Öffentliches Recht • Vergaberecht • Privates Baurecht

Juli 2016
Öffentliches Recht • Vergaberecht • Privates Baurecht
Liebe Leserinnen und liebe Leser,
nach dem Spiel ist vor dem Spiel:
Waren auch Sie vom EM-Fieber
gepackt und feuerten Ihre Lieblingsmannschaft mit ebenso Fußballbegeisterten beim sog. Public Viewing in
Gaststätten und Biergärten gemeinsam an?
Der Jubel kann groß und laut sein,
wenn Tore fallen. Doch wie sieht es
dabei mit dem Lärmschutz der Nachbarschaft der Gaststättenbetriebe
aus? Diese Immissionsschutzprobleme behandelt gleich der erste Beitrag unseres aktuellen Mandantenrundbriefes.
Neben weiteren interessanten und
aktuellen Themen aus dem Bereich
des Öffentlichen Rechts, Vergabeund privaten Baurechts wird Ihnen auf
den nächsten Seiten u. a. das „Verjährungsgespenst“ erläutert und die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung
zum Kampf um die Vergütung von
Mehrdiensten im Beamtenrecht vorgestellt.
Für die ehemaligen Landwirte unter
Ihnen mag zudem der Beitrag der
„Entprivilegierung“ landwirtschaflicher
Gebäude und die damit einhergehende Baugenehmigungsbedürftigkeit der fortgesetzten Wohnnutzung
nach Aufgabe der Landwirtschaft von
besonderem Interesse sein.
Wir wünschen viel Vergnügen bei der
Lektüre!
Herzlichst
Ihr BRANDI-Team
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BIELEFELD | DETMOLD | GÜTERSLOH | PADERBORN | MINDEN | HANNOVER | PARIS | PEKING
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Öffentliches Recht
Dr. Manfred Schröder
Immissionsschutzprobleme im Umfeld von Gaststätten und Biergärten
- unter Berücksichtigung von sportlichen Großereignissen,
wie der Fußball-Europameisterschaft 2016................................................................Seite
Prof. Dr. Martin Dippel
Das Zementwerk und das Reifenschnitzellager –
Abfallentsorgungsanlage? Sicherheitsleistung?.......................................................Seite
Nina Drüke
Die Europäisierung des deutschen Verwaltungsrechts............................................Seite
Dr. Nils Gronemeyer
Erforderlichkeit einer Umweltverträglichkeitsprüfung............................................Seite
Prof. Dr. Martin Dippel
Problemfall Abwasser: Unzulässige Einleitungen in die Kanalisation
können zu Schadensersatzansprüchen der Kommune führen.................................Seite
Dr. Manfred Schröder
Baurechtliche Folgen und Pflichten im Zusammenhang
mit der Aufgabe der Landwirtschaft...........................................................................Seite
Dr. Jörg Niggemeyer
Update – Ausübung des gemeindlichen Vorkaufsrechts
in nichtöffentlicher Sitzung?........................................................................................Seite
Dr. Christoph Worms
Sind auch Sie betroffen? Pflichten nach der REACH-Verordnung............................Seite
Andreas Wiemann
Beamtenrecht: Der Kampf um die Vergütung von Mehrdiensten –
Das „Verjährungsgespenst“ .........................................................................................Seite
Dr. Christoph Worms
Alles neu?! Gesellschafter und Rentenversicherung.................................................Seite
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Vergaberecht
Prof. Dr. Martin Dippel
Neue Rahmenbedingungen für die interkommunale Zusammenarbeit.................Seite 11
Dr. Christoph Jahn
Neue strategische Ziele im Vergaberecht – mit beihilferechtlichen Risiken?.........Seite 13
Dr. Annette Mussinghoff-Siemens
Vergaberechtsnovelle 2016 –
Neuerungen bei der Vergabe von Bauleistungen nach der EU-VOB/A....................Seite 14
Privates Baurecht
Dr. Sandra Vyas
Neuregelung der VOB/B zum 19.01.2016 in Kraft getreten.......................................Seite
Dr. Christian Kollmeier
Keine Unwirksamkeit von § 8 Abs. 2 Nr. 1 Fall 2, Nr. 2 VOB/B endlich Rechtssicherheit bei Insolvenz des Werkunternehmers?............................Seite
Dr. Sandra Vyas
BGH bleibt dabei: Vereinbarung einer Vertragserfüllungsbürgschaft
in Höhe von 10 % der Auftragssumme ist wirksam....................................................Seite
Andreas Wiemann
BGH: Verjährung von Mängelansprüchen bei Auf-Dach-Photovoltaikanlagen Begriff des „Bauwerks“.................................................................................................Seite
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Immissionsschutzprobleme im Umfeld von Gaststätten und Biergärten - unter Berücksichtigung
von sportlichen Großereignissen, wie der FußballEuropameisterschaft 2016
„Das gemeinsame Erleben von Fußballspielen auf den PublicViewing-Veranstaltungen war während der letzten FußballWeltmeisterschaft ein großer Erfolg. Solche Gemeinschaftserlebnisse wollten wir den Fans auch bei den Spielen
der Europameisterschaft in Frankreich ermöglichen. Das
Ruhebedürfnis der Anwohner durfte dabei aber nicht unter
den Tisch fallen, besonders bei späten Spielen und an Werktagen“, sagte NRW-Umweltminister Johannes Remmel. Die
Landesregierung NRW hat in einem Erlass klar gestellt, dass
Public-Viewing auch nach 22:00 Uhr erlaubt ist. Die Entscheidung darüber treffen die Behörden vor Ort.
Wie Lärmschutzkonflikte in solchen Fällen sachgerecht
und rechtmäßig gelöst werden können, war in den letzten
Jahren vielfach umstritten. So war zu den Gaststätten mit
einer angegliederten Außengastronomie fraglich, ob die
Beurteilung des Lärms nach der TA Lärm (Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm vom 26.08.1998) zu erfolgen
hat oder ob es sich um Freizeitlärm handelt, für den ein
anderes Regelwerk, nämlich die Freizeitlärm-Richtlinie gilt.
Spannend war diese Frage deshalb, weil ein bundesrechtliches Regelwerk nicht einfach von den Landesbehörden verändert werden kann, wohl aber die zum Landesrecht gehörenden Freizeitlärm-Richtlinien. Zu unterschiedlichen Ergebnissen kam man insbesondere bei der Frage, in welchem
Umfang die Außengastronomie auch nach 22:00 Uhr den
Nachbarn noch zugemutet werden kann. Welche Anforderungen an die gebotene nachbarschützende gaststättenrechtliche Bewältigung des Konfliktes zwischen dem Gaststättenbetrieb und dem Ruhebedürfnis der Nachbarschaft zu stellen
sind, hängt nach der aktuellen Rechtsprechung entscheidend
von der Art der in Rede stehenden störenden Geräusche ab.
In der baurechtlichen und gaststättenrechtlichen Judikatur ist anerkannt, dass die Bewertung der Zumutbarkeit des
durch Menschen verursachten Lärms von einem Bündel von
Faktoren abhängt, die nur unvollkommen in einem einheitlichen Messwert aggregierend erfasst werden können. Dies
gilt gerade auch für Geräusche, die von Dritten verursacht
werden und vom Betreiber einer Außengastronomie - anders
als bei gewerblichem Lärm im herkömmlichen Sinne - nicht
zu steuern sind. Erforderlich ist in solchen Fällen eine
situationsbezogene Abwägung der Umstände des Einzelfalls.
Eine solche solide Abwägung aller erkennbaren Belange
muss einem Bescheid vorausgehen und sie muss sich der
Begründung dieses Bescheides auch deutlich entnehmen
lassen. Eine gründliche Abwägung und eine überzeugende
Begründung des Abwägungsergebnisses sind vielfach
Voraussetzung dafür, dass die an solchen Konflikten
Beteiligten die behördliche Entscheidung akzeptieren können
und dass insoweit dann eine befriedende Wirkung von der
Behördenentscheidung ausgeht.
Dr. Manfred Schröder, BRANDI Rechtsanwälte
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Das Zementwerk und das Reifenschnitzellager
- Abfallentsorgungsanlage? Sicherheitsleistung?
Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hatte sich in einem
Beschluss vom 03.03.2016 – 7 B 44/15 – mit einem Sachverhalt zu befassen, wie er in vergleichbarer Form vielfach in
Industrieanlagen auftritt:
Ein Zementwerk hat die Genehmigung, im Drehrohrofen
Reifenschnitzel als Energieträger einzusetzen. Diese Reifenschnitzel dürfen im Zementwerk angenommen und bis zu
einer Menge von maximal 7.000 t in einem dafür bestimmten
Lager vorgehalten werden. Das wäre als solches für das
Unternehmen nicht weiter aufregend, wenn es sich bei den
Reifenschnitzeln nicht um Abfall handelte und die zuständige
Behörde nicht auf der Basis einer Regelung im BundesImmissionsschutzgesetz (BISchG) für die maximal 7.000 t
Reifenschnitzel eine Sicherheitsleistung angeordnet hätte
(Vgl. § 17 Abs. 4a) S. 1 BImSchG). Das Unternehmen musste
Sicherheit dafür erbringen, dass z. B. im Fall einer Insolvenz
die Allgemeinheit nicht auf den Entsorgungskosten für die
Reifenschnitzel „sitzen bleibt“. Gegen die Anordnung der
Sicherheitsleistung hat sich das Unternehmen mit einer
Klage gewandt und vorgetragen, dass das Reifenschnitzellager keine Abfallentsorgungsanlage sei (für die eine Sicherheitsleistung angeordnet werden könne), weil es zum
Zementwerk gehöre – und das sei nun einmal keine Abfallentsorgungsanlage.
Dem ist das BVerwG nicht gefolgt. Es hat nun höchstrichterlich geklärt, dass die Regelung des § 17 Abs. 4a) S. 1
BImSchG, auf Grund derer bei Abfallentsorgungsanlagen
eine Sicherheitsleistung für den „Fall der Fälle“ der Entsorgung auf Kosten der öffentlichen Hand angeordnet werden
kann, auch dann anwendbar ist, wenn diese Anlage lediglich
Nebeneinrichtung einer für sich gesehen immissionsschutzrechtlich genehmigungspflichtigen Produktionsanlage ist.
Der Wortlaut des Gesetzes trenne nicht zwischen eigenständigen Abfallentsorgungsanlagen und solchen, die Nebeneinrichtungen einer Produktionsanlage sind. Auch dem gesetzlichen Regelungssystem lasse sich insoweit kein Unterschied
entnehmen. Die Anordnung einer Sicherheitsleistung ist deshalb auch in diesen Fällen möglich.
Praxishinweis:
Mit der Entscheidung des BVerwG ist bundeseinheitlich
geklärt, dass die Behörde Sicherheitsleistungen anordnen
kann, wenn in Produktionsanlagen Abfälle (z. B. als Energieträger in einer Feuerung oder als Ausgangsstoff für ein Produkt) eingesetzt werden und diese Abfälle an der
Produktionsanlage angenommen bzw. gelagert werden. Es
macht insofern keinen Unterschied, ob Abfälle in einer „echten“ Entsorgungsanlage oder in einer Nebeneinrichtung zu
einer Produktionsanlage gelagert werden. Dies trifft auf eine
Unzahl von Fallgestaltungen in der Industrie zu: So wird nicht
nur an Zementwerken Abfall angenommen (sei es als Ersatzbrennstoff oder als Rohmehlsubstitut), sondern es wird z. B.
bei Holzwerkstoffwerken Altholz angenommen (zur stofflichen oder energetischen Verwertung), bei Stahlwerken oder
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Gießereien werden Schrotte angenommen, bei Papierfabriken wird Altpapier angenommen, bei Glashütten wird Altglas angenommen usw. Wenngleich diese Abfälle natürlich
unterschiedlich hohe Risiken im Fall einer Entsorgung bergen
und unterschiedlich hohe Kosten auslösen würden, so ist das
Prinzip gleich. Dem Grunde nach ist jetzt klar, dass Sicherheitsleistungen angeordnet werden können.
Die Industriebetriebe sollten sich, wenn sie mit diesem
Thema bisher noch nicht konfrontiert wurden, auf diese
Rechtslage einstellen. Wichtig ist in solchen Fällen die Überprüfung, dass die Sicherheitsleistung dem tatsächlichen Entsorgungsrisiko entspricht. Die Behörden neigen mitunter
dazu, sehr vorsichtig zu agieren und überhöhte Sicherheitsleistungen festzusetzen. Das lässt sich zumeist im Vorwege
einer Anordnung noch ausräumen.
Prof. Dr. Martin Dippel, BRANDI Rechtsanwälte
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Die Europäisierung des deutschen Verwaltungsrechts
Durch das europäische Recht wird den zugehörigen Mitgliedstaaten kein einheitliches Rechtsschutzmodell vorgeschrieben. Vielmehr besteht die Möglichkeit einer freien
Ausgestaltung; Voraussetzung hierfür ist, dass die durch das
europäische Recht vorgegebenen Grenzen eingehalten werden. In diesem Spannungsverhältnis zwischen europarechtlichen Vorgaben und Gestaltungsbefugnissen der Mitgliedstaaten sind bereits mehrere Urteile des Europäischen
Gerichtshofs (EuGH) ergangen, die Kernbereiche des deutschen Verwaltungsrechts als EU-rechtswidrig verworfen
haben. Insoweit wird von einer „dynamischen Europäisierungstendenz des Verwaltungsrechts“ gesprochen.
Das kann überaus praxiswirksame Folgen haben. Die
Fehleranfälligkeit bestimmter (umweltrelevanter) Genehmigungen ist größer geworden. In einem von der Kommission
gegen Deutschland im Jahr 2012 eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren hat der EuGH mit Urteil vom 15.10.2015
nunmehr die zentrale Feststellung getroffen, dass das altbewährte deutsche Verwaltungsrechtsinstrument der materiellen Präklusion (d. h. des Ausschlusses nicht rechtzeitig vorgebrachter Positionen Dritter auch in einem späteren
Gerichtsverfahren) die durch das europäische Recht gesteckten Grenzen überschreitet. Die Vorschriften des § 2 Abs. 3
des Umweltrechtsbehelfgesetzes (UmwRG) und § 73 Abs. 4
des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) verstoßen
nach Auffassung des EuGH sowohl gegen die UVP- als auch
gegen die Industrieemissions-Richtlinie.
