­
ner könnten von der Blo­cka­de
be­trof­fen sein. (rtr)
GROS­SES KI NO
Große Ki­no­strei­fen, klei­ne Per­len,
Flops und Os­car­kan­di­da­ten sowie
In­ter­views mit Re­gis­seu­ren und
Schau­spie­lern:
Alles nach­zu­le­sen auf taz.de/film
Re­zen­sio­nen
Film­tipps
In­ter­views
www.taz.de
GEPLANTE BÖRSEN FUSION
Belgien und Portugal
protestieren
LISSABON | In Portugal und Bel-
gien regt sich Widerstand gegen
die geplante Fusion der Deutschen Börse mit der Londoner
LSE. Die Finanzminister beider
Staaten appellierten in Briefen
an EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager, die Fusion zu verhindern, weil er die
Konkurrenz unter den Börsen in
Europa störe. Die Börsen in Lissabon und Brüssel gehören – wie
Paris und Amsterdam – zur französischen Euronext, die gegenüber einer deutsch-britischen
Börse noch stärker ins Hintertreffen geraten würde. (rtr)
Unter Ausschluss der Betroffenen
POLITIK Erstmals hat die Bundesregierung den Mord an den Herero und Nama als Völkermord bezeichnet.
Doch die Volksgruppen sind von den Gesprächen zwischen Deutschland und Namibia ausgeschlossen
AUS NAIROBI ILONA EVELEENS
Jetzt ist es offiziell. Die Bundesregierung hat zum ersten Mal
den Mord an den Hirtenvölkern
der Herero und Nama in der
früheren Kolonie Deutsch-Südwestafrika als Völkermord bezeichnet. Diese Einstufung der
Ereignisse zwischen 1904 und
1908 „spiegeln die Position der
Bundesregierung wider“, hieß es
in einer Antwort der Regierung
auf die parlamentarische Anfrage des Linken-Entwicklungspolitiker Niema Movassat.
Bis zu 85.000 Herero und
mindestens 10.000 Nama wurden Anfang des 20. Jahrhunderts
von deutschen Truppen unter
Führung von General Lothar
von Trotha ermordet. Bereits
im vergangenen Jahr hatte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) das Verbrechen als
Völkermord bezeichnet. Nach
wie vor bleibt die Bundesregierung auf dem Standpunkt, dass
aus der Verwendung des Worts
„Völkermord“ keine Rechtsfolgen für Deutschland entstünden.
Die Opposition lobte das Bekenntnis zwar als Kurskorrektur; Movassat bezeichnete es
jedoch als völlig inakzeptabel,
dass die laufenden Verhandlungen zwischen Deutschland und
Namibia über den Genozid ohne
Repräsentanten der beiden betroffenen Völker statt finden.
Ähnlich äußert sich auch
der
namibische
Politiker
Kazenambo Kazenambo von
­
Hoch zu Ochs: drei Herero-Männer im einstigen Namibia, 1904. Damals begann ihr Widerstand Foto: Ullstein-Bild
„Wir warten schon
seit hundert Jahren.
Wir haben es nicht
eilig“
MIKE KAVEKOTORA, NAMIBISCHER
POLITIKER
der regierenden Swapo-Partei.
Durch den Ausschluss von Vertretern der Herero und Nama
würden die „historischen Emotionen und Empfindlichkeiten
nicht berücksichtigt“, kritisiert
Kazenambo, einstiger Berater
von Präsident Hage Geingob.
Geingob sieht das anders: Die
Gespräche mit Deutschland
seien Angelegenheit aller Na-
mibier, sagte er.
Organisationen der Herero
und Nama wollen jedoch mitreden. Die Ovaherero Traditional
Authority (OTA) droht Deutschland mit einer Klage. Anwälte
der Organisation sollen die
Bundesregierung bereits brieflich aufgefordert haben, Herero- und Nama-Vertreter an
den Gesprächen teilnehmen
„Das konstituiert Völkermord“
taz: Herr Zimmerer, seit 1884
galt Südwestafrika vertraglich
als deutsches Schutzgebiet. Wie
muss man sich das Zusammenleben zwischen Siedlern und
einheimischen Herero- und
Nama-Stämmen vorstellen?
