Protokolle gegen die Wortlosigkeit

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Tandem
Protokolle gegen die Wortlosigkeit
Die Zuschauer-Mitschriften gegen die Wortlosigkeit
Von Thomas Moser
Sendung: Montag, 4. Juli 2016, 10.05 Uhr
Redaktion: Rudolf Linßen
Produktion: SWR 2016
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PROTOKOLLE GEGEN DIE WORTLOSIGKEIT
MANUSKRIPT
O-Ton Tobias Bezler
"Verändert hat sich's vom ersten Prozesstag hier bis zum 285. insofern, dass ich halt
viele Gewöhnungen an schnelles Mittippen während Vernehmungen und
Einvernehmungen und der prozessualen Abläufen bekommen hab, so dass ich also
sehr viel schneller, meiner Meinung nach, auffassen kann, was unten passiert, was
gerade gesagt wird, auf was sich bezogen wird, dass mir so was leichter fällt. Das ist
aber einfach ein Gewöhnungseffekt, glaub ich."
Autor
Juni 2016, Tobias Bezler während eines Sitzungstages im müncher Justizzentrum.
Begonnen hat für ihn alles drei Jahre zuvor:
Zitat 1/NSU-Watch-Protokoll
Mehr als 20 Minuten haben ausgewählte Fotografen und Kameraleute Zeit,
Aufnahmen von den Angeklagten zu machen. Beate Zschäpe wendet der Presse die
meiste Zeit den Rücken zu. Der Angeklagte Ralf Wohlleben zeigt sich unbeeindruckt.
Gegen 10.30 Uhr betreten die Richter den Saal. Nach der Belehrung der
Dolmetscher geht der Vorsitzende Richter Manfred Götzl die Anwesenheit durch.
Rechtsanwalt Stahl fragt den Vorsitzenden Götzl, wie er mit Beate Zschäpes
Ablehnungsgesuch umzugehen gedenkt. Sofort entspinnt sich ein Disput zwischen
Götzl, dem in diesem Gesuch Befangenheit unterstellt wird, und RA Stahl. Der
Vorsitzende Richter Götzl verfügt eine Fortsetzung der Hauptverhandlung und stellt
die Entscheidung über den Befangenheitsantrag von Zschäpe erst einmal zurück.
Der Beginn der Hauptverhandlung sei eine dringliche, keinen Aufschub duldende
Handlung, insbesondere weil es um eine Haftsache gehe."
Autor
Bericht vom ersten Prozesstag gegen die mutmaßliche Terroristin Beate Zschäpe
und vier Komplizen am 6. Mai 2013. Geschrieben hat die Sätze Tobias Bezler,
nachlesbar sind sie im Internet. Immer noch sitzt er in dem Gerichtssaal und schreibt
nieder, was dort passiert und gesagt wird, Tag für Tag. - Auch am 9. Dezember 2015
war er da, einer der besonderen Tage im Prozessverlauf.
O-Ton Tobias Bezler
"Ja, seit längerer Zeit war ja eine Einlassung von Beate Zschäpe angekündigt, also
keine Aussage, sondern dass ihr Verteidiger, ihr neuer Pflichtverteidiger Mathias
Grasel, eine Einlassung verliest und sind dann die wohl 53 gedruckten Seiten von
ihm vorgetragen worden." + Atmo
Zum ersten Mal hat die Hauptangeklagte ihr Schweigen gebrochen und sich zu den
Anklagevorwürfen geäußert.
O-Ton Bezler
Es wird ein Wissen weitgehend abgestritten. Es wird auf andere, in dem Fall auf Tote
geschoben, aber die eigene Einlassung zur eigenen Person ist völlig lebensfremd,
unwirklich. Die würde ich gar nicht ernst nehmen. Das war, ja, bitter für die Opfer des
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NSU und ihre Angehörigen, von denen ja auch einige hier am Prozess teilgenommen
haben. Bitter, da kam nichts an Aufklärung. Aber das war zu erwarten, also das war
zu befürchten und zu erwarten."
Autor
Das Interesse von Medien und Öffentlichkeit ist an diesem Tag fast so groß, wie zu
Prozessbeginn. Der Platz vor dem Justizzentrum wird zum Forum vieler Gespräche
und Interviews. Ein besonderer Tag auch für Bezler - und doch nur einer von bis
dahin 250. Alle hat er schriftlich festgehalten, zusammen mit zwei Mitstreitern, die ihn
unterstützen.
