Leseprobe - Wolf´s Paws

Wolf´s Paws
Shadow of the Wolves
Verlegt durch Tobias Reuter
Jupiterstr. 24, 04205 Leipzig
[email protected]
Texte & Bildmaterial: ©2013 Copyright by Tobias Reuter
1. Auflage
Korrektorat: Anne Kleemann
www.wolfspaws.de
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich
geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des
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öffentliche Zugänglichmachung.
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1. Sleeples
„Hallo ist da jemand? ... Hallo?“
Verkrampft schaute sich Lily um. Sie hätte schwören
können, dass zwischen den meterhohen Bäumen
schemenhafte Gestalten hin und her huschten. Was ist
das nur für ein Ort? ... Wie bin ich hierhergekommen?
Das helle Mondlicht warf unheimliche Schatten auf
den dichten, mit moosbedeckten Waldboden. Lily zuckte
zusammen. „Wer ist da ... los zeigen Sie sich ... SOFORT!“
Ihr Herz pochte wie wild. Verdammt! Halt doch bloß die
Klappe. Du hast doch keine Ahnung wer oder was dich
erwartet ...
Ein plötzliches Geräusch, das aus der
entgegengesetzten Richtung an ihr Ohr drang, ließ sie
herumwirbeln. Sie ballte die Hände zu Fäusten.
„KOMMEN SIE SOFORT AUS DEM GEBÜSCH RAUS UND
ZEIGEN SIE SICH! ICH WEISS, DASS SIE DA SIND!“
Doch das war ein Fehler. Lily wurde kreidebleich. „Das
ist nicht wahr ... “, stammelte sie, „... das ... das kann
nicht sein ...“
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Sie traute ihren Augen nicht. Das war unmöglich ... Si e
stieß einen lauten Schrei aus und dann wurde alles
dunkel um sie herum.
Schweißgebadet wachte Lily auf und fiel fast aus de m
Bett. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe sie realisierte wo
sie war. Ihr Kopf hämmerte und ihr Herz überschlug si ch
fast. Schwarze Punkte huschten vor ihren Augen umher.
Als sich ihr Zustand wieder beruhigt hatte, verließ sie
das
weiche
Bett
und
trat
ans
geöffnete
Schlafzimmerfenster. Die frische Julisonne tauchte das
Zimmer in ein helles, warmes Licht und Gegenstände
warfen die verschiedensten Schatten an die Wände.
„Schon wieder ... schon wieder dieser Traum“,
murmelte sie vor sich hin. Ihr Blick glitt vom Fenster auf
den Wecker, der rechts neben einem schwarzen Bett auf
einem kleinen braunen Nachttisch stand.
Auf der anderen Seite des Raumes breitete sich
ein großer, ziemlich mitgenommen aussehender
Kleiderschrank aus Massivholz entlang der Wand aus.
Daneben stand eine Zimmerpflanze. Diese hatte si e von
ihrer Tante, vor einem Jahr zu ihrem vierundzwanzigsten
Geburtstag geschenkt bekommen. Die Einrichtung des
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Zimmers passte absolut nicht zusammen, doch das störte
Lily reichlich wenig, da sie aufgrund ihres Berufes
sowieso selten zuhause war.
Lily verzog das Gesicht als sie die Uhrzeit sah. „15.30
Uhr … schon wieder den halben Tag verschlafen. Was i st
nur los mit mir?“
Ihre Gedanken kreisten erneut in ihrem Kopf und
brachten sie zum Wanken. Immer wieder huschten
Schatten in ihren Gedanken umher. Seit fast zwei
Wochen ging das jetzt schon so. Lily versuchte ein Bild
aus den Eindrücken zu formen, schaffte es aber nicht. Ob
diese Visionen wohl mit ihrer Reise zusammenhingen?
Vor ungefähr vier Wochen brach sie von Leipzig – wo
sie vor über einem Jahr ihr neues Zuhause gefunden
hatte – nach North Carolina auf, um eine Reportage übe r
die Cherokee-Indianer zu drehen. Seitdem wurde sie
wieder und wieder von merkwürdigen Träumen geplagt.
Als sich ihr Blick von der Uhr löste, meldete sich
prompt ihr Magen zu Wort und signalisierte, dass sie
dringend etwas zu Essen auftreiben musste. Lily schlüpfte
in zerrissene Jeans, ein schwarzes, eng anliegendes
Spaghetti-Top und marschierte in Richtung Küche. Auf
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dem Weg dorthin huschte ihr ein Schatten über die Füße
und entlockte ihr ein erschrockenes Keuchen.
„Zeus“, sagte sie mit aufgebrachter Stimme. „Mach
das ja nicht noch einmal. Wegen dir bekomme ich noch
einen Herzinfarkt. Und das mit gerade mal knapp
fünfundzwanzig.“
Doch Zeus starrte sie nur mit seinen großen grünen
Augen an, gab ein genervtes Miauen von sich und
stolzierte in die Küche zu seinem Napf.
Zeus war Lilys bester Freund seitdem sie ihn vor einem
Jahr gefunden und aufgepäppelt hatte. Er hatte braunschwarz getigertes Fell und weiße Pfoten. Auf der Stirn
hatte
er einen
weißen
Fleck
in
Form
eines
Pfotenabdruckes.
Immer noch verärgert und mit leichtem Herzklopfen
folgte Lily dem Kater in die Küche und öffnete die
Kühlschranktür. Vielleicht sollte ich langsam mal
einkaufen gehen, dachte Lily, als sie in die gähnende
Leere ihres Kühlschrankes blickte. Seit ihrer Rückkehr vor
zwei Tagen war sie noch nicht dazu gekommen ihre
Vorräte wieder aufzufüllen.
Verärgert schloss sie die Tür und verschwand im
Badezimmer, welches auch nicht viel größer als die
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restlichen Zimmer ihrer Wohnung war. Ihre Kleidung mi t
samt der Unterwäsche flog im hohen Bogen in die
Waschmaschine, die auch dringend wieder eingeschaltet
werden musste. Dazu hatte sie momentan aber keine
Lust.
Lily stieg unter die Dusche, drehte das Wasser auf und
ließ sich mit geschlossenen Augen von dem angenehmen
Gefühl
der einzelnen
Strahlen
auf ihrer Haut
durchströmen. Sie stellte sich vor, dass sie in einem
warmen Sommerregen stand, fern aller Probleme und
jeglicher Zivilisation. Vor ihrem geistigen Auge e ntstand
eine weite Landschaft mit Bergen, Tälern und Wäldern im
gedämpften Licht der Abendsonne. In der Ferne vernahm
sie das Rauschen eines Wasserfalls, das fast schon wie
Donnergrollen klang. Überall sah sie Tiere im hohen Gras
die Lily ihrerseits jedoch nicht wahrzunehmen schi enen,
während über ihr einige Vögel durch die Lüfte glitten.
Alles schien ihr so vertraut, als wäre sie schon einmal
hier gewesen. Sie genoss den Anblick der friedlichen
Umgebung fernab der alltäglichen Realität. Sie ließ sich
verzaubern und dachte an den Anfang der Reportage
zurück.
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Sie hatte die Wahl zwischen verschiedenen Clans
gehabt. Aber wieso es ausgerechnet der Wolfs Clan
geworden war, wusste sie bis zum jetzigen Zeitpunkt
immer noch nicht. Sie hätte genauso gut einen der
anderen Clans wie zum Beispiel den Small Bird Clan ode r
den Blue Clan nehmen können.
Eine ganze Weile verging, bis sie ruckartig die Augen
aufriss und schreiend aus der Dusche sprang. „Verdammt
noch mal. Wie oft muss ich meinem Vermieter noch
sagen, dass irgendetwas mit der Dusche nicht stimmt“.
Das schöne warme Wasser wurde urplötzlich eiskalt
und hatte überhaupt nichts Idyllisches mehr an sich.
Verärgert drehte sie den Hahn zu und suchte ein
Handtuch, welches sie sich um ihren schlanken,
sportlichen Körper wickelte. Das Tuch, das Lily schließlich
erwischte, sah schon ziemlich alt und verwaschen aus.
Allerdings konnte sie sich bis heute nicht davon trennen.
Das Motiv, das den blauen Stoff zierte, zeigte einen
Wasserfall, auf dessen Spitze ein Wolfsrudel mit
gehobenen Köpfen stand und gerade dabei war e i n Li e d
anzustimmen. Über dem Rudel war ein großer Vollmond
zu sehen, der den Nachthimmel hell erleuchtete. Sie
wusste, dass es bereits die besten Jahre hinter sich hatte,
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doch besaß sie es schon seit ihrer Kindheit. Außerdem
war es das Einzige, was ihr noch von ihren Eltern
geblieben war, nachdem sie vor über zehn Jahren ohne
eine Nachricht verschwunden waren.
Frisch geduscht und mit nichts weiter als dem
Handtuch bekleidet, betrat Lily das Schlafzimmer und
öffnete den Kleiderschrank. Mit ihren ein Meter
Sechsundsechzig war sie nicht sehr groß, konnte aber
ohne Probleme die drei Fächer überschauen.
Vor ihr türmten sich verschiedene Pullover, Tops, TShirts und noch einige weitere Kleidungsgegenstände, die
von Lily – wie so oft – lieblos hineingeworfen wurden.
Wäsche zusammenlegen machte ihr einfach keinen Spaß.
Sie inspizierte mehrere Minuten lang die ersten beiden
Fächer, bevor sie verschiedene Klamotten aufs Bett warf.
Zu den Oberteilen und T-Shirts gesellten sich noch eini ge
Hosen, Röcke und Kleider.
Als Nächstes kam die Unterwäsche an die Reihe. „Was
könnte denn heute infrage kommen?“ Lilys Blick
schweifte über einen kleinen Haufen von Tangas und
Slips. „Mh … das? Nein ... das auch nicht, der auch nicht
... Wo hab ich denn …, ah da ist er ja.“ Sie hielt einen
schwarzen Tanga mit einem rüschenverzierten Saum und
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Weiß-Silber verzierten nähten in den Händen, den sie
sich erst vor Kurzem – als sie mal wieder in der Stadt
shoppen war – gekauft hatte.
Ihre negativste und zugleich nervigste Eigenschaft, di e
Lily von sich kannte, war das Problem, dass sie gerne Laut
über Dinge nachdachten. Und genau diese kleine Sache
hatte ihr schon manch peinliche Situationen beschert.
Nachdem jetzt genauso viel Chaos hinter wie vor ihr
herrschte, probierte sie verschiedene Outfits an. Lily
mischte alles Mögliche untereinander, bis ihr ein Outfit
zusagte. Die restlichen Klamotten warf sie anschl ie ße nd
wieder zurück in den Schrank.
