1. Teil: Einleitung und Grundlagen te ausgeübt, wie die Rede von der Ausübung von Staatsgewalt nahelegen könnte, sondern kann auch durch andere Instrumente der Einflussnahme erfolgen (zB Gewährung von Steuervorteilen und gezielten Prämien, Subventionierung). Für die Ausübung effektiver Staatsgewalt ist nur wesentlich, dass sie nach Bedarf Mittel der Befehls- und Zwangsgewalt zur Verfügung hat. Eine effektive Staatsgewalt stellt sich für den Bürger ambivalent dar: ein Staat, der die Macht hat, seine Bürger wirksam zu schützen, ist auch in der Lage, die Bürger zu unterdrücken. Mit der Notwendigkeit einer effektiven Staatsgewalt ist daher die Forderung der Begrenzung und Kontrolle staatlicher Macht verbunden. Im Verfassungsstaat gewährleisten der Grundsatz der Gewaltenteilung, rechtlich fixierte Kompetenzen der Staatsorgane sowie eine rechtliche und politische Kontrolle staatlicher Machtausübung, insbesondere am Maßstab der Grundrechte, einen Schutz vor Missbrauch staatlicher Gewalt. 8 Eng verbunden mit dem Begriff der Staatsgewalt ist der Begriff der Souveränität, der in unterschiedlichen Zusammenhängen und in unterschiedlichen Bedeutungsnuancen verwendet wird. Nach innen gerichtet versteht man unter Souveränität die unabhängige und effektive Ausübung der obersten Herrschaftsgewalt. Entscheidend ist, dass keine Konkurrenz zu anderen Gewalten in Bezug auf das gleiche Staatsgebiet und das gleiche Staatsvolk besteht. Nach außen gerichtet wird mit Souveränität die völkerrechtliche Unabhängigkeit eines Staates bezeichnet. Das heißt, dass ein Staat von den anderen als oberster Herrschaftsträger auf einem bestimmten Gebiet anerkannt wird. Lösung: Staatsqualität der EU Die Beantwortung der Frage nach der Staatsqualität der EU hängt ab von dem Staatsbegriff, den man seinen Überlegungen zugrunde legt. Unter Berücksichtigung der Drei-Elemente-Lehre kann man als „Staatsgebiet“ das Gebiet der Mitgliedstaaten ansehen (vgl Art 3 B-VG, der eine sehr ähnliche Regelung für das österreichische Staatsgebiet trifft). „Staatsvolk“ sind die Bürger der Mitgliedstaaten, die gleichzeitig zu der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates die Unionsbürgerschaft haben (Art 20 AEUV). Zweifelhaft ist, ob die EU „Staatsgewalt“ besitzt. Zwar kommen der Union eigenständige Rechtssetzungsbefugnisse zu; sie hat auch die Möglichkeit, das Unionsrecht durchzusetzen. Jedoch fehlt der EU die für Staaten wesentliche Allzuständigkeit. Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ist die EU nur dann zuständig, wenn die Mitgliedstaaten ihr diese Zuständigkeit verliehen haben. Eine KompetenzKompetenz hat sie hingegen nicht. Dieser Aspekt spricht gegen die Annahme einer effektiven „Staatsgewalt“ und damit gegen die Staatsqualität der EU im Sinne der Drei-Elemente-Lehre. II. Staatsformen und Regierungsformen 9 Die Organisation staatlicher Herrschaftsgewalt kann in unterschiedlicher Weise erfolgen. Bereits in der Antike wurden Typen der Organisationsweise staatlicher Herrschaftsgewalt entwickelt, die Grundstrukturen von Staatsformen aufzeigen. 26 A. Staatsbegriff und Staatsformen Daneben lassen sich verschiedene Regierungsformen als Grundtypen der Art und Weise der Machtverteilung und -ausübung innerhalb eines politischen Systems aufzeigen. Die Unterscheidung zwischen Staatsformen und Regierungsformen wird nicht immer trennscharf gezogen. 