Die Laudatio von Preisstifter Franz Mattig und Jury

GOLDENER CAESAR 2016
Samstag, 25. Juni 2016
ab 11.00 bis ca. 15.00 Uhr
AMMERN 1, 3989 BLITZINGEN
AMOLTREN — WEILER DER WILDEN KIRSCHEN
GOLDENER CÄSAR 2016
Liebe Preisträger, meine Damen und Herren
Wir stehen hier in einem Weiler, den unsere alemannischen Vorfahren vor über 1000 Jahren in
eine Hangmulde hineingebaut haben, die vor Steinschlägen und Lawinen Schutz bietet. Dank
ihrer nachhaltigen Bewirtschaftung steht hier eine Haufensiedlung und keine Streusiedlung, die
kostbares Weideland vergeudet hätte.
Alemannen waren kreative Pioniere, die sich im 9. Jahrhundert ins Hochgebirge vorwagten, um
sich neue Lebensräume zu erschließen. Ammerns Wohn- und Wirtschaftsbauten sind Juwelen,
deren Sinn für Formen, Farben, Proportionen und ästhetische Eleganz unseren Sinnen gefällt
und unseren Geist stimuliert. Diese Siedlung hat Werte für die Gesellschaft gestiftet und
Menschen das Überleben und eine Entwicklung in Geborgenheit offeriert, bis zum heutigen Tag.
Einmaligkeit, Funktionalität, Schönheit und Wertstiftung für die Gesellschaft sind die vier
Hauptkriterien kreativer Werke, die wir berücksichtigt haben, um heute bereits zum 9. Mal den
Goldenen Cäsar zu verleihen. Diesmal geht dieser Preis an Frau Karolin Wirthner und Herrn
Helmut Kiechler, die seit zwei Jahrzehnten diesen Weiler nicht nur erhalten, sondern mit
Imagination, Mut und viel Arbeitseinsatz im Sinne einer zukunftsträchtigen Entwicklung hegen
und pflegen.
Der Dichter Guy de Maupassant, der zu den größten französischen Schriftstellern des 19.
Jahrhunderts zählt, ließ sich 1877 in Leukerbad zu einer Novelle inspirieren. Er schrieb mal voller
Sarkasmus: "Toutes les choses se répètent sans cesse et lamentablement." Tatsächlich
wiederholen sich viele Dinge auf beklagenswerte Weise. Aber es gibt auch Dinge, die sich auf
bewundernswerte Art und Weise repetieren. Zu dieser Kategorie gehört, wie Frau Karolin
Wirthner und ihr Lebenspartner Helmut Kiechler diesem Weiler neues Leben eingehaucht und
damit eine Pionierleistung erbracht haben, die in der Schweiz für viel Respekt und Bewunderung
sorgt. Wir hoffen, dass diese Leistung junge Menschen dazu inspirieren wird, neue Wege einer
sinnvollen Lebensgestaltung abseits der Trampelpfade etablierter Berufskarrieren zu
beschreiten.
Spezifische Formen der Wiederholung bezeichnet die Wissenschaft als strange loops, seltsame
Schleifen. Darunter versteht man komplexe Entwicklungspfade, die nach einer Reihe von Aufund Abstiegen, völlig unerwartet dort enden, wo sie begonnen haben. Die Geschichte von
Ammern hat im Verlauf der Zeit mehrere seltsame Schleifen gedreht.
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Vom Ziegenhirt zum Kurator
Seit 1960 versorgte Dr. Hermann Wirthner, Karolins Vater, während 37 Jahren als
Allgemeinpraktiker das Obergoms. Geburtshilfe, Zähne ziehen, Eingipsen gebrochener Knochen,
psychologische Betreuung depressiver Menschen und Sterbebegleitung gehörten zu den
Aufgaben, denen ein Landarzt gerecht werden musste. Die 60er Jahre waren eine Zeitperiode
der zunehmenden Landflucht. Die traditionelle Landwirtschaft rentierte nicht mehr. Junge
Menschen benahmen sich wie Ziegen, die überzeugt sind, dass das Gras jenseits des Lattenzauns
immer grüner und saftiger ist als diesseits des Zaunes. Apropos Ziegen, als Bub war Dr. Wirthner
Ziegenhirt von Blitzingen, sammelte jeden Morgen die Ziegen ein — von Bodmen jenseits des
Rottens über Blitzingen bis zu den drei Weilern, die wir hier sehen: Ammern, Gadmen und Wiler
— und trieb sie den Berg hinauf, um sie dort oben zu hüten.
