Wolf´s Paws Shadow of the Wolves Verlegt durch Tobias Reuter Jupiterstr. 24, 04205 Leipzig [email protected] Texte & Bildmaterial: ©2013 Copyright by Tobias Reuter 1. Auflage Korrektorat: Anne Kleemann www.wolfspaws.de Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. 1 1. Sleeples „Hallo ist da jemand? ... Hallo?“ Verkrampft schaute sich Lily um. Sie hätte schwören können, dass zwischen den meterhohen Bäumen schemenhafte Gestalten hin und her huschten. Was ist das nur für ein Ort? ... Wie bin ich hierhergekommen? Das helle Mondlicht warf unheimliche Schatten auf den dichten, mit moosbedeckten Waldboden. Lily zuckte zusammen. „Wer ist da ... los zeigen Sie sich ... SOFORT!“ Ihr Herz pochte wie wild. Verdammt! Halt doch bloß die Klappe. Du hast doch keine Ahnung wer oder was dich erwartet ... Ein plötzliches Geräusch, das aus der entgegengesetzten Richtung an ihr Ohr drang, ließ sie herumwirbeln. Sie ballte die Hände zu Fäusten. „KOMMEN SIE SOFORT AUS DEM GEBÜSCH RAUS UND ZEIGEN SIE SICH! ICH WEISS, DASS SIE DA SIND!“ Doch das war ein Fehler. Lily wurde kreidebleich. „Das ist nicht wahr ... “, stammelte sie, „... das ... das kann nicht sein ...“ 2 Sie traute ihren Augen nicht. Das war unmöglich ... Si e stieß einen lauten Schrei aus und dann wurde alles dunkel um sie herum. Schweißgebadet wachte Lily auf und fiel fast aus de m Bett. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe sie realisierte wo sie war. Ihr Kopf hämmerte und ihr Herz überschlug si ch fast. Schwarze Punkte huschten vor ihren Augen umher. Als sich ihr Zustand wieder beruhigt hatte, verließ sie das weiche Bett und trat ans geöffnete Schlafzimmerfenster. Die frische Julisonne tauchte das Zimmer in ein helles, warmes Licht und Gegenstände warfen die verschiedensten Schatten an die Wände. „Schon wieder ... schon wieder dieser Traum“, murmelte sie vor sich hin. Ihr Blick glitt vom Fenster auf den Wecker, der rechts neben einem schwarzen Bett auf einem kleinen braunen Nachttisch stand. Auf der anderen Seite des Raumes breitete sich ein großer, ziemlich mitgenommen aussehender Kleiderschrank aus Massivholz entlang der Wand aus. Daneben stand eine Zimmerpflanze. Diese hatte si e von ihrer Tante, vor einem Jahr zu ihrem vierundzwanzigsten Geburtstag geschenkt bekommen. Die Einrichtung des 3 Zimmers passte absolut nicht zusammen, doch das störte Lily reichlich wenig, da sie aufgrund ihres Berufes sowieso selten zuhause war. Lily verzog das Gesicht als sie die Uhrzeit sah. „15.30 Uhr … schon wieder den halben Tag verschlafen. Was i st nur los mit mir?“ Ihre Gedanken kreisten erneut in ihrem Kopf und brachten sie zum Wanken. Immer wieder huschten Schatten in ihren Gedanken umher. Seit fast zwei Wochen ging das jetzt schon so. Lily versuchte ein Bild aus den Eindrücken zu formen, schaffte es aber nicht. Ob diese Visionen wohl mit ihrer Reise zusammenhingen? Vor ungefähr vier Wochen brach sie von Leipzig – wo sie vor über einem Jahr ihr neues Zuhause gefunden hatte – nach North Carolina auf, um eine Reportage übe r die Cherokee-Indianer zu drehen. Seitdem wurde sie wieder und wieder von merkwürdigen Träumen geplagt. Als sich ihr Blick von der Uhr löste, meldete sich prompt ihr Magen zu Wort und signalisierte, dass sie dringend etwas zu Essen auftreiben musste. Lily schlüpfte in zerrissene Jeans, ein schwarzes, eng anliegendes Spaghetti-Top und marschierte in Richtung Küche. Auf 4 dem Weg dorthin huschte ihr ein Schatten über die Füße und entlockte ihr ein erschrockenes Keuchen. „Zeus“, sagte sie mit aufgebrachter Stimme. „Mach das ja nicht noch einmal. Wegen dir bekomme ich noch einen Herzinfarkt. Und das mit gerade mal knapp fünfundzwanzig.“ Doch Zeus starrte sie nur mit seinen großen grünen Augen an, gab ein genervtes Miauen von sich und stolzierte in die Küche zu seinem Napf. Zeus war Lilys bester Freund seitdem sie ihn vor einem Jahr gefunden und aufgepäppelt hatte. Er hatte braunschwarz getigertes Fell und weiße Pfoten. Auf der Stirn hatte er einen weißen Fleck in Form eines Pfotenabdruckes. Immer noch verärgert und mit leichtem Herzklopfen folgte Lily dem Kater in die Küche und öffnete die Kühlschranktür. Vielleicht sollte ich langsam mal einkaufen gehen, dachte Lily, als sie in die gähnende Leere ihres Kühlschrankes blickte. Seit ihrer Rückkehr vor zwei Tagen war sie noch nicht dazu gekommen ihre Vorräte wieder aufzufüllen. Verärgert schloss sie die Tür und verschwand im Badezimmer, welches auch nicht viel größer als die 5 restlichen Zimmer ihrer Wohnung war. Ihre Kleidung mi t samt der Unterwäsche flog im hohen Bogen in die Waschmaschine, die auch dringend wieder eingeschaltet werden musste. Dazu hatte sie momentan aber keine Lust. Lily stieg unter die Dusche, drehte das Wasser auf und ließ sich mit geschlossenen Augen von dem angenehmen Gefühl der einzelnen Strahlen auf ihrer Haut durchströmen. Sie stellte sich vor, dass sie in einem warmen Sommerregen stand, fern aller Probleme und jeglicher Zivilisation. Vor ihrem geistigen Auge e ntstand eine weite Landschaft mit Bergen, Tälern und Wäldern im gedämpften Licht der Abendsonne. In der Ferne vernahm sie das Rauschen eines Wasserfalls, das fast schon wie Donnergrollen klang. Überall sah sie Tiere im hohen Gras die Lily ihrerseits jedoch nicht wahrzunehmen schi enen, während über ihr einige Vögel durch die Lüfte glitten. Alles schien ihr so vertraut, als wäre sie schon einmal hier gewesen. Sie genoss den Anblick der friedlichen Umgebung fernab der alltäglichen Realität. Sie ließ sich verzaubern und dachte an den Anfang der Reportage zurück. 6 Sie hatte die Wahl zwischen verschiedenen Clans gehabt. Aber wieso es ausgerechnet der Wolfs Clan geworden war, wusste sie bis zum jetzigen Zeitpunkt immer noch nicht. Sie hätte genauso gut einen der anderen Clans wie zum Beispiel den Small Bird Clan ode r den Blue Clan nehmen können. Eine ganze Weile verging, bis sie ruckartig die Augen aufriss und schreiend aus der Dusche sprang. „Verdammt noch mal. Wie oft muss ich meinem Vermieter noch sagen, dass irgendetwas mit der Dusche nicht stimmt“. Das schöne warme Wasser wurde urplötzlich eiskalt und hatte überhaupt nichts Idyllisches mehr an sich. Verärgert drehte sie den Hahn zu und suchte ein Handtuch, welches sie sich um ihren schlanken, sportlichen Körper wickelte. Das Tuch, das Lily schließlich erwischte, sah schon ziemlich alt und verwaschen aus. Allerdings konnte sie sich bis heute nicht davon trennen. Das Motiv, das den blauen Stoff zierte, zeigte einen Wasserfall, auf dessen Spitze ein Wolfsrudel mit gehobenen Köpfen stand und gerade dabei war e i n Li e d anzustimmen. Über dem Rudel war ein großer Vollmond zu sehen, der den Nachthimmel hell erleuchtete. Sie wusste, dass es bereits die besten Jahre hinter sich hatte, 7 doch besaß sie es schon seit ihrer Kindheit. Außerdem war es das Einzige, was ihr noch von ihren Eltern geblieben war, nachdem sie vor über zehn Jahren ohne eine Nachricht verschwunden waren. Frisch geduscht und mit nichts weiter als dem Handtuch bekleidet, betrat Lily das Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank. Mit ihren ein Meter Sechsundsechzig war sie nicht sehr groß, konnte aber ohne Probleme die drei Fächer überschauen. Vor ihr türmten sich verschiedene Pullover, Tops, TShirts und noch einige weitere Kleidungsgegenstände, die von Lily – wie so oft – lieblos hineingeworfen wurden. Wäsche zusammenlegen machte ihr einfach keinen Spaß. Sie inspizierte mehrere Minuten lang die ersten beiden Fächer, bevor sie verschiedene Klamotten aufs Bett warf. Zu den Oberteilen und T-Shirts gesellten sich noch eini ge Hosen, Röcke und Kleider. Als Nächstes kam die Unterwäsche an die Reihe. „Was könnte denn heute infrage kommen?“ Lilys Blick schweifte über einen kleinen Haufen von Tangas und Slips. „Mh … das? Nein ... das auch nicht, der auch nicht ... Wo hab ich denn …, ah da ist er ja.“ Sie hielt einen schwarzen Tanga mit einem rüschenverzierten Saum und 8 Weiß-Silber verzierten nähten in den Händen, den sie sich erst vor Kurzem – als sie mal wieder in der Stadt shoppen war – gekauft hatte. Ihre negativste und zugleich nervigste Eigenschaft, di e Lily von sich kannte, war das Problem, dass sie gerne Laut über Dinge nachdachten. Und genau diese kleine Sache hatte ihr schon manch peinliche Situationen beschert. Nachdem jetzt genauso viel Chaos hinter wie vor ihr herrschte, probierte sie verschiedene Outfits an. Lily mischte alles Mögliche untereinander, bis ihr ein Outfit zusagte. Die restlichen Klamotten warf sie anschl ie ße nd wieder zurück in den Schrank. Ihre sportliche Figur wurde von einer blauen Hotpants mit ausgefransten Enden und einem weißen, bauchfreien Spaghetti-Top mit dem Aufdruck: »Klein aber oho« bedeckt. Dazu trug sie rosa-weiß gestreifte Beinstulpen, die sie von ihrer letzten Reise mitgebracht hatte. Vielleicht sollte ich mir noch schnell die Haare föhne n, dachte Lily, als sie feststellen musste, dass ihre langen dunkelblonden – fast schon braunen Haare – den Umri ss ihres schwarzen Spitzen-BHs auf dem weißen Top nachmalten. 