SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Tandem Protokolle gegen die Wortlosigkeit Die Zuschauer-Mitschriften gegen die Wortlosigkeit Von Thomas Moser Sendung: Montag, 4. Juli 2016, 10.05 Uhr Redaktion: Rudolf Linßen Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Tandem können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/tandem.xml Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Tandem sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Bestellungen per E-Mail: [email protected] Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? 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Begonnen hat für ihn alles drei Jahre zuvor: Zitat 1/NSU-Watch-Protokoll Mehr als 20 Minuten haben ausgewählte Fotografen und Kameraleute Zeit, Aufnahmen von den Angeklagten zu machen. Beate Zschäpe wendet der Presse die meiste Zeit den Rücken zu. Der Angeklagte Ralf Wohlleben zeigt sich unbeeindruckt. Gegen 10.30 Uhr betreten die Richter den Saal. Nach der Belehrung der Dolmetscher geht der Vorsitzende Richter Manfred Götzl die Anwesenheit durch. Rechtsanwalt Stahl fragt den Vorsitzenden Götzl, wie er mit Beate Zschäpes Ablehnungsgesuch umzugehen gedenkt. Sofort entspinnt sich ein Disput zwischen Götzl, dem in diesem Gesuch Befangenheit unterstellt wird, und RA Stahl. Der Vorsitzende Richter Götzl verfügt eine Fortsetzung der Hauptverhandlung und stellt die Entscheidung über den Befangenheitsantrag von Zschäpe erst einmal zurück. Der Beginn der Hauptverhandlung sei eine dringliche, keinen Aufschub duldende Handlung, insbesondere weil es um eine Haftsache gehe." Autor Bericht vom ersten Prozesstag gegen die mutmaßliche Terroristin Beate Zschäpe und vier Komplizen am 6. Mai 2013. Geschrieben hat die Sätze Tobias Bezler, nachlesbar sind sie im Internet. Immer noch sitzt er in dem Gerichtssaal und schreibt nieder, was dort passiert und gesagt wird, Tag für Tag. - Auch am 9. Dezember 2015 war er da, einer der besonderen Tage im Prozessverlauf. O-Ton Tobias Bezler "Ja, seit längerer Zeit war ja eine Einlassung von Beate Zschäpe angekündigt, also keine Aussage, sondern dass ihr Verteidiger, ihr neuer Pflichtverteidiger Mathias Grasel, eine Einlassung verliest und sind dann die wohl 53 gedruckten Seiten von ihm vorgetragen worden." + Atmo Zum ersten Mal hat die Hauptangeklagte ihr Schweigen gebrochen und sich zu den Anklagevorwürfen geäußert. O-Ton Bezler Es wird ein Wissen weitgehend abgestritten. Es wird auf andere, in dem Fall auf Tote geschoben, aber die eigene Einlassung zur eigenen Person ist völlig lebensfremd, unwirklich. Die würde ich gar nicht ernst nehmen. Das war, ja, bitter für die Opfer des 2 NSU und ihre Angehörigen, von denen ja auch einige hier am Prozess teilgenommen haben. Bitter, da kam nichts an Aufklärung. Aber das war zu erwarten, also das war zu befürchten und zu erwarten." Autor Das Interesse von Medien und Öffentlichkeit ist an diesem Tag fast so groß, wie zu Prozessbeginn. Der Platz vor dem Justizzentrum wird zum Forum vieler Gespräche und Interviews. Ein besonderer Tag auch für Bezler - und doch nur einer von bis dahin 250. Alle hat er schriftlich festgehalten, zusammen mit zwei Mitstreitern, die ihn unterstützen. O-Ton Bezler "Bei uns gibt es eben auch den prozessualen Alltag, muss man schon sagen, mit allen Formalia, mit allen Sachverständigen-Aussagen, mit allen Asservaten, mit dem Verlesen von Aktennummern. Das findet sich ja in unseren