Jürgen Zimmerer: Die Schutzgebietserklärung von 1884 war
lediglich ein Anzeigen der Absichten des Deutschen Kaiserreiches gegenüber anderen europäischen Mächten. Die deutsche Kolonialherrschaft war
von Anfang an auf das Militär
gestützt. Im Grunde hatte man
einen Eroberungs- und Besiedlungsprozess, der zunehmend
zu Konflikten und Übergriffen
führte, weil immer mehr Deutsche kamen. Es kam zu Viehund Landenteignungen, aber
auch zunehmend zu körperlichen, einschließlich sexuellen
Übergriffen von Deutschen auf
Afrikaner und Afrikanerinnen.
Die
Deutschen wollten das
Volk der Herero
vernichten, sagt der
Afrikaforscher Jürgen
Zimmerer. Und fordert
eine Resolution
GESCHICHTE
Jürgen Zimmerer
■■Jahrgang 1965, ist Professor
für Geschichte Afrikas an der
Universität
Hamburg.
Foto: Uni Hamburg
Das alles trug dazu bei, dass der
Wille zum Widerstand anwuchs.
Der Widerstand der lokalen Bevölkerung begann 1904 und
war ja dann erst einmal erfolgreich.
Das stimmt. Die Herero töteten 123 Männer, schonten aber
Frauen und Kinder. Damit gelang es ihnen, das gesamte Herero-Land, mit Ausnahme der
militärisch befestigten Stationen, zu besetzen.
Dann entsandte das Deutsche
Kaiserreich aber General Lothar von Trotha mit 15.000
Mann und brach diesen Widerstand. Weshalb ist das nun ein
Völkermord und kein Kriegsverbrechen?
Es war Völkermord und Kriegsverbrechen, das ist ja kein Gegensatz. Ein Kriegsverbrechen
besteht ja auch darin, dass man
Frauen und Kinder tötet, was
die deutsche Armee ebenfalls
zu lassen. Bob Kandetu, Sprecher der Gruppe, meint: „Namibia soll bei den Verhandlungen zwischen Deutschland und
den Opfern vermitteln.“
Doch von den Besprechungen
dringt nur sehr wenig an die Öffentlichkeit. Namibia will eine
Entschuldigung und Wiedergutmachung. Der deutsche Botschafter in Windhoek, Christian
Schlaga, hat jedoch vor Kurzem
klargestellt, dass Deutschland
keine Wiedergutmachung zahlen wird. Man denke aber über
die Erhöhung finanzieller Mittel
für namibische Entwicklungsprojekte nach.
Mike Kavekotora von der Oppositionspartei RDP bezeichnet
die deutsche Haltung als arrogant. „Die deutsche Regierung
sollte nicht vergessen, dass wir
hier von Menschenleben sprechen. Wir warten schon seit hundert Jahren auf eine Wiedergutmachung. Wir haben es nicht eilig.“
Aber Deutschland hat es eilig.
Der langjährige Vorsitzende des
Auswärtigen Ausschusses, Ruprecht Polenz (CDU), verhandelt
stellvertretend mit Namibia. Er
drängt auf eine Lösung noch
vor Ende des Jahres. Diese Forderung bezeichnete Albertus
Aochamub, Pressesprecher von
Präsident Geingob, als unangemessen. „Die Abgeordneten der
Bundesrepublik Deutschland
sollten mehr Respekt und Höflichkeit für ihre namibischen
Kollegen zeigen“, sagte er.
Meinung + Diskussion SEITE 12
THEMA
DES
TAGES
tat. Auch standrechtliche Erschießungen von gefangenen
Herero gab es. Das war also von
deutscher Seite kein Krieg, bei
dem man dem Gegner gewisse
Rechte zugestand, sondern von
Anfang an hieß es, wer Widerstand leistet, hat sein Leben verwirkt. Und auch nach der zentralen Schlacht von Waterberg wurden die Herero – auch Frauen,
Kinder und Greise – in die
Wüste Omaheke getrieben und
die Wasserstellen am Rande besetzt, sodass die Herero verdursten mussten. Das konstituiert
Völkermord, weil es mit der Absicht begangen wurde, die Herero als Volk zu vernichten.
Sie haben zu den Völkermorden an den Herero, Armeniern
und zum Holocaust geforscht.
Gibt es eine Verbindung?
