SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
„Dirigierende Komponisten und
komponierende Dirigenten“ (4)
Von Thomas Rübenacker
Sendung:
Donnerstag, 14. Juli 2016
Redaktion:
Bettina Winkler
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
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„Musikstunde“ mit Thomas Rübenacker
„Dirigierende Komponisten und komponierende Dirigenten“ (4)
Von Thomas Rübenacker
SWR 2, 11. Juli – 15. Juli 2016, 9h05 – 10h00
Signet: SWR2 Musikstunde
… mit Thomas Rübenacker. Heute: „Dirigierende Komponisten und
komponierende Dirigenten“, Teil 4.
MUSIK
Im 20. Jahrhundert ebneten sich die Berufsbilder von Komponist und Dirigent ein;
es war nicht automatisch verdienstvoller, in erster Linie zu komponieren – als in
erster zu dirigieren. Zwei Musiker, bei denen es sogar schwerfällt, das eine vom
andern zu trennen, waren Leonard Bernstein und Pierre Boulez. War Bernstein
etwa, dem die Welt Broadway-Musicals wie „On The Town“ oder „West Side
Story“ verdankt, wirklich nur ein Auch-Komponist? Und Boulez, der anfangs streng
serielle Tonsetzer, mit seinen zahlreichen luziden, die Werkstrukturen erhellenden
Dirigaten wirklich nur ein Auch-Dirigent? Hier verschwimmen tatsächlich Grenzen,
und wer davon profitiert – das ist die Musik. Heute möchte ich mich ganz diesen
beiden B's widmen, Bernstein und Boulez. Und beginne deshalb mit dem
Dirigenten Bernstein: Ihm und den New Yorker Philharmonikern verdanken wir
beispielsweise eine hinreißende Aufnahme der „Rusland und Ludmila“-Ouvertüre
von Michael Glinka. Nicht nur swingt der Dirigent hier mit fast schon BroadwayVerve, die Aufnahme klingt so identifikativ, als habe der Leonard Bernstein von
„Candide“ das alles selbst komponiert. Vor allem die Bratschen- und die
Cellogruppe, hier mehrfach prominent im Unisono aufspielend, glänzen mit
Homogenität, schierer Virtuosität und – ja: Lebensfreude. Ich kenne keine bessere
Version!
MUSIK: GLINKA, RUSLAN UND LUDMILA, TRACK 6 (5:21)
1) Glinka, Ruslan und Ludmila (Ouvertüre); New York Philharmonic, Leonard
Bernstein; Sony SMK 62983 (LC 6868)
Michail Glinka, die Ouvertüre der Oper „Ruslan und Ludmila“, als lebensfrohes
Virtuosenstück: Leonard Bernstein dirigierte die New Yorker Philharmoniker.
Als Komponist war Bernstein ein Januskopf: Am Broadway schrieb er glorios die
Geschichte von Jerome Kern fort, von Gershwin und Porter, Rodgers und Loewe;
im Konzertsaal aber versumpfte er irgendwo zwischen Gustav Mahler und Samuel
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Barber. Trotzdem sah er sich „in erster Linie (als) Komponisten ernster Musik“, und
tatsächlich: Bevor er sein erstes Musical schrieb, entstand bereits seine erste
Symphonie, „Jeremiah“. Bernstein wurde 1918 als Louis in Massachusetts
geboren, Sohn ukrainisch-jüdischer Einwanderer. Mit 25 hatte er bereits den
Pultgrößen Serge Koussevitzky und Artur Rodzinski assistiert, natürlich in New York,
das zeitlebens sein Zentrum blieb. Hier begann auch, kometengleich, seine
Weltkarriere: Im nämlichen Jahr, 1943, sollte am 14. November Bruno Walter ein
Konzert der New Yorker Philharmoniker dirigieren, Radio-Live-Übertragungen
waren landesweit geplant. Aber Walter erkrankte schwer – und Bernstein sprang
in letzter Minute ein: mit Robert Schumanns „Manfred“-Ouvertüre und Richard
Straussens „Don Quixote“. Ein Riesenerfolg, dank Radio gleich amerikaweit. Der
25 Jahre junge Mann war also gleich zweimal etabliert im „seriösen“ Fach: als
Symphoniker und Dirigent.