Protokollen genauso." Autor Tobias Bezler ist kein normaler Zuschauer, auch nicht einfach ein Journalist - er ist ein Chronist dieses Prozesses. Er gehört zur Initiative "NSU-Watch", einem Netzwerk von Einzelpersonen und Gruppen, die sich gegen rechtsextremistische Aktivitäten engagieren. Als "unabhängige Beobachtungsstelle" gegründet nach der Aufdeckung des Terrortrios Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe im November 2011. Wie viele im Land war auch Bezler schockiert. Er macht seine "antifaschistische Arbeit", wie er sagt, schon einige Jahre, aber von einer Gruppierung namens "Nationalsozialistischer Untergrund" hatte auch er noch nie gehört. Den Prozess wollten Tobias Bezler und Kollegen nutzen, um etwas über den "NSU" zu erfahren - nun dokumentieren sie ihn. Auch nach drei Jahren sitzen immer noch mehrere Journalisten in diesem Prozess. Doch während sie für ihre Berichte bestimmte Zeugenaussagen auswählen und das Neue und Spektakuläre präsentieren, erstellen Bezler und Kollegen nahezu vollständige Wort- und Verlaufsprotokolle, selbst wenn wenig geschieht und Sitzungen keine Schlagzeilen hergeben. O-Ton Bezler "Ansonsten erheben wir nicht den Anspruch, dass wir irgendwie die beste Protokollierung des Prozesses machen würden, sondern wir haben uns halt den Anspruch gesetzt, tatsächlich eine vollständige Protokollierung zu machen, für die Leute, die das interessiert. Einfach was für die Nachwelt im gesamten zu erhalten, nicht nur Ausschnitte aus dem Prozess." Autor Auf der Besuchertribüne hat Tobias Bezler einen festen Sitzplatz, immer derselbe, ganz oben, letzte Reihe. Kurz vor zehn Uhr beginnen die Verhandlungstage in der Regel. Der Staatsschutzsenat unter Vorsitz von Richter Manfred Götzl betritt Saal A 101 des Oberlandesgerichtes München und stellt zunächst die Präsenz der Prozessbeteiligten fest. Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe hat mittlerweile fünf Verteidiger, von denen vier Pflichtverteidiger sind. Die Anklagebehörde Bundesanwaltschaft ist nur noch mit zwei Personen vertreten, anfänglich waren es 3 vier. Am längsten dauert die Aufzählung der Opferanwälte - 50 bis 60 an jedem Sitzungstag. Den Laptop auf den Knien schreibt Bezler mit, Wort für Wort, so gut und so schnell er kann. Nicht immer ist alles, was gesagt wird, verständlich. Ab und zu auch ein Blick nach unten, um Reaktionen einzufangen, von den Richtern, Zeugen und Angeklagten. Eine hochkonzentrierte Arbeit: O-Ton Bezler "...dass Zeuginnen und Zeugen bspw. uns ja den Rücken zukehren, dass wir die Gesichter und Münder nicht sehen, das einfach verstehen. Auch, wenn bspw. Fachbegriffe oder medizinische Terminologie verwendet wird. Und das ist aber nur der eine, gewissermaßen technische Bereich. Der andere Bereich ist, dass viele Menschen im Rahmen ihrer Antworten und Aussagen einfach nicht druckreif reden. Dass sie bspw. Sätze woanders beginnen lassen, als sie dann sinngemäß enden. So dass nicht so ganz deutlich wird, wie drastisch, wie sicher, wie genau sie etwas meinen." Atmo (in den Büroräumen) Autor Das Ende eines Sitzungstages - das kann schon mal im Laufe des Vormittags kommen oder auch erst am späten Abend. Tobias Bezlers Weg führt dann zu Büroräumen in München, die sich die Initiative mit anderen politischen Gruppen teilt. Dort werden die Mitschriebe redaktionell bearbeitet. Auch das nimmt viel Zeit in Anspruch. Zirka 40 Seiten kommen an jedem Verhandlungstag