Frau Hedwig Mutter war die letzte Bewohnerin, die im Jahr 1965 Ammern verließ. Eines Tages
bot man Dr. Wirthner an, hier ein Wohnhaus zu kaufen. Er ließ sich die Chance nicht entgehen,
den Hierarchiesprung vom Ziegenhirt, der zuunterst auf der gesellschaftlichen Statusleiter stand,
hinauf zum Hausbesitzer zu wagen. Mit den Jahren konnte er seinen Besitz arrondieren. Ammern
wuchs ihm immer mehr ans Herz. Doch er wurde älter, wurde schwer krank und fragte sich
häufig, was nach seinem Tod aus diesem Weiler wohl werden sollte.
Da kamen eines Abends Karolin und
Helmut zu ihm, während er sich hier im
Garten auf einem Liegestuhl ausruhte,
und machten ihm ein Angebot. Dieses
war so toll, dass der schwerkranke Arzt
aufsprang und wie ein junges Reh
herumhüpfte. Am nächsten Morgen lag
er, den Walliser Boten in der Hand, tot im
Bett. Was war passiert? Etwas, was gar nicht so selten ist: nämlich, dass ein schwerkranker
Mensch plötzlich jemanden trifft, der ihm eine große Bürde von den Schultern nimmt, worauf er
findet, dass er nunmehr sorgenfrei ins Jenseits verreisen kann.
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Geburt eines Grundkonzepts
Karolin und Helmut hatten Dr. Wirthner einen Entwicklungsplan unterbreitet, der wie ein
Tabouret auf drei Beinen stand. Erstens: Landwirtschaft; Zweitens: Sanfter, nachhaltiger
Tourismus mit Vermietung von Ferienwohnungen; Drittens: Kunstgewerbliche Aktivitäten.
Lassen Sie mich mit dem dritten Standbein beginnen, mit den kunstgewerblichen Kompetenzen
und Aktivitäten der beiden Betreiber des Bio-Betriebs Ammern. Karolin Wirthner hatte eine sehr
solide Ausbildung als Restauratorin und Vergolderin absolviert, hat dann zwei Jahre lang an der
Restauration des Portals des Berner Münsters gearbeitet und inzwischen viele Altare und
Fresken in Kapellen und Kirchen hier im Goms restauriert. Helmut Kiechler, der aus einer
Bauernfamilie stammt, arbeitete 7 Jahre lang als Hirt und Alpsenn, hat eine zweijährige Anlehre
als Zimmermann und anschließend eine dreijährige Ausbildung als Tierpräparator in Evolène
absolviert. Er hat 15 Jahre lang in Münster ein eigenes Atelier betrieben, bevor er sich hier in
Ammern als Landwirt und Handwerker zu betätigen begann, während sich Karolin vor allem um
die Organisation und das Management kümmerte.
Mit anderen Worten, unsere Preisträger sind professionelle hochkompetente Leute, die erst
noch über eine Zivilcourage verfügen, die selten ist. Im Jahr 1990 hat die hochkreative afroamerikanische Poetin, Schriftstellerin und Filmschauspielerin Maya Angelou am Internationalen
CREANDO Zermatter Symposium betont: " Zivilcourage ist die kostbarste Tugend, die es gibt.
Ohne Zivilcourage kann man keine andere Tugend anständig ausüben." Das stimmt. Wer nicht
den Mut hat, täglich erneut die Zähne zusammenzubeißen und Hindernisse zu überwinden, die
uns der Herrgott oder der Teufel in den Weg gelegt haben, wird keine außergewöhnlichen
Leistungen erbringen können.
Über das zweite Standbein, den nachhaltigen Tourismus im kleinen Rahmen, werden Sie
während der anschließenden Führung mehr erfahren.