I. Inhalt der materiellen Präklusion
Die unter anderem in den vorgenannten Gesetzen verankerte
materielle Einwendungspräklusion ist insbesondere ein im
umweltrechtlichen Bereich verankertes Rechtsinstitut. Die
Präklusion nahm bisher Klägern, die ihre Einwendungen
nicht bereits im behördlichen Beteiligungsverfahren fristge-
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recht vorgetragen hatten, die Möglichkeit, diese Einwendungen in einem späteren Gerichtsverfahren geltend zu
machen. Auf Grund der oftmals äußerst umfangreichen Gutachten und Planungsunterlagen von Großprojekten mit Konfliktpotential sind an der materiellen Präklusion zahlreiche
Klagen gescheitert. Insbesondere waren hiervon Umweltvereinigungen betroffen, die auch schon im Verwaltungsverfahren Stellung beziehen und ihre Einwendungen substantiiert
darlegen mussten. Als „Anwälte der Natur“ wurde von ihnen
erwartet, dass sie hinreichend konkret zu den vom Projekt
möglicherweise betroffenen Tier- oder Pflanzenarten, zu
möglichen Beeinträchtigungen etc. Stellung nahmen. Je ausführlicher eine Behörde im Verfahren diese Frage beantwortet hatte, umso höhere Anforderungen wurden an die
darzulegenden Einwendungen der Umweltvereinigungen
innerhalb der kurzen – zweiwöchigen – Einwendungsfrist
gestellt. Auf Grund dieser Fristen und der zu sichtenden
umfangreichen Unterlagen war deshalb die Gefahr, mit
bestimmten Einwendungen im gerichtlichen Verfahren präkludiert zu sein, relativ hoch.
II. Sinn und Zweck der materiellen Präklusion
Sinn und Zweck der Präklusionsvorschriften war es, Betroffene und Umweltvereinigungen dazu anzuhalten, ihre Bedenken im Verwaltungsverfahren möglichst frühzeitig vorzutragen
und auf aus den Antragsunterlagen erkennbare Mängel hinzuweisen. Angestrebt wurde eine effektive und zügige
Gestaltung des Verwaltungsverfahrens. Ferner sollte sichergestellt werden, dass sich die spätere Gerichtskontrolle auf
maßgebliche, möglichst umfassend und detailliert vorgetragene Umstände beschränken konnte. Neben der Förderung
der Verfahrensökonomie sollte der Einwendungsausschluss
aber auch zugleich dem Vorhabenträger (z. B. einer Kommune, die eine Kläranlage erweitern will, oder einem Unternehmen, dass eine Industrieanlage errichten oder erweitern
will) eine gewisse Rechtssicherheit vermitteln, indem dieser
mit einer späteren Genehmigungsanfechtung wegen nicht
bereits im Verwaltungsverfahren eingewandter Mängel
grundsätzlich nicht mehr zu rechnen brauchte. Er war somit
nach Genehmigungserteilung für sein Vorhaben vor überraschenden, neuen Einwendungen geschützt.
III. Entscheidung des EuGH
Der EuGH beurteilte die Beschränkung der Gründe, auf
die ein gerichtliches Verfahren gestützt werden konnte, als
unionsrechtswidrig.
Zur Begründung führte er aus, dass die mit der Präklusion
einhergehende Beschränkung eine übermäßige Einschneidung des Rechts der betroffenen Öffentlichkeit auf effektiven
gerichtlichen Rechtsschutz darstelle. Die Richtlinienziele
machten einen möglichst weitreichenden Zugang zu einer
gerichtlichen Überprüfung erforderlich. Auch werde eine
umfassende materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche
Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Verwaltungsentscheidungen verlangt. Durch die materiellen Präklusionsregelungen werde gegen diese Ziele verstoßen. Die Rechtsordnung der Union lasse es nicht zu, dass die Zulässigkeit von
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Rügen vor Gericht davon abhängig gemacht werden werde,
dass sie vorher im Rahmen des Verwaltungsverfahrens geltend gemacht worden seien. Denn das gerichtliche Verfahren
sei ein eigenständiges Verfahren, in dem eine vollständige
Überprüfung einer Entscheidung möglich sein müsse. Diese
Ziele wögen im Ergebnis schwerer als das Interesse, das
gerichtliche Klageverfahren effizient durchzuführen und
Rechtssicherheit zu erlangen.
Für die Zukunft kann sich daher insbesondere ein Vorhabenträger nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens durch
Genehmigungserteilung nicht mehr auf eine gewisse Rechtssicherheit verlassen. Auch die Behörde muss damit rechnen,
dass im Verwaltungsverfahren unerkannt gebliebene Mängel
erstmals im Gerichtsverfahren zu Tage treten und ggfs. neue
Untersuchungen und darauf basierend neue Entscheidung
erfordern.
Eine „Hintertür“ ließ der EuGH allerdings offen: Er betonte,
dass ausnahmsweise ein Ausschluss der erstmaligen Geltendmachung von Einwendungen im Gerichtsverfahren
zulässig sei, wenn z. B. ein missbräuchliches oder unredliches Vorbringen vorliege. Hierfür könne der nationale
Gesetzgeber spezifische Verfahrensvorschriften vorsehen.
Nina Drüke, BRANDI Rechtsanwälte I [email protected]
IV. Praxishinweise
Das Urteil des EuGH wirkt weit in den Kernbereich des Verwaltungsrechts hinein, da es die Beschränkungen der Einwendungsbefugnisse in inhaltlicher und in zeitlicher Hinsicht
außer Kraft setzt. Es besteht mithin Anpassungsbedarf im
deutschen Umweltrecht, da nicht nur die direkt als europarechtswidrig deklarierten Regelungen, sondern auch weitere
vergleichbare Vorschriften, wie z. B. § 10 Abs. 3 Satz 5
Bundes-Immissionsschutzgesetz (BImSchG), existieren. Mit
der Entscheidung des EuGH sind diese Regelungen auf
Grund des Vorrangs des Unionsrechts in ihrer bisherigen
Fassung unanwendbar geworden. Darauf sollten sich Vorhabenträger in Genehmigungsverfahren für Industrie-, Energieoder Entsorgungsanlagen oder für größere landwirtschaftliche
Anlagen einstellen, ebenso Vorhabenträger für Infrastrukturprojekte. Auch die Genehmigungsbehörden sind insofern zu
sorgfältigem Umgang mit diesen neuen Rahmenbedingungen aufgerufen.
Die nach dem EuGH mögliche Einschränkung aufgrund
eines missbräuchlichen oder eines unredlichen Verhaltens
erinnert an das Verbot des Rechtsmissbrauchs, welches als
allgemeiner – auch im Unionsrecht geltender – Rechtsgrundsatz ohnehin besteht. Ein möglicher Anwendungsfall könnte
in einem Verhalten eines Betroffenen liegen, wenn dieser –
ohne überhaupt Einwendungen im Verwaltungsverfahren zu
erheben – gezielt die Erteilung der Genehmigung abwartet,
um dann mit einem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz
die Realisierung des Vorhabens zu verzögern. Da die materielle Beweislast für das Vorhaben eines Rechtsmissbrauchs
aber bei der Genehmigungsbehörde bzw. dem Vorhabenträger liegen dürfte, werden diese Fälle wohl eine Ausnahme
darstellen. Der Regelfall wird die Nichtanwendbarkeit der bisherigen materiellen Einwendungspräklusion sein, so dass ein
Betroffener berechtigterweise sein Vorbringen erstmalig im
Klageverfahren darlegen darf.
Erforderlichkeit einer Umweltverträglichkeitsprüfung
Verschiedene bauliche Vorhaben, wie z. B. die Errichtung
eines größeren Hotels, die Errichtung oder Änderung
bestimmter Industrieanlagen, bestimmter landwirtschaftlicher
Anlagen wie z. B. eines Schweinemaststalls mit mehr als
1.500 Mastplätzen oder die Errichtung von mehr als drei
Windenergieanlagen erfordern eine Umweltverträglichkeitsprüfung nach dem Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz.
Das gilt auch, wenn kleinere Anlagen der genannten Art zu
bereits vorhandenen Anlagen hinzukommen sollen, also z. B.
ein Windpark erweitert werden oder neben einem schon
bestehenden Schweinemaststall ein weiterer errichtet werden soll.
Die Genehmigungsbehörden haben auf die Vorlage einer
solchen Umweltverträglichkeitsprüfung häufig verzichtet,
wenn sie aus anderen, bauplanungsrechtlichen oder bauordnungsrechtlichen Gründen die baulichen Anlagen für nicht
genehmigungsfähig halten – letztendlich, um dem Antragsteller die Kosten für eine solche Umweltverträglichkeitsprüfung zu ersparen.
In verschiedenen Urteilen haben das Verwaltungsgericht
Minden und das Oberverwaltungsgericht Münster in den letzten Monaten Folgendes festgehalten:
-- Die Umweltverträglichkeitsprüfung ist Bestandteil des Verwaltungsverfahrens und muss deshalb im Genehmigungsverfahren zwingend durchgeführt werden, und zwar auch
dann, wenn dem Genehmigungsantrag letztendlich nicht
stattgegeben werden kann. Inwieweit eine Umweltverträglichkeitsprüfung in einem Klageverfahren auf Erteilung der
Genehmigung für das Vorhaben nachgeholt werden kann,
wird nach wie vor von den Gerichten nicht einheitlich beantwortet und ist auch von der unterschiedlich ausgestalteten
Gesetzeslage in den Bundesländern abhängig.
-- Wird die Umweltverträglichkeitsprüfung unterlassen, stellt
dieses einen Verfahrensfehler dar, durch den subjektivöffentliche Rechte eines Nachbarn verletzt sein können.
Allein das Fehlen der Umweltverträglichkeitsprüfung führt
somit unter Umständen zur Aufhebung einer Genehmigung
unabhängig von der Frage, ob eine Umweltverträglichkeit
vorliegt oder nicht.
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Praxishinweis:
Auch wenn es zusätzliche Kosten verursacht: Bei der Beantragung von Vorhaben, die einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterliegen, ist deshalb darauf zu achten, dass eine
solche Prüfung im Verwaltungsverfahren vorgenommen wird.
Dr. Nils Gronemeyer, BRANDI Rechtsanwälte
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Problemfall Abwasser: Unzulässige Einleitungen
in die Kanalisation können zu Schadensersatzansprüchen der Kommune führen
Immer wieder treten Fälle auf, in denen um die Zulässigkeit
von Abwassereinleitungen aus industriellen und gewerblichen Betrieben in die öffentliche Kanalisation gestritten werden muss. Gegenstand solcher Streitigkeiten sind oft
diejenigen Fälle, in denen beispielsweise Schadstoffe in
überhöhter Konzentration (d.h. über dasjenige hinaus, was
die Gemeinde in einem Anschlussbescheid oder in ihrer Satzung zugelassen hat) eingeleitet werden, oder in denen es
auf Grund von Fehlverhalten betrieblicher Mitarbeiter zur Einleitung von Stoffen kommt, die überhaupt nicht eingeleitet
werden dürfen, z. B. weil sie zu Verstopfungen der Kanalisation führen können (Fette, Beton etc.).
So hatte sich das Verwaltungsgericht (VG) Minden jüngst
mit einem Fall zu befassen, in dem es zur Einleitung von
Zement bzw. Mörtel in die Kanalisation gekommen war. Es
hatte sich ein „Betonpfropfen“ gebildet, der den Kanal verstopfte (VG Minden, Urteil vom 08.08.2015 – 11 K 2256/14 –).
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hatte einen Fall zu
beurteilen, in dem es zur Einleitung sulfathaltiger Abwässer
gekommen war, die das Betonmaterial der Kanalisation
angegriffen hatten (BayVGH, Beschluss vom 23.09.2010
– 4 ZB 09.1190 –). Oft sind es auch Fälle, in denen Abwassereinleiter Schadstoffe in die Kanalisation einbringen, die
dann zu Schäden in der Kläranlage oder zu überhöhten
Ablaufwerten des dort gereinigten Abwassers führen, oder
die zu stärkeren Schadstoffbelastungen des Klärschlamms
führen. In einem vom VG Köln entschiedenen Fall (Urteil vom
16.09.2008 – 14 K 6393/05 –) ging es z. B. um die Einleitung
von Abwasser aus einem Industriebetrieb mit einer überhöhten Konzentration an Chrom und Zink.
Derartigen Fällen ist gemeinsam, dass ein Schaden beim
Kanalisationsbetreiber eintritt, entweder an der Kanalisation
selbst, an der Kläranlage oder in Gestalt wirtschaftlicher
Schäden durch erhöhte Entsorgungskosten für den Klärschlamm oder eine erhöhte Abwasserabgabe, die der Kläranlagenbetreiber zu zahlen hat. In diesen Fällen können sich
Schadensersatzansprüche des kommunalen Betreibers der
Kanalisation bzw. Kläranlage gegen den Abwassereinleiter
richten. Grundlage solcher Schadensersatzansprüche ist
das öffentlich-rechtliche, sogenannte „Kanalbenutzungsverhältnis“. Verletzt der Einleiter die ihm obliegenden Pflichten
aus diesem „Kanalbenutzungsverhältnis“, indem er unzulässige Einleitungen vornimmt, kann er sich nach den im Zivilrecht entwickelten Grundsätzen der positiven Forderungs-
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verletzung gegenüber dem Betreiber der Kanalisation/
Kläranlage schadensersatzpflichtig machen. Neben einem
Verstoß gegen die Pflichten aus dem „Kanalbenutzungsverhältnis“ (siehe oben genannte Beispiele – in der Regel geht
es hierbei um Verstöße gegen die Entwässerungssatzung
oder gegen eine Anschlussgenehmigung) setzt ein Schadensersatzanspruch voraus, dass der Einleiter schuldhaft
gehandelt, d. h. entweder vorsätzlich oder fahrlässig gegen
seine Pflichten verstoßen hat. Außerdem muss, wie im Zivilrecht, der Verstoß gegen die Pflichten des Einleiters aus dem
„Kanalbenutzungsverhältnis“ kausal für den Schaden sein, d.
h., dass der Schaden auf den Verstoß des Einleiters zurückzuführen sein muss. Liegen diese Voraussetzungen vor, was
in der Praxis zuweilen schwierig festzustellen ist, kann ein
Schadensersatzanspruch des kommunalen Betreibers der
Kanalisation bzw. Kläranlage gegen den Einleiter gegeben
sein.
Kommunen, die meinen, ihnen stehe ein solcher Anspruch
gegen einen Abwassereinleiter zu, machen bei der Geltendmachung solcher Ansprüche auch heute noch viele Fehler. In
der Praxis sieht man z. B. häufig, dass Kommunen mit solchen Klagen vor die Zivilgerichte gehen. Da es sich hierbei
aber um einen öffentlich-rechtlichen Anspruch handelt,
gehört er ebenso wie Schadensersatzansprüche aus einem
öffentlich-rechtlichen Vertrag vor die Verwaltungsgerichte,
nicht vor die Zivilgerichte. Weit verbreitet ist auch immer noch
die Auffassung bei den kommunalen Kläranlagenbetreibern,
sie könnten einen vermeintlichen Schadensersatzanspruch
wie die Abwassergebühren durch einen Leistungsbescheid
geltend machen. Auch das ist falsch. Es gibt nämlich im Hinblick auf Schadensersatzansprüche kein Über- bzw. Unterordnungsverhältnis, in dem die Gemeinde ihre vermeintlichen
Ansprüche durch einen Bescheid geltend machen könnte.