Ihre sportliche Figur wurde von einer blauen Hotpants
mit ausgefransten Enden und einem weißen, bauchfreien
Spaghetti-Top mit dem Aufdruck: »Klein aber oho«
bedeckt. Dazu trug sie rosa-weiß gestreifte Beinstulpen,
die sie von ihrer letzten Reise mitgebracht hatte.
Vielleicht sollte ich mir noch schnell die Haare föhne n,
dachte Lily, als sie feststellen musste, dass ihre langen
dunkelblonden – fast schon braunen Haare – den Umri ss
ihres schwarzen Spitzen-BHs auf dem weißen Top
nachmalten.
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Die Stadt war bei dem schönen Wetter ganz besonders
voll. Hunderte von Menschen schoben sich durch die
Straßen und Gassen. Einige beschwerten sich über die
unerträgliche Hitze, andere kühlten ihr Gemüt mit Eis
und kalten Getränken ab. Kinder spielten mit den kleinen
Wasserfontänen, die in der Innenstadt aus dem Boden
sprudelten, während ihre Eltern mit Freude dabei
zusahen.
Lily mochte diese kleinen Spielereien besonders gerne.
Früher, als sie selbst noch ein Kind war, hatte sie auch
immer im Wasser gespielt, wenn die Wärme unerträglich
wurde. Selbst heute ging sie noch gerne Baden um sich
abzukühlen und dabei zu entspannen. Aber nicht nur di e
kleinen Dinge liebte sie so. Auch die Architektur. Zu ihren
Lieblingsorten
zählten
die
Thomaskirche,
die
Nikolaikirche genauso wie das Romanushaus – ein
historisches Barockgebäude in der Leipziger Innenstadt –
oder das Schillerhaus in Leipzig Gohlis, in dem Schiller die
»Ode an der Freude« geschrieben hat. Lily wusste nicht,
wo sie anfangen sollte. Es gab so vieles, das ihr gefiel.
Aber auch vieles, das sie noch nicht gesehen hatte.
An
mehreren
Straßenmusiker
Stellen
für
in
die
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der Stadt spielten
vorbeiziehenden
Menschenmassen und hatten Spaß dabei. Einen Musike r
mochte Lily jedoch besonders gerne und hielt je de s Mal
nach ihm Ausschau, wenn sie in der Stadt unterwegs war.
Er hatte stets seine schwarze Westerngitarre – die mit
goldenen Saiten und Zeichnungen verziert war – dabei,
und saß immer an derselben Stelle.
Lily schätzte den Musiker auf Ende zwanzig, Anfang
dreißig. Er hatte kurzes schwarzes Haar und einen
sportlichen Körper. An seiner Seite war immer ein Hund,
der gemütlich auf einer Decke schlief und sich von nichts
und niemandem stören ließ. Manchmal legte Lily auch
etwas Geld in seinen Gitarrenkoffer. Vorausgesetzt, sie
hatte nicht wieder alles für neue Klamotten ausgegeben.
Auch dieses Mal saß er an seinem gewohnten Platz.
Wie so oft musste Lily einfach stehen bleiben und se i ner
Musik lauschen. Als er unerwartet anfing zu singen,
bekam sie eine Gänsehaut. Noch nie zuvor hatte sie ihn
singen hören. Sie war hin und weg. Seine Stimme klang
so weich und gleichzeitig voller Energie. Lily war so
überwältigt von dem Gesang, dass sie ungewollt näher an
ihn herantrat.
Es verging eine ganze Weile, bis er sein Lied beendete
und eine Pause einlegte.
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„Das war wunderschön“, brach es aus ihr heraus.
Der junge Mann schaute sie lächelnd an. „Danke. Es
freut mich, dass es Ihnen gefallen hat“, entgegnete er i hr
höflich.
Erst jetzt bemerkte Lily, dass sie wieder einmal laut
gedacht hatte.
Der Musiker lächelte sie weiter an. „Ich habe Sie hier
schon öfter gesehen. Gefällt Ihnen meine Musik?“,
sprach er weiter.
Wärme machte sich auf ihrem Gesicht breit und sie
merkte, wie sie errötete. Hoffentlich bemerkt er es nicht,
dachte sie insgeheim. „Ich wohne hier in der Nähe und
bin daher oft in der Stadt …“, brachte sie leise hervor.
„Ich heiße übrigens Lily.“, sie streckte ihm zur Begrüßung
die Hand entgegen.
„Maik“, sagte der junge Mann und schüttelte ihre
Hand zur Begrüßung. „Sehr erfreut Sie ... ich meine di ch,
kennenzulernen.“ Er warf einen Blick nach rechts. „Und
diese Schlafmütze neben mir ist Charly“.
Als er seinen Namen hörte, öffnete Charly nur kurz di e
Augen, schaute zu Lily und schlief weiter.
Lily konnte sich ein Lachen einfach nicht verkneifen.
„Er ist fast genauso schlimm wie mein Kater. Nur, dass
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dieser es noch nicht mal für nötig hält, überhaupt seine
Augen zu öffnen, wenn ich ihn rufe. Außer wenn e s ums
Fressen geht. Da ist er dann sofort putzmunter.“
Maik und Lily unterhielten sich einige Zeit, bis sie
durch das Knurren ihres Magens daran erinnert wurde,
dass sie eigentlich einkaufen wollte. Ein kurzer Blick aufs
Handy sagte ihr, dass es höchste Zeit wurde, sich auf de n
Weg zu machen. Sie verabschiedete sich von Maik und
Charly
mit
dem
Versprechen,
bald
wieder
vorbeizukommen, und machte sich auf den Weg ins
Einkaufszentrum.
Während sie den Weg entlang schlenderte, machte sie
sich Gedanken darüber, wieso sie einem Fremden i hre n
Namen verraten hatte. Vielleicht weil er ihr gar nicht so
fremd vorkam?
Nach einer Stunde war sie endlich wieder zuhause
angekommen. Als sie die Wohnungstür öffnete, warte te
Zeus bereits auf sie und sah alles andere als erfreut aus.
„Ich weiß … ich war länger weg, als ich wollte. Tut mir
leid.“
Lily legte den Schlüssel auf das Regal neben der Tür
und schob sich an Zeus in Richtung Küche vorbei, um di e
Einkaufstüten abzustellen. Ihr Kater war zwar eine ganz
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schöne Nervensäge, aber keinesfalls dumm. Kaum hatte
sie angefangen die Tüten auszupacken, schlich er schon
um ihre Beine.
„Du weißt ganz genau, dass ich etwas zu fressen dabe i
habe, stimmts?“
Als sie den restlichen Einkauf verstaut hatte, nahm si e
eine Dose Katzenfutter und füllte den Inhalt in seinen
Napf. „So bitte sehr der Herr. Lass es dir schmecken.“
Der Kater schaute zu Lily, gab ein fröhlich klingendes
‚Miau‘ von sich und fing an zu fressen.
Nachdem sie nun erst mal Ruhe vor ihm hatte, machte
es sich Lily mit einer Tiefkühlpizza auf dem Sofa
gemütlich, schaltete den Fernseher an und zappte durch
das Abendprogramm.
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2. Dreaming
Das helle Licht des Mondes tauchte die Umgebung in eine
fast schon unheimliche Atmosphäre, während die
meterhohen Bäume beängstigende Schatten auf den
Boden warfen und jegliche Sicht auf das, was dort hi nte r
lauerte, verbargen. Der große runde See glänzte im
Schein des Mondes wie reinstes Silber und spiegelte de n
sternenklaren Nachthimmel auf der Wasseroberfläche
wider.
Von allen Seiten konnte Lily unheimliche Geräusche
vernehmen, die sie zusammenfahren ließen. Sie fühlte
sich in dem großen weiten Gelände einsam und verloren.
Der Ruf einer Eule erschrak sie so sehr, dass sie einen
Schrei – der alles andere als leise war – ausstieß.
„Du blödes Vieh", schimpfte sie. „Musst du mich so
erschrecken?“
Die Eule würde ihr zwar sowieso keine Antwort geben,
dennoch konnte sich Lily diesen Kommentar einfach nicht
verkneifen. Er half ihr dabei, sich wieder etwas zu
beruhigen. Langsam lief sie weiter. Sie musste
schnellstmöglich einen Weg aus dem Wald und we g von
diesem unheimlichen Ort finden. Sie schaute in den
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Nachthimmel und spürte, wie ihr die kühle Luft eine
Gänsehaut verpasste.
Zum Glück haben wir heute Vollmond, dachte sie.
Doch außer Bäumen und noch mehr Bäumen war nichts
zu erkennen, das auch nur ansatzweise wie ein Weg
aussah. „Wer auch immer den Ausdruck: »Man sieht den
Wald vor lauter Bäumen nicht« erfunden hat, hatte genau
diese Situation damit gemeint …“, grummelte sie.
Das Knacken eines zerbrechenden Zweiges ließ sie
ruckartig herumfahren. „Wer ist da? Zeigen Sie sich. Ich
bin bewaffnet!“, brüllte Lily in die Dunkelheit. Aber nichts
tat sich.
Ihr Herz pochte. Nach diesem Schreck wollte Lily nur
noch schneller aus dem verdammten Wald heraus.
Dummerweise hatte sie sich den Weg nicht gemerkt, und
irrte nun planlos umher. Für ihre Schusseligkeit hätte si e
sich in den Hintern beißen können.
Erneut ließ ein Knacken sie herumwirbeln. Li l y woll te
gerade den Mund öffnen, um etwas zu sagen, als si e von
den Füßen gerissen wurde und unsanft auf den
moosbedeckten Boden aufschlug. Durch den harten
Aufprall wich sämtliche Luft aus ihren Lungen und ließ sie
aufkeuchen. Ihre Brust fing an zu schmerzen und das
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Atmen fiel ihr von Sekunde zu Sekunde schwerer. Sie
konnte nicht mal um Hilfe rufen.
Keuchend und nach Luft ringend, riss sie die Augen auf.
Zu ihrer Verwunderung stellte sie fest, dass sie ni cht auf
dem Waldboden, sondern in ihrem Bett lag, und der
stechende Schmerz, den sie in ihrer Brust verspürte, di e
Krallen von Zeus waren.
Wütend warf sie den Kater in hohem Bogen von sich
runter. „Bist du total bescheuert? Was denkst du dir
überhaupt dabei?“, rief sie Zeus hinterher, der
mittlerweile das Schlafzimmer verlassen hatte.
Schmerzerfüllt rieb sie sich die Brust. Lily kam nicht
drum herum nachzuschauen, welches Andenken er ihr
hinterlassen hatte. Sie zählte ganze vier kleine Löcher, die
zu allem Überfluss auch noch bluteten. Sie zog die dünne,
pinke, mit weißen Blumen verzierte Sommerdecke zur
Seite, schlüpfte in ihre Hausschuhe und verschwand im
Bad.
