24 DISKURS Gemeinschaft herstellen Ein inklusionsorientiertes Projekt von Förderzentrum und Gymnasium Björn Tischler Wie kommen Chor-Schülerinnen und Schüler mit einer geistigen Behinderung musikalisch mit einer gymnasialen Bigband zusammen? Geht das überhaupt? Wie wirkt sich das aus? D as Resultat zeigte der Chor „Rocker des Moorbek“ des Förderzentrums in Norderstedt bei Hamburg eindrucksvoll unter anderem auf der Landes- (Elmshorn 2014) und Bundesbegegnung (Lüneburg 2015) Schulen musizieren, zusammen mit der „Big Bigband“ der Bismarckschule, einem Elmshorner Gymnasium. Es ist sicherlich nicht die erste und einzige Band, in der Jugendliche mit sehr unterschiedlichen intellektuellen und musikalischen Voraussetzungen, mit und ohne Behinderung gemeinsam musizieren. Das Besondere in diesem Fall ist jedoch, dass die musikalischen Aussagen und Impulse zu einem wesentlichen Teil von den Schülerinnen und Schülern mit Behinderung ausgehen, indem sie die Texte ihrer Lieder selbst schreiben. Der musikalische Leiter Johannes Klaue greift die Ideen auf und wählt aus dem Material dann passende Teile aus, um dem thematischen Songwunsch der SchülerIn- MUSIKUNTERRICHT aktuell – 1/2016 nen so gut es geht zu entsprechen. Die Texte entstehen immer gemeinsam. So sagt Schüler Pit zum Beispiel: „Ich möchte ein Lied über meine Gefühle schreiben, wenn ich im Winter morgens im Dunkeln zur Schule gehe und in der Schule alle laut sind oder das Licht so hell.“ Es handelt sich meist um Themen aus dem Alltag und Interessenbereich der Jugendlichen, wie z. B.: Sonne, Leo die Schlang, Texas, Die Birke oder Schule: Ich will heute nicht in die Schule gehen, sondern mich auf die andere Seite drehen. Ich liebe mein Bett - es ist so bequem. Da muss ich keine strengen Lehrer sehen. Heute bleibe ich zu Haus – Haus und schlaf mal richtig aus – aus. Meine Mutter sagt, ich sollte mal wieder raus – raus, doch es sieht nach Graupelschauern aus. Anschaulich beschreibt Johannes Klaue den Prozess von der Idee zum Lied: „Mit dem [jeweiligen, der Verf.] thematischen roten Faden holen wir uns dann von jedem seine Meinung bzw. Gefühle zu dem Thema ein. Daraus bastele ich dann die Zeilen für den Text. Die Endreime für die Zeilen suchen wir gemeinsam. Wenn es da mal nicht weitergeht, helfe ich. Die Endreime sind besonders wichtig für die sprachlich eingeschränkteren Mitglieder, da sie sich daran gut im Song orientieren können. Über einzelne Strophen wird abgestimmt, ob sie so gut sind und wir sie behalten. Am Ende nehmen wir ein Demo von dem ‚rohen‘ Song auf und lassen ihn erstmal sacken. Dann proben wir ihn und testen schließlich bei Auftritten, wie er vor Publikum funktioniert und machen dann den letzten Feinschliff. In regelmäßigen Abständen nehme ich die neuen Titel in meinem kleinen Homestudio auf (Gitarre und Gesang, nur von mir) und mache daraus Übungs-CDs, die die Schüler/innen zum Üben für zuhause erhalten.“ Harmonische und melodische Riffs bilden die Basis für eine rockig-ausgerichtete Musikalisierung der Schülertexte. Die Gitarrenbegleitung bietet den rhythmisch-harmonischen Rahmen und damit die musikalische Orientierung. Die Teilnahme an der Musikgruppe des ganztägig arbeitenden Förderzentrums ist freiwillig. Dieses Wahlangebot findet einmal in der Woche statt. Die Verbindung zwischen Förderzentrum und Gymnasium reicht bis in die eigene Schülerzeit der beiden musikalischen Leiter, wie Johannes Klaue berichtet: „André Brendemühl (Musiklehrer an der Bismarckschule) und ich haben als Jugendliche im Jugend-Sinfonie-Orchester Ahrensburg und in derselben Swing-Band gespielt. Er als großartiger Saxophonist, ich als Paukist/Schlagzeuger. Über ‚Schulen musizieren‘ haben wir dann das aktuelle Schaffen gesehen. Ich war geflasht von der Energie und Bewegung, die bei den Auftritten von Andrés Big Band am Start ist. Er mag die Lebenswelt der Förderschüler, die in unseren Texten zu finden ist.