zusammen. Davon werden etwa 12 redigierte Seiten ins Netz gestellt, zugänglich für jedermann, zusätzlich eine türkische Übersetzung. Lange 300 Tage dauert der Prozess schon, mehrere hundert Zeugen wurden gehört. Macht etwa 12 000 Seiten, die Bezler und seine Kollegen bisher mitgeschrieben haben. Fast 4000 Seiten Protokolle wurden ins Internet gestellt. Zur Zeit sind noch bis zum Januar 2017 Sitzungstage terminiert. Der NSU-Mammut-Prozess wird Justizgeschichte schreiben. Aber, wenn es nach der Justiz ginge, ohne Hinterlassenschaften, undokumentiert - denn es gibt in deutschen Strafverfahren kein offizielles, objektives Wortprotokoll der gesamten Beweisaufnahme. – Warum? Frage an die Sprecherin des Oberlandesgerichtes München, Andrea Titz: Andrea Titz "Der Sinn eines Protokolls ist nicht, dass man irgendwelche historischen Geschehnisse niederlegt. Sondern: Das Protokoll soll ausschließlich dazu dienen, dass zu einem späteren Zeitpunkt in einer Rechtsmittelinstanz geklärt werden kann: Was ist passiert? Gegen Urteile des Landgerichts und Urteile des Oberlandesgerichts ist nur noch die Revision zum Bundesgerichtshof statthaft. In einer Revision wird aber nicht nachgeprüft, was hat wer gesagt? Also was haben die Beweismittel ergeben? Sondern es wird nur überprüft, ob Verfahrensfehler passiert sind. 4 Autor Wenn es für ein Urteil kein Wortprotokoll braucht, dann auch nicht für die Überprüfung. Denn überprüft werden nicht Inhalte, sondern lediglich mögliche Verfahrensfehler. Im tatsächlichen Protokoll werden deshalb nur Rahmendaten festgehalten: wie Beginn und Ende eines Sitzungstages, Anträge oder Namen der Zeugen. O-Ton Titz "Es wird auch protokolliert, dass ein Zeuge vernommen wurde und von wann bis wann diese Vernehmung gedauert hat und dass sich der Zeuge geäußert hat. Aber nicht inhaltlich, wie er sich geäußert hat." Autor Was ein Zeuge aussagt - das notieren die Richter für sich selber. Sie machen ihre eigenen Mitschriften, anhand dieser sie dann auch ihr Urteil fällen. O-Ton Titz "Die Richter des Senats schreiben selbstverständlich mit, was geschieht und auch was gesagt wird von den Zeugen. Und auf der Grundlage dieses eigenen Protokolls, das die Richter letztlich für sich führen, wird dann die Entscheidung getroffen." Autor Im Gegensatz zum Rahmenprotokoll wird dieses Richterprotokoll nicht Bestandteil der Prozessakten. Es wird sozusagen als Privatsache der Richter angesehen und ist nach Prozessende für niemanden zugänglich. Manche der Protokolle, die Tobias Bezler veröffentlicht, fallen aus der Norm. Zum Beispiel, als Tino Brandt vernommen wurde. Er kannte das NSU-Trio lange und gut, war Neonazi und zugleich Informant des Verfassungsschutzes. O-Ton Bezler "Es gibt so ein Beispiel: Aussage von Tino Brandt, die wir quasi auch mal im Original veröffentlicht haben, dass zu sehen ist, wie lang eigentlich eine Originalaussage dauert, also so völlig ungekürzt wiedergegeben haben." Zitat 2/NSU-Watch-Protokoll "Protokoll von NSU-Watch: 15. Juli 2014, 127. Verhandlungstag. Heute musste Tino Brandt, Gründungsmitglied des Thüringer Heimatschutzes und langjähriger V-Mann aussagen. Es ging um die Thüringer Neonazi-Anfangszeit. ((Das Landesamt hatte über Brandt genaue Informationen über die Untergetauchten, auch Geld floss über Brandt an sie.)) Die Besucher- und Presseempore ist heute außergewöhnlich voll. Das Gericht betritt um 9.45 Uhr den Saal. Dann beginnt die Vernehmung des Zeugen Tino