Nachdem sie sich das Blut von der Haut gewischt
hatte, ging sie zurück ins Schlafzimmer und verzog das
Gesicht, als ihr Blick auf den Wecker fiel. Es war bereits
Nachmittag. Der kleine schwarze Wecker, den sie bei
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einer Tombola gewonnen hatte, zeigte in rot leuchtenden
Zahlen »15:45« an.
Langsam begann Lily, ihren kleinen Ausflug zu bereuen.
Wäre sie nicht nach North Carolina geflogen, würde sie
jetzt sicher nicht von diesen merkwürdigen Al bträumen
geplagt werden. Sie warf dem Wecker abermals einen
grimmigen Blick zu, und verschwand in die Küche. Sie
brauchte dringend einen Cappuccino und vielleicht auch
eine Kleinigkeit zu essen.
Nach zwei Tassen ihres Lieblingsgetränkes so wi e vi er
Scheiben Toast mit Schmierkäse und Wurst, beschloss si e
sich ein paar Klamotten – die von ihrer gestrigen
Schrankausräumaktion noch rumflogen – überzuziehen.
Ein bisschen frische Luft würde ihr sicher gut tun.
Nicht weit von ihrer Wohnung gab es einen kleinen
Park, in dem Lily gerne spazieren ging. Es war für sie die
beste Art, um den Kopf freizubekommen und neue
Energie zu tanken.
Lily liebte die Natur. Schon als kleines Mädchen – auch
wenn sie jetzt nicht viel größer war – gab es für sie nichts
Schöneres. Sie setzte sich auf eine der vielen Parkbänke
und atmete einmal tief ein. Sie konnte regelrecht spüren,
wie sich ihre Lungen mit der frischen Luft füllten. Der
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Park war einer ihrer Lieblingsorte, wenn es darum ging
nachzudenken.
Vor ihr erstreckte sich eine große Rasenfläche, auf de r
die verschiedensten Bäume standen. Direkt hinter ihr war
ein kleiner Teich, in dem sich Enten tummelten. Über das
Wasser führte eine schmale Holzbrücke auf die andere
Seite, wo es sich einige junge Leute auf dem Rasen
bequem gemacht hatten und fröhlich lachten. Die Sonne
strahlte so hell, als ob es kein Morgen mehr geben
würde. Von allen Seiten konnte Lily den Gesang der Vögel
hören.
Sie kramte ihr Handy aus der Hosentasche und
entsperrte es mit einer kurzen Bewegung ihres
Zeigefingers. „Hausarzt“, las sie laut vor, als sie durch i hr
Adressbuch scrollte. Im selben Augenblick erklang von
der Seite eine ihr sehr bekannte Stimme.
„Bist du etwa krank?“
Als sie sich zur Seite umdrehte, staunte sie nicht
schlecht. Neben ihr stand plötzlich Maik, der sie mit
fragendem Blick ansah.
Lily zögerte ein wenig, bevor sie ihm eine Antwort gab:
„Wie kommst du denn darauf? Sehe ich etwa krank aus?“
„Du hast Hausarzt gesagt", entgegnete er ihr.
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Langsam realisierte Lily, dass sie, ohne es zu bemerken,
ihren Gedanken laut ausgesprochen hatte. „Nein, mir
gehts gut. Ich habe nur mein Telefonbuch durchgesehen.“
Maik sah sie fragend an.
„Was ist? Glaubst du mir etwa nicht?“
„Du sitzt hier draußen auf einer Parkbank und auf
einmal
kommt dir die
Idee dein Telefonbuch
durchzublättern? Nein das glaube ich dir wirklich nicht.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Musst du ja auch nicht.
Aber ich dachte, bei dem schönen Wetter kann ich das
auch an der frischen Luft machen und muss dafür nicht in
der Wohnung hocken.“
Das Gebüsch vor ihr fing plötzlich an zu rascheln, und
einige Sekunden später tauchten zwei runde Augen auf,
die sie anstarrten. Der Anblick von Charlys Kopf war so
komisch, dass es Lily schwerfiel, mit dem Lachen
aufzuhören.
„Charly. Was machst du denn da?“
Mit einem Satz sprang er aus dem Gebüsch und stand
nun direkt vor ihr. Zum ersten Mal konnte sie Charl y nun
komplett betrachten. Mit seiner stattlichen Größe ging e r
ihr fast bis über die Knie. Sein langes, gepflegtes Fell hatte
ein schwarz-braunes Muster. Unter dem Kopf bis hin zum
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Bauch sah Lily helles weißes Fell, das ihr vorher gar ni cht
aufgefallen war. Um die Augen bis zur Schnauze hatte e r
einen Verlauf von Hellbraun zu Dunkelbraun. Nur seine
Beine und die Pfoten waren schneeweiß. Auf der Stirn
trug er einen kleinen weißen Fleck, der aussah wi e e ine
Raute.
„Was für eine Rasse ist Charly überhaupt?“, wollte Lill y
wissen.
„Der Kleine hier ist ein Border Collie Mischling.“
„Der Kleine? Ein paar Zentimeter mehr, und er ist
größer als ich.“
Charly hatte sich in der Zwischenzeit mit einem Ball i m
Maul vor Lily gesetzt, und wartete nun darauf, dass sie
ihm ihre Aufmerksamkeit schenkte.
„Er scheint dich zu mögen.“ Maik deutete mit einer
Geste zu Charly, der sie immer noch fixierte.
Lily streckte ihre Hand aus, woraufhin Charly den Ball
fallen ließ und sich ein paar Schritte von ihr entfernte.
„So, so. Du willst also, dass ich den Ball werfe, ja?“
Charly blickte sie mit wedelndem Schwanz an, und gab
ein freudiges Bellen von sich.
„Ich nehme mal an, das heißt ja.“ Sie holte kräftig aus
und warf den Ball weit über die Wiese.
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Der Ball war kaum in der Luft, als Charly bereits
lossprintete. Wie ein Marathonläufer rannte er de m Bal l
hinterher, um ihn zu fangen. Es dauerte auch nicht lange ,
und er kam schwanzwedelnd, mit der Beute im Maul
zurück, um diese Lily vor die Füße zu legen.
„Ok. Einmal werfe ich ihn noch", grinste sie.
Das Spielen hatte sie so sehr von ihrem eigentlichen
Vorhaben abgelenkt, dass Lily ganz vergessen hatte , was
sie überhaupt machen wollte.
Sie schaute zu Maik. „Gehen wir ein Stück?“
Er zuckte mit den Schultern. „Klar, wieso nicht.
Meinetwegen gerne.“
„Also erzähl mal. Was machst du eigentlich hier? Ich
dachte, du würdest wieder in der Stadt sitzen und Musi k
machen.“
„Ich mache zwar für mein Leben gerne Musik“, erklärte
er ihr. „Aber die ganze Zeit in der Stadt sitzen kann ich
Charly nicht zumuten. Der Kleine braucht schließlich auch
ein wenig Abwechslung.“
Lily fand es faszinierend, wie sehr er sich um seinen
Hund kümmerte. Sie kannte einige Menschen, denen das
Wohlbefinden ihres Hundes am Allerwertesten vorbei
ging. Was sie absolut nicht tolerierte.
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„Wie alt ist Charly eigentlich? Ich würde so auf drei
oder vier Jahre tippen.“ So voller Energie, wie er war,
konnte sie eigentlich nicht so sehr daneben liegen.
„Du bist gut", grinste Maik. „Er ist dreieinhalb, und e i n
richtiges Spielkind.“
Sie warfen einen Blick zu Charly, der sie überhaupt
nicht beachtete. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, die
Enten – die am Ufer des Teiches schnatterten – zu
beobachten. Eine schwarz-grau gefleckte Ente bewegte
sich langsam auf den kleinen Zaun – der die Grünfläche
umgab – zu. Als sich Charly ihr vorsichtig näherte, erntete
er dafür prompt ein Fauchen. Mit einem Satz sprang er
zurück und schaute den Erpel verdutzt an.
„Kann es sein, dass Charly noch nicht so viele Enten
gesehen hat?“ Lily schaute ihm gespannt zu, wie er wohl
darauf reagieren würde.
„Die eine oder andere hat er schon gesehen, aber ich
vermute, er hat sich gerade eher mehr erschrocken, we il
es die Erste ist, die in anfaucht.“
Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Der
Anblick war einfach zu komisch.
Charly näherte sich erneut der Ente bis auf wenige
Zentimeter. Als sie ein weiteres Fauchen von sich gab,
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wich er aber dieses Mal nicht zurück, sondern bellte de n
Erpel an, sodass dieser stattdessen Reißaus nahm.
Maik und Lily konnten sich ein Lachen nicht verkneifen.
Charly war ja so süß, und sein Herrchen ist auch nicht
von schlechten Eltern, folgte dem ersten Gedanken.
Langsam versank die Sonne am Himmel, aber Lily hatte
keine Lust nach Hause zu gehen. Sie wollte viel lieber
noch eine Weile mit Maik und Charly zusammen sein.
Eine Stunde noch, dann gehe ich wirklich nach Hause,
nahm sich Lily vor.
Nachdem sie sich endlich zu einer Verabschiedung
durchgerungen hatte, machte sie sich langsam auf den
Weg in Richtung Wohnung. Auch wenn sich ihre Lust in
Grenzen hielt. „Was muss, das muss", murmelte sie l e ise
vor sich her. Lily hoffte, dass der kleine Ausflug an der
frischen Luft ihr eine ruhigere Nacht als die vorherigen
bescherte.
Obwohl es bereits dunkel wurde, waren immer noch
viele Menschen auf den Straßen unterwegs. Da Lily im
Moment keine Lust auf eine größere Menschenmenge
hatte, entschied sie sich einen anderen Weg zu ne hme n.
Der einzige Nachteil an ihrer neuen Route lag darin, dass
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diese viel länger – aber in Anbetracht der Situation –
wesentlich angenehmer war.
Der Weg führte sie durch einige abgelegene
Seitengassen, die ihr eine leichte Gänsehaut verpassten.
Ausgerechnet dann, wenn sie es in Erwägung zog di e sen
Weg zu nehmen, waren die meisten Lampen kaputt. Das
ist ja mal wieder ganz klasse.
Als sie das Ende der Gasse erreichte, wurde es langsam
heller. Sie befand sich wieder auf ihrer eigentlichen
Route, die ihr um einiges lieber war. Ein Vibrieren gefol gt
von einem lauten Klingelton ließ sie zusammenzucken.
Sie musste dringend den Ton ändern.
„Carter?“
„Lilymäuschen. Wie geht´s dir? Seit du wieder zurück
in
Deutschland
bist,
hat
man
von
dir
kein
Sterbenswörtchen mehr gehört.“
Sie erkannte die Stimme am anderen Ende sofort.