O-Ton Bezler
"Bei uns gibt es eben auch den prozessualen Alltag, muss man schon sagen, mit
allen Formalia, mit allen Sachverständigen-Aussagen, mit allen Asservaten, mit dem
Verlesen von Aktennummern. Das findet sich ja in unseren Protokollen genauso."
Autor
Tobias Bezler ist kein normaler Zuschauer, auch nicht einfach ein Journalist - er ist
ein Chronist dieses Prozesses. Er gehört zur Initiative "NSU-Watch", einem Netzwerk
von Einzelpersonen und Gruppen, die sich gegen rechtsextremistische Aktivitäten
engagieren. Als "unabhängige Beobachtungsstelle" gegründet nach der Aufdeckung
des Terrortrios Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe im November 2011. Wie viele im Land
war auch Bezler schockiert. Er macht seine "antifaschistische Arbeit", wie er sagt,
schon einige Jahre, aber von einer Gruppierung namens "Nationalsozialistischer
Untergrund" hatte auch er noch nie gehört.
Den Prozess wollten Tobias Bezler und Kollegen nutzen, um etwas über den "NSU"
zu erfahren - nun dokumentieren sie ihn.
Auch nach drei Jahren sitzen immer noch mehrere Journalisten in diesem Prozess.
Doch während sie für ihre Berichte bestimmte Zeugenaussagen auswählen und das
Neue und Spektakuläre präsentieren, erstellen Bezler und Kollegen nahezu
vollständige Wort- und Verlaufsprotokolle, selbst wenn wenig geschieht und
Sitzungen keine Schlagzeilen hergeben.
O-Ton Bezler
"Ansonsten erheben wir nicht den Anspruch, dass wir irgendwie die beste
Protokollierung des Prozesses machen würden, sondern wir haben uns halt den
Anspruch gesetzt, tatsächlich eine vollständige Protokollierung zu machen, für die
Leute, die das interessiert. Einfach was für die Nachwelt im gesamten zu erhalten,
nicht nur Ausschnitte aus dem Prozess."
Autor
Auf der Besuchertribüne hat Tobias Bezler einen festen Sitzplatz, immer derselbe,
ganz oben, letzte Reihe. Kurz vor zehn Uhr beginnen die Verhandlungstage in der
Regel. Der Staatsschutzsenat unter Vorsitz von Richter Manfred Götzl betritt Saal A
101 des Oberlandesgerichtes München und stellt zunächst die Präsenz der
Prozessbeteiligten fest. Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe hat mittlerweile fünf
Verteidiger, von denen vier Pflichtverteidiger sind. Die Anklagebehörde
Bundesanwaltschaft ist nur noch mit zwei Personen vertreten, anfänglich waren es
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vier. Am längsten dauert die Aufzählung der Opferanwälte - 50 bis 60 an jedem
Sitzungstag.
Den Laptop auf den Knien schreibt Bezler mit, Wort für Wort, so gut und so schnell er
kann. Nicht immer ist alles, was gesagt wird, verständlich. Ab und zu auch ein Blick
nach unten, um Reaktionen einzufangen, von den Richtern, Zeugen und
Angeklagten. Eine hochkonzentrierte Arbeit:
O-Ton Bezler
"...dass Zeuginnen und Zeugen bspw. uns ja den Rücken zukehren, dass wir die
Gesichter und Münder nicht sehen, das einfach verstehen. Auch, wenn bspw.
Fachbegriffe oder medizinische Terminologie verwendet wird. Und das ist aber nur
der eine, gewissermaßen technische Bereich. Der andere Bereich ist, dass viele
Menschen im Rahmen ihrer Antworten und Aussagen einfach nicht druckreif reden.
Dass sie bspw. Sätze woanders beginnen lassen, als sie dann sinngemäß enden. So
dass nicht so ganz deutlich wird, wie drastisch, wie sicher, wie genau sie etwas
meinen."
Atmo (in den Büroräumen)
Autor
Das Ende eines Sitzungstages - das kann schon mal im Laufe des Vormittags
kommen oder auch erst am späten Abend. Tobias Bezlers Weg führt dann zu
Büroräumen in München, die sich die Initiative mit anderen politischen Gruppen teilt.