Richtig ist vielmehr, dass die Gemeinde, wenn sie meint,
einen Schadensersatzanspruch zu haben, diesen durch eine
Zahlungsklage geltend machen muss (siehe z. B. OVG Lüneburg, Beschluss vom 26.03.2014 – 13 ME 21/14 –)
Praxishinweise
Den Einleitern von Abwasser, insbesondere „problematischer“ Abwässer aus Industrie und Gewerbe, ist anzuraten,
sich um die Qualität ihrer Abwässer insofern zu bemühen, als
dass keine unzulässigen Einleitungen vorgenommen werden,
die zu Schäden an der Kanalisation, der Kläranlage oder zu
finanziellen Schäden beim Kläranlagenbetreiber führen können. Dazu gehört, dass sich Industrie- und Gewerbebetriebe
mit dem Inhalt der für sie geltenden Entwässerungssatzung
der Gemeinde bzw. des Zweckverbandes, der die Kläranlage
betreibt, vertraut machen. Gegebenenfalls muss geprüft werden, ob das Abwasser vorbehandelt werden kann oder sollte.
Entsteht einmal ein Schaden, der auf eine bestimmte Einleitung zurückgeführt werden kann, muss die Gemeinde
beachten, dass sie den Schadensersatzanspruch nicht im
Über-/Unterordnungsverhältnis geltend macht, sondern auf
einer grundsätzlich gleichrangigen Ebene. Wie bei Schäden
im zivilrechtlichen Bereich muss also eine Leistungsklage
(gerichtet auf Zahlung und gegebenenfalls Feststellung weiterer Ersatzpflicht) erhoben werden, dies allerdings nicht vor
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dem Zivilgericht, sondern vor dem zuständigen Verwaltungsgericht.
Prof. Dr. Martin Dippel, BRANDI Rechtsanwälte
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Baurechtliche Folgen und Pflichten im Zusammenhang mit der Aufgabe der Landwirtschaft
In Nordrhein-Westfalen und in Niedersachsen sind in der
jüngsten Vergangenheit vermehrt Eigentümer ehemaliger
landwirtschaftlicher Hofstellen böse überrascht worden
durch den Standpunkt der zuständigen Baubehörden, im
Falle der Einstellung der Landwirtschaft sei für die schlichte
Fortsetzung der Wohnnutzung in der ehemaligen Betriebsleiterwohnung oder dem ehemaligen Altenteilerhaus eine neue
Baugenehmigung erforderlich. „Kann es denn angehen“, so
fragen die betroffenen Eigentümer ehemaliger landwirtschaftlicher Hofstellen, „dass nun auch für die unveränderte
Fortsetzung der Wohnnutzung eine Baugenehmigung erforderlich sein soll?“. Baurechtlich spricht man von der sogenannten „Entprivilegierung“, weil landwirtschaftliche Gebäude im Außenbereich nach § 35 Abs. 1 Nr. 1 Baugesetzbuch
(BauGB) privilegiert errichtet und genutzt werden dürfen.
Wird die Landwirtschaft aufgegeben, entfällt diese Privilegierung und es stellt sich die Frage, welche Folgen dies für vorhandene Gebäude hat.
Die Rechtsprechung nahm in der Vergangenheit an, dass
eine solche „Entprivilegierung“ landwirtschaftlicher Gebäude
keine genehmigungspflichtige Nutzungsänderung darstelle
(Vgl. OVG Lüneburg, Urteil v. 14.01.1965 - I A 109/63 - BRS
16 Nr. 53).
In jüngeren und aktuellen Entscheidungen lässt sich hier
aber ein Meinungswandel feststellen. Heute wird immer mehr
angenommen, dass der Übergang von der ursprünglich privilegierten zu einer allgemeinen Wohnnutzung einer neuen
Baugenehmigung bedarf, weil eine Änderung des Inhalts der
ursprünglich erteilten Baugenehmigung nicht automatisch
eintritt (Vgl. OVG Lüneburg, Urteil v. 26.11.2014 - 1 LB
164/13 -; VG Münster, Urteil v. 28.01.2015 - 10 K 459/14 -).
haupt nicht genehmigt werden. In solchen Situationen kommt
es immer mehr zu den oben bereits erwähnten „bösen Überraschungen“.
Die entsprechende Entwicklung kommt für die im Baurecht tätigen Spezialisten aber nicht völlig überraschend,
denn die Problemlage ist mit den Betriebsinhaber- und
Betriebsleiterwohnungen in Gewerbegebieten durchaus vergleichbar. Auch hier stellen sich baurechtlich gravierende
Probleme, wenn der Betrieb, an den die Wohnnutzung früher
gebunden war, wegfällt oder aufgegeben wird. Der Übergang
zu einer allgemeinen Wohnnutzung darf nämlich im Ergebnis
nicht dazu führen, dass die Interessen benachbarter Betriebe
dadurch verletzt werden, dass von diesen erwartet wird,
zukünftig in erhöhtem Maße Rücksicht zu nehmen auf die in
der Nachbarschaft nun plötzlich vorhandene allgemeine
Wohnnutzung. Deshalb ist in Gewerbegebieten eine Genehmigung einer allgemeinen Wohnnutzung nicht möglich. Im
Außenbereich ist dies auf der Grundlage der gesetzlichen
Regelungen dagegen zulässig, allerdings müssen die speziellen Umstände des Einzelfalls geprüft und beachtet werden.
Dr. Manfred Schröder, BRANDI Rechtsanwälte
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Update – Ausübung des gemeindlichen Vorkaufsrechts in nichtöffentlicher Sitzung?
Im Mandantenrundbrief von Oktober 2015 (S. 4) berichteten
wir über die formellen Ausübungsanforderungen an die
Gemeinde zur rechtmäßigen Ausübung ihres gemeindlichen
Vorkaufrechts. Diesem Bericht lag das Urteil des VG Aachen
vom 22.05.2012 – 3 K 347/11 – zugrunde, wonach die Entscheidung über die (Nicht-)Ausübung des Vorkaufsrechts in
öffentlicher Sitzung zu beschließen ist. Es sei keine Ausnahme von dem Grundsatz der Sitzungsöffentlichkeit gem.
§ 48 GO NRW zu erkennen, da das Vorkaufsrecht nur zum
Wohl der Allgemeinheit ausgeübt werden dürfe und daher
eine hoheitliche Maßnahme des Bauplanungsrechts sei.
Vor diesem Hintergrund hat zum Beispiel das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung als oberste Baubehörde im Januar 2016 ausgeführt,
dass eine Nutzungsänderung von privilegiertem Wohnen
nach § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB zu sonstiger Wohnnutzung im
Außenbereich nach § 35 Abs. 1 BauGB einer Baugenehmigung bedarf.
Mit Urteil vom 15.03.1016 hat sich nunmehr erstmals das
OVG NRW – 10 A 1066/14 – mit der Frage beschäftigt.
Das VG Köln – 8 K 37/13 – als Vorinstanz hatte sich zuvor der
Auffassung des VG Aachen angeschlossen. Der Beschluss
über die Ausübung des Vorkaufsrechts sei rechtswidrig
gewesen, da die Ratssitzung gem. § 48 II 1 GO NRW hätte
öffentlich sein müssen. Das OVG NRW schließt sich jedoch
der Auffassung beider Verwaltungsgerichte nicht an. Der
Ausschluss der Öffentlichkeit bei der Beratung über die Ausübung des Vorkaufrechts sei rechtmäßig.
Die reine Genehmigungspflicht wäre nun wenig problematisch, wenn man davon ausgehen könnte, dass der Übergang zu einer allgemeinen Wohnnutzung im Regelfall materiell legal und somit genehmigungsfähig ist, denn dann würde
der Bestandsschutz für eine Wohnnutzung erneut bestätigt.
Schwierigkeiten bereiten die Fälle, in denen etwa wegen der
von den benachbarten landwirtschaftlichen Hofstellen ausgehenden Lärm- und Geruchsimmissionen der Standpunkt eingenommen wird, eine allgemeine Wohnnutzung könne über-
Zur Begründung führt das OVG NRW aus, dass die Ratssitzungen zwar gem. § 48 II 1 GO NRW grundsätzlich öffentlich sein müssen, die Öffentlichkeit aber durch die Geschäftsordnung für Angelegenheiten einer bestimmten Art ausgeschlossen werden könne. Dies gelte auch für den Ausschluss
der Öffentlichkeit bei Beratungen über Liegenschaftssachen.
Im Gegensatz zu den Verwaltungsgerichten geht das OVG
NRW davon aus, dass es sich bei der Ausübung des Vorkaufsrechts nicht nur um eine hoheitliche Maßnahme des
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Bauplanungsrechts handelt. Im Gegenteil gehe es vielmehr
um Vertragsverhandlungen, von denen die Öffentlichkeit auszuschließen sei. Mit der Ausübung des Vorkaufsrechts trete
die Gemeinde regelmäßig anstelle des Käufers in den Grundstücksvertrag ein und akzeptiere die ausgehandelten Vertragskonditionen, deren Bekanntwerden in der Öffentlichkeit
würde ihre Position in vergleichbaren Fällen möglicherweise
negativ beeinflussen könne. Ein Bekanntwerden der Höhe
des Kaufpreises hätte insbesondere das Recht des Grundstückseigentümers und seines Vertragspartners auf Schutz
ihrer privaten Daten in ihren Vermögensangelegenheiten
verletzt.
Juli 2016
registrieren lassen. Ist das Produkt nicht registriert, so
besteht ein Verkaufsverbot.
Es ergeben sich aus der REACH-Verordnung für Hersteller oder Importeure von bestimmten Stoffen oder Erzeugnissen Informationspflichten gegenüber nachgeordneten
Abnehmern. Nicht nur Verbraucher, sondern vor allem andere
gewerbliche Abnehmer haben Anspruch darauf, informiert zu
werden, wenn ein Produkt selbst oder Teile des Produkts
schadstoffbelastet sind.
3. Was verlangt wird
Praxishinweis
Das OVG NRW erweitert damit seine bisherige Rechtsprechung zur Annahme von Liegenschaftssachen
(vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12.09.2008 – 15 A 2129/08)
um die Ausübung des Vorkaufrechts. Unter Liegenschaftssachen sind nunmehr also grundsätzlich auch Verträge über
die Ausübung des Vorkaufsrechts zu verstehen, da das
Bekanntwerden dieser Angelegenheiten in der Öffentlichkeit
dem Gemeinwohl oder den berechtigten Interessen der
Beteiligten zuwiderlaufe.
Dr. Jörg Niggemeyer, BRANDI Rechtsanwälte
[email protected]
Sind auch Sie betroffen?
Pflichten nach der REACH-Verordnung
Die Pflichten von Lieferanten, Herstellern u. a. nach dem
Europäischen Chemikalienrecht, insbesondere nach der sog.
REACH-Verordnung sind erfahrungsgemäß immer noch
weithin unbekannt. Die Folgen der Nichtbeachtung der
produktbezogenen Verpflichtungen können allerdings
schmerzhaft sein.
1. Worum es geht
Das Anliegen der REACH-Verordnung ist es, dass die in
Umlauf befindlichen Schadstoffe in der Europäischen Union
einheitlich und bekannt zentral registriert werden. Außerdem
soll eine lückenlose Kette der Informationen vom Hersteller
bzw. Importeur eines Produkts bis zum Verbraucher entstehen.
2. Um wen es geht
Sind Sie Hersteller, Importeur, oder Lieferant von Produkten,
die möglicherweise Schadstoffe enthalten? In diesem Fall
stellt sich für Sie die Frage, welche Pflichten nach der
REACH-Verordnung für Ihr Unternehmen bestehen.
Sind Sie Produzent oder Importeur von Produkten, die
schadstoffbelastet sind, so müssen Sie diese Produkte ggf.
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Wichtig ist, welche Mengen Schadstoffe in dem Produkt enthalten sind. Findet sich hier mehr als 0,1%?
Nur: 0,1% worauf bezogen? Auf das Gesamtprodukt,
einen Inhaltsstoff, einen einzelnen Bestandteil? Das hängt
davon ab, ob Ihr Produkt ein Stoff, ein Erzeugnis oder ein
Gemisch darstellt.
Es ist im Einzelfall schwer bestimmbar, ob es sich bei
einem bestimmten Produkt um einen Stoff, um ein Gemisch
oder um ein Erzeugnis handelt. Kategorien wie UVCB-Stoffe
oder Reaktionsgemische usw. machen die Sache kaum übersichtlicher. Für jede Kategorie wiederum gibt es eigene
Anforderungen.
Die Schadstoffgrenzwerte bestimmen sich bei einem
Gemisch anders als bei einem Stoff und wieder anders bei
einem Erzeugnis. Umstritten war lange Zeit vor allem die
Frage, wie sich die Schadstoffbelastung bei einem Erzeugnis
bemisst. Ein Erzeugnis ist zumeist dadurch gekennzeichnet,
dass es sich aus mehreren einzelnen Bestandteilen zusammensetzt. Durchgesetzt hat sich hierbei die Auffassung,
dass für jeden einzelnen Bestandteil des Erzeugnisses
gesondert zu untersuchen ist, ob dort Schadstoffe enthalten
sind. Die bestimmten Grenzwerte für eine Registrierungsbzw. Mitteilungspflicht von 0,1 % eines Schadstoffes sollen
sich damit für jede einzelne Komponente des Erzeugnisses
bestimmen. Eine Informationspflicht besteht demnach schon,
wenn eine Schadstoffbelastung von mindestens 0,1 % bezüglich einer einzelnen Komponente des Erzeugnisses vorhanden ist. Im Klartext: Schon wenn nur eine einzelne Schraube
mit 0,1 % schadstoffbelastet ist, erwachsen die besonderen
Pflichten nach der REACH-Verordnung.
Für die Akteure innerhalb einer Lieferkette bedeutet dies
erkennbar einen erheblichen Aufwand. Bei Verdacht ist jeder
einzelne Akteur in der Lieferkette verpflichtet, eigene Ermittlungen anzustellen.
Hersteller von schadstoffbelasteten Produkten unterliegen bei Überschreiten einer bestimmten Mengengrenze der
Registrierungspflicht. Stellen sie einen belasteten Stoff in
einer Größenordnung von 1t pro Jahr her, ist dieser Stoff grds.
zu registrieren. Ein solches Verfahren dauert üblicherweise
mindestens ein Jahr und kostet in der Regel einen mittleren
fünfstelligen Betrag.