Zum dritten Standbein: Zu Beginn ihrer Tätigkeit in Ammern haben Karolin und Helmut mit dem
Aufbau der Landwirtschaft begonnen. Die Grundidee war, hier in Ammern einen
Ressourcenspeicher der Biodiversität aufzubauen: Vielfalt der Ökosysteme, Artenvielfalt und
genetische Vielfalt. Heute bewirtschaftet das Paar 20 Hektaren Land. Hier wächst Walser Roggen
— ein schönes Beispiel für eine seltsame Schleife, denn Gommer Roggensamen sind seinerzeit
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mit den Walsern ausgewandert, später sind sie wieder hier in Ammern gelandet. Hier gedeihen
zudem Flachs, Sommerhafer, Suppenerbsen, Suppengerste und Winterroggen aus dem Goms
sowie Kartoffeln und Ackerbohnen aus dem Lötschental.
Im Verlauf der Jahre hat man hier in Ammern das Saatgut von wenigen hundert Gramm auf 50 100 kg pro Jahr vermehrt; aus 10 Stück Lötschentaler Kartoffeln sind inzwischen pro Jahr ca. 800
kg geworden.
In einer 3-Felderwirtschaft pflanzt man hier im Turnus Gersten, Roggen und Kartoffeln an, so
dass sich der Ackerboden jeweils erholen kann.
Und nun zur Vieh- und Kleinviehhaltung. Der Mitte des 18. Jahrhunderts geborene britische Poet
und Maler William Blake hat geraten, man solle die Welt in einem Sandkorn erkennen. Ammern,
früher übrigens Amoltren genannt, was 'wilde Kirschen' bedeutet, ist ein Mikrokosmos, der das
Universum des Lebens widerspiegelt.
Dieser Weiler wird von Gänsen bewacht, deren Vorfahren bereits das Kapitol des Römischen
Reiches beschützten und Alarm schlugen, als anno 387 v.Chr. die Kelten, die vierhundert Jahre
lang auch das Wallis beherrschten, unter ihrem Führer Brennus die Stadt am Tiber überfielen.
Hier in dieser Hangmulde laufen heute Appenzeller Barthühner herum, die zu den vier Ursorten
der Schweizerhühner gehören. Ihr Bart schützt sie vor Kälte, und sie liefern Eier mit einem
intensiven Eigelb, dessen Qualität anspruchsvolle Köche begeistert.
Eine weitere seltsame Schleife ist die Mehrstufenwirtschaft, auch
Transhumanz genannt, welche die halbnomadische Lebensweise
der alten Alemannen weiterführt. Die Bewirtschafter von
Ammern haben sich seinerzeit für die Zucht der Evolèner
Viehrasse entschieden. Dass diese im Wallis überhaupt überlebt
hat, zeigt einmal mehr, wie Imagination und Zivilcourage sich
ergänzen müssen, damit zukunftsträchtige Strategien Erfolge
produzieren können.
Das Schicksal der Evolènerrasse, hat interessanterweise auch mit
einem Vulkanausbruch in Indonesien zu tun — was wieder mal
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beweist, dass vernetztes Denken und das Begreifen komplexer Zusammenhänge kein Luxus
sondern eine Notwendigkeit sind.
Im Jahre 1815 brach auf Sumatra der Tambora-Vulkan aus und zwar mit einer geschätzten
Sprengkraft von 170.000 Hiroshima Atombomben. Beim Tambora-Ausbruch gerieten Milliarden
Tonnen Asche in die Atmosphäre, verdunkelten während Jahren die nördliche Halbkugel der
Erde, brachten Missernten, Hungersnot und Krankheiten mit sich und forderten zahllose
Todesopfer. Das Jahr 1816 ging als "Jahr ohne Sommer" in die Geschichte ein. Regenfälle,
Hagelstürme und extreme Schneefälle verursachten Lawinen und Gletschervorstöße, die
beispielsweise im Val de Bagnes zu einem Stausee führten, dessen Ausbruch massivste
Umweltschäden produzierte: 50 Todesopfer waren zu beklagen, 500 Gebäude und 15 Brücken
wurden zerstört.
Der Tambora-Vulkanausbruch verursachte Missernten, Hungersnöte, Seuchen an Mensch und
Vieh — und, mit etlicher Verspätung, endlich auch behördliche Maßnahmen, um weiteren
Hungersnöten vorzubeugen. Die Walliser Regierung beschloss im Jahr 1848, dass man künftig
größere Eringerkühe züchten müsse, um mehr Fleisch zu produzieren und punkto Ernährung
autark werden zu können. Gesagt, getan.
