Happy mit der Hüfte

LEBENSZEIT GEWINNEN
Senioren-Achter (in Hamburg): Rüstige Grauköpfe, die sich in ihrer runzligen Haut erstaunlich wohl fühlen
SENIOREN
Happy mit der Hüfte
Gesundheit und langes Leben: Der klassische Geburtstagsglückwunsch geht immer häufiger in
Erfüllung: Die Gruppe der über 80-Jährigen wächst schneller als jede andere.
Und die Alten fühlen sich fit – die meisten leben trotz chronischer Gebrechen beschwerdefrei.
A
ls Preußens König Friedrich II. aus
dem Siebenjährigen Krieg zurückkehrte, war er 51 und für seine Untertanen fortan der Alte Fritz. Alt, grau
und zerknittert sah er schon damals aus,
ein fast zahnloser Feldherr, ein kränkelnder Griesgram, dem Darmkoliken und
Gichtanfälle von Jahr zu Jahr schlimmer
zusetzten.
Noch 23 Jahre lebte und regierte der
verrunzelte Dauerpatient, der seinen
Krückstock nie aus der Hand legte. Als die
Wassersucht seine Beine aufschwemmte,
schlurfte er in aufgeschlitzten Stiefelschäf174
ten durch sein Schloss. Üppige Mahlzeiten, die er gierig verschlang, waren sein
Altersvergnügen, doch sie bekamen ihm
schlecht. Friedrich verschied, mit 74 Jahren,
nach einem letalen Elf-Gänge-Menü.
„Wer früh stirbt, der stirbt wol“, hatte
einst der Arzt und Barockdichter Paul Fleming notiert; der pessimistische Poet starb
mit 30. Das entsprach der durchschnittlichen Lebenserwartung im 17. und 18. Jahrhundert. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts
erreichten nur 7 von 100 Menschen das 60.
Lebensjahr. Die es schafften, hatten meist
nicht viel Spaß daran. Mehr als den Rat, die
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Altersgebrechen in Demut und stiller Würde zu ertragen, hatten damals auch die
Ärzte ihrer ergrauten Klientel nicht zu
bieten.
Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als
die Lebenserwartung und damit die Zahl
der Alten rapide zunahm, erbarmte sich
die Medizin der Altersschwachen. Der Altersverfall, bis dahin als Schicksal alles Lebendigen beklagt, wurde erstmals als
Krankheitsprozess eingestuft, den es wissenschaftlich zu erforschen und, wo immer
möglich, nach den Regeln der ärztlichen
Kunst zu bekämpfen galt.
in die „so genannte herrliche Jugend
zurück“.
Die Rechnung „alt gleich krank und einsam“ gehe längst nicht mehr auf, resümieren die MacArthur-Forscher: Aufrecht, aktiv, bei klarem Verstand und ohne viel
fremde Hilfe bewältigt die große Mehrheit
der Alten ihren Alltag. Nur gut fünf Prozent aller Alten sind auf ständige Pflege in
Heimen und Hospitälern angewiesen. Die
meisten wohnen in den eigenen vier Wänden, bis sie im Rollstuhl oder im Sarg hinausgeschafft werden.
Zu so viel Standfestigkeit hat ihnen nicht
zuletzt die medizinische Wissenschaft verholfen. Was sie über den natürlichen Altersabbau in Erfahrung brachte, klingt
zunächst nicht sonderlich ermutigend:
Schon mit 20 beginnt der Mensch zu altern.
Haut und Haare werden dünner, Nase und
Ohrmuscheln breiter. Muskeln werden zunehmend durch Fettzellen ersetzt; noch
vor Erreichen der Altersgrenze hat sich der
Fettgewebeanteil des Körpers nahezu verdoppelt, bei Frauen steigt er im Durchschnitt von 25 auf 45 Prozent.
Zugleich sinkt der Kalkgehalt der Knochen, sie werden dicker, aber nicht stabiler.