„Tony, du weißt doch, dass ich mich nach längeren Reisen
immer ein wenig ausruhe, bevor ich mich wieder in die
Arbeit stürze.“
Schweigen herrschte für einige Sekunden in der
Leitung.
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„Ja, ein wenig … Aber du meldest dich ja noch nicht
einmal, wenn ich dir auf die Mailbox spreche. Und dass
gleich über zwei Wochen nicht. Glaubst du, da macht
man sich keine Sorgen?“, hielt ihr Tony vor.
„Es ist nicht das erste Mal. Das weißt du genau. Ich
hätte mich früher oder später schon gemeldet", konterte
Lily. Obwohl sie genau wusste, was er meinte.
„Ja, früher oder später. Aber wohl eher später. Hätte
ich mich nicht gemeldet, hätte ich immer noch nichts von
dir gehört.“
Lily schwieg. Dann sagte sie: „Ich brauche einfach noch
ein bisschen Zeit. Das ist alles.“
Sie hörte, wie er tief Luft holte und seufzte.
„Okay, weil du es bist. Aber wenn ich in den nächste n
zwei Wochen nichts von dir höre, komme ich persönlich
vorbei.“
Das wollte Lily nun wirklich nicht, weshalb sie ihm
versprach, sich sobald wie möglich zu melden.
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3. Is it Love?
Auch die folgenden Nächte brachten Lily nicht die
erhoffte Ruhe, die sie so sehr ersehnte. Ständig wurde sie
von Albträumen heimgesucht, die ihr den Schlaf raubten.
Seit ihrer Rückkehr waren bereits vier Wochen
vergangen. Aber eine Besserung war nicht in Sicht. Wie
versprochen hatte sie sich sogar bei Tony gemeldet, um
einem ungewollten Besuch von ihm zu entgehen. Ihre
Treffen mit Maik wurden ebenfalls regelmäßiger, sodass
sie sich mittlerweile mehrmals die Woche sahen. Sollte
ihre Einsamkeit nun endlich ein Ende haben? Hatte sie
endlich jemanden gefunden, der an ihrer Seite war?
Lily wusste nicht, ob Maik für sie ebenfalls Gefühle
hegte, oder ob sie für ihn nur eine gute Freundin war.
Aber sie kannte ihre eigenen Gefühle und diese machten
sie langsam verrückt. Ihre ganzen Sorgen und Ängste
waren wie weggespült, wenn sie mit ihm zusammen war.
Lily mochte seine Nähe und doch war diese
Ungewissheit unerträglich. Sie musste ihn unbedi ngt zur
Rede stellen. Sie musste wissen, ob er mehr als nur
Freundschaft für sie empfand, oder ob sie sich umsonst
Hoffnung machte. Doch das musste erst einmal warten.
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Sie hatte heute einen Termin bei ihrem Hausarzt. Knapp
sechs Wochen mit diesen Träumen waren für sie
endgültig genug und hatten sie letzten Endes dazu
bewegt, sich einen Termin zu machen.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie noch über eine
Stunde Zeit hatte, bis die Bahn kam. Irgendwie musste sie
es schaffen, die Zeit zu überbrücken. Aber auch ihre
innere Stimme wusste keinen Rat. Sie zog das Handy aus
der Hosentasche, entriegelte die Tastensperre und rief
Tony an.
Ein Fröhliches: „Hallo Lily mein Schatz.“ erklang am
anderen Ende der Leitung.
„Tony. Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass ich nicht
dein Schatz bin?“
„Jedes Mal wenn wir telefonieren, denke ich",
erwiderte er.
„Dann gewöhne es dir endlich ab.“ Lily klang hörbar
genervt, doch dass interessierte Tony genauso wenig, wie
die letzte Wasserstandsmeldung vom Nil. Er liebte es, si e
mit Kosenamen aufzuziehen und freute sich jedes Mal
wie ein kleines Kind, wenn sie sich darüber aufregte.
28
„Gibt
es
etwas
Neues
von
meiner letzten
Dokumentation? Haben sich noch irgendwelche Sender
gemeldet, die daran Interesse haben?“, bohrte Lily nach.
„Nein, nichts Engelchen. So etwas dauert seine Zeit.
Ich habe schon mehrere Sender angeschrieben und warte
noch auf eine Rückmeldung.“
Lily wusste, dass die meisten Sender ihre eigenen
Filmteams hatten, die sie zu Dreharbeiten entsandten,
was die Auftragslage für Freiberufler erschwerte. „Okay.
Halte mich auf dem Laufenden und sag Bescheid, sobald
sich irgendetwas ergibt.“
Sie wollte gerade auflegen als Tony ins Telefon rief:
„Willst du heute nicht mal im Büro vorbeischauen? Wir
könnten auch zusammen etwas essen gehen, wenn du
magst.“
Doch darauf hatte Lily nun wirklich keine Lust. „Tut mi r
leid Tony, aber heute habe ich keine Zeit. Ich habe gl e i ch
noch einen Termin. Bis bald.“
Mit diesen Worten beendete sie das Telefonat und
steckte ihr Handy wieder in die Tasche. Verdammt ...
Wieso meldet sich dieses Mal kein Sender. Sonst hatte si e
doch auch nicht solche Probleme mit der Vermarktung
ihres Materials …
29
Erneut warf sie einen Blick auf die Uhr. „Gerade mal
zehn Minuten vergangen?“ Lily kam es vor, als ob die Zei t
gar nicht verstreichen wollte. Trotzdem beschloss sie, sich
schon mal langsam fertigzumachen. Sie schlenderte
zuerst ins Schlafzimmer, bevor sie anschließend im
Badezimmer verschwand, um kurz danach die Wohnung
zu verlassen.
Da ihr Arzt etwas weiter weg war, entschied sie sich
eine frühere Straßenbahn zu nehmen. Zum Glück war di e
Haltestelle einen Katzensprung von ihrer Wohnung
entfernt. Sie stieg in die Linie vier, Richtung Gohlis Landsberger Str. und hielt Ausschau nach einem Sitzplatz.
Gott sei Dank war die Straßenbahn nicht sonderlich vol l.
Sie mochte keine überfüllten Bahnen oder Busse . Schon
gar nicht im Sommer.
Lily hatte zwar keine Platzangst, aber sie liebte ihren
Freiraum. Außerdem wäre die Wärme in einer vollen
Bahn unerträglich gewesen. Noch mehr, als sie es
sowieso schon war.
Ungefähr fünfzehn Minuten später stand sie vor der
Tür ihres Hausarztes. Zögernd betätigte sie die Klingel und
wartete auf das Summen des Türöffners. Als sie die Praxis
30
betrat, stieg ihr der Geruch von Desinfektionsmittel in die
Nase und brachte sie beinahe zum Niesen.
Sie legte ihre Krankenkarte auf die Theke und bezahlte
die zehn Euro Praxisgebühr nur widerwillig. Bis auf
wenige Plätze war das Wartezimmer sehr gut gefüllt, was
für diese Uhrzeit untypisch war. Eine Stimme, die sich al s
die Schwester vom Empfang entpuppte, rief einen
Patienten nach dem anderen auf, bis nur noch vier Le ute
vor ihr waren. Die Zeit schien gar nicht zu vergehen.
Wieder ein weiterer Grund, wieso Lily es hasste, zum Arzt
zu gehen. Noch dazu gab es nicht einmal Zeitschriften,
die wirklich interessant waren.
Nach einer Wartezeit von über zwei Stunden durfte sie
endlich einen der drei Behandlungsräume betreten. Das
Zimmer war nicht sonderlich groß, bot aber Platz für
einen Schreibtisch, eine Liege sowie diverse Schränke mit
verschiedenen Utensilien drauf. Hinter ihr stand ein
weißer Raumteiler, wo die Möglichkeit bestand, sich
seiner Kleider zu entledigen, was sie aber auf keinen Fal l
vorhatte.
An den weißen Wänden hingen verschiedene Poster
von Muskeln, Knochen und sonstigen menschlichen
Körperteilen. Lily schaute zur Decke hoch, die eine Höhe
31
von mindestens drei bis vier Metern haben musste. Sie
fragte sich, wer dort oben wohl sauber machte und wie
um alles in der Welt die Glühbirnen ausgetauscht
wurden.
Das Knarren der Tür riss sie aus ihren Gedanken und
ließ sie zur Seite blicken. Ein komplett in weiß gekleideter
Mann Mitte dreißig betrat den Raum, begrüßte sie mit
einem freundlichen Händedruck und setzte sich
anschließend auf seinen schwarzen Drehstuhl.
„Hallo Frau Carter. Lange nicht gesehen. Wie geht es
Ihnen? Was kann ich für Sie tun?“
Seine Stimme klang ruhig und sanft, so, wie man es
von einem Arzt erwarten würde. Auch wenn nicht alle
Ärzte, die Lily kannte, so waren.
„Mir geht es so weit ganz gut. Allerdings habe ich seit
meiner Rückkehr einige Probleme was das Schlafen
anbelangt.“
„Stimmt. Sie hatten sich vor ihrer Reise noch ein paar
Impfungen abgeholt. Wo waren sie noch gleich
gewesen?“
Lily dachte an die vielen Spritzen, die sie bekommen
hatte, und rieb sich automatisch ihre Schulter. „In North
Carolina. Für eine neue Dokumentation.“
32
„Voller Erfolg auf ganzer Linie nehme ich an?“
„Schön wär´s. Aber ich bin zuversichtlich, dass sich das
noch ändern wird.“ Das hoffte Lily wirklich, da sonst die
ganze Reise umsonst gewesen wäre.
Nachdenklich richtete er seine Brille und fuhr sich
durch die kurzen blondbraunen Haare „Dann erzählen Sie
mal von ihren Schlafproblemen.“
Nachdem sie die kurze Zusammenfassung beendet
hatte, fügte sie noch hinzu: „Diese Probleme und Träume
habe ich jetzt schon über sechs Wochen.“
Als Lily ihr aktuelles Problem ausführlich geschildert
hatte, gab der Arzt ein nachdenkliches Brummen von
sich, bevor er anfing, seine Diagnose zu stellen.
„Also Frau Carter, für mich klingt es nach einem
psychischen Problem. Haben Sie vielleicht während Ihrer
Reise irgendetwas erlebt, oder ist Ihnen irgendetwas
widerfahren?“, wollte er wissen.
Lily sah ihn nachdenklich an. „Nein. Nichts. Je denfalls
nichts, an das ich mich erinnern könnte. Es war eigentlich
eine ganz normale Reise, wie immer.“
„Irgendetwas muss diese Träume ausgelöst haben.