Juli 2016
4. Was passieren kann
Wird ein Produkt in Umlauf gebracht, welches bestimmte
Schadstoffgrenzwerte überschreitet und nicht registriert ist,
so ist es mit einem Verkaufsverbot belastet.
Verstöße gegen die Informationspflichten und Meldepflichten nach der REACH-Verordnung können Bußgelder
sowie Schadensersatzzahlungen nach sich ziehen. Es ist
daher für nahezu jedes Unternehmen dringend geraten, sich
mit der Frage zu beschäftigen, welche Verpflichtungen für
das Unternehmen nach dem Europäischen Chemikalienrecht
bestehen.
Dr. Christoph Worms, BRANDI Rechtsanwälte
[email protected]
Beamtenrecht: Der Kampf um die Vergütung von
Mehrdiensten – Das „Verjährungsgespenst“
In den zurückliegenden Jahren ist es vermehrt zu einer allgemeinen Praxis geworden, dass Beamte Mehrarbeitsstunden
zu leisten haben. Dies gilt beispielsweise insbesondere für
die Polizeibeamten im Land Nordrhein-Westfalen. Hier
„schieben“ nicht selten Beamte mehrere Hundert Mehrarbeitsstunden „vor sich her“. Maßgeblicher Grund hierfür sind
fehlende Einstellungen in Folge beschränkter finanzieller
Personalmittel. Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass
die Aufgabenerfüllung lediglich durch die Leistung von Mehrdiensten aufrechterhalten werden kann. Dieser Befund kann
teilweise aber auch auf andere Beamtengruppen bzw. andere
Dienstherrn, so auch in der Kommunalverwaltung, übertragen werden.
In der Praxis waren die Beamten in der Vergangenheit
regelmäßig bereit, Mehrdienste zu leisten. Konnten sie doch
darauf vertrauen, dass entweder eine Dienstbefreiung oder
aber eine Mehrarbeitsvergütung (§ 61 LBG NRW) zum Ausgleich erfolgte. Soweit ersichtlich, spielte in der Vergangenheit die Gefahr der dreijährigen Verjährungsfrist (§§ 195, 199
Abs. 1 BGB) in der Praxis kaum eine Rolle.
Erste „Erosionen“ in diesem eingespielten System ergaben sich aus der Problematik, dass immer mehr Beamte die
dienstliche Altersgrenze nicht erreichten, sondern wegen
Dienstunfähigkeit zur Ruhe gesetzt wurden. Hier stellte sich
dann die Frage, ob nach erfolgter Zurruhesetzung ein
Anspruch auf Mehrarbeitsvergütung durchsetzbar ist. Abgesehen von einigen Ausnahmefällen wurden dahingehende
Ansprüche von den Dienstherrn grundsätzlich abgelehnt. Zur
Begründung wurde zumeist darauf hingewiesen, dass eine
Vergütung von Mehrarbeitsstunden nur an Beamte mit laufenden Dienstbezügen erfolgen könne, eine Auszahlung an
Ruhestandsbeamte sei nicht möglich. In vereinzelten Fällen
wurde auch ergänzend die Einrede der Verjährung erhoben.
Bereits dies führte aus nachvollziehbaren Gründen einerseits
zu erheblichem Unmut bei den betroffenen Ruhestandsbeamten und zum anderen zu Unruhe und Verunsicherung bei
aktiven Beamten. Letztere mussten befürchten, dass sie bei
einer Erkrankung, die in eine Zurruhesetzung mündete,
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Gefahr liefen, keinen Ausgleich für (in erheblichem Umfang)
geleistete Mehrarbeitsstunden zu erhalten. Dies wiederum
führte vereinzelt zu Bemühungen von Beamten, ihren „Überstundenberg“ noch im aktiven Dienst abzubauen. Allerdings
scheiterten Dienstbefreiungen nicht selten an der geschilderten knappen Personaldecke. Die Geltendmachung einer
Mehrarbeitsvergütung ist bei aktiven Beamten vielfach deshalb verpönt, weil eine Mehrarbeitsvergütung insbesondere
auch wegen der anfallenden Steuerpflicht keine „Eins-zueins-Kompensation“ darstellen kann.
In der bisherigen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung scheiterten Ansprüche auf Zahlung einer Mehrarbeitsvergütung von Ruhestandsbeamten regelmäßig aus den vorgenannten Gründen. Allerdings ergeben sich aktuell
Tendenzen, dass die Rechtsprechung versucht, betroffenen
Beamten mit Hilfe des Rechtsinstituts von Treu und Glauben
gem. § 242 BGB analog zu helfen. Dabei ist aber der Sonderfall zu beachten, dass die Rechtsprechung hier auch zwischen rechtmäßig angeordneten oder genehmigten Mehrarbeitsstunden im Sinne des § 61 Landesbeamtengesetz (LBG
NRW) und der Ableistung von dienstlich erforderlichen Überstunden außerhalb des § 61 LBG NRW differenziert
(vgl. VG Düsseldorf, Urteil v. 04.05.2016 – 13 K 5760/15 -).
Soweit ersichtlich, hat sich nunmehr erstmalig ein „großer“
Dienstherr dem oben beschriebenen Dilemma angenommen:
Das Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes
Nordrhein-Westfalen hat den Polizeibehörden im Land
Nordrhein-Westfalen durch Erlass vom 22.05.2015 Vorgaben
im Zusammenhang mit Mehrarbeit gem. § 61 LBG NRW
gemacht. Es weist in diesem Erlass auch ausdrücklich darauf
hin, dass ein Anspruch auf Dienstbefreiung bzw. auf Vergütung von Mehrarbeitsstunden der regelmäßigen Verjährungsfrist von 3 Jahren unterliege. Unter Hinweis auf ein Urteil, des
VGH Baden-Württemberg vom 30.09.2014 – 4 S 1980/13 –
wird weiter klargestellt, dass für den Beginn der Verjährung
beider Ansprüche gem. § 199 Abs. 1 BGB einheitlich auf das
Ende des Jahres abzustellen sei, in dem die ausgleichspflichtige Mehrarbeit und der Anspruch auf Ausgleich entstanden
seien. Schließlich nimmt sich das Ministerium auch dem Problem der bei den Landespoilzeibeamten angefallenen erheblichen Mehrarbeitsstunden an und verfügt, dass für die vor
2015 geleisteten Mehrarbeitsstunden für einen Übergangszeitraum bis zum 31.12.2020 auf die Einrede der Verjährung
verzichtet werde. Auf die oben angesprochene Problematik
des Anspruchs auf Mehrarbeitsvergütung von Ruhestandsbeamten geht der Erlass nicht ein. Weiter wird den Polizeibeamten aufgegeben, entstandene Mehrarbeitsstunden konsequent abzubauen; der Abbau werde durch künftige Abfragen
kontrolliert.
Soweit erkennbar, hat dieser Erlass bereits für erhebliche
Unruhe bei den betroffenen Beamten und in den Behörden
gesorgt. Es ist derzeit offenbar nicht ersichtlich, wie der Spagat zwischen der Aufforderung zum konsequenten Abbau
von Mehrarbeitsstunden und der angespannten Personallage
gelingen soll, zumal ein Abbau gemäß Erlass vornehmlich
durch Dienstbefreiung erfolgen soll. Insbesondere das nunmehr erstmalig für alle Polizeibehörden des Landes Nordrhein-Westfalen schriftlich bindende „aktivierte“ Rechtsinstitut der Verjährung sorgt für Unmut. Es ist derzeit nämlich
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nicht erkennbar, wie es unter Berücksichtigung des befristeten Verzichts auf die Erhebung der Einrede der Verjährung
in den nächsten Jahren gelingen soll, die erheblichen „Überstundenberge“ abzubauen.
Zu begrüßen ist, dass sich das Ministerium der Problematik nunmehr stellt. Zu kritisieren ist, dass zum einen die Frage
eines Mehrarbeitsvergütungsanspruchs von Ruhestandsbeamten nicht aufgegriffen wird und das Verjährungsproblem in
der Praxis wohl zeitlich nur verschoben sein dürfte.
Es bleibt abzuwarten, ob der vorstehende Erlass auch bei
anderen Dienstherrn Schule macht. Zu hoffen bleibt, dass
seitens des Ministeriums oder auch von anderen Dienstherrn
zeitnah die erforderlichen Korrekturen erfolgen, um einen
gerechten Ausgleich zwischen den dienstlichen Interessen
des jeweiligen Dienstherrn und der betroffenen Beamten zu
schaffen. Zu hoffen bleibt auch, dass die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung hier zukünftig helfend zugunsten der
Beamten eingreift.
Andreas Wiemann, BRANDI Rechtsanwälte
[email protected]
Alles neu?!
Gesellschafter und Rentenversicherung
Zu einer bösen Überraschung sind die Entscheidungen des
Bundessozialgerichts (BSG) vom 29.07.2015 (B 12 KR 23/13
R und B 12 KR 1/13 R) für viele Gesellschafter insbesondere
mittelständischer Familienunternehmen geworden. Das Bundessozialgericht vollzieht nicht weniger als eine Kehrtwende
in seiner Rechtsprechung. Viel stärker als früher werden in
einem Unternehmen mitarbeitende Gesellschafter nun der
Beitragspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung unterliegen.
1. Bisherige Situation
Viele Gesellschafter haben sich in der Vergangenheit darauf
eingestellt, dass sie nicht Mitglieder der Deutschen Rentenversicherung sind. Sie konnten sich dazu auf die Rechtsprechung des BSG berufen.
Ausgangspunkt der Auseinandersetzung bildet seit jeher
die Frage, ob die Tätigkeit eines mitarbeitenden Gesellschafters als abhängige Beschäftigung zu qualifizieren ist oder als
selbstständige Tätigkeit. Handelt es sich um eine abhängige
Beschäftigung, so unterliegt der Gesellschafter der Beitragspflicht zur Deutschen Rentenversicherung. Mitarbeitende
Gesellschafter wurden nicht zuletzt kraft ihrer besonderen
Kenntnisse und besonderen und herausgehobenen Stellung
innerhalb des Unternehmensgefüges als selbstständig Tätige
angesehen. Freilich spielten auch in der Vergangenheit
andere Kriterien (kein Urlaubsanspruch, keine festen Bezüge,
faktische Weisungsfreiheit usw.) bei der Abgrenzung eine
nicht unbedeutende Rolle. Die sog. Kopf- und Seele-Rechtsprechung des BSG hat diejenigen Gesellschafter aber häu-
www.brandi.net
Juli 2016
fig beitragsfrei gestellt, die angesichts ihres Fachwissens,
ihrer Kompetenz sowie ihrer hohen Verantwortung für das
Unternehmen nicht als abhängig Beschäftigte angesehen
werden sollten.
2. Die neue Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
Mit dieser Rechtsprechung hat das BSG nunmehr zum Teil
gebrochen. Danach soll es ausdrücklich nicht mehr ausreichen, dass ein Gesellschafter Kopf und Seele eines Unternehmens ist. Es soll nicht mehr genügen, dass er rein faktisch
keine Weisungen erhält und das Unternehmen nach eigenen
Maßstäben leitet und lenkt. Das BSG stellt vielmehr ausdrücklich darauf ab, dass der mitarbeitende Gesellschafter in
formal-rechtlicher Hinsicht über eine Rechtsposition verfügt,
die ihn in die Lage versetzt, sich im Zweifel gegen Weisungen
auch effektiv zur Wehr setzen zu können.
In den Mittelpunkt der Betrachtung rückt damit die Ausgestaltung eines etwaigen Arbeitsvertrages bzw. des Gesellschaftsvertrages. Schon das Vorliegen eines Arbeitsvertrages deutet auf eine abhängige Beschäftigung hin. Häufig
sind die Fragen der Maßgaben eines mitarbeitenden Gesellschafters im Rahmen des Gesellschaftsvertrages geregelt.
Verfügt der mitarbeitende Gesellschafter kraft seiner Position,
beispielsweise seiner Stimmanteile, oder kraft ausdrücklicher
Regelungen im Gesellschaftsvertrag über eine Stimmenminderheit oder über eine Sperrminorität, so unterliegt der
Gesellschafter formal-rechtlich einer Abhängigkeit gegenüber Dritten. Diese Abhängigkeit, so das BSG, deutet ganz
entscheidend darauf hin, dass hier keine selbstständige
Tätigkeit vorliegt.
Beispiel: In einem Unternehmen, in welchem die Ehefrau
Mehrheitsgesellschafterin und der Ehemann Minderheitsgesellschafter ist, ist der mitarbeitende Ehemann grundsätzlich
als abhängig Beschäftigter anzusehen. Dies wäre auch dann
anzunehmen, wenn der Ehemann mit der Ehefrau im Innenverhältnis einen Stimmbindungsvertrag geschlossen hat und
auf dieser Grundlage im Innenverhältnis einen Anspruch
hätte, dass die Ehefrau ihre Stimmrechte in seinem Sinne
ausübt. Die Abrede im Innenverhältnis ist im Außenverhältnis
ohne Bedeutung. Die Ehefrau hätte die rechtliche Möglichkeit,
sich über den Stimmbindungsvertrag hinwegzusetzen. In diesen Fällen würde der Ehemann grundsätzlich als abhängig
Beschäftigter gelten.
Selbstverständlich bezieht das BSG nach wie vor auch
alle anderen Umstände des Einzelfalls in die Betrachtung und
Abwägung ein. Die formal-rechtliche Stellung eines mitarbeitenden Gesellschafters soll aber nunmehr zentrale Bedeutung erlangen.
3.Folgen
Die Entscheidungen des BSG sind vergleichsweise neu.
Darauf aufbauende Rechtsprechung gibt es bislang kaum.
Insbesondere wird sich die Frage stellen, ob die Entscheidungen des BSG vor allem auf Kapitalgesellschaften Anwendung finden oder auch auf Personengesellschaften in gleicher
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Juli 2016
Weise. Die Entscheidungen selbst sind jeweils zu Kapitalgesellschaften ergangen. Die Bedeutung des verschriftlichten
Gesellschaftsvertrages ist bei Personengesellschaften weniger stark ausgeprägt, was für eine etwas andere Sichtweise
sprechen würde.
Ratsam ist vor diesem Hintergrund allerdings in jedem
Fall, dass die Gesellschaftsverträge und die Praxis der Unternehmensleitung auf Grundlage der Gesellschaftsverträge kritisch betrachtet wird und ggf. – soweit möglich – rückwirkend
angepasst und geändert wird.
Die Deutsche Rentenversicherung ist auf Grundlage der
Entscheidung des BSG verstärkt daran interessiert, mitarbeitende Gesellschafter zur Beitragspflicht heranzuziehen.
Wenn die Deutsche Rentenversicherung dem Unternehmen
Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit hinsichtlich der Nichtzahlung von Rentenversicherungsbeiträgen vorwirft, so kann die
Angelegenheit teuer werden. Die Rentenversicherungsbeiträge können dann ggf. über 30 Jahre zzgl. Säumniszuschlägen verlangt werden. Außerdem würde ggf. das bezogene Entgelt als vereinbarter Netto-Lohn fingiert.