Auch die Lungenkapazität schwindet; Mittfünfziger verfügen nur noch über die Hälfte der Puste, die sie mit 30 hatten. Zwischen 20 und 50 baut schließlich auch das
Immunsystem mächtig ab; die Abwehr-
HEIMBACH / AUTO BILD
F. BLICKLE / BILDERBERG
Ein Mediziner namens
Ignatz Nascher prägte 1914
den Terminus Geriatrie und
machte ihn zum Titel eines
Handbuchs, in dem die Altersleiden und ihre Behandlung systematisch zusammengefasst wurden. Seither
sind Geriatrie und Gerontologie – Altersheilkunde und
die Wissenschaft vom Altern
– zu einem blühenden Medizinzweig geworden, der in
Theorie und Praxis ungeahnte Erfolge verbuchen kann.
In den Industrieländern
kann nach den neuesten Statistiken jeder, der jetzt geboren wird, damit rechnen, mindestens 80 Jahre alt zu werden. Die Zahl der über 100Jährigen wird sich in
den nächsten 50 Jahren in
Deutschland mehr als verzwanzigfachen. Mehr noch,
die Menschen in den Wohlstandsregionen werden nicht
nur immer älter, sie bleiben
zugleich immer länger von
quälenden Verfallserscheinungen verschont.
Zwar graust es jüngere Semester unverändert vor dem
Abstieg in die Seniorenklasse
– nach ihrer Vorstellung eine
Art Vorhölle, in der Schreckgespenster wie Krebs und Alzheimer, Hirnschlag und Impotenz auf sie warten. Doch in
diesem vermeintlichen Tal der
Tränen wimmelt es längst von
rüstigen Grauköpfen, die sich
trotz mancherlei Gebrechen in ihrer runzligen Haut erstaunlich wohl fühlen.
So brachte eine Untersuchung der amerikanischen MacArthur Foundation ans
Licht, dass die Alten von heute keineswegs
wie ein vom Leben geschlagenes Heer in
die Nacht humpeln. Fast 90 Prozent der
von den US-Forschern befragten 65- bis
74-Jährigen fühlten sich fit wie in ihren
vierzigern und gaben an, von gravierenden Gesundheitsschäden frei zu sein.
Selbst Greise, älter als 85, waren noch verblüffend oft auf dem Posten; rund 40 Prozent von ihnen hielten sich körperlich und
geistig für „voll funktionstüchtig“.
Zwar entdeckten die Wissenschaftler
vor allem bei den über 75-Jährigen eine
Fülle von Krankheitssymptomen. Jeder
zweite hatte Arthritis, jeder dritte erhöhten
Blutdruck, Herz- oder Hörschäden; elf
Prozent der Probanden in dieser Altersgruppe litten an Diabetes. Doch nur in
Ausnahmefällen trübten die festgestellten
Gesundheitsmängel die Lebensqualität
der Alten; kaum einer der Befragten,
konstatieren die Forscher, sehne sich
Moto-Crosser
Fit wie mit vierzig
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kräfte verlieren etwa 50 Prozent ihrer
Kampfstärke. Das Risiko, an einer Infektion zu sterben, liegt bei einem 70-Jährigen
35-mal höher als bei einem Schulkind.
Die gute Nachricht: Gegen fast alle Altersschikanen, mit denen die Natur den
Menschen peinigt, hat die Medizin in den
letzten Jahrzehnten zumindest aufschiebende Strategien entwickelt. Die Alten
profitierten am nachhaltigsten vom Medizinfortschritt – einer Fülle von Innovationen auf unterschiedlichen Fachgebieten:
π Künstliche Zähne, die in die Kieferknochen geschraubt werden, ersetzen das
herausnehmbare Klappergebiss, mit dem
gequälte Großeltern einst ihre Enkel erschreckten; mit dem neuen, kräftigeren
Biss des Schraubzahnträgers bessert sich
nicht selten auch sein Ernährungszustand.