Nicht im Sinne einer Kausalität. Der Holocaust war keine unausweichliche Folge des Völker-
mords an den
Herero. An allen
drei Verbrechen war
aber
das deutsche Militär beteiligt:
als ausführender Akteur in Afrika, als Verbündeter des Osmanischen Reichs und als Wegbereiter im Vernichtungskrieg im
Osten im Zweiten Weltkrieg. Die
Logik der Beherrschung war immer gleich, nämlich Kon­trolle
von „Raum“ durch „Rasse“ und
durch die Ersetzung einer Bevölkerung durch eine andere.
Müsste der Bundestag eine Resolution zum Völkermord an
den Herero und Nama verabschieden?
Ja, ich hoffe dass der Bundestag die Meinung der Wissenschaft bald übernimmt. Die
Völkermordforschung ist sich
ja ebenso einig wie die historische Afrikaforschung, dass es
ein Völkermord war.
INTERVIEW FELIX HACKENBRUCH
Schwerpunkt
Großbritannien
DON N ERSTAG, 14. JU LI 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
David Cameron meistert seine letzte Sitzung als Premierminister,
Theresa May wechselt an die Spitze der Regierung
Weil 2016 ist
FEMINISMUS Nach wie vor scheint eine Frau
an der Macht für tiefe Verunsicherung zu
sorgen. Der herablassende Spin, mit dem
nun über Theresa May geschrieben wird,
ist eine Zumutung – und geht an den
relevanten Fragen vorbei
VON ANJA MAIER
Man konnte bereits ahnen, wohin sich die Debatte entwickeln
würde, als es um ihre Kinderlosigkeit ging. Theresa May, die
neue Premierministerin des
Vereinigten Königreichs, hat
keine Kinder. Eigentlich eine
private Angelegenheit. Dennoch war sich Mays Mitbewerberin um die Nachfolge von David
Cameron nicht zu schade, genau
damit gegen die Tory-Politikerin
punkten zu wollen. „Ich bin sicher, sie ist sehr traurig, dass sie
keine Kinder hat“, hatte Andrea
Leadsom gegenüber Journalisten der Times gesagt.
Es ist exakt diese Art von Vorurteil, die Frauen an der Macht
entgegenschlägt. Die Botschaft:
Sie hätte eigentlich lieber Kinder bekommen, stattdessen
kümmert sie sich jetzt um Politik. Noch herablassender fällt
der Spin aus, wenn die Politikerin im Ergebnis einer dramatischen Krise Verantwortung
übernimmt. Von Lady Macbeth
über die Eiserne Lady bis zur
Trümmerfrau – wie in der taz
– wird dann jede Zuschreibung
strapaziert. Der Kniff: Sie hat
gar nicht gewonnen. Die anderen haben nur vor ihr verloren.
Nach wie vor scheint eine
Frau an der Macht für tiefe Verunsicherung zu sorgen. Medial,
politisch, privat. Schafft die das
überhaupt? Was für einen Eindruck vermittelt sie? Und: Welchen Mann hat sie für diesen Job
aus dem Weg geräumt? Das ist
das Kaliber an Fragen in der Berichterstattung.
Gern genommen wird das
Klischee, Frauen machten doch
irgendwie anders Politik. Weniger Testosteron bedeute: Bewahren statt erobern. Also Politik als eine Art Hormonbingo.
Dieser Logik folgend kapriziert
sich die Berichterstattung auch
schon mal auf Mays Schuhgeschmack oder auf ihren selbstlosen Ehemann. Die britische
Sun beschreibt Philipp May als
Theresas „rock“, ihren Fels in der
Brandung. Und die Süddeutsche
Zeitung denkt über die Kochkünste der Neuen in 10 Downing
Street nach und fragt: „Wie viel
Angela Merkel steckt in Theresa
May?“ Die sei ja wie May Pfarrerstochter und Pragmatikerin.
Ja, könnte man ergänzen: Sie
kocht auch gern, zum Beispiel
Kartoffelsuppe. Aber das meldet da schon die dpa.
Mit Blick auf die Ernennung
der neuen britischen Premierministerin jedoch gilt eigentlich: Theresa May ist Theresa
May. Ja, sie ist eine Frau, und ja,
dieser Umstand wird anderen
Frauen und Männern einmal
mehr zeigen, dass Frauen alles
genauso gut – oder schlecht –
können wie Männer.