Dort werden die Mitschriebe redaktionell bearbeitet. Auch das nimmt viel Zeit in
Anspruch. Zirka 40 Seiten kommen an jedem Verhandlungstag zusammen. Davon
werden etwa 12 redigierte Seiten ins Netz gestellt, zugänglich für jedermann,
zusätzlich eine türkische Übersetzung.
Lange 300 Tage dauert der Prozess schon, mehrere hundert Zeugen wurden gehört.
Macht etwa 12 000 Seiten, die Bezler und seine Kollegen bisher mitgeschrieben
haben. Fast 4000 Seiten Protokolle wurden ins Internet gestellt. Zur Zeit sind noch
bis zum Januar 2017 Sitzungstage terminiert. Der NSU-Mammut-Prozess wird
Justizgeschichte schreiben. Aber, wenn es nach der Justiz ginge, ohne
Hinterlassenschaften, undokumentiert - denn es gibt in deutschen Strafverfahren kein
offizielles, objektives Wortprotokoll der gesamten Beweisaufnahme. – Warum? Frage
an die Sprecherin des Oberlandesgerichtes München, Andrea Titz:
Andrea Titz
"Der Sinn eines Protokolls ist nicht, dass man irgendwelche historischen
Geschehnisse niederlegt. Sondern: Das Protokoll soll ausschließlich dazu dienen,
dass zu einem späteren Zeitpunkt in einer Rechtsmittelinstanz geklärt werden kann:
Was ist passiert? Gegen Urteile des Landgerichts und Urteile des
Oberlandesgerichts ist nur noch die Revision zum Bundesgerichtshof statthaft. In
einer Revision wird aber nicht nachgeprüft, was hat wer gesagt? Also was haben die
Beweismittel ergeben? Sondern es wird nur überprüft, ob Verfahrensfehler passiert
sind.
4
Autor
Wenn es für ein Urteil kein Wortprotokoll braucht, dann auch nicht für die
Überprüfung. Denn überprüft werden nicht Inhalte, sondern lediglich mögliche
Verfahrensfehler. Im tatsächlichen Protokoll werden deshalb nur Rahmendaten
festgehalten: wie Beginn und Ende eines Sitzungstages, Anträge oder Namen der
Zeugen.
O-Ton Titz
"Es wird auch protokolliert, dass ein Zeuge vernommen wurde und von wann bis
wann diese Vernehmung gedauert hat und dass sich der Zeuge geäußert hat. Aber
nicht inhaltlich, wie er sich geäußert hat."
Autor
Was ein Zeuge aussagt - das notieren die Richter für sich selber. Sie machen ihre
eigenen Mitschriften, anhand dieser sie dann auch ihr Urteil fällen.
O-Ton Titz
"Die Richter des Senats schreiben selbstverständlich mit, was geschieht und auch
was gesagt wird von den Zeugen. Und auf der Grundlage dieses eigenen Protokolls,
das die Richter letztlich für sich führen, wird dann die Entscheidung getroffen."
Autor
Im Gegensatz zum Rahmenprotokoll wird dieses Richterprotokoll nicht Bestandteil
der Prozessakten. Es wird sozusagen als Privatsache der Richter angesehen und ist
nach Prozessende für niemanden zugänglich.
Manche der Protokolle, die Tobias Bezler veröffentlicht, fallen aus der Norm. Zum
Beispiel, als Tino Brandt vernommen wurde. Er kannte das NSU-Trio lange und gut,
war Neonazi und zugleich Informant des Verfassungsschutzes.
O-Ton Bezler
"Es gibt so ein Beispiel: Aussage von Tino Brandt, die wir quasi auch mal im Original
veröffentlicht haben, dass zu sehen ist, wie lang eigentlich eine Originalaussage
dauert, also so völlig ungekürzt wiedergegeben haben."
Zitat 2/NSU-Watch-Protokoll
"Protokoll von NSU-Watch: 15. Juli 2014, 127. Verhandlungstag. Heute musste Tino
Brandt, Gründungsmitglied des Thüringer Heimatschutzes und langjähriger V-Mann
aussagen. Es ging um die Thüringer Neonazi-Anfangszeit. ((Das Landesamt hatte
über Brandt genaue Informationen über die Untergetauchten, auch Geld floss über
Brandt an sie.)) Die Besucher- und Presseempore ist heute außergewöhnlich voll.