Stellt sich jetzt allerdings die Frage, was.“ Er gab etwas i n
seinen Computer ein und notierte anschließend einige
33
Sachen auf einem Zettel. „Ich werde Ihnen ein leichtes
Schlafmittel
und
ein
pflanzliches
Medikament
aufschreiben. Sollte das nicht helfen, kommen Sie bitte in
einer Woche noch einmal vorbei. Dann müssen wir
sehen, wie wir in dieser Sache weiter vorgehen.“
Lily bedankte sich mit einem Händedruck und verließ
das Behandlungszimmer. An der Rezeption erhielt sie von
der Schwester die beiden angekündigten Rezepte, wovon
eines grün war, was bedeutete, dass sie dieses
Medikament selber bezahlen durfte.
Auf dem Rückweg zur Haltestelle kam sie an einer
Apotheke vorbei, in der sie die Rezepte einlöste.
„Das macht dann insgesamt fünfzehn Euro“, sagte die
ältere Dame an der Kasse.
Lily kramte ihr Portemonnaie hervor. Toll schon wieder
alles weg, dachte sie und legte das Geld auf den Tresen.
Lily entschied sich, zu Fuß zurück in die Stadt zu ge he n
und einen kleinen Abstecher zu ihrem Lieblingsplatz zu
machen. Sie brauchte fast fünfzehn Minuten, doch das
störte Lily nicht, immerhin war sie langes Laufen
gewohnt.
34
In der Stadt angekommen, sah sie sich suchend nach
Maik um, fand ihn aber nicht. „Wo steckt er schon
wieder“, murmelte sie.
„Hier stecke ich.“
Lily drehte sich auf dem Absatz um und stieß fast mit
ihm zusammen.
„Na na, nicht so stürmisch junge Frau“, lachte er.
Lily wurde knallrot im Gesicht. „Habe ich etwa wi e der
laut gedacht?“
„So könnte man es sagen. Aber macht ja nix. Hat ja
sonst niemand gehört.“
„Es reicht schon, dass du es gehört hast. Ich sollte echt
besser aufpassen.“
Ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit, als
er ihr den Kopf tätschelte.
„Lass das. Sehe ich etwa aus wie ein Hund?“
„Wärest du ein Hund, würde ich dir jetzt noch ein
Leckerli geben und den Bauch kraulen.“
Lilys Fantasie konnte nicht widerstehen, ihr Bilder in
den Kopf zu projizieren. Schnell versuchte sie die
Gedanken fortzuscheuchen, obwohl ihr die Vorstellung
gefiel.
35
„Bis auf das Leckerli hätte ich nichts dagegen“, flüsterte
Lily kaum hörbar.
„Hast du gerade etwas gesagt?“
„Ich? Nein, wie kommst du darauf?“ Verdammt! Lily
halt die Klappe und pass besser auf, was du wann von di r
gibst, ermahnte sie sich selber. „Warum spielst du denn
heute nicht? Keine Lust oder hast du jetzt einen ande re n
Platz?“ mit fragendem Blick schaute sie zu Maik hoch. Am
liebsten würde ich dich jetzt küssen und deine Lippen
schmecken … An was denke ich hier eigentlich schon
wieder? Schluss jetzt. Es machte Lily verrückt nicht zu
wissen, wie seine Gefühle ihr gegenüber waren.
„Ich hatte heute Morgen schon ein wenig gespielt.
Aber es ist nicht so viel los. Muss wohl an der Wärme
liegen. Was hältst du davon, wenn wir ein Eis essen
gehen?“
Lily musste nicht lange überlegen und antwortete
rasch: „Aber nur wenn du mich einlädst.“ Eis war eines
der wenigen Dinge, mit denen man sie schnell ködern
konnte.
Als Lily sich umschaute, bemerkte sie, dass jemand
fehlte. „Wo ist denn Charly? Hast du ihn alleine zu Hause
gelassen?“
36
„Er ist bei einer Freundin, die heute auf ihn aufpasst.“
Sie fühlte einen Stich in ihrer Brust – als ob ihr je mand
eine Nadel hinein gerammt hätte. Oh bitte lass ihn ke i ne
Freundin haben, dachte Lily.
Vorsichtig versuchte sie in Erfahrung zu bringen, wer
diese geheimnisvolle Freundin war. „Du sag mal, wenn
wir so oft etwas zusammen unternehmen, wird deine
Freundin da nicht eifersüchtig?“ Kaum hatte sie es
ausgesprochen, bereute sie es auch gleich wieder.
Maiks Blick wirkte sehr überrascht. „Meine Fre undi n?
Wie um alles in der Welt kommst du jetzt darauf? Du
glaubst doch nicht, dass sie meine Freundin sei, oder? Ich
sagte, EINE Freundin passt auf ihn auf und nicht MEINE.“
Lily biss sich auf die Unterlippe. Na toll, wieder ein
Fettnäpfchen, in das ich getreten bin. „Tut mir leid. Es
geht mich ja auch nichts an. Ich wollte nur nicht, dass du
Ärger wegen mir bekommst.“
„Ist schon ok Lily. Aber danke, dass du dir Sorgen um
mich machst.“
Zusammen machten sie sich auf den Weg in das nahe
gelegene Eiscafé. Kaum angekommen schnappte sich Li l y
die Eiskarte und studierte diese ausführlich. Jedes Mal
wenn sie die Karte durchblätterte, stand sie vor derselben
37
Frage. Was sollte sie nur nehmen? Die Auswahl war
einfach viel zu groß.
Nach geschlagenen zehn Minuten hatte sie sich endlich
für einen Eisbecher entschieden, was aber noch lange
nicht hieß, dass ihr die anderen Sorten weniger zusagten.
Als die Bedienung zum zweiten Mal vorbei kam, bestellte
sie sich einen großen Eisbecher mit extra vielen
Erdbeeren und viel Schlagsahne. Sie liebte Erdbeeren und
Schlagsahne abgöttisch und konnte nicht widerstehen.
Maik hingegen bestellte sich einen Früchtebecher mit
Likör und verschiedenen Eissorten.
„Hoffentlich hältst du mich nicht für verfressen. Aber
bei Erdbeeren mit Sahne werde ich einfach schwach“,
sagte sie zögernd.
Er zuckte mit den Schultern. „Ist schon ok. Jeder von
uns hat eine Schwäche.“
Lily
versuchte,
sich
zusammenzureißen.
„Ach
wirklich?“, platzte es dann doch aus ihr heraus. „Und
welche ist deine Schwäche?“
Gerade als Maik zu einer Antwort ansetzen wollte, kam
die Bedingung mit dem Eis. Lily musterte den großen
Eisbecher, der vor ihr stand. Er war bis obenhin mit
leckeren Erdbeeren gefüllt, die mit einer we i ßen De cke
38
aus Schlagsahne bedeckt waren. An der Seite steckte eine
rohrförmige Waffel. Ihr lief das Wasser förmlich im Mund
zusammen.
Das musste auch Maik bemerkt haben, denn er sagte
lächelnd zu ihr: „Wenn du den Becher weiter so anstarrst,
fängst du noch an zu sabbern.“
Doch Lily nahm den Satz gar nicht wahr. Sie war zu sehr
von ihrem himmlisch aussehenden Erdbeerbecher
abgelenkt, der fast schon zu schade zum Essen war.
Genüsslich nahm sie den ersten Bissen zu sich. Wi e se hr
hatte sie das leckere Eis vermisst, als sie in Ame rika war.
Zugegeben in North Carolina gab es auch leckeres Eis,
aber dieses hier, war ihr von allen noch am liebsten. Es
dauerte nicht lange und Lily hatte bereits über die Häl fte
des Eisbechers aufgegessen. Maik hingegen hatte gerade
mal ein Viertel seines Bechers leer.
Sie redete sich ein, dass es an den vielen
verschiedenen Früchten lag, dass er etwas länger
brauchte als sie. Zugegeben, es waren wirklich sehr vi e le
Früchte. Neben Melonen, Ananas und Kiwis tummelten
sich noch Bananen, Erdbeeren und Mangos in dem Glas.
„Da hast du dir aber was vorgenommen. Schaffst du
das überhaupt alles?“
39
Maik steckte sich den Löffel in den Mund und kaute
genüsslich auf einer Melone. Nachdem er sie
runtergeschluckt hatte, beantwortet er Lilys Frage mit
einem knappen: „Japp“, und schob sich den nächsten
Löffel hinterher.
Als auch die letzte Frucht ihren Weg in Maiks Mund
gefunden hatte, beschlossen sie noch einen kleinen
Abstecher in den Park zu machen, um das schöne Wette r
zu genießen. Heute waren sogar noch mehr Menschen
unterwegs als an den anderen Tagen, stellte Lily fest.
Ein paar Meter weiter stand eine Bank, auf die sie si ch
setzten. Sie musste es endlich wissen ... Sie musste
endlich wissen, wie er zu ihr stand. Sonst würde sie noch
verrückt werden – wofür die Träume schon genug
sorgten. Sie holte tief Luft und wollte gerade mit der
Frage rausplatzen, als das Handy klingelte.
Verdammt, ausgerechnet jetzt. Genervt schaute Lily
auf das Display. Tony … Wer auch sonst könnte zu einem
solch unpassenden Zeitpunkt anrufen.
„Was ist?“
„Hey, hey nicht so forsch Schätzchen.“
„Wie oft habe ich dir schon … ach egal. Was willst du?
Du störst gerade etwas“, knurrte Lily ihn an. Im selben
40
Moment biss sie sich auf die Zunge. Sie hätte ihm nicht
sagen sollen, dass er stört. Denn jetzt würde er sie
ausquetschen wie eine Zitrone.
„Soso, ich störe also? Wobei denn? Gehst du mir e twa
fremd?“, grinste er hämisch.
„Tony … Wie soll ich dir fremdgehen, wenn wir noch
nicht einmal etwas miteinander haben und dies auch
niemals der Fall sein wird?“
„Autsch. Das verletzt jetzt aber meine Gefühle.“
„Jetzt sag endlich, was du willst. Ich habe heute noch
etwas Besseres zu tun, als dir jedes Wort aus der Nase zu
ziehen.“ Ihre Stimme klang jetzt nicht mehr genervt,
sondern sauer.
„Herrje … komm wieder runter. Ich wollte dir nur
sagen, dass ich eine Rückmeldung wegen deiner Doku
bekommen habe. Ich habe dir die Kontaktdaten bereits
per Mail zugesendet.“
Endlich mal eine gute Nachricht dachte sie. „Danke für
die Info. Ich werde mich nachher darum kümmern. Abe r
wie ich schon sagte, habe ich im Moment etwas ande re s
zu tun. Ich melde mich bei dir.“
„Lily was ma …“
41
Sie beendete das Gespräch und ließ ihn nicht weiter zu
Wort kommen, sonst würde er sie mit Fragen löchern und
das wollte Lily im Moment absolut nicht. Sie ste ckte das
Handy wieder in die Tasche und sah zu Maik, der sie das
ganze Telefonat über beobachtet hatte.