Neue Rahmenbedingungen für die interkommunale Zusammenarbeit
Solange es Kommunen gibt, erledigen sie bestimmte Aufgaben gemeinsam. In allen Bundesländern existieren Gesetze,
die den Kommunen die gemeinderechtlichen Möglichkeiten
dazu eröffnen, sei es über den Abschluss von Kooperationsverträgen (sogenannter „Zweckvereinbarungen“), sei es über
(gemeinsame) kommunale Unternehmen oder sei es in Form
fest organisierter Zweckverbände. Mit der kommunalrechtlichen Regelung ist indes noch nichts darüber gesagt, wie die
vergaberechtliche Bewertung interkommunaler Zusammenarbeit ausfällt, ob es sich also in bestimmten Konstellationen
um einen öffentlichen Auftrag handelt, der nach vergaberechtlichen Vorschriften hätte ausgeschrieben werden
müssen. Diese Frage regelt jetzt § 108 Abs. 6 des seit dem
18.04.2016 geltenden, neu gefassten vierten Teils des
Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB). Diese
Vorschrift enthält die Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine
„vergaberechtsfreie“ interkommunale Zusammenarbeit, wie
sie sich vor allem in der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs (EuGH) gebildet haben.
4. Empfehlung
Öffentliche Auftraggeber
Auf Grundlage dieser Situation ist es daher dringend geboten,
die eigene Praxis im Unternehmen kritisch zu hinterfragen. Die Vergaberechtsfreiheit interkommunaler Zusammenarbeit
Die vorhandenen Gesellschaftsverträge bzw. Arbeitsverträge setzt zunächst voraus, dass alle Beteiligten öffentliche Aufsind – ggf. rückwirkend – zu ändern. Die tatsächliche Praxis traggeber im Sinne des § 99 Nrn. 1 bis 3 GWB (früher
im Unternehmen muss auch im verschriftlichten Gesell- § 98 Nrn. 1 bis 3 GWB) sind. Hierbei handelt es sich um die
schaftsvertrag Niederschlag finden. Auf Grundlage einer „klassischen“ öffentlichen Auftraggeber wie Gebietskörpersolchen Situation kann dann ggf. auch ein Statusfeststel- schaften oder um andere juristische Personen des öffentlilungsverfahren durchgeführt werden, um in dieser Angele- chen oder privaten Rechts, die im Allgemeininteresse
genheit Rechtssicherheit zu erlangen.
liegende Aufgaben nichtgewerblicher Art erfüllen, oder um
Verbände, deren Mitglieder Gebietskörperschaften bzw.
deren Sondervermögen oder die eben angesprochenen
Können wir Sie hierbei unterstützen?
anderen juristischen Personen des öffentlichen und privaten
Sprechen Sie uns gern an.
Rechts sind.
Dr. Christoph Worms, BRANDI Rechtsanwälte
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Diese öffentlichen Auftraggeber sind insofern zur Vereinbarung einer vergaberechtsfreien interkommunalen Zusammenarbeit „geeignet“. Grundsätzlich schadet es auch nicht,
wenn an einem öffentlichen Auftraggeber (z. B. einer privatrechtlich verfassten GmbH, die im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nichtgewerblicher Art erfüllt) eine private
Kapitalbeteiligung besteht. Dies ist nur dann schädlich für die
Vergaberechtsfreiheit der interkommunalen Zusammenarbeit,
wenn auf diese Weise ein privates Unternehmen – nämlich
das am Kapital eines privatrechtlich verfassten öffentlichen
Auftraggebers beteiligte Unternehmen – wettbewerblich
bevorteilt würde. Das würde eine vergaberechtsfreie interkommunale Zusammenarbeit ausschließen.
Vertraglich vereinbarte Zusammenarbeit
Weitere Voraussetzung für die Vergaberechtsfreiheit einer
interkommunalen Zusammenarbeit ist, dass es sich um eine
vertraglich vereinbarte Zusammenarbeit handelt. Für die
Beurteilung unter vergaberechtlichen Aspekten ist es demnach gleichgültig, ob es sich um eine sogenannte mandatie-
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rende Vereinbarung handelt, bei der im Rahmen der
interkommunalen Zusammenarbeit lediglich die Durchführung einer Aufgabe übertragen, die Aufgabenzuständigkeit
aber nicht berührt wird, oder ob die vertraglich vereinbarte
Zusammenarbeit auch den Übergang der gesamten Aufgabenzuständigkeit auf einen anderen Verwaltungsträger mit
beinhaltet (sogenannte delegierende Vereinbarung). Beide
Gestaltungsformen sind grundsätzlich vergaberechtlich möglich, solange es sich eben lediglich um eine vertraglich vereinbarte Zusammenarbeit handelt.
Erreichung gemeinsamer Ziele im öffentlichen Interesse
Dritte Voraussetzung für die Vergaberechtsfreiheit einer interkommunalen Zusammenarbeit ist, dass sie der Erreichung
gemeinsamer Ziele im öffentlichen Interesse dient. Hinter ihr
muss ein sogenanntes kooperatives Konzept stehen.
Nun können im Rahmen einer interkommunalen Zusammenarbeit nicht alle Beteiligten weiterhin alle Aufgaben
gleichmäßig ausüben. Sonst könnten die Aufgaben auch von
jedem Beteiligten allein für sich erledigt werden, und es
bedürfte der interkommunalen Zusammenarbeit nicht. Es ist
deshalb nicht zwangsläufig erforderlich, dass alle teilnehmenden Stellen die Ausführung wesentlicher Vertragspflichten übernehmen. Im Rahmen der interkommunalen Zusammenarbeit und des dahinter stehenden kooperativen Konzepts
sind vielmehr alle Arten von Tätigkeiten denkbar, die der
Zusammenarbeit dienlich sind. Die Vertragspflichten bzw.
Tätigkeiten der Beteiligten müssen nicht identisch sein, sondern können sich (idealerweise) ergänzen. Grundsätzlich
kann sich einer der Partner im Rahmen der interkommunalen
Zusammenarbeit auch auf einen Finanztransfer beschränken,
also auf die Erstattung von Kosten für Tätigkeiten, die andere
Partner im Rahmen der interkommunalen Zusammenarbeit
erbringen. Die reine Kostenerstattung im Sinne eines Finanztransfers reicht aber nur dann für die Vergaberechtsfreiheit
der interkommunalen Zusammenarbeit aus, wenn sie durch
Erwägungen des öffentlichen Interesses gedeckt ist.
Juli 2016
verfahren zu einer erheblichen Erleichterung für die interkommunale Zusammenarbeit gekommen, die in § 108 Abs. 6 Nr. 3
GWB „eins-zu-eins“ eingeflossen ist. Zwischen „im Prinzip
keiner“ Tätigkeit auf dem freien Markt und einer Tätigkeit von
nicht mehr als 20 % liegt eine erhebliche Spanne, mit entsprechenden wettbewerblichen Folgen.
Macht man sich dies am Beispiel der Entsorgungswirtschaft deutlich, so bedeutet das, dass die Beteiligten an einer
interkommunalen Zusammenarbeit über den Bereich der
normalen Haushaltsabfälle – also der Abfälle, die an den
kommunalen Entsorgungsträger überlassen werden müssen – hinaus einen erheblichen Anteil an Gewerbeabfällen
erfassen darf, ohne dass die interkommunale Tätigkeit vergaberechtsrelevant würde. Dass dies nicht wettbewerbsrelevant
sei, wird man kaum behaupten können.
Keine Besserstellung privater Unternehmen
Durch die interkommunale Zusammenarbeit darf schließlich –
als letzte Voraussetzung der Vergaberechtsfreiheit – keine
Besserstellung privater Unternehmen erfolgen, die in die
interkommunale Zusammenarbeit in der einen oder anderen
Weise (z. B. durch eine Kapitalbeteiligung oder durch einen
bestehenden Dienstleistungsauftrag) einbezogen sind oder
einbezogen werden können. Dieses Kriterium soll wiederum
die Wettbewerbsneutralität der interkommunalen Zusammenarbeit sicherstellen. An der Erfüllung dieses Kriteriums fehlt
es beispielsweise in der interkommunalen Zusammenarbeit,
wenn eine Kommune eine andere Kommune mit Reinigungsleistungen in einem öffentlichen Gebäude beauftragt und die
als „Auftragnehmer“ agierende Kommune ein privates Unternehmen einbeziehen kann, welches dann auf völlig intransparente Weise an einen neuen Auftrag käme, der für sich
gesehen ausschreibungspflichtig wäre.
Zentrale Beschaffungsstellen
Ein wichtiges Kriterium für die Vergaberechtsfreiheit der interkommunalen Zusammenarbeit ist, dass die öffentlichen Auftraggeber auf dem Markt weniger als 20 % der Tätigkeiten
erbringen, die durch die Zusammenarbeit erfasst sind.
Öffentliche Aufträge zur Ausübung zentraler Beschaffungstätigkeiten können nach § 120 Abs. 4 S. 3 GWB an eine zentrale
Beschaffungsstelle vergeben werden, ohne ein Vergabeverfahren durchzuführen. Eine zentrale Beschaffungsstelle ist
ein öffentlicher Auftraggeber, der für andere öffentliche Auftraggeber dauerhaft Liefer- und Dienstleistungen beschafft,
öffentliche Aufträge vergibt oder Rahmenvereinbarungen
abschließt (zentrale Beschaffungstätigkeit).
Diese Regelung war von der Europäischen Kommission
ursprünglich sehr viel strenger gefasst. In einem Arbeitsdokument vom 04.10.2011 heißt es, die Kooperationspartner
sollten „im Prinzip“ gar keine Tätigkeiten auf dem Markt im
Rahmen der Zusammenarbeit ausüben. In seiner endgültigen
Form spricht dieses Dokument der EU-Kommission davon,
dass die beteiligten öffentlichen Auftraggeber nicht mehr als
10 % ihrer Tätigkeiten auf dem offenen Markt ausüben sollen.
Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat sich in seiner
Rechtsprechung – bis auf Sonderfälle – für eine Grenze von
10 % entschieden, die nicht durch die Tätigkeiten auf dem
freien Markt überschritten werden darf. Letztendlich ist es
hier in Folge der kommunalen Einflussnahme im Richtlinien-
Die Vorschrift gestattet es öffentlichen Auftraggebern,
Liefer- und Dienstleistungen von zentralen Beschaffungsstellen zu erwerben (die Dienstleistung kann beispielsweise auch
die Durchführung von Vergabeverfahren für einen Auftraggeber durch die zentrale Beschaffungsstelle sein) oder Liefer-,
Bau- und Dienstleistungsaufträge mittels zentraler Beschaffungsstellen zu vergeben. Maßgebliches Kriterium, das eine
zentrale Beschaffungsstelle kennzeichnen muss, ist allerdings ihre Dauerhaftigkeit. Übernimmt ein öffentlicher Auftraggeber lediglich sporadisch solche Aufgaben für andere
öffentliche Auftraggeber, ist dieses Kriterium unter Umständen nicht erfüllt. Die Erbringung der Dienstleistung durch
einen öffentlichen Auftraggeber für einen anderen öffentli-
Nur geringe Tätigkeit am „freien Markt“
www.brandi.net
Juli 2016
chen Auftraggeber wäre sonst eine (bei Überschreitung der
Schwellenwerte) nach den Vorschriften des GWB ausschreibungspflichtige Dienstleistung.
Praxishinweise
§ 106 Abs. 8 GWB regelt die im Wesentlichen schon aus der
Rechtsprechung des EuGH abzuleitenden Zulässigkeitsvoraussetzungen für interkommunale Kooperation jetzt deutlich
im Gesetz. Öffentlichen Auftraggebern ist anzuraten, diese
Zulässigkeitsgrenzen genau einzuhalten, weil sie sonst
Gefahr laufen, dass die – möglicherweise kommunalrechtlich
ohne Weiteres zulässige – interkommunale Kooperation vergaberechtlich unzulässig wird und gegebenenfalls entsprechende Leistungen im Wege eines Vergabeverfahrens
beschafft werden müssten. Die Kriterien sind nicht immer
leicht zu überschauen, so dass eine sorgfältige Prüfung anzuraten ist.
Erbringern von Liefer- oder Dienstleistungen, die eine
interkommunale Kooperation im konkreten Fall für unzulässig
halten, ist – neben einer genauen Prüfung der Zulässigkeitsfrage – zu raten, ggf. die Voraussetzungen eines Nachprüfungsantrags zu prüfen. Die unzulässige interkommunale
Kooperation unterliegt dann als ausschreibungspflichtiger
öffentlicher Auftrag dem Nachprüfungsrecht des GWB. Es
handelt sich um eine unzulässige de facto-Vergabe, die nur
innerhalb der gesetzlichen Fristen angegriffen werden kann.
Besonders vergaberechtsrelevant sind solche Fälle, in
denen es entweder um reine Finanztransfers im Gegenzug
zur Erbringung bestimmter Leistungen geht, oder in denen
über eine interkommunale Zusammenarbeit bestimmte private Unternehmen direkt oder indirekt bevorzugt werden,
oder in denen beispielsweise auch die Tätigkeit der
beteiligten öffentlichen Auftraggeber am freien Markt 20 %
oder mehr ihrer von der interkommunalen Zusammenarbeit
erfassten Tätigkeiten beträgt.
Prof. Dr. Martin Dippel, BRANDI Rechtsanwälte
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Neue strategische Ziele im Vergaberecht –
mit beihilferechtlichen Risiken?
Öffentliche Auftraggeber dürfen nun strategischer handeln.
Das im April 2016 in Kraft getretene neue Kartellvergaberecht
räumt größere Spielräume ein, um mit der Beschaffung von
Leistungen nicht nur den Beschaffungsbedarf zu decken,
sondern, um mit dem Instrument der Vergabe auch soziale,
umwelt- und personalpolitische Ziele zu unterstützen. Dabei
soll der althergebrachte eigentliche Zweck vergaberechtlicher
Verfahren aber nicht vernachlässigt werden: Öffentliche
Mittel sollen effizient eingesetzt werden.
Neben der Leistungsbeschreibung sind die Wertungsund Zuschlagskriterien das zentrale Element eines Vergabeverfahrens. An ihnen entscheidet sich, ob die angestrebte
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Beschaffung von Leistungen erfolgreich verläuft, indem sie
die Ziele erreicht, die ein öffentlicher Auftraggeber selbst definiert. Mit der Betonung strategischer Ziele, denen Vergabeverfahren nun auch dienen sollen, geht eine breite Öffnung
der zulässigen Kriterien für die Wertung von Angeboten einher. Damit ist ein Abschied von der vergleichsweise übersichtlichen Welt einiger weniger Wertungs- und Zuschlagskriterien verbunden. Diese waren im Kern darauf gerichtet, das
wirtschaftlichste Angebot im ökonomischen Sinne zu identifizieren. Das war vorrangig ein Angebot, welches ein Maximum
an Leistungen für ein festgelegtes Budget oder bestimmte
Leistungsanforderungen zu einem möglichst niedrigen Preis
versprach.