Trotzdem gelang ihm als Komponisten am besten – das Leichte. Weltberühmt
wurde sein Shakespeare-Musical „West Side Story“, nach „Romeo und Julia“ - die
Spatzen pfeifen es von den Dächern. Weniger bekannt, aber ebenso gewitzt ist
die Liebeserklärung an New York, das aus dem Ballett „Fancy Free“
hervorgegangene Broadway-Musical „On The Town“. Im Zweiten Weltkrieg
komponiert, spielt es auch zur Weltkriegs-Zeit: Drei Matrosen haben einen Tag
Landurlaub, und den verbringen sie in der „schönsten Stadt der Welt“. Was
später mit Gene Kelly und Frank Sinatra verfilmt wurde, ist in seiner originalen
Bühnengestalt noch aufregender, mit Buch und Liedtexten von Betty Comden
und Adolph Green: 1944 wurde es am Broadway uraufgeführt, sofort ein
Riesenerfolg. Da war Leonard Bernstein 26.
MUSIK: BERNSTEIN U. A., ON THE TOWN, TRACK 1 + 2 (6:07)
2) Bernstein, On the Town; Hampson, Ollmann, Ramey, London Symphony
Orchestra, Michael Tilson Thomas; DG 437 516-2 (LC 0173)
Leonard Bernstein, der Beginn seines ersten Musicals, seiner Liebeserklärung an
New York: „On The Town“, uraufgeführt am Broadway anno 1944. Der BernsteinSchüler Michael Tilson Thomas dirigierte das London Symphony Orchestra sowie
die Solisten Thomas Hampson, Kurt Ollmann, David Garrison und Samuel Ramey.
Bernstein war immer ein showman, das war ein wesentlicher Teil seiner Attraktion.
Keiner außer er hätte es gewagt, zum Fall der Berliner Mauer 1989 zwei Konzerte
dort zu geben und den Schillertext von Beethovens Neunter zu verändern – nicht
mehr „Freude, schöner Götterfunken“, sondern „Freiheit, schöner Götterfunken“
… Aus Schillers humanistischer „Ode an die Freude“ wurde also eine „Ode an die
Freiheit“: Gewiss, viele Kapellmeister haben Meisterwerke retuschiert, aber nie an
so exponierter Stelle. So dachte man von Bernstein immer als Mister Happy-Go-
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Lucky, als dem dirigierenden und komponierenden Sonnyboy Lennie – was völlig
außer acht lässt, dass sein Werk für den Konzertsaal dominant düster ist,
pessimistisch, ja bisweilen gar nihilistisch. Zum Beispiel seine 2. Symphonie, die er
„The Age of Anxiety“ nannte, Zeitalter der Unsicherheit oder auch Zeitalter der
Beklemmung; es ist noch nicht „Angst“, das wäre ja fear, aber kurz darunter:
Ängstlichkeit, ein Gefühl fast noch verstörender als die Angst.
Das Ganze fußt auf einem langen Gedicht des Benjamin-Britten-Freundes WH
Auden, der sich 1939 in New York niedergelassen hatte. „The Age of Anxiety“
bezeichnet Auden als ein barockes Hirtengedicht, in Wahrheit ist es das MiniDrama vierer Individuen, die sich in einer Third-Avenue-Bar treffen und
gemeinsam eine Art Traum-/Alptraum-Reise machen: Verzweifelt versuchen sie
herauszufinden, was der Sinn ihrer Existenz ist – und wohin das Schicksal sie führen
würde. Es ist das, was der dänische Philosoph Kierkegaard einmal als den „horror
vacui unserer Existenz“ bezeichnete. Wie sehr der Komponist Bernstein sich damit
identifiziert, zeigt das solistisch eingesetzte Klavier, das ihn zum Co-Protagonisten
macht; er hat das Werk auch nie dirigiert, weder bei der Uraufführung in Israel
noch der amerikanischen Erstaufführung: In beiden Fällen spielte er den
Klavierpart, also eigentlich die Hauptrolle.