Auf ein Neues. Dieses Mal war sie fest entschlossen,
ihn auf das Thema anzusprechen. Komme, was da wolle.
„Soso, du hast also etwas anderes vor? Was denn?“,
grinste er.
Lily sah ihn verblüfft an. Was meinte er damit?
Langsam dämmerte es ihr. „Es ... es war nur eine
Ausrede“, stotterte Lily verlegen.
Sie sah ihm in die Augen, holte tief Luft und wollte
erneut zur Frage ansetzen, als sie plötzlich seine Lippen
auf ihren spürte. Regungslos vor Schreck, saß sie ei nfach
nur da und starrte ihn an. Oh mein Gott. Er hat mich
geküsst. Das ist doch nur ein Traum. Das ist gerade nicht
wirklich passiert. Ihre Gedanken überschlugen sich
regelrecht und Schmetterlinge flogen in ihrem Bauch hi n
und her.
Langsam löste er den Kuss wieder. Lily spürte einen
kühlen Luftzug an der Stelle, wo gerade noch seine
weichen, warmen Lippen waren.
42
„Ich muss jetzt gehen“, sagte er leise. „Aber wir
werden uns schon bald wiedersehen … Das verspreche
ich dir.“
Noch bevor sie wieder Herr ihrer Sinne war, stand er
auf und verließ den Park.
43
4. Yearning
Vier Tage waren seit dem Kuss vergangen. Lily kam es
immer noch wie ein Traum vor, wobei dieser, zu den sonst
unerwünschten
Albträumen,
eine
angenehme
Abwechslung war. Sie berührte ihre Lippen an der Ste l l e,
wo sich vor Kurzem noch seine befunden hatten.
„Nein ..., das war kein Traum. Es war real.“ Lily
schwebte immer noch auf Wolke sieben, war aber
zugleich verletzt, dass er sich seitdem nicht mehr be i i hr
gemeldet hatte. Sie haute sich ruckartig mit der flachen
Hand gegen den Kopf. „Ich Rindvieh. Wie soll er auch,
wenn ich ihm nicht einmal meine Nummer gegeben
habe.“
Sie hätte sich selbst für dieses Versäumnis ohrfeigen
können. Stattdessen stand sie von ihrem weichen Bett
auf, ging in die Küche und machte sich einen Kaffee.
Während die Kaffeemaschine fröhlich vor sich hin
blubberte, fiel Lilys Blick auf den leeren Fressnapf von
Zeus. Sie sah sich suchend um. „Wo steckt der Kater nur
schon wieder?“ Egal wenn ich ihm etwas zu Fressen
hinstelle, taucht er sowieso wieder auf.
44
Und tatsächlich. Es dauerte nicht lange und Zeus kam
aus dem Wohnzimmer schnurstracks in die Küche getigert
und machte sich über das Nassfutter her. Mittlerweile
war der Kaffee ebenfalls durchgelaufen. Lily füllte sich
eine große Tasse mit dem schwarzen Getränk, ließ aber
noch etwas Platz für drei Löffel Zucker und ein wenig
Milch.
Ihr gedankenverlorener Blick schweifte durch den
Raum und blieb an den Tabletten hängen, die sie von
ihrem Hausarzt verschrieben bekommen hatte. „Ihr
blöden Dinger, helft auch nicht gegen meine Träume",
schimpfte sie die Tabletten an.
Sie legte den Kopf auf ihre Arme und schloss die
Augen. Kurz darauf sah Lily wieder die merkwürdigen
Schatten, die sie zu gerne identifizieren würde. Doch
jedes Mal wenn sie kurz davor war, etwas zu erkennen,
wachte sie entweder auf, oder wurde gestört. Was war
nur los mit ihr? Konnte ihr überhaupt jemand helfen?
Nicht einmal die Tabletten zeigten Wirkung. Und warum
um alles in der Welt verschwand Maik so plötzlich?
Zu viele Fragen schwirrten ihr im Kopf herum. Das
Einzige, was ihr jetzt noch helfen konnte, war ein
Spaziergang an der frischen Luft … oder Maik ... Sie zog
45
sich die weißen Sportschuhe an, schnappte sich den
Wohnungsschlüssel und zog die Tür hinter sich ins
Schloss. Sie wusste zwar, dass sich Maik von ihr
verabschiedet hatte, trotzdem kam sie aber nicht drum
herum nachzusehen, ob er nicht doch an seinem
gewohnten Ort saß. Aber der Platz war leer. Lily hatte e s
sich zwar bereits gedacht, aber man sagt nicht umsonst,
‚die Hoffnung stirbt zuletzt‘.
Traurig und mit gesenktem Blick drehte sie sich wieder
um und ging in Richtung Park. Die Stimme, die sie
plötzlich vernahm, ließ ihr einen Schauer über den
Rücken laufen. Sie kannte sie nur zu gut, machte aber
keine Anstalten sich umzudrehen. Sie hatte i m Mome nt
absolut keine Lust auf Josh zu treffen. Schon gar nicht,
nachdem er sich vor einem Jahr von ihr getrennt hatte.
Gleich nach dem sie von Idaho nach Leipzig gezogen war.
Lily hörte, wie die Stimme lauter wurde, und bemerkte
sogleich eine Zweite. Es war seine neue Freundin. Sie
hatte diese Person zwar nur einmal gesehen, aber ihre
Stimme wollte ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf
gehen. Zorn kochte in ihr hoch, als die beiden
näherkamen. Sie wusste nicht, warum sie auf einmal so
wütend wurde. Oder wusste sie es doch?
46
Lily hatte nicht damit gerechnet, dass nach so langer
Zeit immer noch Gefühle für ihn vorhanden waren. Es fiel
ihr schwer sich zusammenzureißen, damit sie sich nicht
umdrehte, und ihm die Meinung geigte. Auch wenn ihn
das nicht sonderlich interessieren würde. Als sie einen
kurzen Blick nach hinten warf, platzte in ihr schließlich
eine Bombe.
Ruckartig drehte sie sich um, und setzte ohne zu
zögern an: „Schämst du dich nicht hinter mir mit deiner
Neuen rumzuknutschen? Hast du überhaupt keinen
Anstand? Denkst du, ich kann die Gefühle für dich einfach
so ohne Weiteres abstellen und die Zeit mit dir
vergessen? Ganz sicher nicht. Wenn du das kannst,
schön. Ich nicht. Ich liebe dich tief in meinem Herzen
noch immer. Auch wenn ich weiß, dass es mit uns niemals
wieder so werden kann, wie es früher war, bevor die
ganzen Probleme anfingen.“ Mit diesen Worten l i eß Li l y
das erschrockene Pärchen stehen und lief davon.
Josh, der sich relativ schnell wieder gefangen hatte,
rief ihr noch hinterher: „Lily!? Lily warte, hör mir zu.“
Aber Lily wollte nur noch so schnell wie möglich von
ihm weg. Viel zu tief saß der Schmerz, den der Kuss bei
ihr ausgelöst hatte. Wieso konnte sie ihn nicht einfach
47
vergessen? Wieso konnte sie ihre Gefühle zu ihm nicht
einfach abstellen? Sie hatte doch jetzt Maik ... oder nicht?
Wieder füllte sich ihr Kopf mit Fragen und das, obwohl
sie auf die anderen Fragen noch keine Antwort gefunden
hatte. Was sollte sie nur machen? Einerseits waren noch
Gefühle für Josh vorhanden, auch wenn sie wusste, dass
es zu spät war. Andererseits hegte sie auch Gefühle für
Maik, der sie aus heiterem Himmel geküsst hatte. Ihr
Herz hämmerte, als würde es gleich aus der Brust
springen und ihr Kopf stand kurz vor dem Explodieren.
Was mache ich nur, fragte sie sich.
Endlich hatte sie den Park erreicht. Den Ruhepol i hre r
Gedanken. Sie setzte sich auf eine der vielen Parkbänke,
kramte ihr Handy und die Kopfhörer heraus, steckte sie in
die Ohren und lauschte der Musik.
Was konnte es Schöneres geben, als sich mit Musik in
den Park zu setzen und zu entspannen. Lily schloss die
Augen. Der warme Sommerwind spielte mit ihren Haaren
und wehte einzelne Strähnen sanft hin und her. So konnte
Lily alles um sich herum vergessen und sich nur auf die
Dinge konzentrieren, die wirklich wichtig für sie waren.
Drei Lieder lang saß sie einfach nur mit geschlosse ne n
Augen auf der Bank und dachte an nichts. Weder an Josh
48
noch an Maik oder ihre Träume. Es war ein befreiendes
Gefühl, welches leider nur so lange hielt, bis sie ihre
Augen wieder öffnete. Sie hätte noch stundenlang
einfach so dasitzen können. Allerdings wäre sie dann mi t
ihren Überlegungen keinen Schritt weitergekommen.
Lily zerbrach sich bereits mehrere Stunden den Kopf
über Maiks plötzliches Verschwinden, und was sie davon
halten sollte. Warum war er einfach ohne irgendetwas zu
sagen verschwunden? Und wie konnte sie seine Aussage
verstehen, dass sie sich schon bald wiedersehen würden?
Das ergab alles keinen Sinn für sie. Und was die Aktion
von ihr bezüglich Josh sollte, wusste sie selber ni cht . Ihr
war klar, dass sie ihn endgültig vergessen musste, aber
aus irgendeinem Grund, wollte ihr Verstand dies noch
nicht so recht kapieren.
Sie streckte die Arme in den Himmel und verspürte ein
befriedigendes Knacken im Rücken. Immer diese
Verspannungen dachte sie, als sie langsam aufstand. Eine
Auswertung ihrer Überlegungen brachte Lily letztendli ch
zu dem Ergebnis, dass sie kein bisschen schlauer als zuvor
war.
Mit einem leisen Knurren meldete sich ihr Magen zu
Wort. Denken macht hungrig, sagt man doch und es
49
schien wirklich zu stimmen. Langsam dämmerte ihr auch,
dass sie sich zwar über vieles Gedanken gemacht hatte,
allerdings nicht darüber, was sie sich zu essen machen
sollte. Auf dem Rückweg zu ihrer Wohnung tendierten
ihre Überlegungen von Pizzaservice, über Sushi, bis hin zu
Griechisch. Alternativ konnte sie sich natürlich auch
Nudeln mit Soße machen. Aber nur für sich alleine zu
kochen, dazu war sie meist zu faul. Letzten Endes fiel ihre
Entscheidung schließlich auf Pizzaservice. Immerhin war
die Pizzeria, wo sie gerne bestellte, recht günstig und
lecker. Jetzt musste sie sich nur noch für eine Pizza
entscheiden,
was
sie
erneut
vor
eine
große
Herausforderung stellte.