Es ist wahr, dass insbesondere die Landesgesetzgeber
schon seit einigen Jahren darauf hingewirkt haben, dass
öffentliche Auftraggeber in Vergabeverfahren sicherstellen,
dass Mindestanforderungen an die Personalentlohnung
erfüllt werden, die sich aus gesetzlichen Vorschriften (Mindestlohngesetz, Arbeitnehmerentsendegesetz) sowie aus
verbindlichen Tarifverträgen ergeben. Ferner soll die Einhaltung von Kernarbeitsnormen der ILO abgefragt werden und
sollen Mindeststandards an die Frauenförderung im Unternehmen mit der Abgabe von Angeboten bestätigt werden
(beispielsweise nach §§ 4, 18, 19 Tariftreue- und Vergabegesetz Nordrhein-Westfalen (TVgG NRW)). Des Weiteren ist
die Energieeffizienz nicht nur in Leistungsbeschreibungen,
sondern auch in der Wertung von Angeboten für Dienst- und
Liefer- sowie Bauleistungen zu berücksichtigen und damit ein
seit Jahren anerkanntes umweltbezogenes Kriterium.
Dennoch ermöglicht das neugefasste Vergaberecht die
Einbeziehung von Kriterien und Aspekten zur Bestimmung
des besten Preis-Leistungs-Verhältnisses, die in der Vergangenheit als Wertungs- und Zuschlagskriterium ausgeklammert blieben. Dazu zählen etwa die „Zugänglichkeit der
Leistung insbesondere für Menschen mit Behinderungen“,
die Übereinstimmung mit Anforderungen des „Designs für
Alle“, „Vertriebs- und Handelsbedingungen“, „Kundendienst
und technische Hilfe“, „Ästhetik“, der „faire Handel“, der
„Schutz der Gesundheit und der Arbeitskräfte“, die „Fortbildung“ des Personals“. Die neugefassten Vorschriften zur
Zuschlagserteilung in § 127 GWB, § 58 Vergabeverordnung
und § 16d EU VOB/A ermöglichen damit eine große Bandbreite zulässiger Kriterien, die nun alle unter den Oberbegriff
des wirtschaftlichsten Angebots und zu dessen Konkretisierung gefasst werden dürfen.
Einschränkend gilt nur Folgendes: Alle Kriterien müssen
mit dem Auftragsgegenstand in Verbindung stehen. Damit
sind nicht nur materielle Eigenschaften gemeint. Es reicht
vielmehr aus, wenn die genannten Kriterien und Aspekte auf
Prozesse bezogen sind, die „im Zusammenhang mit der Herstellung, Bereitstellung oder Entsorgung der Leistung, auf
den Handel mit der Leistung oder auf ein anderes Stadium im
Lebenszyklus der Leistung“ stehen. Diese Einschränkung ist
nicht sehr restriktiv. Sie schließt es nur aus, dass bewertet
wird, ob ein Bieter eine allgemeine Politik, etwa der sozialen
oder ökologischen Verantwortung, verfolgt. Darauf hat der
EU-Richtliniengeber hingewiesen (Vgl. Erwägungsgrund 97
der Richtlinie 2014/24/EU), nicht so sehr der deutsche
Gesetzgeber.
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Eine andere Einschränkung kann sich dagegen als wirksamer erweisen. Denn die Zuschlagskriterien müssen so
festgelegt werden, dass überprüft werden kann, ob die Angebote sie erfüllen. Wenn öffentliche Auftraggeber das ernst
nehmen, müsste für einige der zitierten Kriterien und Aspekte,
die eher strategischen Zielen als der ökonomischen Beschaffung von Leistungen dienen, sehr kritisch überlegt werden,
wie ihre Erfüllung überhaupt verifiziert werden kann. Blankoerklärungen der Bieter reichen dafür nicht aus.
Zuletzt soll auf ein Risiko hingewiesen werden, das im
Zusammenhang mit einer offensiven Verwendung von Kriterien und Aspekten, die strategischen Zielen dienen, verbunden sein kann. Dieses Risiko schlummert in der bisher
geführten Diskussion noch latent und fast unbemerkt, nämlich das Risiko eines Verstoßes gegen beihilferechtliche Vorschriften. Denn eines der Kernmerkmale einer im Grundsatz
verbotenen Beihilfe ist die Verschaffung einer Begünstigung
im Sinne von Art. 107 Abs. 1 Vertrag über die Arbeitsweise
der Europäischen Union (AEUV). Nach beihilferechtlichen
Maßstäben liegt eine Begünstigung nicht nur vor, wenn eine
Leistung ohne Gegenleistung gewährt wird, sondern auch
dann, wenn die Gegenleistung unter dem Marktwert liegt. Um
das zu ermitteln, werden sogenannte market economy investor tests angewandt, beispielsweise der private investor test
(pit). Aber diese Verfahren erfassen nicht, ob und welchen
„Mehrwert“ Kriterien und Aspekte schaffen, die strategischen
Zielen dienen. Zu einer Verteuerung der Leistungsbeschaffung zu Lasten der öffentlichen Auftraggeber führen sie aber
fast immer.
Es ist bisher nicht geklärt, ob ein gesellschaftspolitisch,
ein sozial oder aus anderer Sicht erwünschter Mehrwert sich
auf den Marktwert einer Leistung im Sinne des Beihilferechts
auswirkt. Sollte die EU-Kommission oder der EuGH das verneinen, müsste häufig festgestellt werden, dass ein öffentlicher Auftraggeber dem erfolgreichen Bieter des Vergabeverfahrens eine Begünstigung verschafft, wenn er den
angebotenen Preis des wirtschaftlich günstigsten Angebots
zahlt. Darin offenbart sich ein Wertungswiderspruch zwischen dem Vergaberecht und dem Beihilferecht.
Es wird spannend sein zu beobachten, wie dieser bisher
noch latente Wertungswiderspruch aufgelöst wird.
Dr. Christoph Jahn, BRANDI Rechtsanwälte
[email protected]
Juli 2016
Vergaberechtsnovelle 2016 – Neuerungen bei der
Vergabe von Bauleistungen nach der EU-VOB/A
Pünktlich zum Ablauf der Frist zur Umsetzung der in 2014
reformierten EU-Vergaberichtlinien ist am 18.04.2016 mit der
Neufassung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) und der Vergabeverordnung (VgV) die VOB
2016 in Kraft getreten. Während die Regelwerke für die europaweite Ausschreibung von Liefer- und Dienstleistungsaufträgen und freiberuflichen Aufträgen oberhalb der EUSchwellenwerte, die EU-VOL/A und die VOF entfallen sind
und die ehemals dort normierten Vorgaben vereinheitlicht
und die VgV integriert worden sind, existiert das Regelwerk
der EU VOB/A fort. Wegen bauspezifischer Aspekte hatte die
Bundesregierung bereits in ihrem Eckpunktepapier zur
Reform des Vergaberechts im Januar 2015 mitgeteilt, sie
beabsichtige die VOB/A 2. Abschnitt bestehen zu lassen. Mit
der Novellierung der VOB/A sollten allerdings nicht nur die
Vorgaben der Richtlinie 2014/24/EU (Allgemeine Vergaberichtlinie) umgesetzt, sondern die VOB/A sollte auch einfacher
und anwenderfreundlicher ausgestaltet werden.
Diesem Ansinnen ist im Wesentlichen dadurch Rechnung
getragen worden, dass die bei der Vergabe von Bauaufträgen
besonders wichtigen Bestimmungen aus dem GWB und der
VgV in der VOB/A wiederholt worden sind, um ein einheitliches Regelwerk für die Vergabe von Bauaufträgen zu
schaffen. Zudem enthält die VOB/A nun konkrete Vorgaben
für den Ablauf aller Verfahrensarten, so dass die Strukturierung der Verfahren, die bislang im Wesentlichen durch die
vergaberechtliche Rechtsprechung vorgegeben waren,
erleichtert wird.
Die in der Praxis gravierendste, allerdings nicht bauvergabespezifische Änderung ist die nunmehr zwingend vorgeschriebene elektronische Kommunikation. Vergabeverfahren oberhalb der EU-Schwellenwerte sind nun grundsätzlich
mit elektronischen Mitteln durchzuführen. In der Bekanntmachung oder der Aufforderung zur Angebotsabgabe/Interessenbekundung hat der öffentliche Auftraggeber eine elektronische Anschrift anzugeben, unter der die Vergabeunterlagen unentgeltlich, uneingeschränkt, vollständig und
direkt abgerufen werden können. Es ist nicht mehr zulässig, von dem Interessenten in den Unterlagen eine Registrierung zu verlangen. Alle Vergabeunterlagen müssen bereits
mit Beginn des Vergabeverfahrens, also mit Veröffentlichung
der Bekanntmachung, frei verfügbar sein. Die fehlende Registrierungspflicht bringt im Umkehrschluss die Notwendigkeit
für Bieter mit sich, sich eigenständig über etwaige Aktualisierungen der Vergabeunterlagen oder die Beantwortung von
Bieterfragen unter der elektronischen Anschrift unterrichtet
zu halten.
Die ebenfalls vorgesehene elektronische Abwicklung des
Vergabeverfahrens, insbesondere die Abgabe von Teilnahmeanträgen oder Angeboten in elektronischer Form ist für
zentrale Vergabestellen ab dem 18.04.2017, für alle anderen
öffentlichen Auftraggeber erst ab dem 18.10.2018 zwingend.
Bis dahin kann es bei der bislang praktizierten Schriftform
bleiben.
www.brandi.net
Seite 15
Juli 2016
Infolge der raschen Verfügbarkeit der Vergabeunterlagen
sind die Fristen deutlich verkürzt worden. Beim offenen
Verfahren beträgt die Regelangebotsfrist nun nicht mehr 52
Kalendertage, sondern nur noch 35 Kalendertage. Bei nicht
offenen Verfahren und Verhandlungsverfahren beträgt die
Frist für Teilnahmeanträge und für Angebote nur noch 30
Kalendertage. Weitere Verkürzungen sind bei Dringlichkeit
möglich.
Klargestellt ist durch die Neuregelung in § 4 a EU VOB/A
nun, dass auch für Bauleistungen Rahmenvereinbarungen
abgeschlossen werden können. Der öffentlichen Hand wird
damit ein sehr flexibles Instrument für die Deckung eines
Beschaffungsbedarfs an Bauleistungen für einen Zeitraum
von max. 4 Jahren an die Hand gegeben, wenn der konkrete
Umfang der benötigten Bauleistungen und der Leistungszeitpunkt noch unklar sind.
Im Bereich der Eignungsprüfung ist nun in § 6 EU VOB/A
klargestellt, dass Eignungskriterien nur die Befähigung und
Erlaubnis zur Berufsausübung, die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit und die technische und berufliche
Leistungsfähigkeit eines Bieters betreffen dürfen. Zudem
müssen die aufgestellten Eignungskriterien zu dem Auftragsgegenstand in einem angemessenen Verhältnis stehen. Als Ausprägung dieses Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes darf ein vom Auftraggeber geforderter Mindestjahresumsatz nun nur noch max. das Doppelte des Auftragswertes pro Jahr betragen.
Die EU VOB/A 2016 schränkt die Zulässigkeit der sogenannten „Eignungsleihe“ ein. Will sich ein Bieter zum Nachweis seiner Eignung auf andere Unternehmen stützen, darf
der Auftraggeber verlangen, dass diese anderen Unternehmen die ausgeschriebenen Arbeiten ausführen, wenn die
Eignungsleihe die berufliche Befähigung des Bieters betrifft.
Bezieht sich die Eignungsleihe auf die wirtschaftliche und
finanzielle Leistungsfähigkeit, so kann der öffentliche Auftraggeber vorschreiben, dass die Unternehmen, auf die sich der
Bieter beruft, gemeinsam mit dem Bieter für die Auftragsausführung haften. Schließlich setzt die EU VOB/A der unbeschränkten Vergabe von Leistungen an Nachunternehmer Grenzen. Nach § 6d Abs. 4 EU VOB/A ist es nun für
öffentliche Auftraggeber möglich, vorzuschreiben, dass
bestimmte kritische Aufgaben direkt vom Bieter selbst bzw.
von einem Mitglied der Bietergemeinschaft ausgeführt werden.
schlagskriterium sein kann. Trotz der Betonung des besten
Preis-Leistungsverhältnisses bleibt die Auswahl des wirtschaftlichsten Angebotes allein nach dem niedrigsten Preis
jedoch zulässig, wenn die Vorgaben des Auftraggebers an
die abzugebenden Angebote einen qualitativen Leistungsunterschied nicht zulassen.
In § 22 EU VOB/A finden sich nun Bestimmungen über
wesentliche Änderungen eines einmal erteilten Bauauftrages während der Vertragslaufzeit, die ein neues Vergabeverfahren erforderlich machen. Praktische Bedeutung
erlangt diese Bestimmung vor allem, weil sie klarstellt, in welchen Fällen von einem neuen Vergabeverfahren abgesehen
werden darf. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn sich der
Gesamtcharakter des Auftrags nicht ändert, der Wert der
jeweiligen Änderung den EU-Schwellenwert nicht übersteigt
und der Wert der Änderung nicht mehr als 50 % des ursprünglichen Auftragswerts beträgt.
Fazit
Dem Verordnungsgeber ist es mit der EU VOB/A gelungen,
ein leichter handhabbares Instrumentarium mit mehr Flexibilität für den öffentlichen Auftraggeber zu entwickeln, ohne
dass allerdings spürbare Änderungen hinsichtlich des Aufwandes festzustellen sind, der mit der Durchführung von Vergabeverfahren regelmäßig einhergeht.
Dr. Annette Mussinghoff-Siemens, BRANDI Rechtsanwälte
[email protected]
Eine weitere wesentliche Änderung betrifft die Auswahl
des wirtschaftlichsten Angebots. Die EU VOB/A stellt in § 16d
Abs. 2 klar, dass das Angebot mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis den Zuschlag erhalten muss. Maßgeblich
für dieses Verhältnis sind die vom Auftraggeber festgesetzten
Zuschlagskriterien. Als Zuschlagskriterien können nun auch
die Organisation, Qualifikation und Erfahrung des mit
der Ausführung des Auftrags betrauten Personals
berücksichtigt werden, wenn die Qualität des eingesetzten
Personals erheblichen Einfluss auf das Niveau der Auftragsausführung haben kann. Insoweit weicht die EU VOB/A den
Grundsatz der strikten Trennung von Eignungs- und
Zuschlagskriterien auf. Es bleibt allerdings dabei, dass die
Qualität des Personals nicht zugleich Eignungs- und Zu-
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Neuregelung der VOB/B zum 19.01.2016 in Kraft
getreten
Am 19.01.2016 wurden die Änderungen der Vergabe- und
Vertragsordnung für Bauleistungen Teil B (VOB/B) bekannt
gemacht. Es besteht keine rückwirkende Geltung dieser
neuen Bestimmungen für bereits abgeschlossene Verträge,
sie sind allerdings für alle VOB/B-Bauverträge, die nach dem
19.01.2016 abgeschlossen wurden und werden, zu beachten.
