UL Lehner: The Catholic Enlightenment 2016-2-213 - H-Soz-Kult

U. L. Lehner: The Catholic Enlightenment
Lehner, Ulrich L.: The Catholic Enlightenment.
The Forgotten History of a Global Movement.
Oxford: Oxford University Press 2016. ISBN:
978-0-1902-3291-7; 272 S.
Rezensiert von: Florian Bock, KatholischTheologische Fakultät, Eberhard Karls Universität Tübingen
Bei dem zu rezensierenden Buch des an der
Marquette University lehrenden Kirchenhistorikers Ulrich L. Lehner handelt es sich
um den vorläufigen Schlusspunkt einer Serie
von Publikationen des Autors zu dem vom
Buchtitel bezeichneten Thema.1 Zu Recht bezeichnet der Schutzumschlag des Buches den
Autor als „leading scholar“ auf dem Forschungsfeld der Katholischen Aufklärung:
„he knows more about it, and has done more
to make it accessible, than anyone else“, so
die hier wiedergegebene Stimme eines USamerikanischen Kollegen.
Die Katholische Aufklärung auf breitem
Raum zugänglich machen – so ließe sich das
Kernanliegen der 272 Seiten starken, für den
anglo-amerikanischen Markt geschriebenen
Studie auf den Punkt bringen. Mit narrativen
Textpassagen und profunden, dichten Quellenbeschreibungen möchte Lehner erkennbar
einem größeren Publikum ohne spezielle religionshistorische Vorbildung die „vergessene Geschichte“ jener Reformkatholiken des
18. und 19. Jahrhunderts näherbringen, die
wir heute als „aufgeklärt“ bezeichnen. Bei
ihnen sieht Lehner viele Ideen der Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere das Aggiornamento des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965), ja sogar einige Anliegen des aktuellen Papstes Franziskus vorweggenommen. Denn bereits aufgeklärte Katholiken verfolgten das Ziel der Aussöhnung von Religion und Moderne unter
Einbezug gegenwärtiger Erkenntnis und zeitgenössischer sprachlicher Artikulationsfähigkeit (S. 7). Katholische Aufklärung gilt Lehner daher als eine heterogene, im besten Sinne
dialogoffene Reformbewegung (S. 8), die sich
einerseits von fanatischem Enthusiasmus, religiösem Aberglauben und blinden Vorurteilen abzugrenzen wusste (S. 9), andererseits jedoch nicht mit der katholischen Glaubenstradition brechen wollte, im Gegenteil: Expli-
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zit nahm zum Beispiel der spanische Benediktinermönch Benito Jerónimo Feijoo auf die
Scholastik Bezug, wenn er für eine wahre wissenschaftliche Erkenntnis stritt (S. 38). Auch
die Kirchenväter und Konzilien, allen voran
das Tridentinum (1545–1563), bildeten für katholische Aufklärer wichtige Referenzpunkte.
Dabei versteht das Buch Aufklärung als
Globalgeschichte (Kap. 1): In jedem der – neben Einleitung und Fazit – insgesamt sieben
Kapitel wird eine transnationale Perspektive eingenommen, und Themen wie Toleranz
(Kap. 2), Frauenrechte (Kap. 3), „Catholic Enlightenment in the Americas, China, and India“ (Kap. 4), Teufel und Dämonen (Kap. 5),
Heilige und Sünder (Kap. 6) sowie Sklaverei
(Kap. 7) werden aus Sicht verschiedener katholischer oder katholisch missionierter Länder beleuchtet. Ein gewaltiges Unterfangen,
das in den meisten Fällen überzeugend gelingt. Inwieweit jedoch wirklich von einem
konsequent globalen Blickwinkel Lehners gesprochen werden kann, wäre zu diskutieren,
zumal der Autor zumeist einem wohl den
Quellen geschuldeten Eurozentrismus nicht
entweichen kann. Vor allem die romanischen
Länder (Frankreich, Italien, Spanien) werden
als Vergleichspunkte herangezogen. Dieses
Argument ist aber weniger als Kritikpunkt
denn als vorsichtige Anfrage zu verstehen,
denn Lehners Studie fasziniert durch das profunde Wissen des Autors über eine aufgeklärte Gelehrtenkultur, das immer wieder aufscheint.
Die häufigen Brückenschläge zum 20. Jahrhundert sind aufgrund der andersartigen gesellschaftlichen Kontexte mutig, manche Begriffskonstellationen wirken ein ums andere Mal gewagt. Können etwa Alfons Maria
von Liguori (1696–1787) und Benedikt Labre
(1748–1783) in ihrer Armenfürsorge tatsächlich ähnliche Motive wie den Befreiungstheologen des 21. Jahrhunderts unterstellt werden
(S. 179)?
Zumindest implizit verhandelt die Untersuchung das Phänomen der Katholischen
1 Vgl.
Ulrich L. Lehner / Michael Printy (Hrsg.), A Companion to the Catholic Enlightenment in Europe, Leiden 2010; Ulrich L. Lehner, Enlightened Monks. The
German Benedictines, 1740–1803, Oxford 2011; Ders. /
Jeffrey Burson (Hrsg.), Enlightenment and Catholicism
in Europe. A Transnational History, Notre Dame (IN)
2014.