Aber May ist weiß Gott kein
unbeschriebenes Blatt. Sondern eine erfahrene Politikerin, eine große Nummer in ihrer Partei. Das könnte man spätestens seit 2010 wissen, da
wurde sie nämlich zur Innenministerin ernannt. Seither genießt sie den Ruf einer harten
Verhandlerin und Strategin. Einer Frau, die vor Entscheidungen lieber mehrfach nachfragt.
Die Brexit-Kampagne ihrer Partei hat sie nicht unterstützt, aber
auch nicht für einen Verbleib ihres Landes in der Europäischen
Union geworben. Noch bevor sie
in den Buckingham Palace aufbrach, um sich von der Queen
zur Premierministerin ernennen zu lassen, hat sie angekündigt, mehrere Spitzenämter mit
Tory-Frauen besetzen zu wollen.
Vor Jahresfrist hat der neue
kanadische Ministerpräsident
Justin Trudeau sein Kabinett
vorgestellt. Der dreißigköpfigen
Mannschaft gehörten fünfzehn
Der Vergleich wird
bemüht: Ist sie wie
Margaret Thatcher?
Wie Angela Merkel?
Theresa May, seit 2010 britische Innen-, seit Mittwoch Premierministerin Foto: Peter Nicholls/reuters
Frauen und fünfzehn Männer
an. Auf die Reporterfrage, warum das denn so sei, antwortete Trudeau: „Weil 2015 ist.“ Genau dies ist die korrekte Erwiderung auf Bemerkungen zum
Geschlecht von Politikerinnen
und Politikern. Voraussetzung
dafür, dass derlei Fragen obsolet sind, ist: Gleichstellung. Aber
da hakt es eben.
Weil das alles offenbar so
verunsichert und weil die Neue
sich vor ihrer Ernennung politische Handlungsoptionen offen lässt, wird schließlich der
Vergleich bemüht. Und weil die
Zahl mächtiger Politikerinnen
aus oben genannten Gründen
irritierend gering ist, werden
die immer gleichen Frauen als
Referenzgröße herangezogen.
IWF-Chefin Christine Lagarde
etwa, aber auch US-Präsident-
für dessen Standhaftigkeit bewundere, „ähnlich dem schwarzen Ritter in ‚Monty Python‘, der
weitermacht trotz einer Fleischwunde“.
Cameron verteidigte seine Erfolge, die Senkung der Arbeitslosigkeit und die Schaffung von
Lehrstellen, besseren Schulen
und die Einführung eines existenzsichernden Lohns. Doch als
Jeremy Corbyn aus Mays Wahlprogramm zitierte, „dass viele
Arbeitnehmer von Bossen ausgebeutet würden“ und auf Cameron verwies, war der Aufruhr
unter den Tory-Abgeordneten
groß. Sie zeigten ihrerseits auf
Corbyn, der sich weigert trotz
eines Misstrauensvotum der
Mehrheit seiner Abgeordneten
zurückzutreten.
Abgeordnete der schottischen SNP sowie aus Nordirland verwiesen mehrmals auf
den Brexit. Letztere behaupteten sarkastisch, Cameron habe
mehr für Schottlands Unab-
hängigkeit getan, als irgendjemand sonst. Auf das Verhältnis
zur Europäischen Union angesprochen, empfahl Cameron Beziehungen, die so eng wie möglich sein sollten. EU-Bürgern in
Großbritannien versprach er
ein Bleiberecht. Doch hätte dies
auch etwas mit dem Respekt gegenüber Briten in der EU zu tun.
Dann, nach einer Liebeserklärung für den Kater Larry von 10
Downing Street, der dort bleibt,
verabschiedete er sich mit den
Worten, dass nichts unmöglich
sei, wenn man sich darauf einstelle. Und dass er einst die Zukunft gewesen sei, woraufhin im
Unterhaus lang anhaltenden Applaus ausbrach.
Bei vielen Argumenten Camerons nickte Theresa May zustimmend und blickte dabei
direkt in die Labour-Ränge. Es
wird erwartet, dass Camerons
Nachfolgerin viele Frauen in
ihr neues Kabinett holen wird,
wie die ehemalige Energiemi-
schaftskandidatin Hillary Clinton, Großbritanniens verstorbene Premierministerin Margaret Thatcher. Und natürlich
Angela Merkel.
Der müssen bei den Berichten über ihre neue Kollegin in
London die Ohren klingeln.
