DVPW Sektion „Politische Theorie und Ideengeschichte“ Call for Papers zur Sektionstagung „Formwandel der Demokratie“ 29.–31. März 2017 Universität Trier Die liberalen westlichen Demokratien geben derzeit ein äußerst gegensätzliches Bild ab. Der Entpolitisierung im Namen ökonomischer Sachzwänge, dem (vermeintlichen) Bedeutungsverlust des Nationalstaates, der Schwächung repräsentativer Institutionen und dem Erfolg populistischer Bewegungen stehen (zivilgesellschaftlich initiierte) Protestaktivitäten, der Ausbau neuer institutionalisierter Partizipationsmöglichkeiten sowie eine Bedeutungszunahme nicht-elektoraler Legitimationsformen gegenüber. Die widersprüchlichen Facetten zusammenführend diagnostizieren verschiedene Autorinnen und Autoren einen Formwandel der Demokratie. Ob als „Contre-Démocratie“ (Rosanvallon 2008), „Monitory Democracy“ (Keane 2009), „Multiple“ (Nolte 2011), „Simulative“ (Blühdorn 2013) oder „Kompetenzdemokratie“ (Willke 2016) – gemeinsam scheint den verschiedenen Konzeptualisierungen eine Relativierung der traditionellen Vorstellung einer auf allgemeinen und gleichen Wahlen basierenden Volkssouveränität zugunsten neuer Beteiligungsformen und neuer Legitimationsmuster. Bewertet wird diese Verschiebung allerdings unterschiedlich: Manche sehen darin eine regressive Tendenz, die institutionalisierte Formen der Selbstregierung im Namen unmittelbarer oder identitärer Vorstellungen von Demokratie abschreibt, andere eine angesichts der Krise der repräsentativen Demokratie adäquate Fortentwicklung oder gar eine Radikalisierung des Demokratiebegriffes im Namen der Gleichheit. Im Zentrum der Sektionstagung zum „Formwandel der Demokratie“ steht die Frage, welche Konzeptionen und Theorien helfen können, den beobachtbaren Wandel angemessen zu erfassen sowie demokratie- und politiktheoretisch einzuordnen. Die Tagung bietet die Möglichkeit, die akademische Debatte exemplarisch aufzuarbeiten und die genannten Veränderungen der Demokratie, insbesondere ihre kontroversen Konzeptualisierungen, aus verschiedenen Perspektiven zu diskutieren. Die Veranstalter laden ein, zu folgenden Themen Beiträge vorzuschlagen. Für die Beiträge sind Referate mit max. 30 Minuten Dauer vorgesehen, die Vorschläge sollten ungefähr 5000 Zeichen umfassen. Themenvorschläge schicken Sie bitte bis zum 15. September 2016 an die Mailadresse [email protected] 1/4 Thema 1 Der Demokratiebegriff in den Debatten zum Formwandel der Demokratie Die Diagnose von der „Rationalisierung der Demokratietheorie“ (Buchstein/Jörke), die den Zustand der Debatte um die Demokratie der späten 1990er/frühen 2000er Jahre so treffend auf den Punkt gebracht zu haben schien, ist einer Proliferation verschiedenartiger Demokratiebegriffe gewichen. Neben der prominenten Rezeption eines radikalen Begriffs von Demokratie, der als den Kern der Demokratie die unmittelbare, präsentistische Selbstbestimmung in Form der Rebellion und des Protestes ausmacht, werden in gleichem Maße Demokratievorstellungen vertreten, die am klassischen Begriff des Gemeinwohls als Kern der Demokratie festhalten, selbiges aber weit eher durch unabhängige und unparteiische Institutionen und Gremien realisiert sehen. Spiegelt sich in beiden Varianten möglicherweise eine (stillschweigende) Ernüchterung wider über die Möglichkeiten kollektiven Selbstregierens angesichts der vielgestaltigen Prozesse der Entgrenzung und Differenzierung des sozialen, ökonomischen und politischen Zusammenlebens, die mit dem Begriff „Globalisierung“ assoziiert werden? Im Gegensatz hierzu stehen wiederum solche demokratietheoretischen Entwürfe, die auch vor dem Hintergrund veränderter Vorzeichen die Idee der Volkssouveränität als Kernmoment der Demokratie zu reaktualisieren trachten. Andere sprechen dahingegen geradezu von der „Fiktion der Selbstgesetzgebung“ (Colliot-Thélène) und fordern – auch mit Blick auf die diversen Globalisierungseffekte – den Demokratiebegriff so umzudefinieren, dass er die herrschaftskontrollierenden und herrschaftsbegrenzenden Praxen vieler „demoi“, gegenüber einer letztlich nicht aus der Welt zu schaffenden, von den Bürgern prinzipiell getrennten „Macht“ bezeichnet. Wie fällt eine Bestandsaufnahme der vertretenen Demokratiebegriffe konkret aus? Welche unterschiedlichen ideengeschichtlichen Traditionslinien werden in den jeweiligen Demokratiebegriffen wirkmächtig? Bringt die Debatte neue demokratietheoretische Konstellationen hervor oder begegnen wir im Grunde nur Altbekanntem? Wie konzeptualisieren die Theorien den Zusammenhang von Nationalstaat und Demokratie? Welche systematischen Frontstellungen bilden sich in den jüngsten Debatten zum Demokratiebegriff heraus (konstituierend vs. destituierend; libertär-individualistisch vs. kommunalistisch-verallgemeinernd etc.)