Brandt, der in Handschellen von einem Polizisten in den Saal geführt wird. Götzl belehrt den Zeugen. Auf Frage bestätigt Brandt, dass er derzeit in der JVA Gera in Haft ist. " Autor Die Nicht-Protokollierung von Strafverfahren - an dieser Praxis der Justiz gibt es unter Strafrechtlern wie Strafverteidigern Kritik: 5 O-Ton Bernd-Max Behnke "Ja, ein wörtliches Protokoll wird nicht geführt. Das ist ein großer Nachteil für die Rechtsfindung." - sagt Bernd-Max Behnke, Professor für Strafrecht und Anwalt. O-Ton Behnke "Weil natürlich ganz verschiedene Prozessbeteiligte die Aussagen von Zeugen und Sachverständigen regelmäßig anders verstehen können. Und dann finden wir auch häufig in Urteilen Hinweise darauf, was Zeugen gesagt haben sollen, ohne dass die anderen Prozessbeteiligten das ebenfalls so verstanden haben." Autor Im NSU-Prozess vertritt Behnke Angehörige des Mordopfers Mehmet Turgut, der am 25. Februar 2004 in Rostock erschossen wurde. - Wenn Zeugenaussagen mitprotokolliert würden, meint Behnke, würden viele Urteile den Revisionsanträgen nicht standhalten. Grundfragen der Justiz tun sich auf. O-Ton Bernd-Max Behnke "Ich gehe davon aus, dass die Gerichte nicht daran interessiert sind, Wortprotokolle zu haben, denn die Angriffspunkte in der Revision oder in der Berufung wären dann sicher erfolgreicher. Ein Wortprotokoll würde Vieles widerlegen können, was Richter verstanden und im Urteil wiedergegeben haben. Und das wollen Sie natürlich nicht. Denn der Richter will das, was er wahrnimmt, egal, ob es richtig oder falsch ist, ob die Auslegung richtig oder falsch ist, letztendlich für die Urteilsfindung verwenden." O-Ton Dagmar Schön "Also wir sind auch mit unserem ganzen Strafprozess noch nicht wirklich im Rechtsstaat des Grundgesetzes angekommen." Dagmar Schön, Rechtsanwältin für Zivilfragen und Autorin, wird noch grundsätzlicher. O-Ton Schön "Sondern sind noch weitgehend im Obrigkeitsstaat des Kaiserreichs, ja, wo eben doch nicht alles so transparent sein soll und die Obrigkeit doch das Sagen haben soll. (Und wir zeigen euch, wo der Bartel den Most holt, ja. Das kann man eben überhaupt in der Strafjustiz feststellen.") Autor Es geht auch um die Stellung der Justiz innerhalb der staatlichen Ordnung. Schöns Kollege Behnke sieht in der Protokollfrage eine Machtfrage. Durch die Intransparenz schützt sich die Justiz selbst. O-Ton Behnke "Es ist schon ein Machtinstrument, kein Wortprotokoll zu haben, denn dadurch ist der Richter, oder sind die Gerichte in einem wesentlichen Vorteil gegenüber den anderen Prozessbeteiligten. Und wenn wir ein Wortprotokoll hätten, würden sich wesentlich mehr Revisionsmöglichkeiten ergeben. Und das ist natürlich der Justiz nicht gerade besonders angenehm." 6 Autor Während Bernd-Max Behnke im gesicherten Saal des Staatsschutzsenates sitzt, wo über die fünf NSU-Angeklagten verhandelt wird, besucht Dagmar Schön nur wenige Meter entfernt im Nachbarflügel des Justizpalastes einen anderen prominenten Prozess. Den gegen Manager der Deutschen Bank. Inzwischen wurde er mit Freisprüchen beendet. Die Rechtsanwältin beobachtete das Verfahren, weil sie für ein Buch über die Justiz und die Defizite des Rechtsstaates recherchiert. Dabei hat sie bemerkt, dass, wie im Zschäpe-Prozess, auch da in Eigenregie Protokolle gefertigt wurden, auf Seiten der Angeklagten. O-Ton Schön "Hier z.B. jetzt beim Prozess der Deutschen Bank, den ich mir ansehe, da lassen diese