1. Staatsformen a) Monarchie und Republik In einer grundlegenden Typisierung ist zwischen der Staatsform der Repub- 10 lik einerseits und jener der Monarchie andererseits zu unterscheiden. Wesentliches Kennzeichen der Monarchie ist ein auf Lebenszeit amtierendes Staatsoberhaupt, das durch Erbfolge sein Amt erhalten hat. Mit der Qualifikation eines Staates als Monarchie ist noch keine Aussage über die Verteilung der Staatsgewalt zwischen dem monarchischen Staatsoberhaupt und anderen Staatsorganen gesagt. 11 Auch die Regierungsform in einer Monarchie kann variieren: •• In einer absoluten Monarchie ist der Monarch alleiniger Träger der Staatsgewalt. Er übt diese ohne Bindung an eine Verfassung oder anderes Recht aus (Kombination einer monarchischen Staatsform mit einer monokratischen Regierungsform). •• In einer konstitutionellen Monarchie ist der Monarch durch eine Verfassung in seiner Herrschaftsausübung beschränkt. Die Herrschaftsgewalt ist auf mehrere Staatsorgane aufgeteilt. Die Regierungsform kann eine Demokratie oder eine Zwischenform einer monokratischen Regierungsform mit demokratischen Elementen sein. •• In einer parlamentarischen Monarchie, die regelmäßig auch eine konstitutionelle Monarchie ist, ist die Herrschaftsgewalt des Monarchen beschränkt und im Wesentlichen dem Parlament, aber auch weiteren Trägern der Staatsgewalt übertragen. Typischerweise verbleiben dem Monarchen vor allem repräsentative Aufgaben. Die Regierungsform in einer parlamentarischen Monarchie ist zumeist die Demokratie. Im Gegensatz zur Monarchie zeichnet sich die Staatsform Republik durch ein Staatsoberhaupt aus, das durch Wahl bestimmt wird und eine beschränkte Amtsdauer hat. Auch die Staatsform Republik sagt noch nichts über die Regierungsform eines Staates aus. So können demokratische, oligarchische und monokratische Republiken unterschieden werden. b) Bundesstaat und Einheitsstaat In einer weiteren grundlegenden Unterscheidung von Staatsformen lassen sich 12 Bundesstaat und Einheitsstaat gegenüberstellen. Ein Bundesstaat ist eine auf den Staat bezogene Konkretisierung des Föderalismus. Als Föderalismus wird ein Prinzip der Vielfalt in der Einheit bezeichnet, in dem mehrere Gliedeinheiten unter Grabenwarter/Holoubek, Verfassungsrecht – Allgemeines Verwaltungsrecht2 27 1. Teil: Einleitung und Grundlagen Erhalt möglichster Eigenständigkeit sich zu einem Bund zusammenschließen. Der Föderalismus ist daher ein übergeordnetes Prinzip, das sich nicht nur in Staaten, sondern auch in anderen Einheiten – wie Staatenverbänden oder internationalen Organisationen – verwirklichen kann. 13 Ein Bundesstaat ist von einem Einheitsstaat abzugrenzen, wobei maßgebend für diese Unterscheidung die Binnenstruktur eines Staates ist. Kennzeichnend für einen Bundesstaat ist eine staatliche Binnenstruktur, die mindestens zwei territoriale Ebenen aufweist, denen jeweils Aufgaben und Zuständigkeiten zugewiesen sind, wobei der Umfang und die Art der Aufgaben- und Zuständigkeitszuweisung auf die einzelnen Ebenen durchaus unterschiedlich sein kann. Typisch für den Bundesstaat ist nicht die Quantität der den Gliedeinheiten zukommenden Aufgaben und Kompetenzen, sondern die Qualität. Sie nehmen sie als eigene Aufgaben wahr, ihre Staatsgewalt ist keine von der zentralen Einheit abgeleitete, sondern eine eigene. Daher werden sie allgemein als Gliedstaaten bezeichnet. Die konkrete Bezeichnung in den einzelnen Verfassungsordnungen divergiert (zB Länder, Kantone, Provinzen). Auch die konkrete Ausgestaltung des Bundesstaats kann von Verfassung zu Verfassung abweichen (siehe für die österreichische Verfassungsordnung Rz 143 ff). 