Die Änderungen sind im Wesentlichen redaktioneller Art
und stellen sich – auszugsweise – wie folgt dar:
-- Während die VOB/B 2012 in den §§ 4, 5 und 8 die Formulierung „Entziehung des Auftrags“ verwendete, spricht die
Neuregelung nun von einer „Kündigung“, ohne dass sich
hierdurch inhaltliche Neuerungen ergeben haben. Im Rahmen von Fristsetzungen, beispielsweise nach § 4 Abs. 7
VOB/B oder § 5 Abs. 4 VOB/B, ist jetzt auf die korrekte
neue Formulierung zu achten.
-- In § 4 Abs. 8 Nr. 3 wurde eine neue Verpflichtung des Auftragnehmers aufgenommen, wonach der Auftragnehmer
dem Auftraggeber bis zum Leistungsbeginn den Nachunternehmer mit Namen, gesetzlichen Vertretern und Kontaktdaten bekannt zu geben hat. Dies stellt eine
Mitteilungspflicht des Auftragnehmers in der Leistungskette
dar, die er durch entsprechende organisatorische Maßnahmen zu erfüllen hat.
-- In § 8 Abs. 4 wurden weitere Kündigungsgründe zugunsten
des Auftraggebers aufgenommen, wie etwa bei EU-Vergaben oder einer unzulässigen Wettbewerbsbeschränkung
des Auftragnehmers.
Juli 2016
Keine Unwirksamkeit von § 8 Abs. 2 Nr. 1 Fall 2,
Nr. 2 VOB/B - endlich Rechtssicherheit
bei Insolvenz des Werkunternehmers?
Anmerkung zu BGH, Urteil vom 07.04.2016 - VII ZR 56/15
Mit seinem Grundsatzurteil vom 07.04.2016 hat der Bundesgerichtshof (BGH) eine insbesondere in den letzten Jahren
intensiv und kontrovers diskutierte Frage nunmehr (teilweise)
entschieden:
Kann der Auftraggeber (AG) einen VOB/B-Werkvertrag im
Falle des Eigeninsolvenzantrags des Auftragnehmers (AN)
gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 VOB/B aus wichtigem Grund kündigen und anschließend etwaige Mehrkosten für die Beauftragung eines Dritten mit der Fertigstellung der Werkleistungen
gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 2 VOB/B (im Insolvenzverfahren oder
gegenüber Bürgen o.ä.) als Schadensersatz geltend
machen?
Eindeutige Antwort des BGH jedenfalls bei einem Eigeninsolvenzantrag des AN (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 Fall 2 VOB/B):
ja, er kann!
I. Sachverhalt
In dem vom BGH zu entscheidenden Sachverhalt hatte der
AG den AN unter Einbeziehung der VOB/B mit der Errichtung
eines Geschäftshauses zu einem Pauschalpreis beauftragt
und entsprechend der vertraglichen Vereinbarungen von ihm
eine Vertragserfüllungsbürgschaft über 10% der Auftragssumme erhalten.
Vor Fertigstellung der Arbeiten stellte der AN einen Antrag
Hintergrund der vorgenommenen Änderungen ist zum einen auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens, woraufhin der AG
die gleichzeitige Änderung der VOB/A. Zum anderen sind sie unter Hinweis auf § 8 Abs. 2 Nr. 1 VOB/B den Vertrag
im Zusammenhang mit dem sich derzeit im Gesetzgebungs- kündigte. Der AN stellte deshalb die Arbeiten ein, der AG
verfahren befindenden gesetzlichen Bauvertragsrecht zu beauftragte Dritte mit der Fertigstellung der Arbeiten. Dadurch
sehen. Die Bundesregierung hat am 02. März den vom Bun- - so seine Behauptung - seien Mehrkosten in sechsstelliger
desjustizminister vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Höhe entstanden. Mit der Klage nahm er deshalb die Bürgin
Reform des Bauvertragsrechts und zur Änderung der kauf- aus der Vertragserfüllungsbürgschaft in Anspruch. Das Landrechtlichen Mängelhaftung beschlossen. Es bleibt abzuwar- gericht gab der Klage dem Grunde nach statt, das Berufungsten, ob und in welcher endgültigen Fassung es vom Bundestag gericht, das OLG Frankfurt/Main, wies demgegenüber die
verabschiedet wird und welche Wirkungen die neuen gesetz- Klage unter Hinweis auf die Unwirksamkeit von § 8 Abs. 2 Nr.
lichen Regelungen sowohl auf die VOB/B – dann wären u.U. 1 VOB/B wegen Verstoßes gegen § 119 InsO ab und verwies
nochmalige Änderungen notwendig - als auch auf die Ver- dabei unter anderem auf ein Urteil des IX. Zivilsenates des
tragspraxis haben werden.
BGH aus dem Jahre 2012 (IX ZR 169/11), in dem entsprechende Lösungsklauseln in Energielieferverträgen als unwirksam beschieden worden waren. Da die Revision vom OLG
Dr. Sandra Vyas, BRANDI Rechtsanwälte
Frankfurt/Main zugelassen wurde, konnte sich jetzt der für
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das Baurecht zuständige VII. Zivilsenat des BGH mit der eingangs gestellten Frage auseinandersetzen.
II. Hintergrund
§ 8 Abs. 2 Nr. 1 VOB/B sieht ein Kündigungsrecht des AG aus
wichtigem Grund u.a. für den Fall vor, dass die Eröffnung des
Insolvenzverfahrens über das Vermögen des AN beantragt
(von ihm selbst oder berechtigterweise vom Auftraggeber
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Juli 2016
oder einem anderen Gläubiger), dass ein Insolvenzverfahren
eröffnet oder mangels Masse abgelehnt wird. Folge ist gemäß
§ 8 Abs. 2 Nr. 2 VOB/B, dass der AG wegen der nicht mehr
ausgeführten Rest-Werkleistungen Schadensersatz verlangen kann.
Gegen diese Regelungen wird teilweise sowohl in der
instanzgerichtlichen Rechtsprechung als auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur eingewendet, dass sie wegen
Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot gemäß § 134 BGB
unwirksam seien. Die gesetzliche Verbotsnorm sollen die
Regelungen der §§ 103, 119 Insolvenzordnung (InsO) sein.
Danach steht dem Insolvenzverwalter nach Eröffnung des
Insolvenzverfahrens bei gegenseitigen Verträgen, die bei
Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch nicht vollständig
erfüllt sind, ein Wahlrecht zu, ob er die Erfüllung der beiderseitigen vertraglichen Pflichten (mithin die Fortführung des
Vertrages) wählt oder aber die Erfüllung ablehnt, der Vertrag
im Ergebnis also nicht weitergeführt wird. § 119 InsO schützt
dieses Wahlrecht, da nach dieser Vorschrift Vereinbarungen
unwirksam sind, durch die unter anderem das Wahlrecht des
Insolvenzverwalters (§ 103 InsO) im Voraus beschränkt oder
ausgeschlossen wird. Dies kann auch für Vereinbarungen
gelten, die nur eine mittelbare Beeinträchtigung des Wahlrechts darstellen, indem sie - wie § 8 Abs. 2 Nr. 1 VOB/B - ein
Kündigungsrecht für den Fall vorsehen, dass ein Antrag auf
Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt oder ein solches
Verfahren eröffnet wird. Zweck der insolvenzrechtlichen
Regelungen ist es, dem Insolvenzverwalter die Entscheidung
zu überlassen, welche Verträge zum Schutz und zur Mehrung
der Insolvenzmasse im Interesse einer gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung fortgeführt und welche beendet werden
sollen.
III. Entscheidung des BGH
In seinem sehr ausführlich begründeten Urteil ist der BGH
- soweit ersichtlich - auf sämtliche bislang für eine Unwirksamkeit der Regelungen in § 8 Abs. 2 VOB/B vorgebrachten Argumente eingegangen, hat diese zurückgewiesen und für die
Wirksamkeit sprechende Argumente aufgeführt, so insbesondere:
Der Gesetzgeber habe bei Einführung der InsO gemäß
der Gesetzesbegründung die Frage des Verstoßes von § 8
Abs. 2 VOB/B gegen die §§ 103, 119 InsO ausdrücklich nicht
geregelt, sondern diese Entscheidung der Rechtsprechung
vorbehalten.
Höchstrichterlich sei bereits entschieden, dass eine
„insolvenzabhängige Lösungsklausel“ dann das Wahlrecht
des Insolvenzverwalters nicht beeinträchtige, wenn die Klausel sich eng an eine gesetzliche Lösungsmöglichkeit anlehne.
Die Regelung in § 8 Abs. 2 Nr. 1 VOB/B gehe aber nicht weiter
als das in § 649 BGB geregelte Recht zur jederzeitigen freien
Kündigung des Vertrages. Etwas anderes ergebe sich auch
nicht unter Berücksichtigung des in § 8 Abs. 2 Nr. 2 VOB/B
geregelten Schadensersatzanspruches. Die notwendige
Abwägung der grundrechtlich geschützten Interessen des AG
und der übrigen Insolvenzgläubiger führe bei einem Bauvertrag nämlich dazu, dass die Interessen des AG diejenigen der
Insolvenzgläubiger erheblich überwiegen würden und dem
AG ein Festhalten am Vertrag nicht zuzumuten sei. Denn es
drohe ein in der Regel nicht unerheblicher Schaden aufgrund
eines regelmäßig eintretenden Baustillstandes, wenn der AG
die Eröffnung des Insolvenzverfahrens und die Entscheidung
des Insolvenzverwalters über sein Wahlrecht bezogen auf
den Bauvertrag abwarten müsse. Ein solcher Stillstandsschaden könne nur durch die Möglichkeit einer frühzeitigen
Vertragsbeendigung gering gehalten werden.
Zudem seien bei einem Bauvertrag auch die persönlichen
Eigenschaften des AN (Fachkunde, Zuverlässigkeit, etc.) für
den AN von besonderer Bedeutung, der Abschluss eines solchen Vertrages erfolge regelmäßig unter Inanspruchnahme
besonderen Vertrauens. Dieses Vertrauen zerstöre der AN
aber mit Stellen des Eigeninsolvenzantrages. Zwar komme
die Fortführung durch den Insolvenzverwalter in Betracht.
Dieser könne aber das erforderliche Vertrauen für sich nicht
in gleicher Weise in Anspruch nehmen wie der AN vor dem
Antrag. Der AG müsse stets befürchten, dass die Arbeiten
durch den Insolvenzverwalter nicht ordnungsgemäß weitergeführt werden könnten. Daher bestehe auch kein Widerspruch zu der Energielieferverträge betreffenden Entscheidung des IX. Zivilsenates aus dem Jahr 2012.
Es sei richterrechtlich anerkannt, dass dem AG ein außerordentliches Kündigungsrecht ohne Vergütungspflicht gemäß
§ 649 Satz 2 BGB zustehe, wenn der AN seine Vertragspflichten derart verletze, dass das Vertrauensverhältnis nachhaltig
gestört oder die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet
sei. Dies sei in der Regel aber aufgrund des Eigeninsolvenzantrages des AN der Fall, und zwar unabhängig davon, ob
der AN nach Antragstellung seine Arbeiten fortsetze oder
nicht. Zudem stehe dem AG dann regelmäßig auch ein Schadensersatzanspruch aus §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 282 BGB zu,
da der AN mit dem Eigeninsolvenzantrag die aus dem Bauvertrag resultierende Pflicht zur Rücksichtnahme auf die
Rechte und Interessen des Vertragspartners verletze.
Es liege auch keine Unwirksamkeit gemäß § 307 Abs. 1, 2
BGB vor, da § 8 Abs. 2 Nr. 1 Fall 2, Abs. 2 VOB/B nicht von
wesentlichen Grundgedanken des Gesetzes abweichen würden. § 649 Satz 2 BGB gelte nur für freie Kündigungen, nicht
aber für Kündigung aus wichtigem Grund. Auch stehe § 8 Abs.
2 Nr. 2 VOB/B im Einklang mit dem wesentlichen Grundgedanken des Haftungsrechts, dass nur schuldhaftes Verhalten
zum Schadensersatz verpflichtet. Mit Stellen des Eigenantrags verletze der AN aber seine Pflicht zur Rücksichtnahme
auf die Rechte und Interessen des AG. Dieses habe er auch
stets zu vertreten, da er nach dem Prinzip der unbeschränkten Vermögenshaftung ohne Rücksicht auf ein Verschulden
für seine finanzielle Leistungsfähigkeit einzustehen habe.
IV. Fazit
Der BGH stellt in seiner Entscheidung deutlich in den Vordergrund, dass jedenfalls bei einem Eigeninsolvenzantrag des
AN die zu schützenden Interessen des AG diejenigen der
übrigen Insolvenzgläubiger erheblich überwiegen. Diese Auffassung fußt auf den in der Entscheidung mehrfach deutlich
hervorgehobenen Besonderheiten des Bauvertrages mit sei-
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nen gesteigerten gegenseitigen Rücksichtnahme- und Kooperationspflichten. Aus diesem Grund könnte die Entscheidung noch zusätzliche Bedeutung für andere zu entscheidende Fragen betreffend den Bauvertrag (wie z. B.
Leistungsverweigerungsrechte des AN, etc.) haben.
Kündigungsmöglichkeit hat verstreichen lassen, nämlich diejenige bei Antragstellung. Insoweit könnte es entscheidend
darauf ankommen, ob der AN trotz Antragstellung weiter
arbeitet oder seine Arbeit einstellt - beim Eigeninsolvenzantrag soll dies dem BGH zufolge ja unerheblich sein.
Zu hinterfragen ist sicherlich einerseits, ob der AN tatsächlich stets die Insolvenz und damit auch die Verletzung
der vertraglichen Nebenpflicht, die Rechtsgüter und Interessen des anderen zu schützen, zu vertreten hat. Denn zum
einen ist der AN unter gewissen Umständen gesetzlich verpflichtet, einen Eigeninsolvenzantrag zu stellen. Zum anderen
sind auch Sachverhalte denkbar, in denen der AN objektiv
betrachtet die Insolvenz nicht zu vertreten hat (z.B. bei Fällen,
in denen der AN eigene berechtigte Forderungen gegen
Dritte nicht durchsetzen kann und deshalb zur Antragstellung
gezwungen ist). Aufgrund der eindeutigen Ausführungen des
BGH wird sich an dieser Wertung aber erst einmal nichts
ändern.