9 Die Stadt war bei dem schönen Wetter ganz besonders voll. Hunderte von Menschen schoben sich durch die Straßen und Gassen. Einige beschwerten sich über die unerträgliche Hitze, andere kühlten ihr Gemüt mit Eis und kalten Getränken ab. Kinder spielten mit den kleinen Wasserfontänen, die in der Innenstadt aus dem Boden sprudelten, während ihre Eltern mit Freude dabei zusahen. Lily mochte diese kleinen Spielereien besonders gerne. Früher, als sie selbst noch ein Kind war, hatte sie auch immer im Wasser gespielt, wenn die Wärme unerträglich wurde. Selbst heute ging sie noch gerne Baden um sich abzukühlen und dabei zu entspannen. Aber nicht nur di e kleinen Dinge liebte sie so. Auch die Architektur. Zu ihren Lieblingsorten zählten die Thomaskirche, die Nikolaikirche genauso wie das Romanushaus – ein historisches Barockgebäude in der Leipziger Innenstadt – oder das Schillerhaus in Leipzig Gohlis, in dem Schiller die »Ode an der Freude« geschrieben hat. Lily wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Es gab so vieles, das ihr gefiel. Aber auch vieles, das sie noch nicht gesehen hatte. An mehreren Straßenmusiker Stellen für in die 10 der Stadt spielten vorbeiziehenden Menschenmassen und hatten Spaß dabei. Einen Musike r mochte Lily jedoch besonders gerne und hielt je de s Mal nach ihm Ausschau, wenn sie in der Stadt unterwegs war. Er hatte stets seine schwarze Westerngitarre – die mit goldenen Saiten und Zeichnungen verziert war – dabei, und saß immer an derselben Stelle. Lily schätzte den Musiker auf Ende zwanzig, Anfang dreißig. Er hatte kurzes schwarzes Haar und einen sportlichen Körper. An seiner Seite war immer ein Hund, der gemütlich auf einer Decke schlief und sich von nichts und niemandem stören ließ. Manchmal legte Lily auch etwas Geld in seinen Gitarrenkoffer. Vorausgesetzt, sie hatte nicht wieder alles für neue Klamotten ausgegeben. Auch dieses Mal saß er an seinem gewohnten Platz. Wie so oft musste Lily einfach stehen bleiben und se i ner Musik lauschen. Als er unerwartet anfing zu singen, bekam sie eine Gänsehaut. Noch nie zuvor hatte sie ihn singen hören. Sie war hin und weg. Seine Stimme klang so weich und gleichzeitig voller Energie. Lily war so überwältigt von dem Gesang, dass sie ungewollt näher an ihn herantrat. Es verging eine ganze Weile, bis er sein Lied beendete und eine Pause einlegte. 11 „Das war wunderschön“, brach es aus ihr heraus. Der junge Mann schaute sie lächelnd an. „Danke. Es freut mich, dass es Ihnen gefallen hat“, entgegnete er i hr höflich. Erst jetzt bemerkte Lily, dass sie wieder einmal laut gedacht hatte. Der Musiker lächelte sie weiter an. „Ich habe Sie hier schon öfter gesehen. Gefällt Ihnen meine Musik?“, sprach er weiter. Wärme machte sich auf ihrem Gesicht breit und sie merkte, wie sie errötete. Hoffentlich bemerkt er es nicht, dachte sie insgeheim. „Ich wohne hier in der Nähe und bin daher oft in der Stadt …“, brachte sie leise hervor. „Ich heiße übrigens Lily.“, sie streckte ihm zur Begrüßung die Hand entgegen. „Maik“, sagte der junge Mann und schüttelte ihre Hand zur Begrüßung. „Sehr erfreut Sie ... ich meine di ch, kennenzulernen.“ Er warf einen Blick nach rechts. „Und diese Schlafmütze neben mir ist Charly“. Als er seinen Namen hörte, öffnete Charly nur kurz di e Augen, schaute zu Lily und schlief weiter. Lily konnte sich ein Lachen einfach nicht verkneifen. „Er ist fast genauso schlimm wie mein Kater. Nur, dass 12 dieser es noch nicht mal für nötig hält, überhaupt seine Augen zu öffnen, wenn ich ihn rufe. Außer wenn e s ums Fressen geht. Da ist er dann sofort putzmunter.“ Maik und Lily unterhielten sich einige Zeit, bis sie durch das Knurren ihres Magens daran erinnert wurde, dass sie eigentlich einkaufen wollte. Ein kurzer Blick aufs Handy sagte ihr, dass es höchste Zeit wurde, sich auf de n Weg zu machen. Sie verabschiedete sich von Maik und Charly mit dem Versprechen, bald wieder vorbeizukommen, und machte sich auf den Weg ins Einkaufszentrum. Während sie den Weg entlang schlenderte, machte sie sich Gedanken darüber, wieso sie einem Fremden i hre n Namen verraten hatte. Vielleicht weil er ihr gar nicht so fremd vorkam? Nach einer Stunde war sie endlich wieder zuhause angekommen. Als sie die Wohnungstür öffnete, warte te Zeus bereits auf sie und sah alles andere als erfreut aus. „Ich weiß … ich war länger weg, als ich wollte. Tut mir leid.“ Lily legte den Schlüssel auf das Regal neben der Tür und schob sich an Zeus in Richtung Küche vorbei, um di e Einkaufstüten abzustellen. Ihr Kater war zwar eine ganz 13 schöne Nervensäge, aber keinesfalls dumm. Kaum hatte sie angefangen die Tüten auszupacken, schlich er schon um ihre Beine. „Du weißt ganz genau, dass ich etwas zu fressen dabe i habe, stimmts?“ Als sie den restlichen Einkauf verstaut hatte, nahm si e eine Dose Katzenfutter und füllte den Inhalt in seinen Napf. „So bitte sehr der Herr. Lass es dir schmecken.“ Der Kater schaute zu Lily, gab ein fröhlich klingendes ‚Miau‘ von sich und fing an zu fressen. Nachdem sie nun erst mal Ruhe vor ihm hatte, machte es sich Lily mit einer Tiefkühlpizza auf dem Sofa gemütlich, schaltete den Fernseher an und zappte durch das Abendprogramm. 14 2. Dreaming Das helle Licht des Mondes tauchte die Umgebung in eine fast schon unheimliche Atmosphäre, während die meterhohen Bäume beängstigende Schatten auf den Boden warfen und jegliche Sicht auf das, was dort hi nte r lauerte, verbargen. Der große runde See glänzte im Schein des Mondes wie reinstes Silber und spiegelte de n sternenklaren Nachthimmel auf der Wasseroberfläche wider. Von allen Seiten konnte Lily unheimliche Geräusche vernehmen, die sie zusammenfahren ließen. Sie fühlte sich in dem großen weiten Gelände einsam und verloren. Der Ruf einer Eule erschrak sie so sehr, dass sie einen Schrei – der alles andere als leise war – ausstieß. „Du blödes Vieh", schimpfte sie. „Musst du mich so erschrecken?“ Die Eule würde ihr zwar sowieso keine Antwort geben, dennoch konnte sich Lily diesen Kommentar einfach nicht verkneifen. Er half ihr dabei, sich wieder etwas zu beruhigen. Langsam lief sie weiter. Sie musste schnellstmöglich einen Weg aus dem Wald und we g von diesem unheimlichen Ort finden. Sie schaute in den 15 Nachthimmel und spürte, wie ihr die kühle Luft eine Gänsehaut verpasste. Zum Glück haben wir heute Vollmond, dachte sie. Doch außer Bäumen und noch mehr Bäumen war nichts zu erkennen, das auch nur ansatzweise wie ein Weg aussah. „Wer auch immer den Ausdruck: »Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht« erfunden hat, hatte genau diese Situation damit gemeint …“, grummelte sie. Das Knacken eines zerbrechenden Zweiges ließ sie ruckartig herumfahren. „Wer ist da? Zeigen Sie sich. Ich bin bewaffnet!“, brüllte Lily in die Dunkelheit. Aber nichts tat sich. Ihr Herz pochte. Nach diesem Schreck wollte Lily nur noch schneller aus dem verdammten Wald heraus. Dummerweise hatte sie sich den Weg nicht gemerkt, und irrte nun planlos umher. Für ihre Schusseligkeit hätte si e sich in den Hintern beißen können. Erneut ließ ein Knacken sie herumwirbeln. Li l y woll te gerade den Mund öffnen, um etwas zu sagen, als si e von den Füßen gerissen wurde und unsanft auf den moosbedeckten Boden aufschlug. Durch den harten Aufprall wich sämtliche Luft aus ihren Lungen und ließ sie aufkeuchen. Ihre Brust fing an zu schmerzen und das 16 Atmen fiel ihr von Sekunde zu Sekunde schwerer. Sie konnte nicht mal um Hilfe rufen. Keuchend und nach Luft ringend, riss sie die Augen auf. Zu ihrer Verwunderung stellte sie fest, dass sie ni cht auf dem Waldboden, sondern in ihrem Bett lag, und der stechende Schmerz, den sie in ihrer Brust verspürte, di e Krallen von Zeus waren. Wütend warf sie den Kater in hohem Bogen von sich runter. „Bist du total bescheuert? Was denkst du dir überhaupt dabei?