14 Der Einheitsstaat hat hingegen eine einheitliche Staatsgewalt. Auch Einheitsstaaten können Untergliederungen mit mehr oder weniger umfangreichen Zuständigkeiten aufweisen, man unterscheidet zentralisierte und dezentralisierte Einheitsstaaten. Diese Untergliederungen sind jedoch nur Verwaltungseinheiten und keine in ihrer Aufgabenwahrnehmung selbständige Staaten. Abzugrenzen ist der Bundesstaat auch vom Staatenbund. Bei einem Staatenbund handelt es sich um einen Zusammenschluss von Staaten, dh eine internationale oder supranationale Organisation von Staaten, die mit diesem Zusammenschluss Teile ihrer Souveränität aufgegeben und auf den Staatenbund übertragen haben. Dieser weist eigene Organe auf, denen gemeinsame Aufgaben übertragen wurden, hat aber selbst keine Staatsqualität. Die in dem Bund zusammengeschlossenen Staaten bleiben die Herren der Verträge und unabhängige Staaten im Sinne des Völkerrechts. 2. Regierungsformen 15 Die unterschiedlichen Regierungsformen lassen sich danach unterscheiden, wie die politische Herrschaftsmacht in einem Staat verteilt ist und wie sie ausgeübt wird. Die aufgeführten Regierungsformen sind Grundtypen, die in unterschiedlicher Ausprägung in einem Staat umgesetzt sein können. In einem ersten Schritt lassen sich Autokratie und Demokratie als Grundtypen von Regierungsformen unterscheiden. In einer Autokratie wird die Herrschaftsgewalt durch einen oder mehrere Herrscher erzeugt. Die Rechtsunterworfenen sind von der Ausübung der Herrschaftsgewalt ausgeschlossen. Im Gegensatz dazu erfolgt die Ausübung der Staatsgewalt in einer Demokratie durch das Volk. Dieses legitimiert insbesondere durch Abstimmungen und Wahlen die Ausübung 28 A. Staatsbegriff und Staatsformen der staatlichen Macht und ist an der Erzeugung der Rechtsordnung beteiligt. Die Rechtsunterworfenen sind damit an der Ausübung der Herrschaftsgewalt beteiligt. Wesentliches Merkmal einer demokratischen Regierungsform ist die Geltung des Mehrheitsprinzips, das allerdings nicht unbeschränkt gilt, sondern durch Minderheitenrechte unterschiedlicher Ausprägung ergänzt wird. Eng damit verbunden ist das Merkmal der grundsätzlichen Gleichheit der Staatsbürger. Autokratien und Demokratien können wiederum in verschiedenen Formen auf- 16 treten. Erscheinungsformen einer Autokratie sind die Monokratie, die Oligarchie oder die Aristokratie. In einer Monokratie wird die Herrschaft durch einen Einzelnen – sei es durch einen Monarchen oder durch ein (ehemals) gewähltes Staatsoberhaupt als Diktator einer Republik – ausgeübt. Eine solche Regierungsform ist durch das Fehlen jeder Form von Gewaltenteilung gekennzeichnet, wodurch eine Kontrolle des Herrschers nicht stattfindet. Das Staatsvolk hat gegenüber der Staatsgewalt weder Einflussmöglichkeiten noch Rechte, sondern ist seiner Willkür ausgeliefert. Mit älteren Begriffen werden Monokratien daher auch als Tyrannis oder Despotie bezeichnet. Als Oligarchie bezeichnet man die Ausübung der Herrschaftsgewalt durch eine herrschende Schicht oder Gruppe. Anders als bei einer Demokratie handelt es sich bei der herrschenden Gruppe jedoch um eine Minderheit, die allenfalls ihre Schicht, nicht aber die Bevölkerungsmehrheit repräsentiert. Die Herrschergruppe kann aufgrund wirtschaftlicher Potenz (Plutokratie) oder aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Herrscherschicht die Ausübung staatlicher Macht für sich beanspruchen. Die Form der Oligarchie, in der der Adel die Herrschaftsgewalt innehat, nennt man Aristokratie. Die Regierungsform der Oligarchie widerspricht dem Konzept eines modernen, demokratischen Verfassungsstaats. Allerdings können auch in demokratischen Staaten