SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde „Dirigierende Komponisten und komponierende Dirigenten“ (4) Von Thomas Rübenacker Sendung: Donnerstag, 14. Juli 2016 Redaktion: Bettina Winkler 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2 2 „Musikstunde“ mit Thomas Rübenacker „Dirigierende Komponisten und komponierende Dirigenten“ (4) Von Thomas Rübenacker SWR 2, 11. Juli – 15. Juli 2016, 9h05 – 10h00 Signet: SWR2 Musikstunde … mit Thomas Rübenacker. Heute: „Dirigierende Komponisten und komponierende Dirigenten“, Teil 4. MUSIK Im 20. Jahrhundert ebneten sich die Berufsbilder von Komponist und Dirigent ein; es war nicht automatisch verdienstvoller, in erster Linie zu komponieren – als in erster zu dirigieren. Zwei Musiker, bei denen es sogar schwerfällt, das eine vom andern zu trennen, waren Leonard Bernstein und Pierre Boulez. War Bernstein etwa, dem die Welt Broadway-Musicals wie „On The Town“ oder „West Side Story“ verdankt, wirklich nur ein Auch-Komponist? Und Boulez, der anfangs streng serielle Tonsetzer, mit seinen zahlreichen luziden, die Werkstrukturen erhellenden Dirigaten wirklich nur ein Auch-Dirigent? Hier verschwimmen tatsächlich Grenzen, und wer davon profitiert – das ist die Musik. Heute möchte ich mich ganz diesen beiden B's widmen, Bernstein und Boulez. Und beginne deshalb mit dem Dirigenten Bernstein: Ihm und den New Yorker Philharmonikern verdanken wir beispielsweise eine hinreißende Aufnahme der „Rusland und Ludmila“-Ouvertüre von Michael Glinka. Nicht nur swingt der Dirigent hier mit fast schon BroadwayVerve, die Aufnahme klingt so identifikativ, als habe der Leonard Bernstein von „Candide“ das alles selbst komponiert. Vor allem die Bratschen- und die Cellogruppe, hier mehrfach prominent im Unisono aufspielend, glänzen mit Homogenität, schierer Virtuosität und – ja: Lebensfreude. Ich kenne keine bessere Version! MUSIK: GLINKA, RUSLAN UND LUDMILA, TRACK 6 (5:21) 1) Glinka, Ruslan und Ludmila (Ouvertüre); New York Philharmonic, Leonard Bernstein; Sony SMK 62983 (LC 6868) Michail Glinka, die Ouvertüre der Oper „Ruslan und Ludmila“, als lebensfrohes Virtuosenstück: Leonard Bernstein dirigierte die New Yorker Philharmoniker. Als Komponist war Bernstein ein Januskopf: Am Broadway schrieb er glorios die Geschichte von Jerome Kern fort, von Gershwin und Porter, Rodgers und Loewe; im Konzertsaal aber versumpfte er irgendwo zwischen Gustav Mahler und Samuel 3 Barber. Trotzdem sah er sich „in erster Linie (als) Komponisten ernster Musik“, und tatsächlich: Bevor er sein erstes Musical schrieb, entstand bereits seine erste Symphonie, „Jeremiah“. Bernstein wurde 1918 als Louis in Massachusetts geboren, Sohn ukrainisch-jüdischer Einwanderer. Mit 25 hatte er bereits den Pultgrößen Serge Koussevitzky und Artur Rodzinski assistiert, natürlich in New York, das zeitlebens sein Zentrum blieb. Hier begann auch, kometengleich, seine Weltkarriere: Im nämlichen Jahr, 1943, sollte am 14. November Bruno Walter ein Konzert der New Yorker Philharmoniker dirigieren, Radio-Live-Übertragungen waren landesweit geplant. Aber Walter erkrankte schwer – und Bernstein sprang in letzter Minute ein: mit Robert Schumanns „Manfred“-Ouvertüre und Richard Straussens „Don Quixote“. Ein