Im selben Jahr entstand eine neue Bundesverfassung, die den Staatenbund Schweiz in einen
Bundesstaat umwandelte. Das Oberwallis stimmte gegen die neue Bundesverfassung, im Goms
verwarf man sie sogar mit 438 Nein gegen 8 Ja! Eine Folge der neuen Bundesverfassung war,
dass Ammern seither keine politisch autonome Gemeinde mehr ist.
Die Oberwalliser verwarfen nicht nur die neue Bundesverfassung, sie rebellierten auch gegen
den Beschluss der Walliser Regierung, die Evolènerrasse zu eliminieren. Sie wussten nämlich aus
langer Erfahrung: Wem Gott ein Amt gibt, dem raubt er manchmal den Verstand.
Was die Rebellen punkto Verlust der Artenvielfalt voraussagten, traf prompt ein: Das Gommerli,
Vorfahrin der heutigen Braunviehrasse, sowie die Lötschentaler- und Val d'Illiez Rasse starben
aus. Die Rebellen wollten der Evolèner Rasse dasselbe Schicksal ersparen. Sie wussten, dass die
viel schwereren Eringerkühe auf den Weiden im Hochgebirge nicht mehr über Stock und Stein
klettern konnten und die Züchter der Evolènerkühe deshalb einen Viertel ihrer Alpweiden
verlieren würden.
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Inzwischen leben hier in Ammern 12 Exemplare der Evolèner-Rasse, nicht das ganze Jahr
sondern im Halb-Nomadenmodus der alten Alemannen. Im Winter lebt das Vieh ca. 6 Monate im
Stall und hat 4 Stunden pro Tag freien Auslauf, um Licht zu tanken und seinem Bewegungs- und
Explorationsinstinkt zu frönen. Ab Mai beginnt dann der Weidegang. Im Juni marschiert das Vieh
hinauf zur Bale-Bine, einer Voralp auf der südlichen Talseite vis-à-vis Münster. Gegen Mitte Juli
erfolgt die Alpauffahrt. Die Kühe traben ins Äginetal am Nufenen, die Kälber ins Merezenbachtal
zwischen Geschinen und Münster. Im Herbst kommt das Vieh — nach einem kurzen
Zwischenhalt in Münster, da Karolin und Helmut sich eine Woche Ferien auf der Hochjagd
gönnen — zurück nach Ammern. Hier weidet das Vieh, bis der Schnee fällt. Dann kommt es in
den Stall, und eine neue seltsame Schleife beginnt.
Schließlich möchte ich noch erwähnen, dass es im steilen Gelände oberhalb des Weilers ein mit
Drahtzäunen umgebenes Gehege gibt, in dem 12 Hirsche die Vergandung der Landschaft
verhindern. Ihr Fleisch ist eine wertvolle Einkommensquelle. Da nur 7% des Hirschfleisches, das
in der Schweiz konsumiert wird, aus dem Inland stammt, ist es wertvoll, dass hier in Ammern ein
derartiges Pionier-Projekt besteht, das von einem Wildbiologen mit fachmännischem Rat
begleitet wird.
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Das Spiel der seltsamen Schleifen hat für die Evolèner-Rasse vor
Jahrtausenden im Halbdunkel von Mythos und Mysterienkult
begonnen.
Vor ca. 5000 Jahren herrschte im Mittelmeerraum ein Matriarchat, dessen Hohepriesterinnen
der aus Phrygien, in der heutigen Zentraltürkei, stammenden Göttin Kybele huldigten. Kybele
war die Erdmutter, Mutter aller Gottheiten und Schutzpatronin des Viehs. Im Mysterienkult der
Kybele spielten Stierrituale eine zentrale Rolle. Auf den herrlichen Fresken der in Knossos auf der
Insel Kreta ausgegrabenen Paläste sieht man Szenen, auf denen junge Männer in einer Arena
völlig unbewaffnet auf heranrasende Stiere springen und auf deren Rücken einen Salto schlagen
oder todesmutige Pirouetten drehen. Diese Stiere sind braunweiß oder kastanienweiß gefleckt
wie das Vieh der Evolènerrasse. Ist das reiner Zufall?