gelegentlich oligarchische Elemente festgestellt werden. So stellt das britische Oberhaus (House of Lords), das mit Angehörigen des Adelsstandes besetzt ist, ein oligarchisches Element innerhalb eines demokratischen Staates dar. Auch die Demokratie kommt in verschiedenen Erscheinungsformen vor. So 17 lassen sich insbesondere demokratische Regierungsformen, in denen Elemente unmittelbarer und mittelbarer Demokratie unterschiedlich stark vorgesehen sind, feststellen. Moderne Staaten sind in der Regel repräsentative Demokratien mit mehr oder weniger stark ausgeprägten direkt demokratischen Elementen. Ein parlamentarisches Regierungssystem charakterisiert sich insbesondere durch die Abhängigkeit der Verwaltungsorgane vom Parlament und regelmäßig durch die organisatorische Trennung von Regierung und Staatsoberhaupt, wobei dessen Stellung häufig auf repräsentative Aufgaben beschränkt ist. Typische Folgeerscheinung eines parlamentarischen Regierungssystems ist deshalb die politische Identität von Regierung und Parlamentsmehrheit, sodass die parlamentarische Kontrolle faktisch insbesondere durch die oppositionellen Abgeordneten ausgeübt wird. Demgegenüber liegt in einem präsidentiellen Regierungssystem, wie es Frankreich oder die Vereinigten Staaten aufweisen, das politische Schwergewicht auf dem Präsidenten, der die Minister ernennt und entlässt. Die Regierung unterliegt in solchen Systemen keiner politischen Verantwortung gegenüber dem Parlament. Grabenwarter/Holoubek, Verfassungsrecht – Allgemeines Verwaltungsrecht2 29 1. Teil: Einleitung und Grundlagen B. Verfassung und Verfassungsrecht Adamovich, Volk und Verfassung, FS Schäffer (2006) 1; Brauneder, Was ist die Verfassung? FS Öhlinger (2004) 181; Kirchhof, Begriff und Kultur der Verfassung, in Depenheuer/ Grabenwarter (Hg), Verfassungstheorie (2010) 69. 18 Der Begriff der Verfassung kann in einem weiten Sinn als ein Komplex von Rechtsvorschriften verstanden werden, der eine Einheit grundlegend organisiert und ihre Tätigkeiten definiert (zB Statut eines Vereins, „Kommunalverfassung“). In einem engeren Wortsinn ist der Begriff der Verfassung auf Staaten bezogen und meint in diesem Zusammenhang einen Komplex von Rechtsvorschriften, der den Staat grundlegend organisiert und Rahmenbedingungen für sein Handeln setzt. Diese Rechtsvorschriften sind durch besondere Merkmale von den übrigen Vorschriften der Rechtsordnung unterschieden. Mit diesem engeren Verfassungsbegriff der Rechtswissenschaften, der im Folgenden zugrunde gelegt wird, ist somit zugleich das Verfassungsrecht gemeint. I. Verfassung im formellen und im materiellen Sinn 19 Die Verfassung eines Staates ist zunächst einmal nichts anderes als ein Teil seiner Rechtsordnung, der allerdings durch bestimmte Merkmale von anderen Teilen der Rechtsordnung hervorgehoben ist. Man unterscheidet Verfassung im formellen Sinn und Verfassung im materiellen Sinn. Der formelle Verfassungsbegriff stellt auf die Rechtsform eines Rechtssatzes ab. Recht, das in einem besonderen, für Verfassungsrecht vorgesehenen Verfahren erzeugt wird, ist formelles Verfassungsrecht. Dabei kann es sich um eine einheitliche Verfassungsurkunde handeln oder um in verschiedenen Gesetzeskörpern enthaltene Regelungen, die die besonderen, gegenüber (einfachen) Gesetzen erschwerten Erzeugungsbedingungen erfüllen. Der materielle Verfassungsbegriff stellt hingegen auf den Inhalt einer Regelung ab. Unabhängig vom formellen Rang einer Rechtsnorm zählt diese zum materiellen Verfassungsrecht, wenn sie verfassungstypische Gegenstände regelt. Was