Kamera-Zoff Nahost-Endspiel Grusel-Tourismus Koalitionstreit verhindert, dass in Berlin mehr überwacht wird. Seite 11 In »90 Minuten« soll der ewige Konflikt per Fußballmatch gelöst werden. Seite 17 Was zieht Menschen an Orte des Terrors und des Todes? Seite 15 Foto: 123rf/cbenjasuwan Foto: ddp/Heiko Stahl/Museen der Stadt Nuernberg Donnerstag, 30. Juni 2016 STANDPUNKT Erdogan erntet, was er gesät hat 71. Jahrgang/Nr. 151 UNTEN LINKS Führende Politiker geben in diesen turbulenten Tagen wirklich alles, um die Europäische Union attraktiver zu machen. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker geht wie immer mit gutem Beispiel voran: Er bezeichnete es als »relativ schnurzegal«, welchen juristischen Status das umstrittene Abkommen CETA hat – es geht ja nur darum, ob Parlamente über solches Freihandels-Papperlapapp abstimmen dürfen oder nicht. Auch Angela Merkel wirbt unablässig für ein attraktiveres Europa. »Wir würden wirklich das Falsche tun, wenn wir wieder eine Vertragsdiskussion beginnen würden«, ließ die Kanzlerin unmissverständlich jede weitergehende Reformüberlegung abtropfen. Wenn jetzt noch die englischen Brexit-Tölpel zugeben würden, dass ihr ganzes vermaledeites Referendum bloß ein Witz war, britischer Humor eben, wäre die Brüsseler Welt fast schon wieder in Ordnung. Nach nur sechs Tagen! Das klappt nur in der EU. Und der Rest kann uns doch eigentlich »relativ schnurzegal« sein. tos ISSN 0323-3375 www.neues-deutschland.de Türkei in Schockstarre Brexit bringt Briten in Zugzwang Terroranschlag auf dem Flughafen in Istanbul fordert 41 Opfer EU-Gipfel ohne Cameron / Merkel: Austritt ist nicht aufzuhalten Martin Ling über den Terroranschlag in Istanbul Die Türkei kommt nicht zur Ruhe. Zwölf Anschläge in den vergangenen zwölf Monaten. Bekannt hat sich zum Anschlag auf den Flughafen in Istanbul noch niemand und ob sich die Hinweise auf den Islamischen Staat (IS) als Urheber verdichten, ist noch nicht ausgemacht. Klar ist nach dem erneuten Terroranschlag in der Türkei: Präsident Recep Tayyip Erdogan erntet innenpolitisch, was er außenpolitisch gesät hat. Viele Jahre war die Türkei ein sicherer Rückzugsort für den IS, da Erdogan die Bekämpfung gemeinsamer Feinde – ob Kurden oder Syriens Präsident Assad – weit wichtiger war als einen Beitrag zur Stabilität im Nahen Osten zu leisten. Lange Zeit hat Erdogan beste Beziehungen mit radikalislamischen Organisationen gepflegt, neben dem IS auch mit den Muslimbrüdern und der Hamas. Sein taktisch bedingter außenpolitischer Kurswandel, der sich gerade in der Versöhnung mit Russlands Präsident Putin ausdrückt, kommt bei den alten ideologischen Freunden nicht gut an. Der IS hat das Potenzial, die Türkei zu destabilisieren. Der Anschlag von Istanbul passte in dieses Muster. Die Solidarisierungen aus aller Welt à la Frank-Walter Steinmeier »Wir stehen an der Seite der Türkei« haben einen bitteren Nachgeschmack. Ob Berlin, London oder Washington: Beim Krieg gegen die Kurden fällt dem NATOBündnispartner keiner in den Arm. Terror und Gegenterror sind die logischen Folgen, wer auch immer hinter welchem Anschlag jeweils steckt. Bundesausgabe 1,70 € Berlin. Die europäischen Staats- und Regierungschefs drängen Großbritannien zu Klarheit. Am zweiten EU-Gipfeltag in Brüssel berieten die Politspitzen der restlichen 27 Unionsstaaten – ohne den britischen Premier David Cameron – über die weitere Vorgehensweise nach dem Brexit-Referendum. In einer gemeinsamen Erklärung bekundeten sie ihr Bedauern über den EU-Ausstieg Großbritanniens und setzten sich das Ziel, die EU zu reformieren und das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen. Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht keine Möglichkeit, den britischen Austritt aufzuhalten. Alle täten gut daran, »die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen«, sagte sie. Es sei »nicht die Stunde von ›wishful thinking‹«, von Wunschdenken. Derweil könnte das britische Austrittsgesuch auf sich warten lassen. Er glaube nicht, dass das Drängen der EU »Gespräche ausschließt, die der neue Premierminister mit seinen Partnern oder mit den Institutionen haben kann, damit wir ordentlich rauskommen«, sagte Cameron. nd Seiten 2, 3 und 7 Bewährung für Whistleblower Urteile im Prozess gegen drei LuxLeaks-Enthüller Verzweifelter Angehöriger eines Opfers des Terroranschlags wartet vor einem Krankenhaus in Istanbul. Berlin. »Jeder soll wissen, dass die Terrororganisationen nicht unterscheiden zwischen Istanbul und London, Ankara und Berlin, Izmir und Chicago, Antalya und Rom.« Damit liegt Türkeis Präsident Recep Tayyip Erdogan nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig. Zwölf Anschläge in zwölf Monaten sprechen eine deutliche Sprache: Die Türkei steht im Fokus. Nach den Selbstmordanschlägen auf den Istanbuler Atatürk-Flughafen haben sich Politiker weltweit mit der Türkei solidarisch gezeigt. Von Deutschland bis Iran erklärten Staats- und Regierungschefs am Mittwoch, im Kampf gegen den Terror zusammenzustehen. Drei Selbstmordattentäter hatten am Abend zuvor das wichtige Drehkreuz des internationalen Flugverkehrs ins Visier genommen und 41 Menschen getötet sowie hunderte weitere verletzt. Eine Bekennernachricht lag zunächst nicht vor. Zu Herkunft und Identität der Attentäter machte der Regierungschef keine Angaben. Die türkischen Behörden vermuten die IS-Miliz hinter mindestens fünf Attentaten in der Türkei; die Miliz bekannte sich bislang aber zu keiner dieser Taten. Auch die kurdische Extremistengruppe Freiheitsfalken Kurdistans (TAK) verübte zuletzt mehrere blutige Anschläge. Foto: Getty Images/Define Karadent Erdogan rief die internationale Gemeinschaft zu einem gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus auf, sonst würden »all die Szenarien, vor denen wir uns fürchten, eines Tages Wirklichkeit werden«. Er appellierte insbesondere an die Staaten des Westens, »eine harte Haltung gegen den Terror einzunehmen«. Die Türkei werde »ihren Kampf gegen den Terror bis zum Ende führen«, auch wenn sie dafür einen »hohen Preis« zu zahlen habe. Die Regierung erklärte den Mittwoch zum Trauertag für die Opfer. In Berlin sollte das Brandenburger Tor in den türkischen Nationalfarben erleuchtet werden. ml Seite 7 Juncker hält den Daumen auf CETA EU-Kommission will Freihandelsabkommen mit Kanada nicht den nationalen Parlamenten überlassen Jean-Claude Juncker will allein die EU-Institutionen über CETA entscheiden lassen. Eine Welle der Kritik schlägt dem EU-Kommissionspräsidenten entgegen. Von Haidy Damm Jean-Claude Juncker besteht darauf: Das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada (CETA) ist ein »EU-only-Abkommen«. Das erklärte der Kommissionschef während des EU-Gipfels in Brüssel. Damit würde neben dem Rat nur das EU-Parlament über CETA abstimmen, das als Blaupause für das ins Stocken geratene TTIP-Abkommen mit den USA gilt. Bei einem »gemischten Abkommen« dagegen müssten alle nationalen Parlamente gefragt werden, in Deutschland neben dem Bundestag auch der Bundesrat. Man solle ihm die juristischen Grundlagen dafür vorlegen, dass das Abkommen ein gemischtes ist, erklärte Juncker auf einer Presse- konferenz in Brüssel. Er könne das in den geltenden Regeln nicht erkennen. Die Kommission befürchtet, dass weitere Abstimmungen den Abschluss verlängern oder ganz verhindern könnten. Juristische Gutachten, die Junckers Interpretation widerlegen, gibt es jedoch. Ein Rechtsgutachten der Universität Bielefeld hatte im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums bereits im August 2014 festgestellt, dass CETA »im Ergebnis als gemischtes Abkommen« abzuschließen sei. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) beeilte sich, in Brüssel zu betonen, sie werde in jedem Fall die Meinung des Bundestages einholen. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) kritisierte Juncker offen. Das Vorgehen der Kommission sei »unglaublich töricht« und verderbe jedes sachliche Klima. Gabriel hat sich bisher für das Abkommen ausgesprochen und hofft auf die Zustimmung seiner Parteigenossen. Die aber scheinen nicht begeistert. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Matthias Miersch kritisierte mit Blick auf Merkels Äußerung: »Die Kanzlerin weiß, dass es sowas wie ein Meinungsbild des Bundestages rechtlich nicht gibt. CETA ist ein gemischtes Abkommen – wenn der Bundestag entscheidet, hat sich die Regierung daran zu halten.« Sein Parteikollege Marco Bülow wurde noch deutlicher: »Immer mehr Menschen haben genug von diesem undemokratischen Gebaren. Genau das verstärkt den Zulauf der Rechtspopulisten.« In diese Richtung empörten sich auch CETA-Kritiker. Der Vorsitzende der Industriegewerkschaft BAU, Robert Feiger, sprach von einem »Demokratiedefizit in Brüssel«. Der stellvertretende Vorsitzende der LINKEN, Klaus Ernst, beklagte, mit diesem »Machtgehabe« gefährde die Kommission die EU und nütze nur ihren Gegnern. Die Grünen-Vorsitzende Si- mone Peter kritisierte, dieses Vorgehen befeuere »EU-Skepsis und Politikverdrossenheit«. Juncker selbst gibt sich sicher. Er habe den Gipfel genutzt, um mit allen zu sprechen, sagte er in Brüssel. Keiner habe geäußert, gegen das Abkommen zu sein. Dagegen ruft das Bündnis »CETA&TTIP stoppen! Für einen gerechten Welthandel!« für den 17. September erneut zu bundesweiten Demonstrationen auf. } Lesen Sie auf Seite 10 Gesund leben Übelkeit im Auto oder auf dem Schiff? Die Reisekrankheit macht vielen Menschen zu schaffen. Ihnen hilft nur: Selbst lenken oder ganz vorn sitzen. Luxemburg. Im Prozess um die Enthüllungen im »LuxLeaks«-Skandal sind am Mittwoch in Luxemburg zwei ehemalige Mitarbeiter der Unternehmensberatung PwC zu Bewährungsstrafen verurteilt worden. Der dritte Angeklagte, ein Journalist, wurde freigesprochen, wie der Richter Marc Thill sagte. Die drei Franzosen hatten dazu beigetragen, die dubiosen Steuerpraktiken multinationaler Konzerne im Großherzogtum zu enthüllen. Der ehemalige Mitarbeiter von PricewaterhouseCoopers (PwC), Antoine Deltour, wurde zu zwölf Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, sein früherer Kollege Raphaël Halet erhielt neun Monate auf Bewährung. Die Staatsanwaltschaft hatte 18 Monate Haft gefordert, die Verteidigung verlangte Freisprüche für alle drei Angeklagten. Die Vorwürfe gegen sie reichten von Diebstahl und Verletzung von Geschäftsgeheimnissen bis zur Verletzung des Berufsgeheimnisses. Die beiden Organisationen Oxfam und Attac hatten erklärt, ein Freispruch wäre das »einzig akzeptable« Urteil gewesen. AFP/nd Glyphosat zunächst zugelassen EU-Kommission entscheidet im Alleingang über Herbizid Brüssel. Die EU-Kommission verlängert die Zulassung des umstrittenen Unkrautvernichters Glyphosat in Europa um bis zu 18 Monate. Das teilte die Brüsseler Behörde am Mittwoch mit. In dieser Zeit soll die europäische Chemikalienagentur ECHA ihre Bewertung vorlegen. Glyphosat steht im Verdacht, Krebs zu erregen. Die Entscheidung fällt in letzter Minute, da die aktuelle EU-Zulassung für die Substanz mit dem Monatsende am Donnerstag ausgelaufen wäre. Die Behörde hatte eigentlich darauf gedrungen, dass die EU-Staaten über die weitere Zulassung des weit verbreiteten Unkrautvernichters entscheiden. Doch unter nationalen Vertretern war über Monate nicht die nötige Mehrheit für eine Verlängerung der aktuellen Genehmigung oder eine Neuzulassung zustande gekommen. Umwelt- und Verbraucherverbände sowie Oppositionsparteien kritisierten die Verlängerung und forderten verbindliche EU-weite Anwendungsbeschränkungen. dpa/nd Kommentar Seite 4
© Copyright 2025 ExpyDoc