Das Gericht betritt um 9.45 Uhr den Saal. Dann beginnt die Vernehmung des Zeugen
Tino Brandt, der in Handschellen von einem Polizisten in den Saal geführt wird. Götzl
belehrt den Zeugen. Auf Frage bestätigt Brandt, dass er derzeit in der JVA Gera in
Haft ist. "
Autor
Die Nicht-Protokollierung von Strafverfahren - an dieser Praxis der Justiz gibt es
unter Strafrechtlern wie Strafverteidigern Kritik:
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O-Ton Bernd-Max Behnke
"Ja, ein wörtliches Protokoll wird nicht geführt. Das ist ein großer Nachteil für die
Rechtsfindung."
- sagt Bernd-Max Behnke, Professor für Strafrecht und Anwalt.
O-Ton Behnke
"Weil natürlich ganz verschiedene Prozessbeteiligte die Aussagen von Zeugen und
Sachverständigen regelmäßig anders verstehen können. Und dann finden wir auch
häufig in Urteilen Hinweise darauf, was Zeugen gesagt haben sollen, ohne dass die
anderen Prozessbeteiligten das ebenfalls so verstanden haben."
Autor
Im NSU-Prozess vertritt Behnke Angehörige des Mordopfers Mehmet Turgut, der am
25. Februar 2004 in Rostock erschossen wurde. - Wenn Zeugenaussagen
mitprotokolliert würden, meint Behnke, würden viele Urteile den Revisionsanträgen
nicht standhalten. Grundfragen der Justiz tun sich auf.
O-Ton Bernd-Max Behnke
"Ich gehe davon aus, dass die Gerichte nicht daran interessiert sind, Wortprotokolle
zu haben, denn die Angriffspunkte in der Revision oder in der Berufung wären dann
sicher erfolgreicher. Ein Wortprotokoll würde Vieles widerlegen können, was Richter
verstanden und im Urteil wiedergegeben haben. Und das wollen Sie natürlich nicht.
Denn der Richter will das, was er wahrnimmt, egal, ob es richtig oder falsch ist, ob
die Auslegung richtig oder falsch ist, letztendlich für die Urteilsfindung verwenden."
O-Ton Dagmar Schön
"Also wir sind auch mit unserem ganzen Strafprozess noch nicht wirklich im
Rechtsstaat des Grundgesetzes angekommen."
Dagmar Schön, Rechtsanwältin für Zivilfragen und Autorin, wird noch
grundsätzlicher.
O-Ton Schön
"Sondern sind noch weitgehend im Obrigkeitsstaat des Kaiserreichs, ja, wo eben
doch nicht alles so transparent sein soll und die Obrigkeit doch das Sagen haben
soll. (Und wir zeigen euch, wo der Bartel den Most holt, ja. Das kann man eben
überhaupt in der Strafjustiz feststellen.")
Autor
Es geht auch um die Stellung der Justiz innerhalb der staatlichen Ordnung. Schöns
Kollege Behnke sieht in der Protokollfrage eine Machtfrage. Durch die Intransparenz
schützt sich die Justiz selbst.
O-Ton Behnke
"Es ist schon ein Machtinstrument, kein Wortprotokoll zu haben, denn dadurch ist der
Richter, oder sind die Gerichte in einem wesentlichen Vorteil gegenüber den anderen
Prozessbeteiligten. Und wenn wir ein Wortprotokoll hätten, würden sich wesentlich
mehr Revisionsmöglichkeiten ergeben. Und das ist natürlich der Justiz nicht gerade
besonders angenehm."
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Autor
Während Bernd-Max Behnke im gesicherten Saal des Staatsschutzsenates sitzt, wo
über die fünf NSU-Angeklagten verhandelt wird, besucht Dagmar Schön nur wenige
Meter entfernt im Nachbarflügel des Justizpalastes einen anderen prominenten
Prozess. Den gegen Manager der Deutschen Bank. Inzwischen wurde er mit
Freisprüchen beendet. Die Rechtsanwältin beobachtete das Verfahren, weil sie für
ein Buch über die Justiz und die Defizite des Rechtsstaates recherchiert. Dabei hat
sie bemerkt, dass, wie im Zschäpe-Prozess, auch da in Eigenregie Protokolle
gefertigt wurden, auf Seiten der Angeklagten.