Ungefähr eine halbe Stunde nach ihrem Kampf mit de r
Speisekarte traf ihre Pizza mit Shrimps, Thunfisch sowie
Zwiebeln und extra Käse endlich ein. Bei dem Geruch, der
sich in der Wohnung ausbreitete, lief ihr das Wasser im
Mund zusammen. Sie liebte Shrimps und Thunfisch übe r
alles und beides zusammen auf einer Pizza war für sie
einfach nur Genuss pur. Allerdings hatte sie die Rechnung
ohne Zeus gemacht, der ebenfalls ein großer Fisch-Fan
war.
50
Vom Duft angelockt sprang er neben ihr aufs Sofa und
schlich langsam zu dem Karton hinüber.
„Na aber Zeus! Nimmst du die Nase da weg? Das ist
mein Essen, du hast deines in der Küche stehen.“
Verächtlich schaute er Lily an, die gerade genüsslich
das erste Stück zu sich nahm.
„Vergiss es. Da kannst du dich noch so sehr
einschleimen. Du bekommst davon nichts ab. Auße rde m
wirst du noch zu fett.“
Egal was Lily auch versuchte, Zeus wich einfach nicht
von ihrer Seite. Geschlagen fütterte sie ihren verwöhnten
Kater mit ein paar kleinen Happen Thunfisch und ein paar
Stückchen von den Shrimps. Glücklich und schnurrend
sprang Zeus vom Sofa und tigerte ins Schlafzimmer.
Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, noch ein wenig
durch das TV-Programm zu zappen, doch der Tag war
einfach zu anstrengend gewesen. Bevor ihr noch die
Augen auf dem Sofa zufielen, nahm sie die Me di zi n, di e
ihr verschrieben wurde, und legte sich ins Bett. Es
dauerte nicht lange und Lily schlief tief und fest.
51
5. Imagination?
Lily verfluchte die Hitze, die an diesem Tag herrschte.
Ausgerechnet zur Mittagszeit musste sie wieder zu ihre m
Hausarzt. Die Hälfte der Strecke hatte sie bereits hinter
sich. Nur noch zwei Haltestellen und fünf Minuten
Fußweg, dann war sie endlich an ihrem Ziel
angekommen. Wie erwartet hatten die Tabletten
natürlich nicht geholfen.
Als Lily die Tür zur Praxis öffnete, stieg ihr erneut der
unangenehme Geruch von Desinfektionsmittel in die
Nase, der sie dieses Mal zum Niesen brachte. Li l y be trat
das Wartezimmer und staunte nicht schlecht. Außer ihr
saßen nur zwei weitere Patienten in dem kleinen Zimmer.
Nach einer kurzen Wartezeit wurde sie schließlich in
eines der Behandlungszimmer gebeten.
„Hallo Frau Carter. Schön Sie wiederzusehen.“
„Die Medikamente haben leider nicht geholfen. Die
Träume kommen trotzdem jede Nacht“, platzte es aus i hr
heraus.
Der Arzt begutachtete sie mit einem skeptischen Blick.
„Das ist äußerst merkwürdig.“
52
Lily zuckte mit den Schultern „Wem sagen Sie das, ich
würde gerne wieder richtig schlafen können.“
Nachdenklich musterte er Lily und fuhr sich dabe i mi t
der Hand übers Kinn. „Na gut. Da bleibt uns wohl nichts
anderes übrig“, sagte er schließlich. „Dann müssen wir
nun einen anderen Weg gehen.“
„Dürfte ich erfahren, an was Sie genau denken?“ Lily
mochte es nicht sonderlich, wenn jemand in Rätseln
sprach. Vor allem nicht, wenn es dabei um sie ging.
Nach einem kurzen Blick in seinen PC sagte er zu ihr:
„Ich würde Sie gerne zu einem Kollegen überweisen, de r
sich ihrer annimmt.“
Lily ahnte schon, auf was das Gespräch hinauslaufen
würde. „Ich bin nicht verrückt. Diese Träume gibt es
wirklich“, echauffierte sie sich.
„Das habe ich auch nie angenommen Frau Carter.
Allerdings kann mein Kollege ihnen besser bei der
Ursachenfindung helfen als ich.“
„Entschuldigen Sie bitte meine schroffe Antwort.“
„Ist schon in Ordnung. Ich kann ihre Reaktion
nachvollziehen", teilte er ihr mit ruhiger Stimme mit. „Die
Schwester wird Ihnen die Überweisung fertig machen.
Alles Gute wünsche ich Ihnen.“
53
Nun bin ich also doch noch verrückt geworden. Was
kommt
als
Nächstes?
Eine
Einweisung
in
die
Geschlossene? Lily liebte ihre ironischen Gedankengänge.
Sie nahm die Überweisung von der Schwester e ntge gen
und verließ die Praxis.
Als sie den Blick von dem Stück Papier löste, stellte si e
fest, dass sie fast an der Praxis des Psychologen
vorbeigelaufen wäre. Sie schaute auf die Beschi lderung,
die an der Hauswand hing, und verzog das Gesicht.
„Ausgerechnet ganz oben ... hoffentlich gibt es einen
Fahrstuhl“.
Sie betrat das Gebäude und tatsächlich. Vor ihr befand
sich ein kleiner gläserner Fahrstuhl, der auf sie zu warte n
schien. Lily betrat den Glaskasten, drückte den Knopf für
die dritte Etage und fuhr nach oben. Bevor sie jedoch di e
Praxis betrat, blieb sie vor der Tür stehen, holte einmal
tief Luft und hoffte, dass es schnell vorbeigehen würde.
Als Lily die Tür öffnete, blickte sie in einen lang
gezogenen, schmalen Flur, in dessen Mitte ein weißer
Tresen stand.
54
Die Schwester, die hinter diesem saß, lächelte sie
freundlich an. „Guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Guten Tag. Carter ist mein Name. Ich habe hier eine
Überweisung von meinem Hausarzt.“ Sie reichte der
Schwester den Zettel und ihre Krankenkarte.
Als Lily das Wartezimmer betrat, traute sie ihren Augen
kaum. Auf beiden Seiten stand ein schwarzes
Eckledersofa und ein runder dunkelbrauner Holztisch mi t
vier weißen Lederstühlen füllte den Platz in der Mitte des
Raumes. Auf dem Tisch lagen verschiedene Zeitschriften
und Tageszeitungen. In der Mitte stand ein schönes
Blumengesteck mit gelben und weißen Blüten.
An den weißen Wänden hingen verschiedene
Gemälde, die mit einem goldenen altmodischen Rahme n
versehen waren. Neben dem rechten Sofa glänzte ein
goldener Metall-Kleiderständer, an dem goldene
Kleiderbügel hingen. Auf der anderen Seite de s Raume s
sah sie einen dunklen, massiven Schrank mit diversen
Büchern stehen.
Lily konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen,
dass dieser Raum ein Wartezimmer sein sollte. Hätte si e
nicht genau gewusst, dass sie bei einem Arzt war, hätte
55
sie schwören können, dass sie bei irgendjemandem im
Wohnzimmer sitzen würde.
Nach einer relativ kurzen Wartezeit von circa fünf
Minuten wurde sie in das Sprechzimmer gebeten, wo de r
Arzt schon auf sie wartete.
„Guten Tag Frau Carter. Nehmen Sie doch bitte Platz.
Mein Name ist Dr. Werner Schulze.“
Vor ihr saß ein älterer Mann, den Lily auf Mitte vierzi g,
Anfang fünfzig schätze. Er hatte kurzes graues aber volles
Haar. Auf seiner Stirn und unter den Augen breiteten sich
leichte Fältchen aus. Seine Stimme klang freundli ch und
fröhlich zugleich.
„Guten Tag Herr Schulze“, erwiderte Lily höflich und
reichte ihm die Hand.
Der ältere Mann blickte kurz auf die Überweisung und
sprach dann mit ruhiger Stimme zu ihr: „Wie kann ich
Ihnen helfen?“
„Mein Hausarzt hat mich zu Ihnen geschickt, weil ich
seit
meiner
Rückkehr
Auslandsaufenthalt
von
unter
meinem
Schlafstörungen
letzten
und
Albträumen leide.“
„Seit wann sind Sie wieder zurück?“, wollte er sogleich
wissen.
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„Mittlerweile sind es etwas über sieben Wochen. Mein
Hausarzt hatte mir schon Medikamente verschrieben, die
mir gegen die Träume und die Schlafstörungen helfen
sollten. Aber leider hat sich nichts geändert.“
Einige sekundenlang herrschte eine erdrückende Sti l le
im Raum.
„Ok Frau Carter. Dann erzählen Sie mal was Sie noch
wissen von Ihrem Auslandsaufenthalt", sagte er
schließlich.
Nicht schon wieder die ganze Geschichte dachte Lily im
Stillen. Aber wenn sie wollte, dass man ihr half, kam sie
leider nicht drum rum … Sie holte einmal tief Luft und
fing an von Ihrer Arbeit, über den Flug so wie den
Aufenthalt in North Carolina, bis hin zu ihrer Rückkehr zu
erzählen.
Der Arzt hörte ihr die ganze Zeit aufmerksam zu und
machte sich dabei mehrere Notizen. Leider konnte Lily
seine Handschrift nicht entziffern daher konnte si e auch
nicht erkennen, was auf dem Zettel stand.
Als er seine Notizen beendet hatte, schaute er sie
skeptisch an. „Sind sie sicher, dass das alles war?“
„Alles, an das ich mich erinnern kann. Reicht das
nicht?“, gab Lily ihm freundlich zu verstehen.
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„Nicht um davon Albträume und Schlafstörungen zu
bekommen. Alles was sie mir erzählt haben, gleicht einer
ganz normalen Reise und Erlebnissen.“
Lily glaubte nicht, was sie gerade gehört hatte. „Herr
Schulze. Ich bilde mir die Träume nicht ein. Ich bin auch
nicht verrückt. Die Träume sind Wirklichkeit und
entspringen nicht meiner Fantasie.“ Sie musste sich
beherrschen, um nicht laut zu werden.
„Beruhigen Sie sich wieder Frau Carter. So war das
auch nicht gemeint. Niemand unterstellt Ihnen
irgendetwas.“, mit ruhiger Stimme sprach er weiter:
„Aber wenn das wirklich alles ist, an was sie sich erinnern
können, muss der Rest aus irgendeinem Grund verdrängt
worden sein.“
Lily musste erst mal tief Luft holen. „Aber wieso sol lte
ich etwas verdrängen? Ich wüsste nicht was.“
„Und genau das müssen wir herausfinden.“Er erkl ärte
ihr ausführlich die weitere Vorgehensweise. Dass auf si e
mehrere Sitzungen zukamen und dass er von einer
eventuellen Hypnose auch nicht absehen konnte. Doch
diese Möglichkeit wäre der letzte Schritt, den er gehen
würde.