Als die Römer im zweiten Punischen Krieg, zwischen 218-202 v. Chr., drauf und dran waren,
ihren Kampf gegen den Feldherrn Hannibal zu verlieren, begriffen sie, dass ihre Götter nicht
mehr stark genug waren, um sie gegen ihren Erzfeind Karthago zu beschützen. Deshalb bauten
sie auf dem Palatin, dem ältesten bewohnten Hügel von Rom, der Erdmutter Kybele einen
Tempel und adoptierten deren Stierkult. Bald darauf verließ Hannibal mit seinen Elefanten
Italien. 50 Jahre später gelang es den Römern, Karthago dem Erdboden gleichzumachen.
Als die Römer um 40 v. Chr. ins Wallis eindrangen, brachten sie den Mysterienkult der Kybele
und damit auch deren Stierrituale mit. Le taureau tricorne, den man in Martigny ausgegraben
hat, gleicht sehr stark den Köpfen der heutigen Evolèner Rasse. Bei Ausgrabungen in Augusta
Raurica, östlich von Basel, wo heute die Gemeinde Kaiseraugst liegt, fand man bei Ausgrabungen
Rinderknochen, die ca. 5000-jährig sind. Ihr genetisches Material ist eng verwandt mit dem
Genom der Evolèner-Rasse. Heute leben im Oberwallis noch ca. 160 - 170 Exemplare der
Evolèner-Rasse, 12 davon hier in Ammern.
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Eine seltsame Wirthner-Kiechler Schleife
Gestatten Sie mir bitte, liebe Preisträger und wertes Publikum, dass ich noch eine letzte seltsame
Schleife erwähne. Diese illustriert, dass der englische Begriff strange loop, merkwürdige
undurchschaubare Schleife, eigentlich der bessere Ausdruck für das Phänomen ist, dass ein lang
dauernder Marsch ins Ungewisse, den man als Einwegstraße zu interpretieren pflegt, wieder
dort endet, wo er begonnen hat.
Die Familiensippen der Wirthner und Kiechler wohnten ursprünglich in Blitzingen, und die
Vorfahren unserer Preisträger zogen im Verlauf der Jahrhunderte nach Münster. Inzwischen sind
Karolin und Helmut wieder hier in Ammern gelandet.
Besonders seltsam ist die Schleife, die das Erbgut von Helmut Kiechler gedreht hat. Ammern wird
erstmals 1374 urkundlich erwähnt. Damals brach in ganz Europa eine epidemische Tanzwut aus,
die man auch als epilepsia saltatoria bezeichnet hat. Es ist nicht ganz klar, was diese Tanzwut
verursacht hat. Gewisse Autoren glauben, sie sei durch eine Lysergsäure-Vergiftung entstanden.
Lysergsäure ist eine halluzinogene Substanz im Mutterkornpilz, der claviceps purpurea, die den
Roggen befällt, der im Mittelalter Weizen und Gerste zu verdrängen begann.
Die Hände und Arme des quirligen Helmut Kiechler sind ununterbrochen in Bewegung. Seine
Redegewandtheit bestätigt das Sprichwort: ex abundantia cordis os loquitur, das Martin Luther
wie folgt übersetzt hat: "Wess das Herz voll ist, dess geht der Mund über". Wenn man Helmut,
mit einem Werkzeug in den Händen, energischen Schrittes durch seinen Besitz marschieren
sieht, fragt man sich unwillkürlich, ob er vielleicht die gleiche Gensequenz besitzt, die seine
Vorfahren anno 1374 dazu veranlasst hat, Ammern zu verlassen und nach Münster zu ziehen.
Aber Spaß beiseite! Gestatten Sie mir zum Schluss bitte noch ein
Wort zum zukunftsträchtigen Wert von Ammern.