verfassungstypisch ist, steht nicht unabänderlich und undiskutierbar fest, sondern wird durch die Wissenschaft unter Berücksichtigung des Vergleichs verschiedener Rechtsordnungen ermittelt. Verfassungsrecht im materiellen Sinn sind grundlegende Rechtsnormen über Ziele, Aufgaben und die Organisation des Staates. Typische Inhalte sind etwa Vorschriften über die Konstituierung und Kompetenzen der Staatsorgane, über die Kompetenzverteilung im Bundesstaat, über das Verfahren der Rechtserzeugung und Grundrechte. Verfassungsrecht im formellen Sinn ist meist auch Verfassungsrecht im materiellen Sinn und umgekehrt. Allerdings trifft diese doppelte Qualifikation nicht immer zu. Nicht alle Regelungen, die formelles Verfassungsrecht sind, können auch als materielles Verfassungsrecht qualifiziert werden. So bestimmt Art 14 Abs 7a B-VG, dass die Schulpflicht zumindest neun Jahre beträgt, eine Regelung, die ihrem Inhalt nach keine grundlegende Rechtsnorm über Aufgaben und Organisation 30 B. Verfassung und Verfassungsrecht des Staates oder das Verhältnis zum Bürger enthält. Die Dauer der Schulpflicht zählt nicht zu den typischerweise in Verfassungen geregelten Gegenständen und ist daher kein Verfassungsrecht im materiellen Sinn (wohl aber im formellen). Nicht alle Regelungen, die materielles Verfassungsrecht enthalten, sind auch Verfassungsrecht im formellen Sinn. Bspw enthält die NRWO, ein einfaches Gesetz, Regelungen über die Wahl zum Nationalrat, also über die Bildung eines Staatsorgans, die man als materielles Verfassungsrecht qualifizieren kann. II. Funktionen der Verfassung Das Konzept eines Verfassungsstaats beruht auf der Idee, dass die staatliche 20 Machtausübung durch eine geschriebene Verfassung konstituiert und gleichzeitig begrenzt wird. Die Verfassung bildet in diesem Sinne die Grundordnung der staatlichen Gemeinschaft. 21 Ihr kommen im Verfassungsstaat verschiedene Funktionen zu: •• Die Verfassung enthält die Spielregeln des politischen Prozesses. Die höhere Bestandskraft der verfassungsrechtlichen Normen entzieht diese dem politischen Alltagsgeschäft und verhindert, dass die (derzeitige) Mehrheit die Spielregeln nach ihren Vorstellungen abändert („Spielregelverfassung“). Die Verfassung gibt damit der demokratischen Willensbildung einen organisatorischen und verfahrensrechtlichen Rahmen vor und stellt so einen freien und fairen Prozess der Willensbildung sicher, der den für die Demokratie essentiellen Wechsel von der derzeitigen Mehrheit zur jetzt in der Opposition befindlichen Minderheit möglich macht. •• Die Verfassung zielt auf eine Begrenzung staatlicher Macht zur Sicherung individueller Freiheit. Sie konstituiert verschiedene Organe mit einem je unterschiedlichen und begrenzten Aufgabengebiet, wodurch eine Beschränkung der Befugnisse des einzelnen Organs und eine gegenseitige Kontrolle der Organe erreicht wird (Grundsatz der Gewaltenteilung siehe Rz 75). Die Grundrechte als ein Essential einer Verfassung sichern dem Einzelnen einen individuellen Freiraum vor staatlichen Eingriffen und setzen staatlichen Regelungen inhaltliche Grenzen (siehe Rz 380). •• Die Verfassung hat gerade in einem pluralistischen Staat die Funktion, gemeinsame Werte und Grundüberzeugungen festzuhalten, die als gesellschaftlicher Basiskonsens in der täglichen politischen Auseinandersetzung vorausgesetzt und nicht jederzeit in Frage gestellt werden. Insofern kann der Verfassung auch eine einheitsstiftende Funktion innerhalb des staatlichen Gemeinwesens zugesprochen werden. Im Anschluss an Rudolf Smend kann diese Eigenschaft mit dem Begriff der Integrationsfunktion der Verfassung bezeichnet werden. Grabenwarter/Holoubek, Verfassungsrecht – Allgemeines Verwaltungsrecht2 31 1. Teil: Einleitung und Grundlagen III. Verfassungsinterpretation Korinek, Zur Interpretation von Verfassungsrecht, FS Walter (1991) 363; Öhlinger, Auslegung des öffentlichen Rechts, JBl 1971, 284; Schäffer, Verfassungsinterpretation in Österreich (1971); Winkler, Rechtstheorie und Erkenntnislehre (1990) 198. 