Riesenerfolg, dank Radio gleich amerikaweit. Der 25 Jahre junge Mann war also gleich zweimal etabliert im „seriösen“ Fach: als Symphoniker und Dirigent. Trotzdem gelang ihm als Komponisten am besten – das Leichte. Weltberühmt wurde sein Shakespeare-Musical „West Side Story“, nach „Romeo und Julia“ - die Spatzen pfeifen es von den Dächern. Weniger bekannt, aber ebenso gewitzt ist die Liebeserklärung an New York, das aus dem Ballett „Fancy Free“ hervorgegangene Broadway-Musical „On The Town“. Im Zweiten Weltkrieg komponiert, spielt es auch zur Weltkriegs-Zeit: Drei Matrosen haben einen Tag Landurlaub, und den verbringen sie in der „schönsten Stadt der Welt“. Was später mit Gene Kelly und Frank Sinatra verfilmt wurde, ist in seiner originalen Bühnengestalt noch aufregender, mit Buch und Liedtexten von Betty Comden und Adolph Green: 1944 wurde es am Broadway uraufgeführt, sofort ein Riesenerfolg. Da war Leonard Bernstein 26. MUSIK: BERNSTEIN U. A., ON THE TOWN, TRACK 1 + 2 (6:07) 2) Bernstein, On the Town; Hampson, Ollmann, Ramey, London Symphony Orchestra, Michael Tilson Thomas; DG 437 516-2 (LC 0173) Leonard Bernstein, der Beginn seines ersten Musicals, seiner Liebeserklärung an New York: „On The Town“, uraufgeführt am Broadway anno 1944. Der BernsteinSchüler Michael Tilson Thomas dirigierte das London Symphony Orchestra sowie die Solisten Thomas Hampson, Kurt Ollmann, David Garrison und Samuel Ramey. Bernstein war immer ein showman, das war ein wesentlicher Teil seiner Attraktion. Keiner außer er hätte es gewagt, zum Fall der Berliner Mauer 1989 zwei Konzerte dort zu geben und den Schillertext von Beethovens Neunter zu verändern – nicht mehr „Freude, schöner Götterfunken“, sondern „Freiheit, schöner Götterfunken“ … Aus Schillers humanistischer „Ode an die Freude“ wurde also eine „Ode an die Freiheit“: Gewiss, viele Kapellmeister haben Meisterwerke retuschiert, aber nie an so exponierter Stelle. So dachte man von Bernstein immer als Mister Happy-Go- 4 Lucky, als dem dirigierenden und komponierenden Sonnyboy Lennie – was völlig außer acht lässt, dass sein Werk für den Konzertsaal dominant düster ist, pessimistisch, ja bisweilen gar nihilistisch. Zum Beispiel seine 2. Symphonie, die er „The Age of Anxiety“ nannte, Zeitalter der Unsicherheit oder auch Zeitalter der Beklemmung; es ist noch nicht „Angst“, das wäre ja fear, aber kurz darunter: Ängstlichkeit, ein Gefühl fast noch verstörender als die Angst. Das Ganze fußt auf einem langen Gedicht des Benjamin-Britten-Freundes WH Auden, der sich 1939 in New York niedergelassen hatte. „The Age of Anxiety“ bezeichnet Auden als ein barockes Hirtengedicht, in Wahrheit ist es das MiniDrama vierer Individuen, die sich in einer Third-Avenue-Bar treffen und gemeinsam eine Art Traum-/Alptraum-Reise machen: Verzweifelt versuchen sie herauszufinden, was der Sinn ihrer Existenz ist – und wohin das Schicksal sie führen würde. Es ist das, was der dänische Philosoph Kierkegaard einmal als den „horror vacui unserer Existenz“ bezeichnete. Wie sehr der Komponist Bernstein sich damit identifiziert, zeigt das solistisch eingesetzte Klavier, das ihn zum Co-Protagonisten macht; er hat das Werk auch nie dirigiert, weder bei der Uraufführung in Israel noch der amerikanischen Erstaufführung: In beiden Fällen spielte er den Klavierpart, also eigentlich die Hauptrolle. MUSIK: BERNSTEIN, THE AGE OF ANXIETY, TRACK 18 (8:18; ACHTUNG! LEICHT ANBLENDEN!) 