“, rief sie Zeus hinterher, der mittlerweile das Schlafzimmer verlassen hatte. Schmerzerfüllt rieb sie sich die Brust. Lily kam nicht drum herum nachzuschauen, welches Andenken er ihr hinterlassen hatte. Sie zählte ganze vier kleine Löcher, die zu allem Überfluss auch noch bluteten. Sie zog die dünne, pinke, mit weißen Blumen verzierte Sommerdecke zur Seite, schlüpfte in ihre Hausschuhe und verschwand im Bad. Nachdem sie sich das Blut von der Haut gewischt hatte, ging sie zurück ins Schlafzimmer und verzog das Gesicht, als ihr Blick auf den Wecker fiel. Es war bereits Nachmittag. Der kleine schwarze Wecker, den sie bei 17 einer Tombola gewonnen hatte, zeigte in rot leuchtenden Zahlen »15:45« an. Langsam begann Lily, ihren kleinen Ausflug zu bereuen. Wäre sie nicht nach North Carolina geflogen, würde sie jetzt sicher nicht von diesen merkwürdigen Al bträumen geplagt werden. Sie warf dem Wecker abermals einen grimmigen Blick zu, und verschwand in die Küche. Sie brauchte dringend einen Cappuccino und vielleicht auch eine Kleinigkeit zu essen. Nach zwei Tassen ihres Lieblingsgetränkes so wi e vi er Scheiben Toast mit Schmierkäse und Wurst, beschloss si e sich ein paar Klamotten – die von ihrer gestrigen Schrankausräumaktion noch rumflogen – überzuziehen. Ein bisschen frische Luft würde ihr sicher gut tun. Nicht weit von ihrer Wohnung gab es einen kleinen Park, in dem Lily gerne spazieren ging. Es war für sie die beste Art, um den Kopf freizubekommen und neue Energie zu tanken. Lily liebte die Natur. Schon als kleines Mädchen – auch wenn sie jetzt nicht viel größer war – gab es für sie nichts Schöneres. Sie setzte sich auf eine der vielen Parkbänke und atmete einmal tief ein. Sie konnte regelrecht spüren, wie sich ihre Lungen mit der frischen Luft füllten. Der 18 Park war einer ihrer Lieblingsorte, wenn es darum ging nachzudenken. Vor ihr erstreckte sich eine große Rasenfläche, auf de r die verschiedensten Bäume standen. Direkt hinter ihr war ein kleiner Teich, in dem sich Enten tummelten. Über das Wasser führte eine schmale Holzbrücke auf die andere Seite, wo es sich einige junge Leute auf dem Rasen bequem gemacht hatten und fröhlich lachten. Die Sonne strahlte so hell, als ob es kein Morgen mehr geben würde. Von allen Seiten konnte Lily den Gesang der Vögel hören. Sie kramte ihr Handy aus der Hosentasche und entsperrte es mit einer kurzen Bewegung ihres Zeigefingers. „Hausarzt“, las sie laut vor, als sie durch i hr Adressbuch scrollte. Im selben Augenblick erklang von der Seite eine ihr sehr bekannte Stimme. „Bist du etwa krank?“ Als sie sich zur Seite umdrehte, staunte sie nicht schlecht. Neben ihr stand plötzlich Maik, der sie mit fragendem Blick ansah. Lily zögerte ein wenig, bevor sie ihm eine Antwort gab: „Wie kommst du denn darauf? Sehe ich etwa krank aus?“ „Du hast Hausarzt gesagt", entgegnete er ihr. 19 Langsam realisierte Lily, dass sie, ohne es zu bemerken, ihren Gedanken laut ausgesprochen hatte. „Nein, mir gehts gut. Ich habe nur mein Telefonbuch durchgesehen.“ Maik sah sie fragend an. „Was ist? Glaubst du mir etwa nicht?“ „Du sitzt hier draußen auf einer Parkbank und auf einmal kommt dir die Idee dein Telefonbuch durchzublättern? Nein das glaube ich dir wirklich nicht.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Musst du ja auch nicht. Aber ich dachte, bei dem schönen Wetter kann ich das auch an der frischen Luft machen und muss dafür nicht in der Wohnung hocken.“ Das Gebüsch vor ihr fing plötzlich an zu rascheln, und einige Sekunden später tauchten zwei runde Augen auf, die sie anstarrten. Der Anblick von Charlys Kopf war so komisch, dass es Lily schwerfiel, mit dem Lachen aufzuhören. „Charly. Was machst du denn da?“ Mit einem Satz sprang er aus dem Gebüsch und stand nun direkt vor ihr. Zum ersten Mal konnte sie Charl y nun komplett betrachten. Mit seiner stattlichen Größe ging e r ihr fast bis über die Knie. Sein langes, gepflegtes Fell hatte ein schwarz-braunes Muster. Unter dem Kopf bis hin zum 20 Bauch sah Lily helles weißes Fell, das ihr vorher gar ni cht aufgefallen war. Um die Augen bis zur Schnauze hatte e r einen Verlauf von Hellbraun zu Dunkelbraun. Nur seine Beine und die Pfoten waren schneeweiß. Auf der Stirn trug er einen kleinen weißen Fleck, der aussah wi e e ine Raute. „Was für eine Rasse ist Charly überhaupt?“, wollte Lill y wissen. „Der Kleine hier ist ein Border Collie Mischling.“ „Der Kleine? Ein paar Zentimeter mehr, und er ist größer als ich.“ Charly hatte sich in der Zwischenzeit mit einem Ball i m Maul vor Lily gesetzt, und wartete nun darauf, dass sie ihm ihre Aufmerksamkeit schenkte. „Er scheint dich zu mögen.“ Maik deutete mit einer Geste zu Charly, der sie immer noch fixierte. Lily streckte ihre Hand aus, woraufhin Charly den Ball fallen ließ und sich ein paar Schritte von ihr entfernte. „So, so. Du willst also, dass ich den Ball werfe, ja?“ Charly blickte sie mit wedelndem Schwanz an, und gab ein freudiges Bellen von sich. „Ich nehme mal an, das heißt ja.“ Sie holte kräftig aus und warf den Ball weit über die Wiese. 21 Der Ball war kaum in der Luft, als Charly bereits lossprintete. Wie ein Marathonläufer rannte er de m Bal l hinterher, um ihn zu fangen. Es dauerte auch nicht lange , und er kam schwanzwedelnd, mit der Beute im Maul zurück, um diese Lily vor die Füße zu legen. „Ok. Einmal werfe ich ihn noch", grinste sie. Das Spielen hatte sie so sehr von ihrem eigentlichen Vorhaben abgelenkt, dass Lily ganz vergessen hatte , was sie überhaupt machen wollte. Sie schaute zu Maik. „Gehen wir ein Stück?“ Er zuckte mit den Schultern. „Klar, wieso nicht. Meinetwegen gerne.“ „Also erzähl mal. Was machst du eigentlich hier? Ich dachte, du würdest wieder in der Stadt sitzen und Musi k machen.“ „Ich mache zwar für mein Leben gerne Musik“, erklärte er ihr. „Aber die ganze Zeit in der Stadt sitzen kann ich Charly nicht zumuten. Der Kleine braucht schließlich auch ein wenig Abwechslung.“ Lily fand es faszinierend, wie sehr er sich um seinen Hund kümmerte. Sie kannte einige Menschen, denen das Wohlbefinden ihres Hundes am Allerwertesten vorbei ging. Was sie absolut nicht tolerierte. 22 „Wie alt ist Charly eigentlich? Ich würde so auf drei oder vier Jahre tippen.“ So voller Energie, wie er war, konnte sie eigentlich nicht so sehr daneben liegen. „Du bist gut", grinste Maik. „Er ist dreieinhalb, und e i n richtiges Spielkind.“ Sie warfen einen Blick zu Charly, der sie überhaupt nicht beachtete. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, die Enten – die am Ufer des Teiches schnatterten – zu beobachten. Eine schwarz-grau gefleckte Ente bewegte sich langsam auf den kleinen Zaun – der die Grünfläche umgab – zu. Als sich Charly ihr vorsichtig näherte, erntete er dafür prompt ein Fauchen. Mit einem Satz sprang er zurück und schaute den Erpel verdutzt an. „Kann es sein, dass Charly noch nicht so viele Enten gesehen hat?“ Lily schaute ihm gespannt zu, wie er wohl darauf reagieren würde. „Die eine oder andere hat er schon gesehen, aber ich vermute, er hat sich gerade eher mehr erschrocken, we il es die Erste ist, die in anfaucht.“ Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Der Anblick war einfach zu komisch. Charly näherte sich erneut der Ente bis auf wenige Zentimeter. Als sie ein weiteres Fauchen von sich gab, 23 wich er aber dieses Mal nicht zurück, sondern bellte de n Erpel an, sodass dieser stattdessen Reißaus nahm. Maik und Lily konnten sich ein Lachen nicht verkneifen. Charly war ja so süß, und sein Herrchen ist auch nicht von schlechten Eltern, folgte dem ersten Gedanken. Langsam versank die Sonne am Himmel, aber Lily hatte keine Lust nach Hause zu gehen. Sie wollte viel lieber noch eine Weile mit Maik und Charly zusammen sein. Eine Stunde noch, dann gehe ich wirklich nach Hause, nahm sich Lily vor. Nachdem sie sich endlich zu einer Verabschiedung durchgerungen hatte, machte sie sich langsam auf den Weg in Richtung Wohnung. Auch wenn sich ihre Lust in Grenzen hielt. „Was muss, das muss", murmelte sie l e ise vor sich her. Lily hoffte, dass der kleine Ausflug an der frischen Luft ihr eine ruhigere Nacht als die vorherigen bescherte. Obwohl es bereits dunkel wurde, waren immer noch viele Menschen auf den Straßen unterwegs. Da Lily im Moment keine Lust auf eine größere Menschenmenge hatte, entschied sie sich einen anderen Weg zu ne hme n. Der einzige Nachteil an ihrer neuen Route lag darin, dass 24 diese viel länger – aber in Anbetracht der Situation – wesentlich angenehmer war. Der Weg führte sie durch einige abgelegene Seitengassen, die ihr eine leichte Gänsehaut verpassten. Ausgerechnet dann, wenn sie es in Erwägung zog di e sen Weg zu nehmen, waren die meisten Lampen kaputt. Das ist ja mal wieder ganz klasse. Als sie das Ende der Gasse erreichte, wurde es langsam heller. Sie befand sich wieder auf ihrer eigentlichen Route, die ihr um einiges lieber war. Ein Vibrieren gefol gt von einem lauten Klingelton ließ sie zusammenzucken. Sie musste dringend den Ton ändern. „Carter?“ „Lilymäuschen. Wie geht´s dir? Seit du wieder zurück in Deutschland bist, hat man von dir kein Sterbenswörtchen mehr gehört.