O-Ton Schön
"Hier z.B. jetzt beim Prozess der Deutschen Bank, den ich mir ansehe, da lassen
diese Vorstandsmitglieder natürlich von Stenografen das alles mitstenografieren. Das
hat zwar rechtlich jetzt nicht direkt für die Revision ne Folge, weil das natürlich keine
offiziellen Protokolle sind, aber die finanziell potenten Parteien in Prozessen, auch in
Zivilprozessen, lassen die Prozesse mitstenografieren."
O-Ton Schön
"So wie's praktiziert wird, nämlich als Machtauseinandersetzung, muss es immer
zweifellos in der Dunkelheit landen, weil jeder nur immer versucht, seine Position zu
retten. Das führt dann dazu, was ja viel auch von der Bevölkerung nicht verstanden
und kritisiert wird, dass fast heute alle Angeklagten nix mehr sagen, gar nichts, ja,
empfohlen von der Verteidigung. Das war ja auch ein Vorwurf gegen Frau Zschäpe
immer."
Zitat 3/NSU-Watch-Protokoll
"Protokoll NSU-Watch, Vernehmung Tino Brandt: Anfangs seien sie 20 gewesen,
später bis zu 70, 80, so Brandt auf Frage. Dann fragt Götzl, wie es zur Bezeichnung
Thüringer Heimatschutz gekommen sei. Brandt: Wir waren Thüringer, also
Sächsischer Heimatschutz hätte nicht gepasst. Götzl: Diese Späße können Sie sich
sparen. Götzl fragt nach den politischen Ansichten von Mundlos. Brandt sagt:
Mundlos habe sich für die damaligen Ideale der NSDAP, denke er, eingesetzt und
habe die in Ordnung gefunden. Götzl fragt zu Zschäpe. Brandt sagt, wenn eine
Rechtsschulung gewesen sei oder eine Schulung zu Germanentum sie es durchaus
so gewesen, dass da Wissen ordentlich vorhanden war. Zschäpe sei keine dumme
Hausfrau. Götzl fragt, wie Brandts Verhältnis zu Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe war.
Brandt: Ich denke, aus heutiger Sicht waren wir durchaus befreundet."
Autor
Je länger der Prozess geht, desto einzigartiger wird die Arbeit von Tobias Bezler und
Mitschreibern. Auch sie entwickeln sich. Dadurch, dass sie das Ereignis in München,
das so oft in den Nachrichten auftaucht, festhalten und dadurch, dass ihre Protokolle
gelesen und genutzt werden, wird ihnen ihre Rolle bewusst.
O-Ton Bezler
"Es ist ja meiner Meinung nach, schon ein wichtiger Prozess für die deutsche
Nachkriegsgeschichte. Also A) wegen dem mordenden NSU-Netzwerk, wegen der
nicht erkannten Mordserie, wegen den gesellschaftlich offenen Fragen, sei es
Rassismus oder Verstrickungen der Verfassungsschutzbehörden, wegen der
politischen Diskussion auch, die daraus erwächst oder erwachsen sollte - und da
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schreibt niemand mit. Warum hat eigentlich nicht eine juristische Fakultät bspw.,
Geschichtswissenschaftler, Geschichtswissenschaftlerinnen oder ein
zeitgeschichtliches Institut selber, also eine Dokumentation dieses wichtigen langen
Prozesses eigentlich in Angriff genommen?"
O-Ton Johannes Tuchel
"Ich finde es sehr interessant. Es ist der größte Prozess, der gegen eine
rechtsextremistische Bande seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland geführt
wird."
Autor
Der Historiker und NS-Forscher Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte deutscher
Widerstand in Berlin. Was in München geschieht, verfolgt er aus der Ferne anhand
der Tagespresse. Doch nicht nur Geschichte wird mit diesem Verfahren geschrieben
- als Historiker weiß er, dass Strafprozesse auch gesellschaftliche Prozesse
auslösen können. Und umgekehrt.
O-Ton Tuchel
"Strafverfahren im allgemeinen sind ja etwas, dass eine Gesellschaft ihr Bedürfnis
nach Gerechtigkeit ausdrückt. In Deutschland ist es ja so gewesen, dass wir im 20.