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Aufklärung dann doch als einen Elitendiskurs. Sozialgeschichtliche Einblicke bekommt
das Lesepublikum höchstens indirekt, über
die Eindrücke und Beobachtungen katholischer Intellektueller (z.B. Lodovico Antonio
Muratori). Die tatsächliche pastorale Praxis
„von unten“, nicht nur theoretische Entwürfe von Visionären und Vordenkern der Zeit,
wird bei Lehner nachrangig verhandelt. Anstelle der Analyse der pastoralen Impulse jener klugen Köpfe – wie vermittelte man etwa der gemeinen Bevölkerung eine „defense of women’s rights“ (S. 102)? – hat für ihn
die exemplarische Vermessung zeitgenössischer intellektueller Profile Priorität. Gleichzeitig schreibt der Autor Genese und Verlauf
der Katholischen Aufklärung nicht als eine
reine Erfolgsgeschichte. Bereits in der Einleitung verspricht das Buch, nicht zu glorifizieren und auch auf die „dark sides“ der Reformbewegung aufmerksam zu machen (S. 13) –
und gelangt zu einer differenzierten Beurteilung etwa der Sklavenfrage: Viele katholische
Aufklärer wie der portugiesische Priester Ribeiro Rocha konnten Mitte des 18. Jahrhunderts ihre moralische Ablehnung der Sklaverei sehr gut theologisch begründen, verhielten
sich aber eher passiv, wenn es um konkrete
Hilfeleistungen ging (S. 205).
In seinem Fazit erklärt Lehner das Ende,
ja wörtlich „den Tod“ (S. 206) der Katholischen Aufklärung mit dem Wiedererstarken
des ultramontanen, papstzentrierten Katholizismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Napoleon habe 1801 durch den Frieden von Lunéville bzw. die Säkularisation die bisherigen
kirchenpolitischen Verhältnisse auf den Kopf
gestellt: Durch den herrschafts- und vermögensrechtlichen „Kahlschlag“ auf diözesaner
Ebene „one could only look to Rome for guidance because [. . . ] papal authority remained
intact“ (S. 216).
Der Autor entscheidet sich also für eine
Betonung des Bruches und nicht möglicher
Kontinuitäten, wie sie jüngst Andreas Holzem herausgestellt hat.2 Denn auch wenn
wir im 19. Jahrhundert selbstverständlich einen stark ausgeprägten ultramontanen, romtreuen Katholizismus beobachten können, bestehen andere vormodern ausgeprägte katholische Identitäten nach wie vor weiter. Folgt
man dem Alternativkonzept Holzems, wird
freilich der Begriff der Konfessionalisierung
sehr weit gefasst und gilt in unterschiedlichen
Nuancen und Schattierungen von 1550 bis
1850. Die Katholische Aufklärung wäre dann
eine Form der Konfessionalisierung, in der
spezifische Bedürfnisse des damaligen Katholizismus bedient wurden.3 Ein solches Zeichnen einer langen Linie hat unübersehbar ihren Preis: Entscheidet man sich für das Kontinuitätsmodell, müssen offensichtliche Differenzen wie die Definition von Aufklärung
als „Anti-Barock“ (Peter Hersche)4 und die
Transformation der katholischen Frömmigkeitskultur vom – bildlich gesprochen – barocken Bildstock zur jansenistischen Bibellektüre zu bloßen Oberflächenprozessen erklärt
werden. Hier wurde religiöses Wissen lediglich anders arrangiert, was sich aber über 300
Jahre fortsetzte, war das stete Ringen um religiös konstituierte Gruppenformierung.
Ulrich L. Lehner ist mit seiner jüngsten Studie eine weitere Erhellung des immer noch
dunklen Forschungsfeldes der Katholischen
Aufklärung gelungen, die vor einigen Jahrzehnten noch als reine „Illusion“ klassifiziert
wurde.5 Insbesondere durch seinen steten
transnationalen Blickwinkel vermag es der
Autor, auf die vielfältige Gestalt dieses Zeitalters aufmerksam zu machen. Die Agenda,
die „The Catholic Enlightenment“ verfolgt,
ist hingegen eine kirchenpolitische: Die Vorwegnahme des im 20. Jahrhunderts so stark
betonten Dialogs zwischen Religion und Gegenwart durch aufgeklärte Katholiken des 18.
und 19. Jahrhunderts nachzuzeichnen und
daraus mögliche Modernisierungspfade für
2 Vgl.
Andreas Holzem, Christentum in Deutschland
1550–1850. Konfessionalisierung – Aufklärung – Pluralisierung, Bd. 1, Paderborn 2015, S. 12–32.
3 Vgl. Günther Wassilowsky, Rezension von: Andreas
Holzem: Christentum in Deutschland 1550–1850. Konfessionalisierung – Aufklärung – Pluralisierung, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, in: sehepunkte 16
(2016), Nr. 4, URL: http://www.sehepunkte.de/2016
/04/26620.html (15.04.2016).
4 Peter Hersche, Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, Bd. 2,
Freiburg im Breisgau 2006, S. 960.
5 Harm Klueting, „Der Genius der Zeit hat sie unbrauchbar gemacht.“ Zum Thema Katholische Aufklärung –
Oder: Aufklärung und Katholizismus im Deutschland
des 18. Jahrhunderts. Eine Einleitung, in: ders. (Hrsg.),
Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen
Deutschland, Hamburg 1993, S. 1–35, hier: S. 9.
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HistLit 2016-2-213 / Florian Bock über Lehner, Ulrich L.: The Catholic Enlightenment. The
Forgotten History of a Global Movement. Oxford
2016, in: H-Soz-Kult 30.06.2016.
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