“ Sie erkannte die Stimme am anderen Ende sofort. „Tony, du weißt doch, dass ich mich nach längeren Reisen immer ein wenig ausruhe, bevor ich mich wieder in die Arbeit stürze.“ Schweigen herrschte für einige Sekunden in der Leitung. 25 „Ja, ein wenig … Aber du meldest dich ja noch nicht einmal, wenn ich dir auf die Mailbox spreche. Und dass gleich über zwei Wochen nicht. Glaubst du, da macht man sich keine Sorgen?“, hielt ihr Tony vor. „Es ist nicht das erste Mal. Das weißt du genau. Ich hätte mich früher oder später schon gemeldet", konterte Lily. Obwohl sie genau wusste, was er meinte. „Ja, früher oder später. Aber wohl eher später. Hätte ich mich nicht gemeldet, hätte ich immer noch nichts von dir gehört.“ Lily schwieg. Dann sagte sie: „Ich brauche einfach noch ein bisschen Zeit. Das ist alles.“ Sie hörte, wie er tief Luft holte und seufzte. „Okay, weil du es bist. Aber wenn ich in den nächste n zwei Wochen nichts von dir höre, komme ich persönlich vorbei.“ Das wollte Lily nun wirklich nicht, weshalb sie ihm versprach, sich sobald wie möglich zu melden. 26 3. Is it Love? Auch die folgenden Nächte brachten Lily nicht die erhoffte Ruhe, die sie so sehr ersehnte. Ständig wurde sie von Albträumen heimgesucht, die ihr den Schlaf raubten. Seit ihrer Rückkehr waren bereits vier Wochen vergangen. Aber eine Besserung war nicht in Sicht. Wie versprochen hatte sie sich sogar bei Tony gemeldet, um einem ungewollten Besuch von ihm zu entgehen. Ihre Treffen mit Maik wurden ebenfalls regelmäßiger, sodass sie sich mittlerweile mehrmals die Woche sahen. Sollte ihre Einsamkeit nun endlich ein Ende haben? Hatte sie endlich jemanden gefunden, der an ihrer Seite war? Lily wusste nicht, ob Maik für sie ebenfalls Gefühle hegte, oder ob sie für ihn nur eine gute Freundin war. Aber sie kannte ihre eigenen Gefühle und diese machten sie langsam verrückt. Ihre ganzen Sorgen und Ängste waren wie weggespült, wenn sie mit ihm zusammen war. Lily mochte seine Nähe und doch war diese Ungewissheit unerträglich. Sie musste ihn unbedi ngt zur Rede stellen. Sie musste wissen, ob er mehr als nur Freundschaft für sie empfand, oder ob sie sich umsonst Hoffnung machte. Doch das musste erst einmal warten. 27 Sie hatte heute einen Termin bei ihrem Hausarzt. Knapp sechs Wochen mit diesen Träumen waren für sie endgültig genug und hatten sie letzten Endes dazu bewegt, sich einen Termin zu machen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie noch über eine Stunde Zeit hatte, bis die Bahn kam. Irgendwie musste sie es schaffen, die Zeit zu überbrücken. Aber auch ihre innere Stimme wusste keinen Rat. Sie zog das Handy aus der Hosentasche, entriegelte die Tastensperre und rief Tony an. Ein Fröhliches: „Hallo Lily mein Schatz.“ erklang am anderen Ende der Leitung. „Tony. Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass ich nicht dein Schatz bin?“ „Jedes Mal wenn wir telefonieren, denke ich", erwiderte er. „Dann gewöhne es dir endlich ab.“ Lily klang hörbar genervt, doch dass interessierte Tony genauso wenig, wie die letzte Wasserstandsmeldung vom Nil. Er liebte es, si e mit Kosenamen aufzuziehen und freute sich jedes Mal wie ein kleines Kind, wenn sie sich darüber aufregte. 28 „Gibt es etwas Neues von meiner letzten Dokumentation? Haben sich noch irgendwelche Sender gemeldet, die daran Interesse haben?“, bohrte Lily nach. „Nein, nichts Engelchen. So etwas dauert seine Zeit. Ich habe schon mehrere Sender angeschrieben und warte noch auf eine Rückmeldung.“ Lily wusste, dass die meisten Sender ihre eigenen Filmteams hatten, die sie zu Dreharbeiten entsandten, was die Auftragslage für Freiberufler erschwerte. „Okay. Halte mich auf dem Laufenden und sag Bescheid, sobald sich irgendetwas ergibt.“ Sie wollte gerade auflegen als Tony ins Telefon rief: „Willst du heute nicht mal im Büro vorbeischauen? Wir könnten auch zusammen etwas essen gehen, wenn du magst.“ Doch darauf hatte Lily nun wirklich keine Lust. „Tut mi r leid Tony, aber heute habe ich keine Zeit. Ich habe gl e i ch noch einen Termin. Bis bald.“ Mit diesen Worten beendete sie das Telefonat und steckte ihr Handy wieder in die Tasche. Verdammt ... Wieso meldet sich dieses Mal kein Sender. Sonst hatte si e doch auch nicht solche Probleme mit der Vermarktung ihres Materials … 29 Erneut warf sie einen Blick auf die Uhr. „Gerade mal zehn Minuten vergangen?“ Lily kam es vor, als ob die Zei t gar nicht verstreichen wollte. Trotzdem beschloss sie, sich schon mal langsam fertigzumachen. Sie schlenderte zuerst ins Schlafzimmer, bevor sie anschließend im Badezimmer verschwand, um kurz danach die Wohnung zu verlassen. Da ihr Arzt etwas weiter weg war, entschied sie sich eine frühere Straßenbahn zu nehmen. Zum Glück war di e Haltestelle einen Katzensprung von ihrer Wohnung entfernt. Sie stieg in die Linie vier, Richtung Gohlis Landsberger Str. und hielt Ausschau nach einem Sitzplatz. Gott sei Dank war die Straßenbahn nicht sonderlich vol l. Sie mochte keine überfüllten Bahnen oder Busse . Schon gar nicht im Sommer. Lily hatte zwar keine Platzangst, aber sie liebte ihren Freiraum. Außerdem wäre die Wärme in einer vollen Bahn unerträglich gewesen. Noch mehr, als sie es sowieso schon war. Ungefähr fünfzehn Minuten später stand sie vor der Tür ihres Hausarztes. Zögernd betätigte sie die Klingel und wartete auf das Summen des Türöffners. Als sie die Praxis 30 betrat, stieg ihr der Geruch von Desinfektionsmittel in die Nase und brachte sie beinahe zum Niesen. Sie legte ihre Krankenkarte auf die Theke und bezahlte die zehn Euro Praxisgebühr nur widerwillig. Bis auf wenige Plätze war das Wartezimmer sehr gut gefüllt, was für diese Uhrzeit untypisch war. Eine Stimme, die sich al s die Schwester vom Empfang entpuppte, rief einen Patienten nach dem anderen auf, bis nur noch vier Le ute vor ihr waren. Die Zeit schien gar nicht zu vergehen. Wieder ein weiterer Grund, wieso Lily es hasste, zum Arzt zu gehen. Noch dazu gab es nicht einmal Zeitschriften, die wirklich interessant waren. Nach einer Wartezeit von über zwei Stunden durfte sie endlich einen der drei Behandlungsräume betreten. Das Zimmer war nicht sonderlich groß, bot aber Platz für einen Schreibtisch, eine Liege sowie diverse Schränke mit verschiedenen Utensilien drauf. Hinter ihr stand ein weißer Raumteiler, wo die Möglichkeit bestand, sich seiner Kleider zu entledigen, was sie aber auf keinen Fal l vorhatte. An den weißen Wänden hingen verschiedene Poster von Muskeln, Knochen und sonstigen menschlichen Körperteilen. Lily schaute zur Decke hoch, die eine Höhe 31 von mindestens drei bis vier Metern haben musste. Sie fragte sich, wer dort oben wohl sauber machte und wie um alles in der Welt die Glühbirnen ausgetauscht wurden. Das Knarren der Tür riss sie aus ihren Gedanken und ließ sie zur Seite blicken. Ein komplett in weiß gekleideter Mann Mitte dreißig betrat den Raum, begrüßte sie mit einem freundlichen Händedruck und setzte sich anschließend auf seinen schwarzen Drehstuhl. „Hallo Frau Carter. Lange nicht gesehen. Wie geht es Ihnen? Was kann ich für Sie tun?“ Seine Stimme klang ruhig und sanft, so, wie man es von einem Arzt erwarten würde. Auch wenn nicht alle Ärzte, die Lily kannte, so waren. „Mir geht es so weit ganz gut. Allerdings habe ich seit meiner Rückkehr einige Probleme was das Schlafen anbelangt.“ „Stimmt. Sie hatten sich vor ihrer Reise noch ein paar Impfungen abgeholt. Wo waren sie noch gleich gewesen?“ Lily dachte an die vielen Spritzen, die sie bekommen hatte, und rieb sich automatisch ihre Schulter. „In North Carolina. Für eine neue Dokumentation.“ 32 „Voller Erfolg auf ganzer Linie nehme ich an?“ „Schön wär´s. Aber ich bin zuversichtlich, dass sich das noch ändern wird.“ Das hoffte Lily wirklich, da sonst die ganze Reise umsonst gewesen wäre. Nachdenklich richtete er seine Brille und fuhr sich durch die kurzen blondbraunen Haare „Dann erzählen Sie mal von ihren Schlafproblemen.“ Nachdem sie die kurze Zusammenfassung beendet hatte, fügte sie noch hinzu: „Diese Probleme und Träume habe ich jetzt schon über sechs Wochen.“ Als Lily ihr aktuelles Problem ausführlich geschildert hatte, gab der Arzt ein nachdenkliches Brummen von sich, bevor er anfing, seine Diagnose zu stellen. „Also Frau Carter, für mich klingt es nach einem psychischen Problem. Haben Sie vielleicht während Ihrer Reise irgendetwas erlebt, oder ist Ihnen irgendetwas widerfahren?“, wollte er wissen. Lily sah ihn nachdenklich an. „Nein. Nichts. Je denfalls nichts, an das ich mich erinnern könnte. Es war eigentlich eine ganz normale Reise, wie immer.“ „Irgendetwas muss diese Träume ausgelöst haben. Stellt sich jetzt allerdings die Frage, was.