Vorstandsmitglieder natürlich von Stenografen das alles mitstenografieren. Das hat zwar rechtlich jetzt nicht direkt für die Revision ne Folge, weil das natürlich keine offiziellen Protokolle sind, aber die finanziell potenten Parteien in Prozessen, auch in Zivilprozessen, lassen die Prozesse mitstenografieren." O-Ton Schön "So wie's praktiziert wird, nämlich als Machtauseinandersetzung, muss es immer zweifellos in der Dunkelheit landen, weil jeder nur immer versucht, seine Position zu retten. Das führt dann dazu, was ja viel auch von der Bevölkerung nicht verstanden und kritisiert wird, dass fast heute alle Angeklagten nix mehr sagen, gar nichts, ja, empfohlen von der Verteidigung. Das war ja auch ein Vorwurf gegen Frau Zschäpe immer." Zitat 3/NSU-Watch-Protokoll "Protokoll NSU-Watch, Vernehmung Tino Brandt: Anfangs seien sie 20 gewesen, später bis zu 70, 80, so Brandt auf Frage. Dann fragt Götzl, wie es zur Bezeichnung Thüringer Heimatschutz gekommen sei. Brandt: Wir waren Thüringer, also Sächsischer Heimatschutz hätte nicht gepasst. Götzl: Diese Späße können Sie sich sparen. Götzl fragt nach den politischen Ansichten von Mundlos. Brandt sagt: Mundlos habe sich für die damaligen Ideale der NSDAP, denke er, eingesetzt und habe die in Ordnung gefunden. Götzl fragt zu Zschäpe. Brandt sagt, wenn eine Rechtsschulung gewesen sei oder eine Schulung zu Germanentum sie es durchaus so gewesen, dass da Wissen ordentlich vorhanden war. Zschäpe sei keine dumme Hausfrau. Götzl fragt, wie Brandts Verhältnis zu Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe war. Brandt: Ich denke, aus heutiger Sicht waren wir durchaus befreundet." Autor Je länger der Prozess geht, desto einzigartiger wird die Arbeit von Tobias Bezler und Mitschreibern. Auch sie entwickeln sich. Dadurch, dass sie das Ereignis in München, das so oft in den Nachrichten auftaucht, festhalten und dadurch, dass ihre Protokolle gelesen und genutzt werden, wird ihnen ihre Rolle bewusst. O-Ton Bezler "Es ist ja meiner Meinung nach, schon ein wichtiger Prozess für die deutsche Nachkriegsgeschichte. Also A) wegen dem mordenden NSU-Netzwerk, wegen der nicht erkannten Mordserie, wegen den gesellschaftlich offenen Fragen, sei es Rassismus oder Verstrickungen der Verfassungsschutzbehörden, wegen der politischen Diskussion auch, die daraus erwächst oder erwachsen sollte - und da 7 schreibt niemand mit. Warum hat eigentlich nicht eine juristische Fakultät bspw., Geschichtswissenschaftler, Geschichtswissenschaftlerinnen oder ein zeitgeschichtliches Institut selber, also eine Dokumentation dieses wichtigen langen Prozesses eigentlich in Angriff genommen?" O-Ton Johannes Tuchel "Ich finde es sehr interessant. Es ist der größte Prozess, der gegen eine rechtsextremistische Bande seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland geführt wird." Autor Der Historiker und NS-Forscher Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte deutscher Widerstand in Berlin. Was in München geschieht, verfolgt er aus der Ferne anhand der Tagespresse. Doch nicht nur Geschichte wird mit diesem Verfahren geschrieben - als Historiker weiß er, dass Strafprozesse auch gesellschaftliche Prozesse auslösen können. Und umgekehrt. O-Ton Tuchel "Strafverfahren im allgemeinen sind ja etwas, dass eine Gesellschaft ihr Bedürfnis nach Gerechtigkeit ausdrückt. In Deutschland ist es ja so gewesen, dass wir im 20. Jahrhundert zwei Diktaturen gehabt haben, die in