MUSIK: BERNSTEIN, THE AGE OF ANXIETY, TRACK 18 (8:18; ACHTUNG! LEICHT
ANBLENDEN!)
3) Bernstein, 2. Symphonie „Age of Anxiety“; Marc-André Hamelin (Klavier), The
Ulster Orchestra, Dmitry Sitkovetsky; hyperion 67170 (LC 7533)
Das war der Epilog zu Leonard Bernsteins 2. Symphonie „The Age of Anxiety“ von
1948, mit Marc André Hamelin am Klavier, dem Ulster Orchestra und, am Pult,
Dmitry Sitkovetsky.
Der unmittelbare Nachfolger Bernsteins als „Chef“ der New Yorker Philharmoniker
war von 1971 bis 1977 – Pierre Boulez. Ein größerer Kontrast an einerseits
komponierender Ästhetik, andererseits Dirigierstil ist nicht vorstellbar: Der strenge
Serialist Boulez, allem Kommerz abhold, und der analytisch-nüchterne
Orchesterleiter, der noch nicht einmal mit dem Bernstein'schen Zauberstab
dirigierte, dem sogenannten baton, sondern nur mit seinen beiden Händen, den
Klang formend wie in einem Chorkonzert. Für New Yorker Musikliebhaber war es
eine kalte Dusche, und Boulez hatte es anfangs schwer – bis die besonderen
Qualitäten seines Stils auch dort Anklang fanden. Dabei half, seltsamerweise, sein
Ruhm als Komponist; die New Yorker hätten sich vermutlich nie ein Boulez-Werk
angehört, ohne es auszubuhen. Aber der neue Maestro programmierte es klug
auch gar nicht, sondern zumeist Altbewährtes. Aber das in ungewohnter Gestalt.
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MUSIK: DEBUSSY, LA MER (DIALOGUE …), TRACK 8 (7:41)
4) Debussy, La mer; Cleveland Orchestra, Pierre Boulez; DG 479 4282 (LC 0173)
Claude Debussy, aus den Drei sinfonischen Skizzen „La mer“ der 3. Satz, „Dialog
des Windes und des Meeres“, mit dem Cleveland Orchestra unter Leitung von
Pierre Boulez.
Boulez wurde 1925 in Montbrison geboren, im Département Loire; er war sechs
Jahre jünger als Leonard Bernstein. Studieren wollte er ursprünglich nicht Musik,
sondern Mathematik. In einem Interview sagte er: „Als mir klar wurde, dass Musik
und Mathematik dieselbe Quelle speist, ging ich zu Olivier Messiaen und wurde
Musiker.“ Aber er gab auch zu: „Anfangs vertrat ich einen strengen Serialismus in
der Webern-Nachfolge. Heute weiß ich, das hatte mehr mit Mathematik zu tun
als mit Musik. Es war die reine Kopfgeburt, der Primat des Absoluten über das
Endliche … Und da Menschen nun einmal endlich sind, (muss) man sie auch in
ihrer Endlichkeit ansprechen, nicht als ein Absolutum.“ Erst als er 1955, bei den
Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt, die er zusammen mit
Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono seit Jahren schon ästhetisch dominierte als er dort für einen erkrankten Dirigenten einsprang, „habe ich erfahren, dass ich
das kann: ein Ensemble mit Zeichengeben zu einer Aufführung zu inspirieren.“ Der
Dirigent Pierre Boulez war geboren, und mit ihm veränderte sich die Ästhetik des
Komponisten Boulez: „Ich komponiere heute ganz anders als damals, (…) denke
mehr an mein Publikum … Das Dirigieren hat mein Komponieren, glaube ich,
weiterentwickelt … Die Note ist wichtiger als der Ton. Aber wenn sie (…) Ton wird,
muss sie zum Hörer sprechen, immer … Deswegen gibt es unterschiedliche
Interpretationen, aber nur eine Komposition.“
MUSIK: BOULEZ, PLI SELON PLI, TRACK 2 (5:00)
5) Boulez, Pli selon pli; Christine Schäfer (Sopran), Ensemble intercontemporain,
Pierre Boulez; DG 479 4278 (LC 0173)
Pierre Boulez, ein Ausschnitt aus seiner Hommage für den Dichter Stéphane
Mallarmé, „Pli selon Pli“, Zug um Zug, für Sopran und Orchester. Christine Schäfer
sang den Solopart, das von Boulez gegründete Ensemble Intercontemporain
spielte, der Komponist war der Dirigent.