“ Er gab etwas i n seinen Computer ein und notierte anschließend einige 33 Sachen auf einem Zettel. „Ich werde Ihnen ein leichtes Schlafmittel und ein pflanzliches Medikament aufschreiben. Sollte das nicht helfen, kommen Sie bitte in einer Woche noch einmal vorbei. Dann müssen wir sehen, wie wir in dieser Sache weiter vorgehen.“ Lily bedankte sich mit einem Händedruck und verließ das Behandlungszimmer. An der Rezeption erhielt sie von der Schwester die beiden angekündigten Rezepte, wovon eines grün war, was bedeutete, dass sie dieses Medikament selber bezahlen durfte. Auf dem Rückweg zur Haltestelle kam sie an einer Apotheke vorbei, in der sie die Rezepte einlöste. „Das macht dann insgesamt fünfzehn Euro“, sagte die ältere Dame an der Kasse. Lily kramte ihr Portemonnaie hervor. Toll schon wieder alles weg, dachte sie und legte das Geld auf den Tresen. Lily entschied sich, zu Fuß zurück in die Stadt zu ge he n und einen kleinen Abstecher zu ihrem Lieblingsplatz zu machen. Sie brauchte fast fünfzehn Minuten, doch das störte Lily nicht, immerhin war sie langes Laufen gewohnt. 34 In der Stadt angekommen, sah sie sich suchend nach Maik um, fand ihn aber nicht. „Wo steckt er schon wieder“, murmelte sie. „Hier stecke ich.“ Lily drehte sich auf dem Absatz um und stieß fast mit ihm zusammen. „Na na, nicht so stürmisch junge Frau“, lachte er. Lily wurde knallrot im Gesicht. „Habe ich etwa wi e der laut gedacht?“ „So könnte man es sagen. Aber macht ja nix. Hat ja sonst niemand gehört.“ „Es reicht schon, dass du es gehört hast. Ich sollte echt besser aufpassen.“ Ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit, als er ihr den Kopf tätschelte. „Lass das. Sehe ich etwa aus wie ein Hund?“ „Wärest du ein Hund, würde ich dir jetzt noch ein Leckerli geben und den Bauch kraulen.“ Lilys Fantasie konnte nicht widerstehen, ihr Bilder in den Kopf zu projizieren. Schnell versuchte sie die Gedanken fortzuscheuchen, obwohl ihr die Vorstellung gefiel. 35 „Bis auf das Leckerli hätte ich nichts dagegen“, flüsterte Lily kaum hörbar. „Hast du gerade etwas gesagt?“ „Ich? Nein, wie kommst du darauf?“ Verdammt! Lily halt die Klappe und pass besser auf, was du wann von di r gibst, ermahnte sie sich selber. „Warum spielst du denn heute nicht? Keine Lust oder hast du jetzt einen ande re n Platz?“ mit fragendem Blick schaute sie zu Maik hoch. Am liebsten würde ich dich jetzt küssen und deine Lippen schmecken … An was denke ich hier eigentlich schon wieder? Schluss jetzt. Es machte Lily verrückt nicht zu wissen, wie seine Gefühle ihr gegenüber waren. „Ich hatte heute Morgen schon ein wenig gespielt. Aber es ist nicht so viel los. Muss wohl an der Wärme liegen. Was hältst du davon, wenn wir ein Eis essen gehen?“ Lily musste nicht lange überlegen und antwortete rasch: „Aber nur wenn du mich einlädst.“ Eis war eines der wenigen Dinge, mit denen man sie schnell ködern konnte. Als Lily sich umschaute, bemerkte sie, dass jemand fehlte. „Wo ist denn Charly? Hast du ihn alleine zu Hause gelassen?“ 36 „Er ist bei einer Freundin, die heute auf ihn aufpasst.“ Sie fühlte einen Stich in ihrer Brust – als ob ihr je mand eine Nadel hinein gerammt hätte. Oh bitte lass ihn ke i ne Freundin haben, dachte Lily. Vorsichtig versuchte sie in Erfahrung zu bringen, wer diese geheimnisvolle Freundin war. „Du sag mal, wenn wir so oft etwas zusammen unternehmen, wird deine Freundin da nicht eifersüchtig?“ Kaum hatte sie es ausgesprochen, bereute sie es auch gleich wieder. Maiks Blick wirkte sehr überrascht. „Meine Fre undi n? Wie um alles in der Welt kommst du jetzt darauf? Du glaubst doch nicht, dass sie meine Freundin sei, oder? Ich sagte, EINE Freundin passt auf ihn auf und nicht MEINE.“ Lily biss sich auf die Unterlippe. Na toll, wieder ein Fettnäpfchen, in das ich getreten bin. „Tut mir leid. Es geht mich ja auch nichts an. Ich wollte nur nicht, dass du Ärger wegen mir bekommst.“ „Ist schon ok Lily. Aber danke, dass du dir Sorgen um mich machst.“ Zusammen machten sie sich auf den Weg in das nahe gelegene Eiscafé. Kaum angekommen schnappte sich Li l y die Eiskarte und studierte diese ausführlich. Jedes Mal wenn sie die Karte durchblätterte, stand sie vor derselben 37 Frage. Was sollte sie nur nehmen? Die Auswahl war einfach viel zu groß. Nach geschlagenen zehn Minuten hatte sie sich endlich für einen Eisbecher entschieden, was aber noch lange nicht hieß, dass ihr die anderen Sorten weniger zusagten. Als die Bedienung zum zweiten Mal vorbei kam, bestellte sie sich einen großen Eisbecher mit extra vielen Erdbeeren und viel Schlagsahne. Sie liebte Erdbeeren und Schlagsahne abgöttisch und konnte nicht widerstehen. Maik hingegen bestellte sich einen Früchtebecher mit Likör und verschiedenen Eissorten. „Hoffentlich hältst du mich nicht für verfressen. Aber bei Erdbeeren mit Sahne werde ich einfach schwach“, sagte sie zögernd. Er zuckte mit den Schultern. „Ist schon ok. Jeder von uns hat eine Schwäche.“ Lily versuchte, sich zusammenzureißen. „Ach wirklich?“, platzte es dann doch aus ihr heraus. „Und welche ist deine Schwäche?“ Gerade als Maik zu einer Antwort ansetzen wollte, kam die Bedingung mit dem Eis. Lily musterte den großen Eisbecher, der vor ihr stand. Er war bis obenhin mit leckeren Erdbeeren gefüllt, die mit einer we i ßen De cke 38 aus Schlagsahne bedeckt waren. An der Seite steckte eine rohrförmige Waffel. Ihr lief das Wasser förmlich im Mund zusammen. Das musste auch Maik bemerkt haben, denn er sagte lächelnd zu ihr: „Wenn du den Becher weiter so anstarrst, fängst du noch an zu sabbern.“ Doch Lily nahm den Satz gar nicht wahr. Sie war zu sehr von ihrem himmlisch aussehenden Erdbeerbecher abgelenkt, der fast schon zu schade zum Essen war. Genüsslich nahm sie den ersten Bissen zu sich. Wi e se hr hatte sie das leckere Eis vermisst, als sie in Ame rika war. Zugegeben in North Carolina gab es auch leckeres Eis, aber dieses hier, war ihr von allen noch am liebsten. Es dauerte nicht lange und Lily hatte bereits über die Häl fte des Eisbechers aufgegessen. Maik hingegen hatte gerade mal ein Viertel seines Bechers leer. Sie redete sich ein, dass es an den vielen verschiedenen Früchten lag, dass er etwas länger brauchte als sie. Zugegeben, es waren wirklich sehr vi e le Früchte. Neben Melonen, Ananas und Kiwis tummelten sich noch Bananen, Erdbeeren und Mangos in dem Glas. „Da hast du dir aber was vorgenommen. Schaffst du das überhaupt alles?“ 39 Maik steckte sich den Löffel in den Mund und kaute genüsslich auf einer Melone. Nachdem er sie runtergeschluckt hatte, beantwortet er Lilys Frage mit einem knappen: „Japp“, und schob sich den nächsten Löffel hinterher. Als auch die letzte Frucht ihren Weg in Maiks Mund gefunden hatte, beschlossen sie noch einen kleinen Abstecher in den Park zu machen, um das schöne Wette r zu genießen. Heute waren sogar noch mehr Menschen unterwegs als an den anderen Tagen, stellte Lily fest. Ein paar Meter weiter stand eine Bank, auf die sie si ch setzten. Sie musste es endlich wissen ... Sie musste endlich wissen, wie er zu ihr stand. Sonst würde sie noch verrückt werden – wofür die Träume schon genug sorgten. Sie holte tief Luft und wollte gerade mit der Frage rausplatzen, als das Handy klingelte. Verdammt, ausgerechnet jetzt. Genervt schaute Lily auf das Display. Tony … Wer auch sonst könnte zu einem solch unpassenden Zeitpunkt anrufen. „Was ist?“ „Hey, hey nicht so forsch Schätzchen.“ „Wie oft habe ich dir schon … ach egal. Was willst du? Du störst gerade etwas“, knurrte Lily ihn an. Im selben 40 Moment biss sie sich auf die Zunge. Sie hätte ihm nicht sagen sollen, dass er stört. Denn jetzt würde er sie ausquetschen wie eine Zitrone. „Soso, ich störe also? Wobei denn? Gehst du mir e twa fremd?“, grinste er hämisch. „Tony … Wie soll ich dir fremdgehen, wenn wir noch nicht einmal etwas miteinander haben und dies auch niemals der Fall sein wird?“ „Autsch. Das verletzt jetzt aber meine Gefühle.“ „Jetzt sag endlich, was du willst. Ich habe heute noch etwas Besseres zu tun, als dir jedes Wort aus der Nase zu ziehen.“ Ihre Stimme klang jetzt nicht mehr genervt, sondern sauer. „Herrje … komm wieder runter. Ich wollte dir nur sagen, dass ich eine Rückmeldung wegen deiner Doku bekommen habe. Ich habe dir die Kontaktdaten bereits per Mail zugesendet.“ Endlich mal eine gute Nachricht dachte sie. „Danke für die Info. Ich werde mich nachher darum kümmern. Abe r wie ich schon sagte, habe ich im Moment etwas ande re s zu tun. Ich melde mich bei dir.“ „Lily was ma …“ 41 Sie beendete das Gespräch und ließ ihn nicht weiter zu Wort kommen, sonst würde er sie mit Fragen löchern und das wollte Lily im Moment absolut nicht. Sie ste ckte das Handy wieder in die Tasche und sah zu Maik, der sie das ganze Telefonat über beobachtet hatte. Auf ein Neues. Dieses Mal war sie fest entschlossen, ihn auf das Thema anzusprechen. Komme, was da wolle. „Soso, du hast also etwas anderes vor? Was denn?