3) Bernstein, 2. Symphonie „Age of Anxiety“; Marc-André Hamelin (Klavier), The Ulster Orchestra, Dmitry Sitkovetsky; hyperion 67170 (LC 7533) Das war der Epilog zu Leonard Bernsteins 2. Symphonie „The Age of Anxiety“ von 1948, mit Marc André Hamelin am Klavier, dem Ulster Orchestra und, am Pult, Dmitry Sitkovetsky. Der unmittelbare Nachfolger Bernsteins als „Chef“ der New Yorker Philharmoniker war von 1971 bis 1977 – Pierre Boulez. Ein größerer Kontrast an einerseits komponierender Ästhetik, andererseits Dirigierstil ist nicht vorstellbar: Der strenge Serialist Boulez, allem Kommerz abhold, und der analytisch-nüchterne Orchesterleiter, der noch nicht einmal mit dem Bernstein'schen Zauberstab dirigierte, dem sogenannten baton, sondern nur mit seinen beiden Händen, den Klang formend wie in einem Chorkonzert. Für New Yorker Musikliebhaber war es eine kalte Dusche, und Boulez hatte es anfangs schwer – bis die besonderen Qualitäten seines Stils auch dort Anklang fanden. Dabei half, seltsamerweise, sein Ruhm als Komponist; die New Yorker hätten sich vermutlich nie ein Boulez-Werk angehört, ohne es auszubuhen. Aber der neue Maestro programmierte es klug auch gar nicht, sondern zumeist Altbewährtes. Aber das in ungewohnter Gestalt. 5 MUSIK: DEBUSSY, LA MER (DIALOGUE …), TRACK 8 (7:41) 4) Debussy, La mer; Cleveland Orchestra, Pierre Boulez; DG 479 4282 (LC 0173) Claude Debussy, aus den Drei sinfonischen Skizzen „La mer“ der 3. Satz, „Dialog des Windes und des Meeres“, mit dem Cleveland Orchestra unter Leitung von Pierre Boulez. Boulez wurde 1925 in Montbrison geboren, im Département Loire; er war sechs Jahre jünger als Leonard Bernstein. Studieren wollte er ursprünglich nicht Musik, sondern Mathematik. In einem Interview sagte er: „Als mir klar wurde, dass Musik und Mathematik dieselbe Quelle speist, ging ich zu Olivier Messiaen und wurde Musiker.“ Aber er gab auch zu: „Anfangs vertrat ich einen strengen Serialismus in der Webern-Nachfolge. Heute weiß ich, das hatte mehr mit Mathematik zu tun als mit Musik. Es war die reine Kopfgeburt, der Primat des Absoluten über das Endliche … Und da Menschen nun einmal endlich sind, (muss) man sie auch in ihrer Endlichkeit ansprechen, nicht als ein Absolutum.“ Erst als er 1955, bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt, die er zusammen mit Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono seit Jahren schon ästhetisch dominierte als er dort für einen erkrankten Dirigenten einsprang, „habe ich erfahren, dass ich das kann: ein Ensemble mit Zeichengeben zu einer Aufführung zu inspirieren.“ Der Dirigent Pierre Boulez war geboren, und mit ihm veränderte sich die Ästhetik des Komponisten Boulez: „Ich komponiere heute ganz anders als damals, (…) denke mehr an mein Publikum … Das Dirigieren hat mein Komponieren, glaube ich, weiterentwickelt … Die Note ist wichtiger als der Ton. Aber wenn sie (…) Ton wird, muss sie zum Hörer sprechen, immer … Deswegen gibt es unterschiedliche Interpretationen, aber nur eine Komposition.