der nachdiktatorischen Zeit jeweils mit den Mitteln des Strafverfahrens bearbeitet werden mussten. Und ich denke, dass auch gerade die Strafverfahren gegen nationalsozialistische Straftäter dazu beigetragen haben, überhaupt erst einmal ein Bewusstsein zu schaffen dafür, dass es diese Straftaten gegeben hat." Autor Prozesse bilden im besten Falle Geschichte ab. Und der Gerichtssaal wird zum Schauplatz, wo man Dinge erfährt, nur dort und nur in diesem Moment vorausgesetzt, man kann dabei sein. Dokumentationen für die Nachwelt bilden die Ausnahme - Johannes Tuchel: O-Ton Tuchel "Und Sie haben beim Auschwitz-Prozess auch noch das fast Einmalige in der deutschen Justizgeschichte, dass dort ja auch noch ein Tonbandmitschnitt der Hauptverhandlung gefertigt wurde, der erst vor einigen Jahren jetzt ja veröffentlicht worden ist. Insofern standen damals über dieses Verfahren sehr sehr viele Unterlagen zur Verfügung. Und dieses Verfahren ist auch sehr intensiv beobachtet worden." Autor Beim Oberlandesgericht in München bekommt man die historische Dimension des NSU-Verfahrens regelmäßig vor Augen geführt. An Tagen, wie dem als die Aussage der Hauptangeklagten Beate Zschäpe erwartet wurde, stellten sich die ersten Interessierten um Mitternacht vor den Eingang. Wer nach 5 Uhr morgens kam, bekam keinen Platz mehr im Saal. - Gerichtssprecherin Andrea Titz: 8 O-Ton Titz "Auf rechtspolitischer Ebene gibt es bekanntermaßen etliche Diskussionen darüber, wie man das ändern könnte./ Die mögliche Übertragung, die aber ja noch nichts zur Dokumentierung beitragen würde. Es wird darüber nachgedacht oder diskutiert, auf rechtspolitischer Ebene, ob man vielleicht historische Verfahren, also Verfahren mit historischer Bedeutung in irgendeiner Weise auch audio-visuell dokumentieren könnte, um dann auf diese Weise eben für die Nachwelt die Dokumente zu haben. Tatsächlich hat der NSU-Prozess zu einem Impuls in der Politik geführt. Im Bundesjustizministerium wurde ein Gesetz entworfen, das Übertragungen von Urteilsverkündungen der obersten Bundesgerichte in Bild und Ton möglich machen soll. Außerdem die Live-Übertragung laufender Prozesse in Medienräume innerhalb des Gerichtes. Zitat 4/NSU-Watch-Protokoll "Protokoll NSU-Watch, Vernehmung Tino Brandt: Götzl bittet Brandt, seine Tätigkeit für das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz zu schildern. Brandt sagt: Die hätten drei, vier Fragen gestellt und es habe 100 oder 200 Mark gegeben. Und das habe sich dann gut entwickelt, denn mit dem Geld habe man gut arbeiten können. Das Landesamt habe zugesichert, dass es um bestimmte Themen nicht geht, z.B. um Straftaten. ((Dass sie nur wissen wollen, wieviele Leute marschieren auf, wie sind Verbindungen von gewissen Leuten.)) Götzl fragt, wie viel er insgesamt bekommen hat. Brandt antwortet, er kenne da nur die Zahl aus der Presse. Götzl: „Warum soll denn die Presse da besser Bescheid wissen als Sie?“ Brandt: „Das Landesamt weiß ja, wie viel es ausgegeben hat.“ O-Ton Bezler "Ein Protokoll zu veröffentlichen ist in der Tat auch rechtlich schwierig. Denn wir protokollieren ja, was im Prozess gesagt wird. Ob die Sachen richtig sind, die im Prozess gesagt werden, bspw. Beschuldigungen anderer, das haben ja nicht wir zu verantworten." Atmo/Musik (Konzert mit der Gruppe "Lena Stöhrfaktor") Autor Berlin Kreuzberg, ein Konzert mit einer Rockband. Die Einnahmen fließen an die Initiative NSU-Watch. O-Ton Eike Sanders "Wir müssen dann alle paar Monate mal wieder eine Spendenkampagne machen, wenn uns klar wird, ok, uns ist bald das Geld alle." Eike Sanders koordiniert die Arbeit und ist für die Finanzen zuständig. O-Ton Eike Sanders 2 "Es war von Anfang klar: Das wird ein riesiger Prozess. Das wird eben nicht in rein ehrenamtlicher Arbeit zu leisten sein. D.h., wir haben von Anfang an Spenden eingeworben." 