“, grinste er. Lily sah ihn verblüfft an. Was meinte er damit? Langsam dämmerte es ihr. „Es ... es war nur eine Ausrede“, stotterte Lily verlegen. Sie sah ihm in die Augen, holte tief Luft und wollte erneut zur Frage ansetzen, als sie plötzlich seine Lippen auf ihren spürte. Regungslos vor Schreck, saß sie ei nfach nur da und starrte ihn an. Oh mein Gott. Er hat mich geküsst. Das ist doch nur ein Traum. Das ist gerade nicht wirklich passiert. Ihre Gedanken überschlugen sich regelrecht und Schmetterlinge flogen in ihrem Bauch hi n und her. Langsam löste er den Kuss wieder. Lily spürte einen kühlen Luftzug an der Stelle, wo gerade noch seine weichen, warmen Lippen waren. 42 „Ich muss jetzt gehen“, sagte er leise. „Aber wir werden uns schon bald wiedersehen … Das verspreche ich dir.“ Noch bevor sie wieder Herr ihrer Sinne war, stand er auf und verließ den Park. 43 4. Yearning Vier Tage waren seit dem Kuss vergangen. Lily kam es immer noch wie ein Traum vor, wobei dieser, zu den sonst unerwünschten Albträumen, eine angenehme Abwechslung war. Sie berührte ihre Lippen an der Ste l l e, wo sich vor Kurzem noch seine befunden hatten. „Nein ..., das war kein Traum. Es war real.“ Lily schwebte immer noch auf Wolke sieben, war aber zugleich verletzt, dass er sich seitdem nicht mehr be i i hr gemeldet hatte. Sie haute sich ruckartig mit der flachen Hand gegen den Kopf. „Ich Rindvieh. Wie soll er auch, wenn ich ihm nicht einmal meine Nummer gegeben habe.“ Sie hätte sich selbst für dieses Versäumnis ohrfeigen können. Stattdessen stand sie von ihrem weichen Bett auf, ging in die Küche und machte sich einen Kaffee. Während die Kaffeemaschine fröhlich vor sich hin blubberte, fiel Lilys Blick auf den leeren Fressnapf von Zeus. Sie sah sich suchend um. „Wo steckt der Kater nur schon wieder?“ Egal wenn ich ihm etwas zu Fressen hinstelle, taucht er sowieso wieder auf. 44 Und tatsächlich. Es dauerte nicht lange und Zeus kam aus dem Wohnzimmer schnurstracks in die Küche getigert und machte sich über das Nassfutter her. Mittlerweile war der Kaffee ebenfalls durchgelaufen. Lily füllte sich eine große Tasse mit dem schwarzen Getränk, ließ aber noch etwas Platz für drei Löffel Zucker und ein wenig Milch. Ihr gedankenverlorener Blick schweifte durch den Raum und blieb an den Tabletten hängen, die sie von ihrem Hausarzt verschrieben bekommen hatte. „Ihr blöden Dinger, helft auch nicht gegen meine Träume", schimpfte sie die Tabletten an. Sie legte den Kopf auf ihre Arme und schloss die Augen. Kurz darauf sah Lily wieder die merkwürdigen Schatten, die sie zu gerne identifizieren würde. Doch jedes Mal wenn sie kurz davor war, etwas zu erkennen, wachte sie entweder auf, oder wurde gestört. Was war nur los mit ihr? Konnte ihr überhaupt jemand helfen? Nicht einmal die Tabletten zeigten Wirkung. Und warum um alles in der Welt verschwand Maik so plötzlich? Zu viele Fragen schwirrten ihr im Kopf herum. Das Einzige, was ihr jetzt noch helfen konnte, war ein Spaziergang an der frischen Luft … oder Maik ... Sie zog 45 sich die weißen Sportschuhe an, schnappte sich den Wohnungsschlüssel und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Sie wusste zwar, dass sich Maik von ihr verabschiedet hatte, trotzdem kam sie aber nicht drum herum nachzusehen, ob er nicht doch an seinem gewohnten Ort saß. Aber der Platz war leer. Lily hatte e s sich zwar bereits gedacht, aber man sagt nicht umsonst, ‚die Hoffnung stirbt zuletzt‘. Traurig und mit gesenktem Blick drehte sie sich wieder um und ging in Richtung Park. Die Stimme, die sie plötzlich vernahm, ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Sie kannte sie nur zu gut, machte aber keine Anstalten sich umzudrehen. Sie hatte i m Mome nt absolut keine Lust auf Josh zu treffen. Schon gar nicht, nachdem er sich vor einem Jahr von ihr getrennt hatte. Gleich nach dem sie von Idaho nach Leipzig gezogen war. Lily hörte, wie die Stimme lauter wurde, und bemerkte sogleich eine Zweite. Es war seine neue Freundin. Sie hatte diese Person zwar nur einmal gesehen, aber ihre Stimme wollte ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Zorn kochte in ihr hoch, als die beiden näherkamen. Sie wusste nicht, warum sie auf einmal so wütend wurde. Oder wusste sie es doch? 46 Lily hatte nicht damit gerechnet, dass nach so langer Zeit immer noch Gefühle für ihn vorhanden waren. Es fiel ihr schwer sich zusammenzureißen, damit sie sich nicht umdrehte, und ihm die Meinung geigte. Auch wenn ihn das nicht sonderlich interessieren würde. Als sie einen kurzen Blick nach hinten warf, platzte in ihr schließlich eine Bombe. Ruckartig drehte sie sich um, und setzte ohne zu zögern an: „Schämst du dich nicht hinter mir mit deiner Neuen rumzuknutschen? Hast du überhaupt keinen Anstand? Denkst du, ich kann die Gefühle für dich einfach so ohne Weiteres abstellen und die Zeit mit dir vergessen? Ganz sicher nicht. Wenn du das kannst, schön. Ich nicht. Ich liebe dich tief in meinem Herzen noch immer. Auch wenn ich weiß, dass es mit uns niemals wieder so werden kann, wie es früher war, bevor die ganzen Probleme anfingen.“ Mit diesen Worten l i eß Li l y das erschrockene Pärchen stehen und lief davon. Josh, der sich relativ schnell wieder gefangen hatte, rief ihr noch hinterher: „Lily!? Lily warte, hör mir zu.“ Aber Lily wollte nur noch so schnell wie möglich von ihm weg. Viel zu tief saß der Schmerz, den der Kuss bei ihr ausgelöst hatte. Wieso konnte sie ihn nicht einfach 47 vergessen? Wieso konnte sie ihre Gefühle zu ihm nicht einfach abstellen? Sie hatte doch jetzt Maik ... oder nicht? Wieder füllte sich ihr Kopf mit Fragen und das, obwohl sie auf die anderen Fragen noch keine Antwort gefunden hatte. Was sollte sie nur machen? Einerseits waren noch Gefühle für Josh vorhanden, auch wenn sie wusste, dass es zu spät war. Andererseits hegte sie auch Gefühle für Maik, der sie aus heiterem Himmel geküsst hatte. Ihr Herz hämmerte, als würde es gleich aus der Brust springen und ihr Kopf stand kurz vor dem Explodieren. Was mache ich nur, fragte sie sich. Endlich hatte sie den Park erreicht. Den Ruhepol i hre r Gedanken. Sie setzte sich auf eine der vielen Parkbänke, kramte ihr Handy und die Kopfhörer heraus, steckte sie in die Ohren und lauschte der Musik. Was konnte es Schöneres geben, als sich mit Musik in den Park zu setzen und zu entspannen. Lily schloss die Augen. Der warme Sommerwind spielte mit ihren Haaren und wehte einzelne Strähnen sanft hin und her. So konnte Lily alles um sich herum vergessen und sich nur auf die Dinge konzentrieren, die wirklich wichtig für sie waren. Drei Lieder lang saß sie einfach nur mit geschlosse ne n Augen auf der Bank und dachte an nichts. Weder an Josh 48 noch an Maik oder ihre Träume. Es war ein befreiendes Gefühl, welches leider nur so lange hielt, bis sie ihre Augen wieder öffnete. Sie hätte noch stundenlang einfach so dasitzen können. Allerdings wäre sie dann mi t ihren Überlegungen keinen Schritt weitergekommen. Lily zerbrach sich bereits mehrere Stunden den Kopf über Maiks plötzliches Verschwinden, und was sie davon halten sollte. Warum war er einfach ohne irgendetwas zu sagen verschwunden? Und wie konnte sie seine Aussage verstehen, dass sie sich schon bald wiedersehen würden? Das ergab alles keinen Sinn für sie. Und was die Aktion von ihr bezüglich Josh sollte, wusste sie selber ni cht . Ihr war klar, dass sie ihn endgültig vergessen musste, aber aus irgendeinem Grund, wollte ihr Verstand dies noch nicht so recht kapieren. Sie streckte die Arme in den Himmel und verspürte ein befriedigendes Knacken im Rücken. Immer diese Verspannungen dachte sie, als sie langsam aufstand. Eine Auswertung ihrer Überlegungen brachte Lily letztendli ch zu dem Ergebnis, dass sie kein bisschen schlauer als zuvor war. Mit einem leisen Knurren meldete sich ihr Magen zu Wort. Denken macht hungrig, sagt man doch und es 49 schien wirklich zu stimmen. Langsam dämmerte ihr auch, dass sie sich zwar über vieles Gedanken gemacht hatte, allerdings nicht darüber, was sie sich zu essen machen sollte. Auf dem Rückweg zu ihrer Wohnung tendierten ihre Überlegungen von Pizzaservice, über Sushi, bis hin zu Griechisch. Alternativ konnte sie sich natürlich auch Nudeln mit Soße machen. Aber nur für sich alleine zu kochen, dazu war sie meist zu faul. Letzten Endes fiel ihre Entscheidung schließlich auf Pizzaservice. Immerhin war die Pizzeria, wo sie gerne bestellte, recht günstig und lecker. Jetzt musste sie sich nur noch für eine Pizza entscheiden, was sie erneut vor eine große Herausforderung stellte. Ungefähr eine halbe Stunde nach ihrem Kampf mit de r Speisekarte traf ihre Pizza mit Shrimps, Thunfisch sowie Zwiebeln und extra Käse endlich ein. Bei dem Geruch, der sich in der Wohnung ausbreitete, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie liebte Shrimps und Thunfisch übe r alles und beides zusammen auf einer Pizza war für sie einfach nur Genuss pur. Allerdings hatte sie die Rechnung ohne Zeus gemacht, der ebenfalls ein großer Fisch-Fan war. 50 Vom Duft angelockt sprang er neben ihr aufs Sofa und schlich langsam zu dem Karton hinüber. „Na aber Zeus! Nimmst du die Nase da weg? Das ist mein Essen, du hast deines in der Küche stehen.