1. Allgemeines zur Interpretation 22 Die Interpretation von Rechtsvorschriften im Allgemeinen ist ein Verfahren, mit dem der Inhalt von Rechtsvorschriften zu Tage gefördert wird, der dem Interpreten zunächst in Gestalt eines schriftlich niedergelegten Textes gegenübertritt. Die Interpretation speziell des Verfassungsrechts weist dabei einige Besonderheiten auf, die den spezifischen Eigenschaften und Funktionen dieses Teils der Rechtsordnung geschuldet sind. Der Interpretationsvorgang ist ein komplexer: Eine Hierarchie von Aspekten der Interpretation (etwa des Vorrangs des Wortlauts) lässt sich in dieser Allgemeinheit nicht postulieren. Vielmehr ist der Vorgang mit der Wahrnehmung eines Bildes vergleichbar, das immer schärfer wird, je mehr Aspekte der Interpretation in den Wahrnehmungsvorgang einbezogen werden. Dabei kann man zwei Schritte voneinander trennen: erstens die Ermittlung verschiedener „Normhypothesen“ und zweitens die Auswahl einer Hypothese als „Auslegungsergebnis“. Umstritten ist in diesem Zusammenhang, ob es Aufgabe rechtswissenschaft licher Interpretation ist, stets eine eindeutige Lösung erzielen zu können. Nach den Vertretern der Reinen Rechtslehre ist es nicht Aufgabe der Rechtswissenschaft, eine Entscheidung zwischen den von ihr aufgezeigten Möglichkeiten der Interpretation zu treffen, vielmehr müsse die Entscheidung beim Organ liegen, das nach der Rechtsordnung für die Entscheidung zuständig ist – dies sei aber nicht mehr ein Erkenntnisakt, sondern ein Willensakt (Kelsen). Nach der hier vertretenen Auffassung ist es Aufgabe der Rechtswissenschaft, nicht bloß Interpretationsmöglichkeiten (Normhypothesen) darzustellen, sondern die Auswahl einer Möglichkeit zu treffen und diese Auswahl mit rationalen Agrumenten zu begründen. Dieses Position zur Auslegung ist dem Gegenstand „Recht“ adäquat: Das allgemeine und abstrakte Gesetz als Gegenstand der Interpretation ist darauf gerichtet, dem Interpreten im Hinblick auf die Konkretheit, Individualität und Begrenztheit einer bestimmten Lebens- oder Sachlage eine richtige Antwort zu geben (Winkler); diese zu ermitteln ist Aufgabe der Rechtswissenschaft. 2. Die einzelnen Canones der Interpretation 23 Der Interpretationsvorgang bezogen auf einen bestimmten Rechtstext ist ein einheitlicher, der verschiedene Aspekte umfasst, die in der juristischen Argumentation (auch von Gerichten) regelmäßig voneinander getrennt werden, um den Begründungsweg transparenter und nachvollziehbarer zu machen. Man spricht meist 32 B. Verfassung und Verfassungsrecht von „Interpretationsmethoden“, gemeint sind damit einzelne Aspekte der Interpretation, die hier als „Canones“ bezeichnet werden. 