Auch Merkel galt als Trümmerfrau. Sie war die Frau aus dem
Osten, die als Übergangskandidatin gehandelt wurde und nun
seit sechzehn Jahren Parteivorsitzende und seit bald elf Jahren Regierungschefin ist. Die
in der schwersten Glaubwürdigkeitskrise Helmut Kohl abgelöst
und die Scherben von SPD-Kanzler Gerhard Schröder aufgesammelt hat. In all den Jahren hat
Merkel kommentarlos sämtliche Zuschreibungen ausgesessen: Sie ist die Kanzlerin ohne
Kinder. Sie ist wahlweise die eiskalte Machtpolitikerin oder die
Strategin mit der ordnenden
weiblichen Hand. Nur Vergleiche musste sie sich – mangels
Möglichkeiten – wenige gefallen lassen. Das steht nun Theresa May bevor.
Auf die Frage, wie die Kanzlerin das Verglichen­wer­den ­findet,
antwortet ihr Sprecher Steffen
Seibert, dies sei einzig „Sache
von Journalisten“. Angela Merkel sei der künftigen Premier­
ministerin im Übrigen noch
nicht persönlich begegnet, man
werde aber bald Kontakt haben.
Es ist anzunehmen, dass die beiden dann wichtigere Fragen zu
besprechen haben als die, wie
es passieren konnte, dass ausgerechnet eine Frau britische Premierministerin werden konnte.
Showdown im Unterhaus
David
Camerons letzte Rede
ruft viel Gelächter
und Zustimmung
seiner Nachfolgerin
Theresa May hervor.
Sie wurde am Abend
von der Königin
offiziell zur neuen
Regierungchefin
ernannt
AMTSÜBERGABE
LONDON taz | Prime Minister’s
Question am Mittwoch, das ist
normalerweise der wöchentliche parlamentarische Showtime-Tag – jene Stunde im britischen Unterhaus mit den
schlagzeilenträchtigsten Gefechten zwischen dem Pre­
mier­minister und dem Oppositionführer.
An diesem Mittwoch war es
jedoch eher ein Showdown. Es
war das letzte Mal, dass David
Cameron als Premierminister
am Rednerpult im Amt des Parteiführer der konservativen Partei stand. Eigentlich hätte es einen Wettbewerb der Tory-Besten bis mindestens September
geben sollen. Doch dieser war
schneller beendet als erwartet, nachdem am Montag Innenministerin Theresa May als
einzige Kandidaten im Rennen
für die Parteispitze übrig geblieben war.
Zwischen seiner Nachfolgerin
Theresa May und seinem Kanz-
ler George Osborne stehend sowie in Anwesenheit seiner Frau
und seiner Kinder, gestand David Cameron, dass sein Terminkalender bis auf ein letztes Treffen mit der Königin recht leer
sei. Unter dem Gelächter des
vollen Hauses wurden Cameron
Vorschläge für einen nächsten
Job gemacht – etwa als Moderator der Motorsportsendung „Top
Gear“ oder als Trainer des englischen Fußballteams.
Oppositionsführer Jeremy
Cor­
byn dankte Cameron für
dessen Einsatz für den ehemaligen Häftling in Guantanamo
Bay, Shaaker Aamer, sowie für
die Einführung der Homoehe.
Gleichzeitig kritisierte er, dass
während Camerons Amtszeit
die Anzahl von Obdachlosen
stark angestiegen sei.
Cameron sagte an die Adresse der Labour-Partei gerichtet, die gerade in einem Machtkampf um die Führungsspitze
verwickelt ist, dass er Corbyn
nisterin Amber Rudd und die
frühere Arbeitsministerin Priti
Patel, eine vehemente Verfechterin des Brexit. Es wird außerdem erwartet, das der neuen
Regierung sowie Anhänger als
auch Gegner des Brexit angehören werden, um diese gespaltene konservative Partei wieder
zu vereinen.
Nachdem sich Cameron von
seinen Angestellten in Downing Street verabschiedet hatte,
machte er einen letzten Ausflug
in den Buckingham Palace, um
dort offiziell zurückzutreten.
Danach wurde Theresa May von
der Königin zur Regierungschefin ernannt – die zweite Frau in
diesem Amt seit Margaret Thatcher. Die Härte der Iron Lady
wird von May vor allem gegenüber Einwanderern erwartet.
DANIEL ZYLBERSZTAJN
■■Eine Bilanz von David Cameron
als Premierminister finden Sie
unter www.taz.de/cameron