“ Verächtlich schaute er Lily an, die gerade genüsslich das erste Stück zu sich nahm. „Vergiss es. Da kannst du dich noch so sehr einschleimen. Du bekommst davon nichts ab. Auße rde m wirst du noch zu fett.“ Egal was Lily auch versuchte, Zeus wich einfach nicht von ihrer Seite. Geschlagen fütterte sie ihren verwöhnten Kater mit ein paar kleinen Happen Thunfisch und ein paar Stückchen von den Shrimps. Glücklich und schnurrend sprang Zeus vom Sofa und tigerte ins Schlafzimmer. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, noch ein wenig durch das TV-Programm zu zappen, doch der Tag war einfach zu anstrengend gewesen. Bevor ihr noch die Augen auf dem Sofa zufielen, nahm sie die Me di zi n, di e ihr verschrieben wurde, und legte sich ins Bett. Es dauerte nicht lange und Lily schlief tief und fest. 51 5. Imagination? Lily verfluchte die Hitze, die an diesem Tag herrschte. Ausgerechnet zur Mittagszeit musste sie wieder zu ihre m Hausarzt. Die Hälfte der Strecke hatte sie bereits hinter sich. Nur noch zwei Haltestellen und fünf Minuten Fußweg, dann war sie endlich an ihrem Ziel angekommen. Wie erwartet hatten die Tabletten natürlich nicht geholfen. Als Lily die Tür zur Praxis öffnete, stieg ihr erneut der unangenehme Geruch von Desinfektionsmittel in die Nase, der sie dieses Mal zum Niesen brachte. Li l y be trat das Wartezimmer und staunte nicht schlecht. Außer ihr saßen nur zwei weitere Patienten in dem kleinen Zimmer. Nach einer kurzen Wartezeit wurde sie schließlich in eines der Behandlungszimmer gebeten. „Hallo Frau Carter. Schön Sie wiederzusehen.“ „Die Medikamente haben leider nicht geholfen. Die Träume kommen trotzdem jede Nacht“, platzte es aus i hr heraus. Der Arzt begutachtete sie mit einem skeptischen Blick. „Das ist äußerst merkwürdig.“ 52 Lily zuckte mit den Schultern „Wem sagen Sie das, ich würde gerne wieder richtig schlafen können.“ Nachdenklich musterte er Lily und fuhr sich dabe i mi t der Hand übers Kinn. „Na gut. Da bleibt uns wohl nichts anderes übrig“, sagte er schließlich. „Dann müssen wir nun einen anderen Weg gehen.“ „Dürfte ich erfahren, an was Sie genau denken?“ Lily mochte es nicht sonderlich, wenn jemand in Rätseln sprach. Vor allem nicht, wenn es dabei um sie ging. Nach einem kurzen Blick in seinen PC sagte er zu ihr: „Ich würde Sie gerne zu einem Kollegen überweisen, de r sich ihrer annimmt.“ Lily ahnte schon, auf was das Gespräch hinauslaufen würde. „Ich bin nicht verrückt. Diese Träume gibt es wirklich“, echauffierte sie sich. „Das habe ich auch nie angenommen Frau Carter. Allerdings kann mein Kollege ihnen besser bei der Ursachenfindung helfen als ich.“ „Entschuldigen Sie bitte meine schroffe Antwort.“ „Ist schon in Ordnung. Ich kann ihre Reaktion nachvollziehen", teilte er ihr mit ruhiger Stimme mit. „Die Schwester wird Ihnen die Überweisung fertig machen. Alles Gute wünsche ich Ihnen.“ 53 Nun bin ich also doch noch verrückt geworden. Was kommt als Nächstes? Eine Einweisung in die Geschlossene? Lily liebte ihre ironischen Gedankengänge. Sie nahm die Überweisung von der Schwester e ntge gen und verließ die Praxis. Als sie den Blick von dem Stück Papier löste, stellte si e fest, dass sie fast an der Praxis des Psychologen vorbeigelaufen wäre. Sie schaute auf die Beschi lderung, die an der Hauswand hing, und verzog das Gesicht. „Ausgerechnet ganz oben ... hoffentlich gibt es einen Fahrstuhl“. Sie betrat das Gebäude und tatsächlich. Vor ihr befand sich ein kleiner gläserner Fahrstuhl, der auf sie zu warte n schien. Lily betrat den Glaskasten, drückte den Knopf für die dritte Etage und fuhr nach oben. Bevor sie jedoch di e Praxis betrat, blieb sie vor der Tür stehen, holte einmal tief Luft und hoffte, dass es schnell vorbeigehen würde. Als Lily die Tür öffnete, blickte sie in einen lang gezogenen, schmalen Flur, in dessen Mitte ein weißer Tresen stand. 54 Die Schwester, die hinter diesem saß, lächelte sie freundlich an. „Guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?“ „Guten Tag. Carter ist mein Name. Ich habe hier eine Überweisung von meinem Hausarzt.“ Sie reichte der Schwester den Zettel und ihre Krankenkarte. Als Lily das Wartezimmer betrat, traute sie ihren Augen kaum. Auf beiden Seiten stand ein schwarzes Eckledersofa und ein runder dunkelbrauner Holztisch mi t vier weißen Lederstühlen füllte den Platz in der Mitte des Raumes. Auf dem Tisch lagen verschiedene Zeitschriften und Tageszeitungen. In der Mitte stand ein schönes Blumengesteck mit gelben und weißen Blüten. An den weißen Wänden hingen verschiedene Gemälde, die mit einem goldenen altmodischen Rahme n versehen waren. Neben dem rechten Sofa glänzte ein goldener Metall-Kleiderständer, an dem goldene Kleiderbügel hingen. Auf der anderen Seite de s Raume s sah sie einen dunklen, massiven Schrank mit diversen Büchern stehen. Lily konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieser Raum ein Wartezimmer sein sollte. Hätte si e nicht genau gewusst, dass sie bei einem Arzt war, hätte 55 sie schwören können, dass sie bei irgendjemandem im Wohnzimmer sitzen würde. Nach einer relativ kurzen Wartezeit von circa fünf Minuten wurde sie in das Sprechzimmer gebeten, wo de r Arzt schon auf sie wartete. „Guten Tag Frau Carter. Nehmen Sie doch bitte Platz. Mein Name ist Dr. Werner Schulze.“ Vor ihr saß ein älterer Mann, den Lily auf Mitte vierzi g, Anfang fünfzig schätze. Er hatte kurzes graues aber volles Haar. Auf seiner Stirn und unter den Augen breiteten sich leichte Fältchen aus. Seine Stimme klang freundli ch und fröhlich zugleich. „Guten Tag Herr Schulze“, erwiderte Lily höflich und reichte ihm die Hand. Der ältere Mann blickte kurz auf die Überweisung und sprach dann mit ruhiger Stimme zu ihr: „Wie kann ich Ihnen helfen?“ „Mein Hausarzt hat mich zu Ihnen geschickt, weil ich seit meiner Rückkehr Auslandsaufenthalt von unter meinem Schlafstörungen letzten und Albträumen leide.“ „Seit wann sind Sie wieder zurück?“, wollte er sogleich wissen. 56 „Mittlerweile sind es etwas über sieben Wochen. Mein Hausarzt hatte mir schon Medikamente verschrieben, die mir gegen die Träume und die Schlafstörungen helfen sollten. Aber leider hat sich nichts geändert.“ Einige sekundenlang herrschte eine erdrückende Sti l le im Raum. „Ok Frau Carter. Dann erzählen Sie mal was Sie noch wissen von Ihrem Auslandsaufenthalt", sagte er schließlich. Nicht schon wieder die ganze Geschichte dachte Lily im Stillen. Aber wenn sie wollte, dass man ihr half, kam sie leider nicht drum rum … Sie holte einmal tief Luft und fing an von Ihrer Arbeit, über den Flug so wie den Aufenthalt in North Carolina, bis hin zu ihrer Rückkehr zu erzählen. Der Arzt hörte ihr die ganze Zeit aufmerksam zu und machte sich dabei mehrere Notizen. Leider konnte Lily seine Handschrift nicht entziffern daher konnte si e auch nicht erkennen, was auf dem Zettel stand. Als er seine Notizen beendet hatte, schaute er sie skeptisch an. „Sind sie sicher, dass das alles war?“ „Alles, an das ich mich erinnern kann. Reicht das nicht?“, gab Lily ihm freundlich zu verstehen. 57 „Nicht um davon Albträume und Schlafstörungen zu bekommen. Alles was sie mir erzählt haben, gleicht einer ganz normalen Reise und Erlebnissen.“ Lily glaubte nicht, was sie gerade gehört hatte. „Herr Schulze. Ich bilde mir die Träume nicht ein. Ich bin auch nicht verrückt. Die Träume sind Wirklichkeit und entspringen nicht meiner Fantasie.“ Sie musste sich beherrschen, um nicht laut zu werden. „Beruhigen Sie sich wieder Frau Carter. So war das auch nicht gemeint. Niemand unterstellt Ihnen irgendetwas.“, mit ruhiger Stimme sprach er weiter: „Aber wenn das wirklich alles ist, an was sie sich erinnern können, muss der Rest aus irgendeinem Grund verdrängt worden sein.“ Lily musste erst mal tief Luft holen. „Aber wieso sol lte ich etwas verdrängen? Ich wüsste nicht was.“ „Und genau das müssen wir herausfinden.“Er erkl ärte ihr ausführlich die weitere Vorgehensweise. Dass auf si e mehrere Sitzungen zukamen und dass er von einer eventuellen Hypnose auch nicht absehen konnte. Doch diese Möglichkeit wäre der letzte Schritt, den er gehen würde. 