π Zur Routine geworden ist die Implantation von Hüft- oder Kniegelenken aus Titan; ohne Kunstgelenk, mit dem sie happy herumlaufen, säßen viele der Empfänger schmerzgeplagt mit Arthritis im
Rollstuhl, andere, operiert nach einem
Oberschenkelhalsbruch, wären an den
Folgen der Fraktur gestorben.
π Dank Endoskopie und Mikrochirurgie
können inzwischen auch Uralte, die einen konventionellen Eingriff kaum überleben würden, etwa an der Gallenblase
operiert werden; sind ihre Herzkranzgefäße blockiert, helfen Ballonkatheter
und Stents (winzige Metallreusen), die
verstopften Arterien auf schonende Weise wieder zu öffnen.
π Linsentrübungen (grauer Star) lassen
sich mit Hilfe ausgefeilter Ultraschallund Lasertechniken auch noch bei hochbetagten Patienten beseitigen; der grüne
Star (Glaukom), ein häufiges Altersübel,
das früher oft zur Erblindung führte,
kann inzwischen mit Medikamenten
wirksam behandelt werden.
Auch bei anderen chronischen Leiden,
etwa der altersbedingten Zuckerkrankheit
(Diabetes II), gelingt es den Medizinern
immer besser, das möglicherweise böse
Ende weit hinauszuzögern. Bei etwa jedem dritten 70-Jährigen ist der Insulinstoffwechsel gestört; doch schwere Diabetes-Spätfolgen – darunter Nieren- und Nervenschäden, Herzinfarkte oder Gefäßverschlüsse in den Beinen, die Amputationen
nach sich ziehen können – treten bei weitem nicht mehr so häufig auf wie früher.
Nicht einmal die Schreckensdiagnose
Krebs gleicht mittlerweile einem Todesurteil, jedenfalls nicht einem, das unweigerlich
und schon in nächster Zukunft vollstreckt
wird. Bei nahezu allen Tumorerkrankungen sind die Überlebensraten innerhalb der
letzten Jahrzehnte deutlich gestiegen – zu
diesem Ergebnis kommt eine umfangreiche
Studie, die das Berliner Robert-Koch-Institut vor wenigen Wochen veröffentlichte.
Nach der Studie überleben rund 70 Prozent aller Patienten mit Nieren-, Blasen175
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Tumor in Schach halten
können.
Trotz
chronischer
Krankheit aktiv und dynamisch bleiben bis ins
hohe Alter – nach dieser
Maxime leben inzwischen viele Alte. Die
Frauen und Männer mit
den Kunstgelenken und
Herzschrittmachern sind
unermüdlich auf Reisen.
Stetig wächst die Zahl
Amerikas regierender Bruder Leichtfuß
Bill Clinton, 53, der alle Tage ums Weiße
Haus joggt, zeigt der Nation, wie man konditionsstark auf die 60 zuläuft. Clintons Generation der „Babyboomer“, der besonders
kopfstarken Nachkriegsjahrgänge, meint die
US-Autorin Carol Orlock, werde die Vorstellungen vom Alter bald weit gründlicher
revolutionieren als jede frühere.
Den Traum von immerwährender Jugend, vielleicht sogar vom ewigen Leben,
lässt sich die selbstverliebte ClintonGeneration gern einiges kosten. Vor acht
Bis zum Tage seines Abgangs von
der Macht hielten Frankreichs
Mediziner den Krebs des
Staatspräsidenten Mitterrand in Schach.
B. BEHNKE
der Ruheständler, die jen- Jahren wurde das Budget des amerikaniseits der Pensionsgrenze schen National Institute of Aging um mehr
ein Studium beginnen als ein Drittel aufgestockt. Seither bezieht
und mit 70 einen Doktor- die Forschungseinrichtung, die der Untertitel erwerben. Von Al- suchung des Alterns dient, mehr Staatsterswehmut sind die mittel als jedes andere der insgesamt 24
„jungen Alten“, wie sie US-Gesundheitsinstitute. Die Wissenhäufig genannt werden, schaftler wollen ergründen, wie und warweitgehend frei; seelische um der Organismus altert.