In einem Essay über Pierre Boulez schreibt Wolfgang Stähr: „(Er) entfaltete (…) ein
tiefgreifendes Reformwerk im internationalen Konzertleben, eine
richtungsweisende und stilbildende Wirkung auf das Repertoire, die
Programmpolitik, die Orchesterkultur und nicht zuletzt auf das Selbstverständnis
des Pultstars. 'Wir sind eine Generation, die völlig von Boulez geprägt wurde',
bekennt Simon Rattle im Einverständnis mit den meisten seiner dirigierenden
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Altersgenossen. 'Dass ihm der Verhaltenskodex des Maestros gänzlich abgeht,
macht ihn wirklich unwiderstehlich.' Den gleichwohl hartnäckigen Vorwurf, er sei
und bleibe doch vor allem ein kühler Intellektueller und nüchterner Analytiker,
diesen Einwand weiß Boulez elegant und humorvoll zu entkräften: 'Die Analyse ist
nur ein Vorstadium, eine Vorbereitung', stellt er klar. 'Eine Interpretation ist keine
Demonstration. Ich bin kein Staubsauger-Vertreter. Zuerst muss man sich klare
Gedanken machen. Anschließend kann man spontan sein. Die richtige
Spontaneität kommt nach der Analyse.'“
1966 hatte der Dirigent Boulez sein Wagner-Debüt in Bayreuth mit dem „Parsifal“.
Der Mann, der in einem Interview mal gefordert hatte, man solle „alle
Opernhäuser in die Luft sprengen“, begab sich auf der Suche nach dem Heiligen
Gral ins Herz deutscher Operntradition. Und hatte Erfolg! Allerdings noch nicht so
großen wie ein paar Jährchen später mit dem „Ring des Nibelungen“, den der
Boulez-Freund Patrice Chéreau als Kapitalistenparabel aus dem industrialisierten
Zeitalter inszenierte. 1976, bei der Premiere, war das noch ein Riesenskandal. Das
traditionelle Bayreuth in großer Abendgarderobe wehrte sich, was das Zeug hielt.
Aber schon ein Jahr später war alles wie 180 Grad umgedreht – man sprach vom
„Jahrhundertring“, ein Etikett, das sich bis 1980 auf der Bühne und darüber hinaus
bis heute in den Köpfen hielt. Chéreaus kühne Allegorie und Boulez'
entschlackter, nicht „verkopfter“, aber auch nicht sämig-pathetischer Wagner
waren zum Grundstein eines neuen Bayreuth geworden: Die nationalsozialistische
Dunstglocke, die trotz Wieland Wagner immer noch über den Festspielen hing,
war wie weggeblasen; heute sind eher die konventionell-langweiligen
Aufführungen die Ausnahme.
In einem seiner letzten Interviews sagte Pierre Boulez: „Von allen Komponisten hat
(Wagner) mich am meisten beeindruckt. Durch seine harmonische Sprache, die
Komplexität der Polyphonie.“ Aber mehr noch als der „Ring“ war Boulez' WagnerHerzstück der „Parsifal“, mit dem er einst in Bayreuth debütierte. Darum hören wir
zum Schluss dieser Musikstunde noch ein wenig aus dieser Festspiel-Aufführung –
mit Franz Krass, Karl Ridderbusch und dem Orchester der Bayreuther Festspiele
unter der Leitung von Pierre Boulez
MUSIK: WAGNER, PARSIFAL, M0432798 006, 6‘20
6) Wagner, Parsifal; M0432798 006