9 Autor Einen Großteil ihrer Beobachtungsarbeit leisten die Aktiven von NSU-Watch unentgeltlich, wie bei politischen Initiativen oft üblich. Bestimmte Tätigkeiten müssen aber finanziert werden: Reisen, Übersetzungen und zumindest teilweise auch die Anwesenheit im Prozess. Das Geld kommt durch Spenden zusammen, wie aus dem Solidaritätskonzert. Vor allem aber durch zahlreiche Einzelspender, über 250 an der Zahl. O-Ton Sanders "Wer hat was gespendet? Ein Großteil der Spenden sind von Privatpersonen. Also das ist wirklich, ja, der größte Teil. Wir haben auch von Anfang an gesagt, dass wir uns nicht von parteinahen Stiftungen oder von Parteien finanzieren lassen wollen. Wir haben aber kleinere Spenden von den ein oder andere Stiftungen gekriegt. Der Großteil sind aber wirklich Privatspenden. Das heißt, wir haben Leute, die ein wissenschaftliches Interesse daran haben, die uns kennen. Die sagen: Sie brauchen die Protokolle, die unsere Arbeit gut finden, teilweise dann auch monatliche Förderbeiträge bezahlen.“ Autor Wer das ist, bleibt Betriebsgeheimnis. - Über 200 000 Euro haben sie bisher eingesammelt und ausgegeben. Ein paar Reserven gibt es noch. Bis 2017 reichen sie aber nicht. O-Ton Sanders „Also wir sind darauf angewiesen, dass die Leute uns weiter unterstützen.“ Über drei Jahre Verhandlungsdauer - das zehrt an den Ressourcen, nicht nur finanziell. Aber sie wollen durchhalten bis zum Ende. O-Ton Sanders „Wir sehen uns da als, ja, das klingt so ein bisschen abschätzig, aber ja, schon als Servicestelle, die die Protokolle oder diese Grundlagenarbeit bereitstellt, auf die ganz viel andere Arbeit fußen kann und muss.“ Zitat 5/NSU-Watch "Protokoll NSU-Watch, Vernehmung Tino Brandt, zweiter Tag, 16. Juli 2014: Es folgt die Mittagspause, die zweimal verlängert wird. Die Gründe bleiben unklar. Erst um 14.22 Uhr geht es weiter. Götzl sagt, er gebe bekannt, dass Polizeiobermeister W. ihn in der Mittagspause darüber informiert habe, dass Frau Zschäpe ihn gebeten habe, zu sagen, dass sie kein Vertrauen mehr in ihre Verteidiger habe. Götzl fragt Zschäpe, ob das zutrifft. Zschäpe nickt. Dann sagt Götzl, dass heute nicht mehr fortgesetzt wird und der morgige Termin entfällt. Der Zeuge Brandt wird in den Saal geholt, um ihm mitzuteilen, dass er neu geladen wird. Der Verhandlungstag endet um 14.27 Uhr." O-Ton Bezler "Also es wird für eine spätere wissenschaftliche Auswertung des NSU-Prozesses neben den Prozessakten, falls sie irgendwie mal öffentlich werden oder benutzt werden können, nur die Protokolle geben, die wir bisher online gestellt haben." 10 Autor Die Protokolle haben sich im Laufe der Jahre verändert. Sie sind sachlicher geworden, distanzierter, professioneller. Die Protokollanten um Tobias Bezler haben ihre Verantwortung erkannt. Sie wissen, sie schreiben Justizgeschichte. O-Ton Bezler "Ich selber hab gerade im NSU-Prozess erlebt, wie wichtig so ne Dokumentation sein kann. Das war mir im Vorhinein vielleicht gar nicht so bewusst." 11
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