Militaristischer Wahn

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Universalgenie
Philosoph, Mathematiker, Diplomat,
Erfinder – Frühkommunist und Dialektiker. Vor 370 Jahren wurde Gottfried Wilhelm Leibniz geboren. Die
Prinzipien seines Denkens sind auch
heute noch höchst aktuell.
Von Hannes A. Fellner
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Ankara züchtet Terror
Oppositionspolitiker wirft türkischer Regierung Mitschuld an Anschlägen des IS vor.
Anhänger der Miliz sollen Staat unterwandert haben. Von Nick Brauns
PICTURE ALLIANCE / AA-ARIF HUDAVERDI YAMAN
D
ie Terrororganisation »Islamischer Staat« (IS) habe den
türkischen Staat infiltriert.
Das warf der Kovorsitzende der linken kurdischen Demokratischen Partei
der Völker (HDP), Selahattin Demirtas, der Führung des Landes am Mittwoch abend während eines RamadanEmpfangs in Istanbul vor. Aufgrund der
Tolerierung durch die Regierungspartei
AKP habe die Miliz ihre Sympathisanten und Mitglieder in Beamtenpositionen bringen können, erklärte Demirtas.
Am Tag zuvor hatten drei mutmaßliche
IS-Selbstmordattentäter auf dem Istanbuler Atatürk-Flughafen 42 Menschen
getötet und rund 250 weitere verletzt.
»Ihr glaubt, dass ihr den IS seit Jahren für eure Zwecke benutzt, aber nun
benutzt der IS euch für sich«, sagte
Demirtas an die Adresse der Regierung.
IS-Anhänger seien längst im Bildungsministerium, bei den Gesundheitsbehörden, beim Flughafen-Sicherheitspersonal, in den Gerichten und Gefängnissen. »Deshalb können sie in der Türkei an jedem Ort zu jeder Zeit Massaker
anrichten.«
Offenbar war die Regierung zudem
im Vorfeld über einen möglichen Anschlag in Istanbul informiert. Der Geheimdienst habe Anfang Juni in einem
Schreiben an die Staatsspitze und die
Behörden davor gewarnt und den Flughafen als ein Ziel bezeichnet, erklärte
die Ankara-Korrespondentin des Senders Dogan TV, Hande Firat, am Mittwoch abend in einer Livesendung.
Der IS hat sich bisher nicht zu der Attacke bekannt, allerdings hatte die Organisation dies auch in der Vergangenheit
nach ihr zugeschriebenen Anschlägen
in der Türkei nicht getan. Für ihre Urheberschaft spricht schon der Zeitpunkt:
am Vorabend des zweiten Jahrestages
Symbole der Stärke: Razzia gegen mutmaßliche IS-Mitglieder am Donnerstag in Istanbul
der Ausrufung seines »Kalifats«. Die
staatliche Nachrichtenagentur Anadolu
meldete, bei Razzien in Istanbul seien
am Donnerstag im Zusammenhang mit
der Attacke am Flughafen 13 Verdächtige festgenommen und IS-Material beschlagnahmt worden.
In der türkischen Presse wird derweil
darüber spekuliert, ob die Anschläge im
Zusammenhang mit der Aussöhnung
zwischen der Türkei und Israel stehen.
Zu Wochenbeginn hatten die Regierungen beider Länder mit einem Kooperationsabkommen die Eiszeit in ihren
diplomatischen Beziehungen beendet,
die seit dem Überfall der israelischen
Armee auf die Gaza-Flotte vor sechs
Jahren herrschte. Damals waren neun
türkische Aktivisten an Bord des Schiffes »Mavi Marmara« getötet worden.
Die Attacke am Flughafen könnte ein
»Präventivschlag gegen eine mögliche
Geheimdienstkooperation zwischen
der Türkei und Israel gegen den IS« gewesen sein, mutmaßte die Kolumnistin
der Tageszeitung Hürriyet Daily News,
Barcin Yinanc.
Tatsächlich hat das Abkommen mit
Israel bereits zu Spannungen zwischen
Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan
und ihm bislang nahestehenden islamistischen Kreisen geführt. Ins Fadenkreuz Erdogans geriet die eng mit der
Regierung verbundene »Stiftung für
Menschenrechte, Freiheiten und humanitäre Hilfe« (IHH). Nachdem die
IHH die Einigung, die unter anderem
die Einstellung der Strafverfolgung gegen die an der Kaperung der »Mavi
Marmara« beteiligten israelischen Soldaten beinhaltet, scharf kritisiert hatte,
beschuldigte Erdogan die Organisa­tion,
die Gaza-Flotte 2010 ohne seine Erlaubnis organisiert zu haben. In den
vergangenen Jahren konnte mehrfach
dokumentiert werden, wie Lastwagen
der IHH unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe Waffen für den IS und die
Al-Nusra-Front nach Nordsyrien transportierten – im Auftrag Erdogans.