“ MUSIK: BOULEZ, PLI SELON PLI, TRACK 2 (5:00) 5) Boulez, Pli selon pli; Christine Schäfer (Sopran), Ensemble intercontemporain, Pierre Boulez; DG 479 4278 (LC 0173) Pierre Boulez, ein Ausschnitt aus seiner Hommage für den Dichter Stéphane Mallarmé, „Pli selon Pli“, Zug um Zug, für Sopran und Orchester. Christine Schäfer sang den Solopart, das von Boulez gegründete Ensemble Intercontemporain spielte, der Komponist war der Dirigent. In einem Essay über Pierre Boulez schreibt Wolfgang Stähr: „(Er) entfaltete (…) ein tiefgreifendes Reformwerk im internationalen Konzertleben, eine richtungsweisende und stilbildende Wirkung auf das Repertoire, die Programmpolitik, die Orchesterkultur und nicht zuletzt auf das Selbstverständnis des Pultstars. 'Wir sind eine Generation, die völlig von Boulez geprägt wurde', bekennt Simon Rattle im Einverständnis mit den meisten seiner dirigierenden 6 Altersgenossen. 'Dass ihm der Verhaltenskodex des Maestros gänzlich abgeht, macht ihn wirklich unwiderstehlich.' Den gleichwohl hartnäckigen Vorwurf, er sei und bleibe doch vor allem ein kühler Intellektueller und nüchterner Analytiker, diesen Einwand weiß Boulez elegant und humorvoll zu entkräften: 'Die Analyse ist nur ein Vorstadium, eine Vorbereitung', stellt er klar. 'Eine Interpretation ist keine Demonstration. Ich bin kein Staubsauger-Vertreter. Zuerst muss man sich klare Gedanken machen. Anschließend kann man spontan sein. Die richtige Spontaneität kommt nach der Analyse.'“ 1966 hatte der Dirigent Boulez sein Wagner-Debüt in Bayreuth mit dem „Parsifal“. Der Mann, der in einem Interview mal gefordert hatte, man solle „alle Opernhäuser in die Luft sprengen“, begab sich auf der Suche nach dem Heiligen Gral ins Herz deutscher Operntradition. Und hatte Erfolg! Allerdings noch nicht so großen wie ein paar Jährchen später mit dem „Ring des Nibelungen“, den der Boulez-Freund Patrice Chéreau als Kapitalistenparabel aus dem industrialisierten Zeitalter inszenierte. 1976, bei der Premiere, war das noch ein Riesenskandal. Das traditionelle Bayreuth in großer Abendgarderobe wehrte sich, was das Zeug hielt. Aber schon ein Jahr später war alles wie 180 Grad umgedreht – man sprach vom „Jahrhundertring“, ein Etikett, das sich bis 1980 auf der Bühne und darüber hinaus bis heute in den Köpfen hielt. Chéreaus kühne Allegorie und Boulez' entschlackter, nicht „verkopfter“, aber auch nicht sämig-pathetischer Wagner waren zum Grundstein eines neuen Bayreuth geworden: Die nationalsozialistische Dunstglocke, die trotz Wieland Wagner immer noch über den Festspielen hing, war wie weggeblasen; heute sind eher die konventionell-langweiligen Aufführungen die Ausnahme. In einem seiner letzten Interviews sagte Pierre Boulez: „Von allen Komponisten hat (Wagner) mich am meisten beeindruckt. Durch seine harmonische Sprache, die Komplexität der Polyphonie.“ Aber mehr noch als der „Ring“ war Boulez' WagnerHerzstück der „Parsifal“, mit dem er einst in Bayreuth debütierte. Darum hören wir zum Schluss dieser Musikstunde noch ein wenig aus dieser Festspiel-Aufführung – mit Franz Krass, Karl Ridderbusch und dem Orchester der Bayreuther Festspiele unter der Leitung von Pierre Boulez MUSIK: WAGNER, PARSIFAL, M0432798 006, 6‘20 6) Wagner, Parsifal; M0432798 006
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