58 Lily hämmerte der Schädel. Warum ich ... Warum ausgerechnet ich. Bis jetzt hat die Reise mir nichts als Ärger gebracht. Und ob der Sender die Doku ins Programm nimmt, steht auch noch nicht fest. So ein verdammter Mist. Sie wusste nicht, was sie von der ganzen Sache halten sollte. Ihre Gedanken fingen wi eder an, Karussell mit ihr zu fahren. „Geht es Ihnen gut Frau Carter?“ Er blickte sie besorgt an. „Ja danke. Mir ist das nur alles etwas zu viel. Die Träume, die bevorstehende Therapie, einfach alles. “ Li l y war zum Heulen zumute. Sie schaffte es aber, sich zusammenzureißen. „Das kann ich gut verstehen. Aber seien sie unbesorgt. Das schaffen Sie schon. Ich würde sagen, wir fangen gleich morgen mit der ersten Sitzung an.“ Ohne irgendwelche Einwände stimmte Lily dem Arzt zu, verabschiedete sich von ihm und machte sich auf de n Weg nach Hause. Auch in dieser Nacht wurde Lily wieder von Albträumen geplagt. Wieder stand sie an einem See, de r mitten im Wald lag und von meterhohen Bäumen 59 umgeben war. Erneut suchte sie einen Weg, um aus diesem verdammten Wald herauszukommen. Se l bst di e Geräusche waren wieder zu hören, genauso wie das plötzliche Knacken, welches sie herumwirbeln ließ, um anschließend von den Füßen gerissen zu werden. Unsanft schlug sie auf den mit Moos bedeckten Bode n auf, sodass ihr sämtliche Luft aus den Lungen entwich und sie aufkeuchte. Ihre Brust fing abermals an zu schmerzen und das Atmen wurde von Sekunde zu Sekunde schwerer. Sie wusste nicht, was sie machen sollte. Langsam öffnete sie ihre Augen, die sie vor Angst und Schmerz geschlossen hatte. Es dauerte einige Sekunde n, bis sich ihr Blick schärfte. Schließlich bereute sie es, die Augen geöffnet zu haben, denn was sie vor sich sah, l i e ß sie erstarren. Sie blickte in die Augen eines Tieres ... Eines Raubtieres. Seine Zähne blitzten im Mondlicht und machten ihr eine höllische Angst. Über ihr stand ein riesiger Wolf und starrte sie an. Sie hatte gelesen, dass Wölfe keine Menschen grundlos anfielen. Außerdem hatte sie es auch bei Ihrer Reportage über die Aniwahya miterlebt. Allerdings schien dieser Wolf nichts davon zu wissen oder 60 es interessierte ihn einfach nicht. Sie schloss i hre Augen und betete, dass er ihr nichts tun würde. Lily glaubte nicht an Gott, aber wenn es einen gab, sollte er ihr verdammt noch mal jetzt helfen. Ihr Herz raste und ihr Puls war weit über den Normalzustand hinaus. Sie spürte den Atem des Wolfes an ihrem Hals. Oh Gott ich bin geliefert. Keiner wird mich hier je finden. Was habe ich nur getan. Lily konnte ihre Gedanken nicht mehr unter Kontrolle halten und sah i hr Leben noch einmal an sich vorbeiziehen. Sie wollte noch nicht sterben und schon gar nicht an einem solch finsteren Ort. Ein stechender Schmerz an ihrem Hals – wie der schnitt eines Messers – ließ sie in die Realität zurückkehren und vor Angst um sich treten. Sie versuchte den Wolf von sich runter zu schütteln, doch das Tier war viel zu groß und zu schwer. Aber Lily gab nicht auf und verpasste ihm letztendlich einen Tritt. Der Wolf heulte einmal laut auf und war dann verschwunden genau wie der Druck auf ihrer Brust. Das Einzige, was blieb, war de r leichte Schmerz an ihrem Hals, der sie dazu zwang die Schwere der Verletzung zu kontrollieren. 61 Sie wischte sich mit der Hand über den Hals und sah im Schein des Mondes Blut auf ihrer Handfläche funkeln. Lily fing an zu zittern. Es war ihr Blut, was sie da sah. Panik machte sich in ihr breit. „Nein! Das darf nicht wahr sein. Oh bitte nicht“, keuchte sie. Voller Panik rannte sie drauflos, ohne zu wissen, wo sie überhaupt lang musste. Als sie das Gleichgewicht verlor und einen Hügel hinunterstürzte, wachte sie schweißgebadet und mit schmerzendem Kopf auf dem Boden ihres Schlafzimme rs auf. Immer noch raste ihr Herz vor Panik. Reflexartig packte sie sich an den Hals und schaute auf ihre Handfläche. Langsam beruhigte sie sich wieder. „Kein Blut – es war nur ein Traum“, redete sie sich selbst gut zu. Vorsichtig und schwankend stand Lily auf und setzte sich aufs Bett. Irgendetwas war anders gewesen als sonst. Normalerweise wachte sie immer nach dem Aufpral l auf den Waldboden auf. Doch dieses Mal hatte sie ge se he n, wer oder besser was sie umgeworfen hatte. Wieder spürte Lily die Zähne – die sie im Mondlicht hatte funkeln sehen – an ihrem Hals, was sie schwer schlucken ließ. Sie öffnete die Schublade ihres Nachttisches und kramte einen Spiegel heraus. Doch an ihrem Hals war nichts zu sehen. Kein Biss, kein Schnitt, nichts. Noch nicht 62 einmal eine Schramme. „Verdammt. Was ist nur los mit mir. Ich werde wirklich noch verrückt. Das kann doch nicht so weitergehen.“ Lily legte den Spiegel zurück in die Schublade und schob sie wieder zu. Langsam ging sie ins Badezimmer und ließ sich eine Badewanne ein. Das Wasser war so angenehm warm und entspannend, dass sie sich ei nfach fallen ließ und ihr für kurze Zeit die Augen zufielen. Vor ihrem inneren Auge erschienen wieder die Augen und die blitzenden Zähne des Wolfes und ließen sie panisch aufschrecken. „Scheiße!“, fluchte Lily. Mit ihrem Panikanfall hatte si e das halbe Badezimmer unter Wasser gesetzt. Sie zog e i n Handtuch von der Waschmaschine, die neben der Wanne stand, und warf es auf die Pfütze, bevor sie sich noch weiter auf dem Boden ausbreiten konnte. Nachdem sie sich ausgiebig entspannt hatte, verließ sie das warme Wasser und schnappte sich ein weiteres Handtuch von der Waschmaschine um sich abzutrocknen. Anschließend wickelte sie sich das Handtuch um ihren Körper, schlüpfte in ihre Hausschuhe und ging in die Küche, um zu frühstücken. Als sie den Raum betrat, sti eg ihr ein angenehmer Geruch von Kaffee mit einem 63 leichten Zimtaroma in die Nase. Sie liebte es gelegentlich etwas Neues auszuprobieren. Dieses Mal hatte sie Kaffeepulver mit ein wenig Zimt kombiniert. Ein hoch auf zeitgesteuerte Kaffeemaschinen, dachte sie. Lily öffnete die Tür des Hängeschrankes, um si ch e i ne Tasse herauszunehmen und ihre neue Kreation zu kosten. Das Zimtaroma wirkte in der Tasse sogar noch intensiver als in der Kaffeemaschine, stellte sie fest. Wie immer li eß sie noch Platz für Zucker und Milch. Sie hatte zwar schon mal versucht den Kaffee schwarz zu trinken, doch so ohne alles war die Brühe einfach ungenießbar. Vorsichtig nahm sie einen Schluck des heißen Kaffees zu sich und lobte sich selber für diese gelungene Kombination. Das Kaffeearoma harmonierte wunde rbar mit dem leichten Zimtgeschmack und der Geruch war einfach himmlisch. Fast schon wie Weihnachten, nur mi t Kaffee anstatt mit Tee. Das muss ich unbedingt Maik vorschlagen, dachte sie. Doch dann fiel ihr wieder ein, dass er sich vor einigen Tagen von ihr verabschiedet hatte und ihre gute Laune verschwand wieder. Deprimiert steckte sie sich zwei Scheiben Toast i n de n Toaster und ging ins Schlafzimmer um sich anzuziehen. Sie nahm sich Unterwäsche, einen schwarzen Rock und 64 ein weinrotes Oberteil aus dem Schrank und warf es aufs Bett. Entnervt und lustlos zog sich Lily ihr lieblos hingeworfenes Outfit an und ging wieder zurück in die Küche, wo schon ihr Toast auf sie wartete. Sie nahm die beiden Scheiben aus dem Toaster, strich sich ein wenig Frischkäse drauf und kaute genervt darauf rum. Fünfzehn Minuten für zwei Scheiben … Man bin ich gut. Was sie am meisten störte, war, dass sie heute zu ihrer ersten Sitzung erscheinen sollte. Wenn ihre Träume wirklich von einem Erlebnis kamen, die ihr Unterbewusstsein versuchte zu verdrängen, wollte sie sich gar nicht daran erinnern. Wer weiß, was ihr in North Carolina wiederfahren war, oder was sie erlebt hatte. Die Panik wuchs immer mehr in ihr und sie hatte niemanden, mit dem sie reden konnte. Niemanden an den sie sich anlehnen konnte. Sie schloss die Auge n und versucht sich in Gedanken Maiks Gesicht vorzustellen, um ein wenig Trost zu finden. Doch half dies leider auch nicht. Sie brauchte ihn bei sich. Sie musste ihn fühlen, ihn riechen. Erst dann würde sie ein wenig Ruhe finden doch das war leider nicht möglich. Gerade jetzt wo si e i hn am dringendsten brauchte, war er verschwunden. 65 Trübsal blasen half ihr jetzt aber auch nicht weiter, denn zu dem Gespräch musste sie so oder so. Widerwillig stand Lily auf, ging ins Badezimmer und machte sich fertig. Ihre langen dunkelblonden Haare band si e si ch zu einem Zopf zusammen. Heute störte sie wirklich alles. Ein kurzer Blick auf das Handy verriet ihr, das sie vor fünf Minuten losgemusst hätte. „Verdammt“, fluchte sie. Noch genervter als zuvor, schnappte sie sich ihre Sachen und verließ zügig die Wohnung um die nächste Bahn zu erwischen. 66
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