Siehe Kommentar Seite 8
»Militaristischer Wahn«
Russischer Präsident Putin übt scharfe Kritik an NATO und ruft zu Dialog auf
D
er russische Präsident Wladimir Putin hat am Donnerstag
in Moskau bei einem Treffen
mit den Botschaftern seines Landes
gewarnt, dass die Gefahr eines internationalen Konflikts weiter zunehme. Grund dafür sei der Wettkampf
um die Ressourcen der Welt, »und
einige versuchen, alle Regeln beiseite zu schieben«, so Putin. Russland
sei bereit, Kompromisse zu finden,
die der Schlüssel für die Lösung der
globalen Probleme sein könnten, zitierte ihn der staatliche Fernsehsender
RT. »Russland möchte einen offenen
und ehrlichen Dialog mit allen Partnern aufbauen, einschließlich des
Westens«, unterstrich der Staatschef.
Dabei fühle man sich den Normen des
Völkerrechts verpflichtet und zwinge
keinem Land den eigenen Willen auf.
Scharf kritisierte Putin die NATO,
deren Aktionen das Kräftegleichgewicht untergruben. »Russland wird
sich diesem militaristischen Wahn
nicht unterwerfen«, betonte er, auch
wenn die antirussische Stoßrichtung
des westlichen Militärbündnisses immer deutlicher werde. »Die Allianz
versucht nicht nur, aus dem Verhal-
ten Russlands eine Rechtfertigung
für ihre Existenz zu ziehen, sondern
unternimmt auch provokative Schritte
gegen uns«, erklärte er. Man wolle
Russland zu einem teuren und unmöglichen Rüstungswettlauf zwingen.
»Das wird ihnen nicht gelingen, aber
Russland wird auch nicht schwach
sein. Wir werden uns immer zuverlässig verteidigen können und garantieren die Sicherheit Russlands und
seiner Bürger.«
Die NATO will auf ihrem Gipfeltreffen in Warschau am 8. und 9. Juli
die Stationierung von je einem Batail-
lon zusätzlicher Soldaten in vier Nachbarländern Russlands – Polen, Litauen, Estland und Lettland – beschließen. Deutschland will sich beteiligen
und die Führung eines dieser Bataillone übernehmen. Als Reaktion darauf erwägt Russland eine Verlegung
von »Iskander«-Kurzstreckenraketen
in die Exklave Kaliningrad. Moskau
werde die Lage prüfen und eine »effektive, zuverlässige und preiswerte«
Lösung finden, kündigte der russische
NATO-Botschafter Alexander Gruschko am Donnerstag der Agentur Interfax zufolge an. (dpa/jW)
Mehr Soldaten
nach Mali
MICHAEL KAPPELER/DPA-BILDFUNK
Am Wochenende feiern Tausende
Kommunisten und andere Linke
auf dem UZ-Pressefest
New York. Nach Attacken auf UNBlauhelmsoldaten in Mali erweitern die Vereinten Nationen ihre
Mission für Mali (Minusma). Der
UN-Sicherheitsrat beschloss am
Mittwoch (Ortszeit) in New York
eine von Frankreich eingebrachte
Resolution, die 2.500 zusätzliche
Sicherheitskräfte vorsieht. Die Zahl
der internationalen Soldaten und
Polizisten in dem westafrikanischen
Land soll damit auf 15.200 steigen.
Minusma bekomme nun »ein
robusteres Mandat« mit zusätzlichen Truppen, darunter »hoch
spezialisierte europäische Kontingente«, sagte der französische
UN-Botschafter François Delattre.
Die Resolution erlaubt es den
Blauhelmsoldaten in Mali, »alle
notwendigen Mittel« zur Ausübung
ihres Mandats zu ergreifen. Dazu
zählten »direkte Einsätze« gegen
Dschihadisten. Die Bundeswehr ist
seit drei Jahren mit bis zu 650 Soldaten im Rahmen der Minusma im
Einsatz.
(AFP/jW)
Sozialleistungen auf
­Rekordhoch
Berlin. Die Sozialleistungen haben
im vergangenen Jahr in Deutschland ein neues Rekordhoch erreicht. Sie stiegen um knapp fünf
Prozent auf 888,2 Milliarden Euro,
wie aus am Donnerstag bekanntgewordenen Zahlen des Bundesarbeitsministeriums hervorgeht. Im
Jahr 2014 betrug das Sozialbudget
rund 849,8 Milliarden Euro. Die
Sozialleistungsquote – also das
Verhältnis von Sozialleistungen
zum Bruttoinlandsprodukt – lag im
vergangenen Jahr bei 29,4 Prozent.
Die größten Posten im Sozial­
budget waren die Rente mit
282,5 Milliarden Euro und die
Krankenversicherung mit 211,9
Euro. Die Leistungen für die Rentenversicherung hatten im Jahr
2014 noch 270,8 Milliarden Euro
ausgemacht. Ihr Anstieg hängt
auch zusammen mit Leistungsausweitungen wie etwa der Mütterrente oder der Rente mit 63. (AFP/jW)
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