? Thema 2 Wandel der Partizipationsformen Die jüngere demokratietheoretische Debatte steht bisweilen im Kontrast zu den derzeitig ablaufenden Prozessen des Formwandels der Demokratie. Während die normative Demokratietheorie das Repräsentationsprinzip für sich entdeckt hat (befördert etwa durch die Arbeiten von Iris Marion Young, Nadia Urbinati oder Michael Saward), werden partizipatorische Innovationen (z.B. Verfahren der direkten, digitalen und kooperativen Demokratie) heute auch von Seiten politischer Exekutiven implementiert. Manche sehen darin Aktionen der Legitimitätsbeschaffung, andere wiederum begreifen die neue Parallelität von innovativen Partizipationsformen und hergebrachten Verfahrensweisen der Wahldemokratie als Zukunftsmodell für eine postparteipolitische Ausgestaltung des demokratischen Prozesses. So 2/4 argumentieren die normativen Befürworter neuer Partizipationsformen, nur so könne den gesellschaftlichen Beteiligungsansprüchen und Wandlungsprozessen Rechnung getragen werden. Theoretisch wenig erörtert und empirisch kaum untersucht wurde bislang das Verhältnis dieser Partizipationsformen zu den Ansprüchen politischer Repräsentation. Welche Gruppen setzen sich durch? Führt die Entwicklung zu einer elitenfreundlichen Komplexitätssteigerung der Demokratie oder zu einer besseren Berücksichtigung von Perspektiven? Worin sehen neue demokratietheoretische Ansätze den Wert politischer Partizipation und politischen Handelns? Wie wird das Verhältnis von Partizipation und Repräsentation von einzelnen Autoren und Autorinnen beschrieben? Sind partizipatorische Innovationen ein Faktor für neue Ungleichheiten der Demokratie? Welche ideengeschichtlichen Anknüpfungspunkte lassen sich ziehen? Thema 3 Protest und Populismus Die für die letzten Jahre empirisch belegbare Zunahme von Protestaktivitäten und die korrespondierende Dominanz negativer, auf die Verhinderung einzelner Maßnahmen oder Entscheidungen gerichteter Perspektiven bildet ein Hauptthema der Diskussion zum Formwandel der Demokratie. Was unterscheidet neuere Protestformen in demokratietheoretischer Perspektive von älteren, etwa den Sozialen Bewegungen der 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts? Welche Rolle spielen noch politische Ideologien, welche Bedeutung haben demgegenüber die Moralisierung politischer Fragen und die Ablehnung aller intermediären Instanzen durch neuere Protestformen? In den meisten liberalen Demokratien konnten populistische Bewegungen spektakuläre Erfolge erzielen, so dass bereits von einer Verdrängung der horizontalen Konfliktstruktur zwischen rechts und links durch die vertikale Konfliktlinie zwischen Elite und Volk oder „Palazzo“ und „Piazza“ (Saint Victor) die Rede ist. Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen zunehmend negativ bleibenden Partizipationsformen und politischem Protest auf der einen und dem Erfolg populistischer Bewegungen auf der anderen Seite? Haben wir es beim Populismus mit einer spezifischen Ausdrucksform demokratischer Politik zu tun oder verweist er weit eher auf das Ende einer solchen Politik? Wie reagieren verschiedene Demokratietheorien auf die skizzierten Entwicklungen und wie bewerten sie den Bedeutungsgewinn von vertikalen Spaltungen und identitären Symbolisierungen des Volkes? Thema 4 Medien und Öffentlichkeit im Formwandel der Demokratie Medien und Öffentlichkeit geraten in der Diskussion zum Formwandel der Demokratie in doppelter Weise besonders in den Blick. Erstens wird vielfach ein neues Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Demokratie als Kernmoment des Formwandels unterstellt. Begriffe wie „Monitory Democracy“ (Keane) oder „Audience Democracy“ (Manin) beschreiben eine Aufwertung des Hinschauens und permanenten Evaluierens von außen gegenüber dem aktiven politischen Mitgestalten in den Institutionen. Offen bleibt dabei bislang, ob diese Verschiebung nur als Symptom eines demokratischen Substanzverlusts oder möglicherweise auch als neues 3/4 normatives Modell der Demokratie begriffen werden kann? Zweitens gerät auch die Funktionsweise der Öffentlichkeit selbst in den Blick. Ist in den letzten Jahren ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit zu beobachten? Falls ja, wie ist er theoretisch auf den Begriff zu bringen und was sind die Folgen? Wie formt – oder deformiert? – die ständige Selbstbeobachtung und permanente Verfügbarkeit von Informationen in Echtzeit über das Internet die demokratische Meinungsbildung? Längst organisieren sich Bewegungen wie das M5S in Italien erfolgreich primär über das Internet und begegnen konventionellen Medien mit Misstrauen. Sind soziale Netzwerke, E-Petitionen oder die durch das Netz ermöglichte radikale Transparenz politischer Akteure potenzielle Bausteine einer neuen ‚Demokratie der Aneignung‘ (Rosanvallon)? Oder zerfällt die übergreifende politische Öffentlichkeit vielmehr in eine demoskopische Simulation von Meinungsbildung einerseits und eine Vielzahl unverbundener, selbstreferenzieller Teilöffentlichkeiten andererseits? Wie hängen zuletzt beide Entwicklungen, der Wandel der Öffentlichkeit und der ihres Verhältnisses zur Demokratie, zusammen? Verstärken Sie sich oder blockieren und gefährden sie sich wechselseitig? Prof. Dr. Winfried Thaa Jun.-Prof. Dr. Christian Volk PD Dr. Markus Linden Dr. Michel Dormal 4/4
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