24 Im Einzelnen wird unterschieden: •• Wortlautinterpretation oder grammatikalische Interpretation: Dieser Aspekt der Interpretation ist auf die Bedeutung des Wortes im allgemeinen Sprachgebrauch bzw. im sprachlichen Zusammenhang im Lichte der Grammatik gerichtet. Mögliche Legaldefinitionen gehen dem allgemeinen Sprachgebrauch vor. Beispiel: Unter einem Wald versteht man im Allgemeinen eine (meist größere) Fläche mit Bäumen. Wald iSd ForstG sind mit forstlichem Bewuchs bestockte Grundflächen, soweit die Bestockung mindestens eine Fläche von 1000 m² und eine durchschnittliche Breite von 10 m erreicht. •• Systematische Interpretation: Die systematische Interpretation untersucht normative Aussagen einzelner Worte oder Sätze bzw Absätze einer Rechtsvorschrift unter Berücksichtigung des Zusammenhangs in einem Gesetz, in einem Teilbereich der Rechtsordnung oder in der Rechtsordnung insgesamt. Beispiel: Ein klassisches Beispiel für eine (historisch-)systematische Interpretation ist es, wenn im Rahmen der sogenannten „Versteinerungstheorie“ nach der Bedeutung eines Begriffs in den Kompetenzartikeln des B-VG gefragt wird, die dieser Begriff in der übrigen (insbesondere unterverfassungsgesetzlichen) Rechtsordnung im Versteinerungszeitpunkt hatte (siehe unten Rz 191). •• Historische Interpretation: Die historische Interpretation ist auf die Ermittlung des sogenannten „Willens des Gesetzgebers“ gerichtet. Dabei ist nicht gemeint, was sich die einzelnen Abgeordneten bei der Beschlussfassung gedacht haben, sondern es wird vielmehr nach Anhaltspunkten in der Entstehungsgeschichte gesucht, die Aufschluss über das im Text grundgelegte Verständnis geben. Bedeutendste Erkenntnisquelle sind hierfür die sogenannten „Gesetzesmaterialien“, das sind im Wesentlichen die Erläuterungen zur Regierungsvorlage (RV) sowie die Ausführungen im Bericht des jeweiligen Ausschusses des Nationalrates (AB). Beispiel: Nach Art 129e B-VG idF BGBl I 2/2008 erkannte der Asylgerichtshof „durch Einzelrichter oder in Senaten“. Nach herkömmlichem juristischen Begriffsverständnis ist ein „Senat“ ein Spruchkörper (regelmäßig) eines Gerichts, der aus mindestens drei Mitgliedern besteht. In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage hieß es jedoch, dass der Asylgerichtshof grundsätzlich in Senaten zu entscheiden haben soll, „die aus zwei Richtern bestehen.“ (RV 314 Blg NR 23. GP, 3). Angesichts dessen ist davon auszugehen, dass der Verfassungsgesetzgeber einen weiteren – auch Besetzungen mit bloß zwei Richtern umfassenden – Begriff des „Senats“ zugrunde gelegt hatte (VfSlg 18.632/2008). •• Teleologische Interpretation: Bei diesem Aspekt der Interpretation wird nach dem Sinn und Zweck einer Rechtsvorschrift gefragt. Dabei ist nicht bloß ein ausdrücklich in den Mate rialien geäußerter Zweck gemeint, sondern auch ein (objektiv erkennbarer) Zweck, den der Gesetzgeber nicht berücksichtigt hat, im Einzelfall gar nicht Grabenwarter/Holoubek, Verfassungsrecht – Allgemeines Verwaltungsrecht2 33 1. Teil: Einleitung und Grundlagen berücksichtigen konnte (etwa weil sich die tatsächlichen Umstände erst im Gefolge eines Gesetzgebungsakts maßgeblich geändert haben). Beispiel: Der Schutz des Briefgeheimnisses, der nach Art 10 StGG 1867 und Art 8 EMRK aus dem Jahr 1958 nur die klassische Briefpost umfassen konnte, schützt auch die Vertraulichkeit der Kommunikation über E-Mail. 3. Besonderheiten der Verfassungsinterpretation 25 Die Verfassungsinterpretation ist durch mehrere Besonderheiten gekennzeichnet, die durch die Eigenschaften und Funktionen des Verfassungsrechts bestimmt sind. Zu diesen Besonderheiten gehören: •• Wahrung der rechtsstaatlichen Demokratie: In der ursprünglichen Sicht sollte die österreichische Bundesverfassung die Einrichtung, die Zuständigkeit, das Verfahren und das Zusammenwirken der „Verfassungsorgane“ regeln („Spielregelverfassung“). Sie ist als solche darauf gerichtet, den Prozess demokratisch legitimierter Rechtssetzung und