Insgesamt eher kritisch zu beurteilen ist das Urteil indes
für die übrigen Insolvenzgläubiger von Werkunternehmern.
Denn die Fortführung eines Unternehmens wie auch die
Größe der Insolvenzmasse werden oftmals (auch) davon
abhängen, ob die nicht vollständig beendeten Verträge noch
zu Ende geführt werden können oder nicht. Nach dem Urteil
des BGH vom 07.04.2016 ist damit zu rechnen, dass dem oftmals die Kündigung des Auftraggebers entgegenstehen wird.
Mit der vorliegenden Entscheidung besteht im Ergebnis
zukünftig Rechtssicherheit für den AG jedenfalls in den Fällen,
in denen der AN einen Eigeninsolvenzantrag stellt. Nur hierzu
hat der BGH entschieden. Ob die Wirksamkeit auch der
übrigen Alternativen des § 8 Abs. 2 Nr. 1 VOB/B genauso
bestätigt würde, bleibt nach meiner Einschätzung zumindest
teilweise offen. Davon auszugehen ist, dass der BGH entsprechend entscheiden dürfte bei Antragstellung durch den
AG oder einen Dritten. Auch dann droht dem AG ein Schaden
wegen Stillstands der Baustelle, so dass ihm ein Zuwarten
auf die Eröffnung des Insolvenzverfahrens und die Entscheidung des Insolvenzverwalters über das Wahlrecht gleichermaßen nicht zumutbar sein dürfte. Auch in diesem Fall kann
man mit der Argumentation des BGH dem AN als Pflichtverletzung vorwerfen, das Vertrauensverhältnis erheblich gestört
zu haben dadurch, dass er in die Zahlungsunfähigkeit bzw.
die Überschuldung gerät. Problematisch wird insoweit in der
jeweiligen Situation eher die Frage sein, ob der AG oder der
Dritte (noch schwieriger festzustellen!) berechtigterweise den
Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt haben.
Denn nur dann besteht nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 VOB/B das Kündigungsrecht. Wird die Kündigung ausgesprochen, obwohl
die Voraussetzungen nicht vorliegen, könnte die Erklärung
zum einen als freie Kündigung mit den entsprechenden Vergütungsfolgen verstanden werden oder aber der AN ist
berechtigt, seinerseits aus wichtigem Grund zu kündigen, da
der AG mit der fehlerhaften Kündigung und/oder dem fehlerhaften Insolvenzantrag das Vertrauensverhältnis erheblich
gestört und damit eine Pflichtverletzung begangen hat.
BGH bleibt dabei: Vereinbarung einer Vertragserfüllungsbürgschaft in Höhe von 10 % der Auftragssumme ist wirksam
Kritisch zu sehen ist nach meiner Auffassung demgegenüber die Übertragung der im Urteil aufgeführten Grundsätze
auf die weiteren Kündigungsrechte gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1
Fall 3 und 4 (bei Eröffnung eines Insolvenzverfahrens und bei
Ablehnung der Eröffnung mangels Masse). In diesen Fällen
greift zum einen nicht das Argument, dass dem AG ein Zuwarten auf die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht zumutbar
sein soll. Allein das Erfüllungswahlrecht des Insolvenzverwalters kann dann noch zu einer Verzögerung führen. Allerdings
muss der Verwalter sich zum Wahlrecht „unverzüglich“
äußern, wenn der AG ihn hierzu auffordert. Zum anderen ist
zu berücksichtigen, dass in diesem Fall der AG bereits eine
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Dr. Christian Kollmeier, BRANDI Rechtsanwälte
[email protected]
Wie in dem vorherigen Beitrag von Herrn Dr. Kollmeier angesprochen, hat sich der Bundesgerichtshof (BGH) zur Vertragserfüllungsbürgschaft geäußert und in seinem aktuellen
Urteil vom 07.04.2016 - VII ZR 56/15 - seine bisherige Rechtsprechung bestätigt.
Im entschiedenen Fall enthielt ein Bauvertrag die Regelung, dass der Generalunternehmer eine Vertragserfüllungsbürgschaft in Höhe von 10 % der Auftragssumme stellen und
diese bis zur Auszahlung der ersten Abschlagsrechnung dem
Auftraggeber vorgelegt sein muss. Nach der Insolvenz des
Generalunternehmers nahm der Auftraggeber den Bürgen in
Anspruch. Dieser wendete sich hiergegen mit dem Argument,
die Vereinbarung zur Stellung der Vertragserfüllungsbürgschaft verstoße gegen AGB-rechtliche Vorschriften und sei
daher unwirksam.
Mit diesem Einwand drang der Bürge nicht durch. Denn
der BGH hält an seiner Rechtsprechung fest, wonach die in
der Praxis gängige Größenordnung von 10 % der Auftragssumme für eine Vertragserfüllungsbürgschaft nicht zu hoch
ist. Zur Begründung führt der BGH aus, dass eine derartige
Sicherungsabrede nach AGB-rechtlichen Vorschriften: Es
liegt kein Verstoß gegen das gesetzliche Leitbild des § 632a
Abs. 3 S. 1 BGB dar, da diese Vorschrift unter Verbraucherschutzgesichtspunkten lediglich den Mindestschutz sicher
stellen will, dass der Verbraucher einen gesetzlichen
Anspruch aus Bestellung einer 5%igen Sicherheit hat. Diese
Bestimmung schließt nach Ansicht des BGH aber nicht aus,
dass eine Vertragserfüllungssicherheit, die von einem Verbraucher – und erst recht von einem Unternehmer – verlangt
wird, mehr als fünf Prozent betragen kann. § 632a Abs. 3 S. 1
BGB ist vielmehr dispositiv und enthält keine Obergrenze der
zulässigen Sicherheitsleistung. Weiter führt der BGH aus,
dass sich in der Praxis für die Vertragserfüllungsbürgschaft
eine Größenordnung von 10% durchgesetzt habe und somit
keine Benachteiligung für den Auftragnehmer darstelle.
Begründet wird dies damit, dass im Falle einer insolvenzbe-
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Juli 2016
dingten Kündigung typischerweise ein weitaus höherer Schaden entsteht, da der Auftraggeber nunmehr einen Dritten mit
der Vollendung des Bauvorhabens beauftragen und daher
einen finanziellen Mehraufwand, der 10% der Auftragssumme
in der Regel überschreiten wird, tragen muss.
Der BGH schließt damit eine nach Änderung des § 632 a
BGB aufgetretene Lücke. Auftraggeber können also weiterhin
Vertragserfüllungsbürgschaften in Höhe von 10 % mit den
Auftragnehmern vereinbaren.
Nichtsdestotrotz ist bei der Formulierung der Vereinbarung zur Stellung der Vertragserfüllungsbürgschaft nach wie
vor Vorsicht geboten. Es gibt diverse andere Fallstricke, die
zu einer Unwirksamkeit der Vereinbarung führen können. So
führt beispielsweise eine zusätzlich vereinbarte Beschränkung von Abschlagszahlungen auf 90 % zur Unwirksamkeit
der Sicherungsabrede und zur Entwertung der Bürgschaft.
Auch die Kumulation von Vertragserfüllungs- und Gewährleistungsbürgschaft kann die Sicherungsabrede unwirksam
machen. Insoweit muss eine vertragliche Regelung sorgfältig
formuliert werden.
Dr. Sandra Vyas, BRANDI Rechtsanwälte
[email protected]
BGH: Verjährung von Mängelansprüchen bei
Auf-Dach-Photovoltaikanlagen - Begriff des
„Bauwerks“
Photovoltaikanlagen auf Dächern erfreuen sich weiterhin großer Beliebtheit. Damit einhergehend kommt es nicht selten zu
Rechtstreitigkeiten wegen geltend gemachter Mängelansprüche. Hierbei stellt sich unabhängig von der oft strittigen Einordnung der Verträge als Kauf- oder Werkverträge die Frage,
ob die Verjährungsfrist 5 Jahre (§ 438 Abs. 1 Nr. 2 oder
§ 634a Abs. 1 Nr. 2 BGB) oder kürzer beträgt. Der BGH hat
hier jüngst eine wichtige Entscheidung getroffen, die sich insbesondere mit dem Begriff des „Bauwerks“ als maßgeblichen
Punkt für die Abgrenzung der denkbaren unterschiedlichen
Verjährungsfristen befasst (BGH, Entscheidung v. 02.06.2016
– VII ZR 348/13 -).
Nachdem erstinstanzlich die Klage abgewiesen worden
war, befasste sich das zweitinstanzliche OLG (OLG München,
Urteil v. 10.12.2013 – 9 U 543/12 -) ausführlich mit der Frage
der Verjährung und dem Begriff des „Bauwerks“. Es kam im
Ergebnis zu dem Schluss, dass der Minderungsanspruch
nicht verjährt sei, weil es sich entgegen der Ansicht der
beklagten Firma bei der geschuldeten Leistung um eine solche bei einem Bauwerk gehandelt habe. Die 5-jährige Verjährungsfrist gem. § 634a Abs. 1 Nr. 1 und 2 BGB gelte, der
Anspruch sei nicht verjährt.
Der BGH hat in der zitierten Entscheidung die hiergegen
gerichtete Revision der Beklagten zurückgewiesen und ausgeführt, für den geltend gemachten Anspruch gelte die lange
Verjährungsfrist von 5 Jahren. Zur Begründung hat das
Gericht dargelegt, dass die lange Verjährungsfrist „bei Bauwerken“ gelte, wenn das Werk in der Errichtung oder grundlegenden Erneuerung eines Gebäudes bestehe, das Werk in
das Gebäude fest eingefügt werde und dem Zweck des
Gebäudes diene. Hiervon sei vorliegend auszugehen. Denn
die Photovoltaikanlage werde durch die Vielzahl der verbauten Komponenten so mit der Tennishalle verbunden, dass
eine Trennung von dem Gebäude nur mit einem erheblichen
Aufwand möglich sei. Darin liege zugleich eine grundlegende
Erneuerung der Tennishalle, die einer Neuerrichtung gleich
komme. Außerdem diene die Photovoltaikanlage dem weiteren Zweck der Tennishalle, nämlich Trägerobjekt einer solchen Anlage zu sein.
In der Vergangenheit gab es vermehrt Stimmen, die für
eine kurze Verjährungsfrist plädierten (vgl. Taplan/Baugartner, NZBau 2014, 540). Dieser Auffassung hat der BGH
zumindest in der dort vertretenen Grundsätzlichkeit eine
Absage erteilt. Zu beachten ist allerdings, dass die rechtserhebliche Frage, ob es um Ansprüche „bei einem Bauwerk“
geht, auch nach der jüngsten Entscheidung des BGH stets
eine Einzelfallenscheidung unter Berücksichtigung des jeweiligen konkreten Sachverhalts bleibt. Der BGH hat aber zumindest für vergleichbare Sachverhalte, bei denen es um auf
(großen) Dächern gewerblich genutzter Gebäude oder auch
Sportanlagen errichtete Anlagen geht, eine richtungsweisende Entscheidung getroffen.
Andreas Wiemann, BRANDI Rechtsanwälte
[email protected]
Gegenstand des Rechtsstreits war ein Minderungsanspruch eines Eigentümers eines Grundstücks mit einer Tennishalle, auf der eine Photovoltaikanlage aus 335 g Modulen
errichten worden war. Die Module waren auf einer Unterkonstruktion, die mit dem Dach fest verbunden wurde, angebracht. Die Module wurden mit insgesamt ca. 500 m Kabeln
im Inneren der Halle angebrachten Wechselrichtern verbunden. Die hierfür erforderliche Durchdringung des Dachs bzw.
der Gebäudeaußenhaut wurde dauerhaft witterungsbeständig und dicht ausgeführt. Weiter hatte die ausführende Firma
zu einem außerhalb der Halle befindlichen Zählerverteilungskasten Stromleitungen zu den Wechselrichtern verlegt und
eine Kontroll- und Steuerungsanlage errichtet und programmiert. Die Klägerin rügte eine zu geringe Leistung der Anlage
und verlangte eine Minderung um 25 % der Nettovergütung.
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Seite 20
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www.brandi.net
Juli 2016
Seite 21
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Juli 2016
Unser
neuer
Notar
in in
Detmold
Unser
neuer
Notar
Detmold
Ab Juli 2016 steht Ihnen Herr Dr. Christian Behrendt
als Notar in Detmold zur Verfügung.
Überörtlich ist BRANDI dann mit 20 Notarinnen und
Notaren an sechs Standorten vertreten.
Es ist geplant, die Notariatspraxis an allen Standorten in
Zukunft weiter auszubauen.
Unsere
Unsereneuen
neuen Kollegen
Kollegen
Victoria Wessel
verstärkt seit Februar 2016 unseren Standort in Paderborn in den Bereichen
Gesellschaftsrecht und Erbrecht sowie im allgemeinen Zivilrecht.
Frau Wessel studierte Rechtswissenschaft an den Universitäten Osnabrück und
Straßburg und hat bereits ihre Referendarstation in unserem Paderborner Büro
verbracht.
Dr. Daniel Kollmeyer
unterstützt seit Februar 2016 unseren Standort in Gütersloh im Bereich Erbrecht und im notariatsbezogenen Zivilrecht.
Herr Dr. Kollmeyer studierte zuvor Rechtswissenschaft an der Universität Bielefeld und der Tilburg University.
Carsten Christophery
verstärkt seit März 2016 unseren Standort in Gütersloh in den Bereichen Steuerund Gesellschaftsrecht sowie im Insolvenz- und Sanierungsrecht.
Herr Christophery studierte Rechtswissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie an der Universität Osnabrück und verbrachte seine Referedarstation u.a. in unserem Gütersloher Büro.
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Juli 2016
Wir
Wirwünschen
wünschen Ihnen
Ihnen
eine
eineschöne
schöneSommerzeit!
Sommerzeit!
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33602 Bielefeld
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Fax: +49 (0) 521 / 96535 - 99
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Lindenweg 2
32756 Detmold
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Fax: +49 (0) 5231 / 9857 - 50
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Gütersloh
Thesings Allee 3
33332 Gütersloh
Tel.: +49 (0) 5241 / 5358 - 0
Fax: +49 (0) 5241 / 5358 - 40
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Die in unseren Beiträgen allgemein erteilten Hinweise und Empfehlungen können und sollen
eine anwaltliche Beratung nicht ersetzen. Für Anregungen und Rückfragen stehen Ihnen die
jeweiligen Autoren der Beiträge oder die Redaktion ([email protected]) gern zur
Verfügung.
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