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Lily hämmerte der Schädel. Warum ich ... Warum
ausgerechnet ich. Bis jetzt hat die Reise mir nichts als
Ärger gebracht. Und ob der Sender die Doku ins
Programm nimmt, steht auch noch nicht fest. So ein
verdammter Mist. Sie wusste nicht, was sie von der
ganzen Sache halten sollte. Ihre Gedanken fingen wi eder
an, Karussell mit ihr zu fahren.
„Geht es Ihnen gut Frau Carter?“ Er blickte sie besorgt
an.
„Ja danke. Mir ist das nur alles etwas zu viel. Die
Träume, die bevorstehende Therapie, einfach alles. “ Li l y
war zum Heulen zumute. Sie schaffte es aber, sich
zusammenzureißen.
„Das kann ich gut verstehen. Aber seien sie unbesorgt.
Das schaffen Sie schon. Ich würde sagen, wir fangen
gleich morgen mit der ersten Sitzung an.“
Ohne irgendwelche Einwände stimmte Lily dem Arzt
zu, verabschiedete sich von ihm und machte sich auf de n
Weg nach Hause.
Auch in dieser Nacht wurde Lily wieder von
Albträumen geplagt. Wieder stand sie an einem See, de r
mitten im Wald lag und von meterhohen Bäumen
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umgeben war. Erneut suchte sie einen Weg, um aus
diesem verdammten Wald herauszukommen. Se l bst di e
Geräusche waren wieder zu hören, genauso wie das
plötzliche Knacken, welches sie herumwirbeln ließ, um
anschließend von den Füßen gerissen zu werden.
Unsanft schlug sie auf den mit Moos bedeckten Bode n
auf, sodass ihr sämtliche Luft aus den Lungen entwich
und sie aufkeuchte. Ihre Brust fing abermals an zu
schmerzen und das Atmen wurde von Sekunde zu
Sekunde schwerer. Sie wusste nicht, was sie machen
sollte.
Langsam öffnete sie ihre Augen, die sie vor Angst und
Schmerz geschlossen hatte. Es dauerte einige Sekunde n,
bis sich ihr Blick schärfte. Schließlich bereute sie es, die
Augen geöffnet zu haben, denn was sie vor sich sah, l i e ß
sie erstarren. Sie blickte in die Augen eines Tieres ... Eines
Raubtieres.
Seine Zähne blitzten im Mondlicht und machten ihr
eine höllische Angst. Über ihr stand ein riesiger Wolf und
starrte sie an. Sie hatte gelesen, dass Wölfe keine
Menschen grundlos anfielen. Außerdem hatte sie es auch
bei Ihrer Reportage über die Aniwahya miterlebt.
Allerdings schien dieser Wolf nichts davon zu wissen oder
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es interessierte ihn einfach nicht. Sie schloss i hre Augen
und betete, dass er ihr nichts tun würde. Lily glaubte
nicht an Gott, aber wenn es einen gab, sollte er ihr
verdammt noch mal jetzt helfen.
Ihr Herz raste und ihr Puls war weit über den
Normalzustand hinaus. Sie spürte den Atem des Wolfes
an ihrem Hals. Oh Gott ich bin geliefert. Keiner wird mich
hier je finden. Was habe ich nur getan. Lily konnte ihre
Gedanken nicht mehr unter Kontrolle halten und sah i hr
Leben noch einmal an sich vorbeiziehen. Sie wollte noch
nicht sterben und schon gar nicht an einem solch
finsteren Ort.
Ein stechender Schmerz an ihrem Hals – wie der
schnitt eines Messers – ließ sie in die Realität
zurückkehren und vor Angst um sich treten. Sie versuchte
den Wolf von sich runter zu schütteln, doch das Tier war
viel zu groß und zu schwer. Aber Lily gab nicht auf und
verpasste ihm letztendlich einen Tritt. Der Wolf heulte
einmal laut auf und war dann verschwunden genau wie
der Druck auf ihrer Brust. Das Einzige, was blieb, war de r
leichte Schmerz an ihrem Hals, der sie dazu zwang die
Schwere der Verletzung zu kontrollieren.
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Sie wischte sich mit der Hand über den Hals und sah im
Schein des Mondes Blut auf ihrer Handfläche funkeln. Lily
fing an zu zittern. Es war ihr Blut, was sie da sah. Panik
machte sich in ihr breit. „Nein! Das darf nicht wahr sein.
Oh bitte nicht“, keuchte sie. Voller Panik rannte sie
drauflos, ohne zu wissen, wo sie überhaupt lang musste.
Als sie das Gleichgewicht verlor und einen Hügel
hinunterstürzte, wachte sie schweißgebadet und mit
schmerzendem Kopf auf dem Boden ihres Schlafzimme rs
auf. Immer noch raste ihr Herz vor Panik. Reflexartig
packte sie sich an den Hals und schaute auf ihre
Handfläche. Langsam beruhigte sie sich wieder. „Kein
Blut – es war nur ein Traum“, redete sie sich selbst gut zu.
Vorsichtig und schwankend stand Lily auf und setzte
sich aufs Bett. Irgendetwas war anders gewesen als sonst.
Normalerweise wachte sie immer nach dem Aufpral l auf
den Waldboden auf. Doch dieses Mal hatte sie ge se he n,
wer oder besser was sie umgeworfen hatte. Wieder
spürte Lily die Zähne – die sie im Mondlicht hatte funkeln
sehen – an ihrem Hals, was sie schwer schlucken ließ.
Sie öffnete die Schublade ihres Nachttisches und
kramte einen Spiegel heraus. Doch an ihrem Hals war
nichts zu sehen. Kein Biss, kein Schnitt, nichts. Noch nicht
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einmal eine Schramme. „Verdammt. Was ist nur los mit
mir. Ich werde wirklich noch verrückt. Das kann doch
nicht so weitergehen.“
Lily legte den Spiegel zurück in die Schublade und
schob sie wieder zu. Langsam ging sie ins Badezimmer
und ließ sich eine Badewanne ein. Das Wasser war so
angenehm warm und entspannend, dass sie sich ei nfach
fallen ließ und ihr für kurze Zeit die Augen zufielen. Vor
ihrem inneren Auge erschienen wieder die Augen und die
blitzenden Zähne des Wolfes und ließen sie panisch
aufschrecken.
„Scheiße!“, fluchte Lily. Mit ihrem Panikanfall hatte si e
das halbe Badezimmer unter Wasser gesetzt. Sie zog e i n
Handtuch von der Waschmaschine, die neben der Wanne
stand, und warf es auf die Pfütze, bevor sie sich noch
weiter auf dem Boden ausbreiten konnte.
Nachdem sie sich ausgiebig entspannt hatte, verließ sie
das warme Wasser und schnappte sich ein weiteres
Handtuch von der Waschmaschine um sich abzutrocknen.
Anschließend wickelte sie sich das Handtuch um ihren
Körper, schlüpfte in ihre Hausschuhe und ging in die
Küche, um zu frühstücken. Als sie den Raum betrat, sti eg
ihr ein angenehmer Geruch von Kaffee mit einem
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leichten Zimtaroma in die Nase. Sie liebte es gelegentlich
etwas Neues auszuprobieren. Dieses Mal hatte sie
Kaffeepulver mit ein wenig Zimt kombiniert. Ein hoch auf
zeitgesteuerte Kaffeemaschinen, dachte sie.
Lily öffnete die Tür des Hängeschrankes, um si ch e i ne
Tasse herauszunehmen und ihre neue Kreation zu kosten.
Das Zimtaroma wirkte in der Tasse sogar noch intensiver
als in der Kaffeemaschine, stellte sie fest. Wie immer li eß
sie noch Platz für Zucker und Milch. Sie hatte zwar schon
mal versucht den Kaffee schwarz zu trinken, doch so ohne
alles war die Brühe einfach ungenießbar.
Vorsichtig nahm sie einen Schluck des heißen Kaffees
zu sich und lobte sich selber für diese gelungene
Kombination. Das Kaffeearoma harmonierte wunde rbar
mit dem leichten Zimtgeschmack und der Geruch war
einfach himmlisch. Fast schon wie Weihnachten, nur mi t
Kaffee anstatt mit Tee. Das muss ich unbedingt Maik
vorschlagen, dachte sie. Doch dann fiel ihr wieder ein,
dass er sich vor einigen Tagen von ihr verabschiedet hatte
und ihre gute Laune verschwand wieder.
Deprimiert steckte sie sich zwei Scheiben Toast i n de n
Toaster und ging ins Schlafzimmer um sich anzuziehen.
Sie nahm sich Unterwäsche, einen schwarzen Rock und
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ein weinrotes Oberteil aus dem Schrank und warf es aufs
Bett. Entnervt und lustlos zog sich Lily ihr lieblos
hingeworfenes Outfit an und ging wieder zurück in die
Küche, wo schon ihr Toast auf sie wartete. Sie nahm die
beiden Scheiben aus dem Toaster, strich sich ein wenig
Frischkäse drauf und kaute genervt darauf rum.
Fünfzehn Minuten für zwei Scheiben … Man bin ich gut.
Was sie am meisten störte, war, dass sie heute zu ihrer
ersten Sitzung erscheinen sollte. Wenn ihre Träume
wirklich
von
einem
Erlebnis
kamen,
die
ihr
Unterbewusstsein versuchte zu verdrängen, wollte sie
sich gar nicht daran erinnern. Wer weiß, was ihr in North
Carolina wiederfahren war, oder was sie erlebt hatte.
Die Panik wuchs immer mehr in ihr und sie hatte
niemanden, mit dem sie reden konnte. Niemanden an
den sie sich anlehnen konnte. Sie schloss die Auge n und
versucht sich in Gedanken Maiks Gesicht vorzustellen, um
ein wenig Trost zu finden. Doch half dies leider auch
nicht. Sie brauchte ihn bei sich. Sie musste ihn fühlen, ihn
riechen. Erst dann würde sie ein wenig Ruhe finden doch
das war leider nicht möglich. Gerade jetzt wo si e i hn am
dringendsten brauchte, war er verschwunden.
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Trübsal blasen half ihr jetzt aber auch nicht weiter,
denn zu dem Gespräch musste sie so oder so. Widerwillig
stand Lily auf, ging ins Badezimmer und machte sich
fertig. Ihre langen dunkelblonden Haare band si e si ch zu
einem Zopf zusammen. Heute störte sie wirklich alles.
Ein kurzer Blick auf das Handy verriet ihr, das sie
vor fünf Minuten losgemusst hätte. „Verdammt“,
fluchte sie. Noch genervter als zuvor, schnappte sie
sich ihre Sachen und verließ zügig die Wohnung um
die nächste Bahn zu erwischen.
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