rechtsstaatlich fundierter Vollziehung und deren Kontrolle abzusichern. Diese Funktion ist einer „aktualisierenden“ Interpretation tendenziell entgegengesetzt, weshalb einer historischen Interpretation ein stärkeres Gewicht gegenüber der teleologischen Interpretation eingeräumt wird. Andernfalls wäre einer teleologischen Interpretation in Anpassung an geänderte politische und gesellschaftliche Situationen Tür und Tor geöffnet und damit die Grundlage dafür gelegt, dass unter Ausschaltung des demokratisch legitimierten Verfassungsgesetz gebers Grundentscheidungen des Staatsorganisationsrechts verändert werden. •• Minderheitenschutz: Eine wesentliche Funktion der Verfassung in der Demokratie besteht im Schutz der qualifizierten Minderheit vor der einfachen Mehrheit. Dieser Schutz kommt im erhöhten Bestandschutz des Verfassungsrechts im Vergleich zum einfachen Gesetz zum Ausdruck (Zweidrittelmehrheit für die Abänderung von Verfassungsgesetzen, Erfordernis einer Volksabstimmung zusätzlich zur Zweidrittelmehrheit bei einer Gesamtänderung der Bundesverfassung). Auch hier gilt, dass die qualifizierte Mehrheit nicht dadurch umgangen werden kann, dass nicht geänderte Vorschriften im Wege der Interpretation einen anderen Inhalt erhalten. •• Unbestimmtheit von verfassungsrechtlichen Bestimmungen: Sieht man von atypischem Verfassungsrecht ab, das es im österreichischen Recht nach wie vor bedauerlicherweise im Übermaß (vor allem in Gestalt von Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen) gibt, so gilt für viele Teile, insbesondere im Bereich der Grundrechte, dass die Normstruktur durch relativ unbestimmte Formulierungen gekennzeichnet sind. Daraus ergibt sich von selbst die Konsequenz, dass die Wortlautinterpretation im Vergleich zu historischen, teleologischen und systematischen Momenten geringeren Einfluss auf das Auslegungsergebnis hat. 34 B. Verfassung und Verfassungsrecht •• Verfassungskonforme Interpretation: Eine Rechtsvorschrift niederen Ranges wird immer so ausgelegt, dass sie im Zweifel mit den Bedingungen und dem rechtlichen Rahmen der höherrangigen Regelung vereinbar ist. Die verfassungskonforme Interpretation ist insoweit keine Besonderheit der Verfassungsinterpretation, sondern Ausdruck des allgemeinen Gedankens einer rechtskonformen Interpretation. Konkret für die verfassungskonforme Interpretation heißt dies, dass man, wenn für ein Gesetz im Fall von mehreren „gleichwertigen“ Interpretationsmöglichkeiten auf der Grundlage der „klassischen“ Canones der Interpretation gewonnen werden können, jene Interpretation wählt, die mit dem Verfassungsrecht im Einklang steht. Die Grenze der verfassungskonformen Interpretation soll dort liegen, wo sie dem Wortlaut des Gesetzes oder der gesetzgeberischen Absicht eindeutig widerspricht. In diesem Fall hat der VfGH im Wege eines Gesetzesprüfungsverfahrens wegen Verfassungswidrigkeit aufzuheben. Der VfGH geht bei der Annahme verfassungskonformer Interpretation gelegentlich sehr weit: So wird selbst dann, wenn der Gesetzgeber eine bestimmte Absicht in Materialien äußert, dennoch eine verfassungskonforme Interpretation vorgenommen, wenn diese Absicht im Wortlaut nicht klar zum Ausdruck kommt (VfSlg 15.199/1998). Eine Sonderform der verfassungskonformen Interpretation ist die „grundprinzipienkonforme Interpretation“. Danach ist „einfaches“ Verfassungsrecht im Zweifel so auszulegen, dass es im Einklang mit den Grundprinzipien steht. Grabenwarter/Holoubek, Verfassungsrecht – Allgemeines Verwaltungsrecht2 35
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