Jahrhundert zwei Diktaturen gehabt haben, die in der nachdiktatorischen Zeit jeweils
mit den Mitteln des Strafverfahrens bearbeitet werden mussten. Und ich denke, dass
auch gerade die Strafverfahren gegen nationalsozialistische Straftäter dazu
beigetragen haben, überhaupt erst einmal ein Bewusstsein zu schaffen dafür, dass
es diese Straftaten gegeben hat."
Autor
Prozesse bilden im besten Falle Geschichte ab. Und der Gerichtssaal wird zum
Schauplatz, wo man Dinge erfährt, nur dort und nur in diesem Moment vorausgesetzt, man kann dabei sein. Dokumentationen für die Nachwelt bilden die
Ausnahme - Johannes Tuchel:
O-Ton Tuchel
"Und Sie haben beim Auschwitz-Prozess auch noch das fast Einmalige in der
deutschen Justizgeschichte, dass dort ja auch noch ein Tonbandmitschnitt der
Hauptverhandlung gefertigt wurde, der erst vor einigen Jahren jetzt ja veröffentlicht
worden ist. Insofern standen damals über dieses Verfahren sehr sehr viele
Unterlagen zur Verfügung. Und dieses Verfahren ist auch sehr intensiv beobachtet
worden."
Autor
Beim Oberlandesgericht in München bekommt man die historische Dimension des
NSU-Verfahrens regelmäßig vor Augen geführt. An Tagen, wie dem als die Aussage
der Hauptangeklagten Beate Zschäpe erwartet wurde, stellten sich die ersten
Interessierten um Mitternacht vor den Eingang. Wer nach 5 Uhr morgens kam,
bekam keinen Platz mehr im Saal. - Gerichtssprecherin Andrea Titz:
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O-Ton Titz
"Auf rechtspolitischer Ebene gibt es bekanntermaßen etliche Diskussionen darüber,
wie man das ändern könnte./ Die mögliche Übertragung, die aber ja noch nichts zur
Dokumentierung beitragen würde. Es wird darüber nachgedacht oder diskutiert, auf
rechtspolitischer Ebene, ob man vielleicht historische Verfahren, also Verfahren mit
historischer Bedeutung in irgendeiner Weise auch audio-visuell dokumentieren
könnte, um dann auf diese Weise eben für die Nachwelt die Dokumente zu haben.
Tatsächlich hat der NSU-Prozess zu einem Impuls in der Politik geführt. Im
Bundesjustizministerium wurde ein Gesetz entworfen, das Übertragungen von
Urteilsverkündungen der obersten Bundesgerichte in Bild und Ton möglich machen
soll. Außerdem die Live-Übertragung laufender Prozesse in Medienräume innerhalb
des Gerichtes.
Zitat 4/NSU-Watch-Protokoll
"Protokoll NSU-Watch, Vernehmung Tino Brandt: Götzl bittet Brandt, seine Tätigkeit
für das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz zu schildern. Brandt sagt: Die
hätten drei, vier Fragen gestellt und es habe 100 oder 200 Mark gegeben. Und das
habe sich dann gut entwickelt, denn mit dem Geld habe man gut arbeiten können.
Das Landesamt habe zugesichert, dass es um bestimmte Themen nicht geht, z.B.
um Straftaten. ((Dass sie nur wissen wollen, wieviele Leute marschieren auf, wie sind
Verbindungen von gewissen Leuten.)) Götzl fragt, wie viel er insgesamt bekommen
hat. Brandt antwortet, er kenne da nur die Zahl aus der Presse. Götzl: „Warum soll
denn die Presse da besser Bescheid wissen als Sie?“ Brandt: „Das Landesamt weiß
ja, wie viel es ausgegeben hat.“
O-Ton Bezler
"Ein Protokoll zu veröffentlichen ist in der Tat auch rechtlich schwierig. Denn wir
protokollieren ja, was im Prozess gesagt wird. Ob die Sachen richtig sind, die im
Prozess gesagt werden, bspw. Beschuldigungen anderer, das haben ja nicht wir zu
verantworten."
Atmo/Musik (Konzert mit der Gruppe "Lena Stöhrfaktor")
Autor
Berlin Kreuzberg, ein Konzert mit einer Rockband. Die Einnahmen fließen an die
Initiative NSU-Watch.