Der Weiler der wilden Kirschen liegt in einer Hangmulde, perfekt eingefügt wie ein Diamant in
seiner Fassung. Ammern ist ein Kulturjuwel, für das zukünftige Generationen unseren
Preisträgern dankbarer sein werden, als es heute gewisse Zeitgenossen sind. Hier in Ammern
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werden ökologische Vielfalt mit semi-nomadischer Transhumanz und 3-Felder Wirtschaft ebenso
überleben wie Artenvielfalt in Flora und Fauna, so auch das reichliche Saatgut, das sonst wohl
schon ausgestorben wäre. Hier überleben nicht nur die Zeugen einer herrlichen alemannischen
Architektur, sondern auch seltene Renaissance- und Barockmöbel sowie viele Geräte, die man
früher in der Landwirtschaft und Viehzucht benutzt hat. Und nicht zuletzt überlebt mit Helmut
Kiechler ein höchst wertvoller Wissensschatz über spezifische Methoden und Techniken, die man
eines Tages auf dem Land vielleicht wieder benutzen wird, denn das Leben in den Großstädten
wird für viele Menschen immer weniger attraktiv.
Eine neue seltsame Schleife könnte sehr wohl wieder dazu führen, dass junge Leute das einfache
Landleben im Selbstversorgungsmodus dem passiven Konsumverhalten und der miesen
Ernährung vorziehen, die ein Resultat von Genmanipulation, chemisch verseuchten Erdböden
und Etikettenschwindel sind. Karolin Wirthner und Helmut Kiechler sind Pioniere, die fähig sind,
weit zurück in die Zukunft zu schauen. Das klingt paradox, beinhaltet jedoch eine tiefe Wahrheit.
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Cäsar Ritz und unsere Preisträger im Jahr 2016
Cäsar Ritz, in dessen Geist wir heute zum 9. Mal den Goldenen Cäsar verleihen, wurde in
Niederwald geboren. Das Dörfchen liegt, in der Luftlinie gemessen, genau 2 km westlich von
Ammern.
Als Cäsar Ritz im Hotel Couronne et Poste in Brig seine erste Lehre als Hilfsbursche antrat,
kündigte ihm seine Lehrmeister nach ein paar Tagen und prophezeite: "Aus dir wird nie ein
richtiger Hotelier!" Cäsar Ritz fand sogleich eine Stelle als Faktotum im Kollegium Spiritus
Sanctus. Kurz darauf stellte ihn sein neuer Patron des Kollegiums, ein chronischer Säufer, mit den
Worten vor die Tür, er sei zu wenig fromm und man sehe ihn nur selten in der Kirche. Cäsar
bewies, dass er nicht nur über Schlagfertigkeit, sondern auch über Zivilcourage verfügte, denn er
erwiderte, dann bewerbe er sich um die soeben frei gewordene Stelle als Sakristan — die er
auch prompt bekam.
Diese wahre Anekdote erinnert mich an einen oft zitierten Spruch eines alten spanischen
Stierkämpfers, der gesagt hat: Wenn du keine Angst hast, bedeutet es nichts, wenn du in der
Arena gegen einen Stier antrittst. Nicht gegen einen Stier zu kämpfen, bloß weil du vor ihm Angst
hast, ist ebenfalls nichts. Aber in der Arena gegen einen Stier anzutreten, obwohl du vor Angst
zitterst, das ist eine großartige Leistung.
Cäsar Ritz hat später bewiesen, dass er über Zivilcourage, Imagination, Perfektionismus,
Frustrationstoleranz und Durchhaltevermögen verfügte. Deshalb verlieh ihm der damalige Prince
of Wales und spätere König Edward VII. den Ehrentitel: "Le roi des hoteliers, l'hotelier des rois".
Ritz ist noch heute mit Abstand der berühmteste kreative Leader in der Hotellerie. Er hat seine
Karriere als Ziegenhirt in Niederwald begonnen. Dr. Hermann Wirthner hat seine Berufskarriere
als Ziegenhirt in Blitzingen begonnen. Und nicht zuletzt deshalb ist es mir eine große Freude,
dass ich den Goldenen Cäsar heute Karolin Wirthner und Helmut Kiechler übergeben darf, die
mit ihrer Imagination, ihrer Zivilcourage und ihrer intensiven Arbeit hier in Ammern ein kreatives
Pilot-Projekt von hohem Wert realisiert haben, das unsere Anerkennung, unseren Respekt und
unsere Bewunderung verdient.
Autor:
Dr. Gottlieb Guntern, Creando International Foundation for Creativity and Leadership,
Victoriastrasse 15, 3900 Brig
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