Maximal 120 Jahre kann ein Mensch
Störungen, etwa Depressionen, finden sich bei ih- nach gegenwärtigem Forschungsstand auf
nen, Untersuchungen zu- Erden wandeln. Dem verstorbenen Schriftfolge, nicht häufiger als steller Elias Canetti, der den Tod für eine
bei 30- oder 40-Jährigen. unerträgliche Zumutung hielt, wäre das
Und nie zuvor waren nicht genug gewesen; ein Menschenleben,
Free Climber: Die „Babyboomer“ bleiben jung
Alte so fit: Immer häu- fand er, sollte mindestens 400 Jahre
oder Dickdarmkrebs die ersten fünf figer tauchen 80-Jährige bei Marathonläu- währen. Wie eine solche Verweildauer seeJahre nach der Diagnose; bei den Dick- fen auf; andere pumpen Eisen im Fitness- lisch zu verkraften wäre, ließ Canetti undarmtumoren waren es vor rund 25 Studio oder brettern auf Mountainbikes erörtert.
Sein Schriftstellerkollege Ernst Jünger,
Jahren bestenfalls 45 Prozent. In den Fäl- durch die Berge. Auch bei Greisen, so
len von Hodenkrebs, beim Brustkrebs der zeigen Tests, zahlen sich Sport und gestorben 1998 im Alter von 102 Jahren,
Frauen oder beim malignen Melanom – Bodybuilding aus; selbst über 70-Jährige hätte gern noch die Jahrtausendwende gedem besonders bösartigen schwarzen können mit Hanteln und Liegestützen ihre feiert – als Zeitzeuge dann von drei JahrHautkrebs – leben nach fünf Jahren noch Muskelmasse mehr als verdoppeln – und hunderten. Daraus wurde nichts, kurz vor
90 Prozent der Erkrankten; vielen von ih- dabei die Gesundheit stählen. In den USA, dem Ziel verließen ihn die Kräfte.
Eines Tages stellte der bis dahin unernen gelingt es, den Tod noch weitere fünf, wo regelmäßiges Körpertraining weit verzehn Jahre oder sogar länger hinauszu- breitet ist, sank seit den siebziger Jahren müdlich produzierende Autor seine Arbeit
die Zahl der Todesfälle durch Herzkrank- ein. „Er mochte nicht mehr“, berichtet seischieben.
Früherkennung dank verbesserter Dia- heiten und Schlaganfälle um rund 30 ne Ehefrau. Als seine Schreibkräfte erlahmten, war Jünger 100.
gnosetechniken, zeitigere Behandlung und Prozent.
Klaus Franke
raffiniertere Therapiemethoden haben zu
75
den Fortschritten beigetragen und erreicht,
70
dass die Patienten nicht nur länger überleGewonnene Jahre
65
ben, sondern die gewonnene LebensspanZunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung
60
ne oft auch mit besserer Lebensqualität
des Menschen in Jahren
55
verbringen können.
inkl. Säuglingssterblichkeit
50
Durch zwei Amtsperioden, insgesamt
45
14 Jahre, versah etwa der krebskranke 40
40
1997
A
N
TI
KE
NEU
Z
EI
T
französische Staatspräsident François 35
MÄNNER 35
Deutschland
Mitterrand seinen Dienst im Pariser 30 Grie- Rom
72,9
30
chenElysée-Palast; kurz vor seiner Wahl hatten 25
25
FRAUEN
die Ärzte bei dem damals 64-Jährigen 20 land
20
79,6
ein Prostatakarzinom entdeckt. Erst ganz 15
15
am Ende seiner Amtszeit war dem Staats- 10
10
mann die Krankheit gelegentlich anzu5
5
merken – bis zum Termin seines Abgangs
500 v. Chr. 0
1600
1700
1800
1900
2000
von der Macht hatten die Mediziner den
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