O-Ton Eike Sanders
"Wir müssen dann alle paar Monate mal wieder eine Spendenkampagne machen,
wenn uns klar wird, ok, uns ist bald das Geld alle."
Eike Sanders koordiniert die Arbeit und ist für die Finanzen zuständig.
O-Ton Eike Sanders 2
"Es war von Anfang klar: Das wird ein riesiger Prozess. Das wird eben nicht in rein
ehrenamtlicher Arbeit zu leisten sein. D.h., wir haben von Anfang an Spenden
eingeworben."
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Autor
Einen Großteil ihrer Beobachtungsarbeit leisten die Aktiven von NSU-Watch
unentgeltlich, wie bei politischen Initiativen oft üblich. Bestimmte Tätigkeiten müssen
aber finanziert werden: Reisen, Übersetzungen und zumindest teilweise auch die
Anwesenheit im Prozess. Das Geld kommt durch Spenden zusammen, wie aus dem
Solidaritätskonzert. Vor allem aber durch zahlreiche Einzelspender, über 250 an der
Zahl.
O-Ton Sanders
"Wer hat was gespendet? Ein Großteil der Spenden sind von Privatpersonen. Also
das ist wirklich, ja, der größte Teil. Wir haben auch von Anfang an gesagt, dass wir
uns nicht von parteinahen Stiftungen oder von Parteien finanzieren lassen wollen.
Wir haben aber kleinere Spenden von den ein oder andere Stiftungen gekriegt. Der
Großteil sind aber wirklich Privatspenden. Das heißt, wir haben Leute, die ein
wissenschaftliches Interesse daran haben, die uns kennen. Die sagen: Sie brauchen
die Protokolle, die unsere Arbeit gut finden, teilweise dann auch monatliche
Förderbeiträge bezahlen.“
Autor
Wer das ist, bleibt Betriebsgeheimnis. - Über 200 000 Euro haben sie bisher
eingesammelt und ausgegeben. Ein paar Reserven gibt es noch. Bis 2017 reichen
sie aber nicht.
O-Ton Sanders
„Also wir sind darauf angewiesen, dass die Leute uns weiter unterstützen.“
Über drei Jahre Verhandlungsdauer - das zehrt an den Ressourcen, nicht nur
finanziell. Aber sie wollen durchhalten bis zum Ende.
O-Ton Sanders
„Wir sehen uns da als, ja, das klingt so ein bisschen abschätzig, aber ja, schon als
Servicestelle, die die Protokolle oder diese Grundlagenarbeit bereitstellt, auf die ganz
viel andere Arbeit fußen kann und muss.“
Zitat 5/NSU-Watch
"Protokoll NSU-Watch, Vernehmung Tino Brandt, zweiter Tag, 16. Juli 2014: Es folgt
die Mittagspause, die zweimal verlängert wird. Die Gründe bleiben unklar. Erst um
14.22 Uhr geht es weiter. Götzl sagt, er gebe bekannt, dass Polizeiobermeister W.
ihn in der Mittagspause darüber informiert habe, dass Frau Zschäpe ihn gebeten
habe, zu sagen, dass sie kein Vertrauen mehr in ihre Verteidiger habe. Götzl fragt
Zschäpe, ob das zutrifft. Zschäpe nickt. Dann sagt Götzl, dass heute nicht mehr
fortgesetzt wird und der morgige Termin entfällt. Der Zeuge Brandt wird in den Saal
geholt, um ihm mitzuteilen, dass er neu geladen wird. Der Verhandlungstag endet um
14.27 Uhr."
O-Ton Bezler
"Also es wird für eine spätere wissenschaftliche Auswertung des NSU-Prozesses
neben den Prozessakten, falls sie irgendwie mal öffentlich werden oder benutzt
werden können, nur die Protokolle geben, die wir bisher online gestellt haben."
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Autor
Die Protokolle haben sich im Laufe der Jahre verändert. Sie sind sachlicher
geworden, distanzierter, professioneller. Die Protokollanten um Tobias Bezler haben
ihre Verantwortung erkannt. Sie wissen, sie schreiben Justizgeschichte.
O-Ton Bezler
"Ich selber hab gerade im NSU-Prozess erlebt, wie wichtig so ne Dokumentation sein
kann. Das war mir im Vorhinein vielleicht gar nicht so bewusst."
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