“ Damit war eine Grundlage geschaffen, ein gemeinsames musikalisches Projekt anzugehen; da es wegen der größeren Entfernung der beiden Schulen nicht immer möglich war, auch räumlich zusammenzukommen, liefen Detailabsprachen vielfach über Facebook; Übungs-CD’s gaben eine zusätzliche Orientierung. Handelt es sich hierbei bereits um die vielfach beschworene Inklusion, wo beide Gruppierungen weder in einer „Schule für alle“ noch in einer Klasse gemeinsam unterrichtet werden? Das inklusive Miteinan- der ist in jedem Fall nicht damit gegeben, sche Basis bilden die Lieder der Schülerinbehinderte und nicht-behinderte Lernende nen und Schüler des Förderzentrums. Die in einer Klasse, in einem Klassenraum zu Gymnasiasten bespielen, umspielen die haben. Das kann auch zu einem Nebeneineinzelne Songs im Bigband-Sound. Als Zuander führen, wie es teilweise noch in sogehörer und Zuschauer gewinnt man schnell nannten integrativen Klassen vorherrscht. den Eindruck gegenseitiger Bewunderung: Individuelle Förderung und soziale Teilhier die souverän spielenden Bläser, dort habe als Charakteristikum von Inklusion die in und mit ihren Liedern lebenden kann durchaus auch Trennung bedeuten. SängerInnen, mit einer unbeschreiblichen Mitunter ist sie sogar sinnvoll, gerade unter Innigkeit, Direktheit und Ausdruckskraft. dem Aspekt der peer-gDass die Perfektion roup und den ihr eigenen dabei nicht im VorInteressen und Ansprüdergrund steht, ja steEs sind emotional-soziale chen. In unserem Fall hen kann, verringert Ebenen, die über das kommen die genannten keineswegs den mumusikalische Erleben Gruppen nicht nur aus sikalischen Wert solhinaus angesprochen unterschiedlichen Schucher Darbietungen. werden und eine len, ja Schularten, sonEs sind emotionaldern überdies aus zwei Gemeinsamkeit herstelsoziale Ebenen, die ca. 30 km voneinander len, bei der jeder über das musikalische entfernten Städten. von jedem auf seine Erleben hinaus angeMan könnte von einem Weise lernen und sprochen werden und kooperativen Projekt profitieren kann. eine Gemeinsamkeit oder Vorhaben spreherstellen, bei der chen, aus dem sich durch jeder von jedem auf intensivierende Kontakseine Weise lernen te ein inklusiver Prozess und profitieren kann. entwickelt. Jede Gruppe bleibt bei ihrem Lassen wir abschließend noch einmal Jomusikalischen Interesse und Anspruchshannes Klaue zu Wort kommen: niveau. Durch geschickte Arrangements „In den gemeinsamen Proben erinnere ich werden beide doch sehr unterschiedlichen eine Szene, in der eine meiner Sängerinmusikalischen Ebenen zusammengeführt, nen irgendwann ganz kleinlaut wurde und ohne das jeweils Eigene aufgeben zu müssich merklich in sich zurückzog. Als ich sie sen. Vielfach werden Bands als inklusiv fragte, was denn los sei, meinte sie, es wä„verkauft“, in denen Kinder oder Jugendren so viele Leute, so eine große Gruppe liche mit einer Behinderung in eine gut … da würde sie sich ganz klein fühlen. Das funktionierende Band integriert und dort bekamen ein paar Bismarckschülerinnen mitunter minimalistisch eingesetzt werden. mit, die daraufhin von ihren Momenten, Hier ist es genau umgekehrt. Die musikaliin denen sie sich klein und allein fühlten, erzählten. Geschickt verstanden es die Bismarckschülerinnen, unserer Sängerin wieder ein Geborgenheitsgefühl und Entspanntsein zu vermitteln. So konnte die Probe weitergehen. Ich denke dieses Beispiel verdeutlicht am besten den Effekt, den unser Projekt hatte. Alle Beteiligten hatten und haben Freude an der gemeinsamen Musik und an der Musik des anderen. Durch das gemeinsame Arbeiten sind die Lebenswelten der beiden Schülergruppen, teilweise unbemerkt, etwas näher aneinander gerückt. Das Wort ‚Inklusion‘ konnten wir vermeiden. Ich habe auch eher den Eindruck, dass es André und mir um etwas geht, was ich einfach ‚Gemeinschaft‘ nennen möchte.“ © Björn Tischler © Björn Tischler Gemeinschaft herstellen BUNDESVERBAND MUSIKUNTERRICHT MUSIKUNTERRICHT aktuell – 1/2016 25
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