Als PDF öffnen

SCHWERPUNKT
Sitzengeblieben?
Einladung zu einer ressourcenorientierten Betrachtung
des Berliner Schulwesens
P. TOBIAS ZIMMERMANN SJ
Berliner Schulen sind schlecht, so lautet ein
deutschlandweites Credo! Es begegnet zum
Beispiel bei Eltern, die nach Berlin ziehen und
sich sorgen, ihre Kinder könnten hier ins Bildungsabseits geraten. Daran ändert sich nichts, wenn die „PISAner“ mal
leichte Verbesserungen vermelden. Wie bei schulischen Karrieren entscheidet
über die Ausbildung guter Resilienz auch in Institutionen nicht zuletzt die
Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit den selbstgemachten Ursachen von
Misserfolgen. Die Larmoyanz, mit der in Berlin gern auf externe Ursachen,
wie auf die fehlende finanzielle Ausstattung, auf den hohen Anteil von Kindern mit nichtdeutscher Herkunftssprache verwiesen wird, ist weder hilfreich, noch zeugt sie von Wahrhaftigkeit. Die angeblich für den Erfolg von
Schulen so entscheidende Schüler-Lehrer-Relation ist in Berlin in manchen
Geboren 1967 in München,
seit 2011 Rektor des CanisiusKollegs, Berlin.
65
Nr. 538, Mai/Juni 2016, 61. Jahrgang
Schwerpunkt
Schularten luxuriöser ausgestattet als vielerorts. Und die Integrationsleistungen, die Schulen in anderen Bundesländern abverlangt werden, sind nicht
geringer als jene in Berlin. Die nah am Komplex siedelnde Großspurigkeit
mancher Hauptstädter befeuert – verstärkt durch diese selbstmitleidigen
Lebenslügen – das hämische Urteil von außen: Flughafenplanung, der Baueklat um die Staatsoper Berlin, Schule … „die können das halt nicht!“ Kennt
man eine ähnliche Konstellation von Vorurteilen und Resignation nicht aus
der Schule? Ist das Berliner Schulwesen also sitzengeblieben und abgehängt?
Vielleicht hilft ein Perspektivwechsel, weg vom defizitorientierten
Blick, der viele Lehrende demotiviert, hin zu einer neuen Blickrichtung:
Wo liegen Ressourcen? Wie können die für einen Change-Prozess entscheidenden Kräfte eingebunden und motiviert werden?
LUXUSENKLAVEN FÜR KINDER REICHER ELTERN?
In Berlin besuchen über 27.000 Kinder und Jugendliche eine allgemeinbildende Schule in freier Trägerschaft. Das sind mehr als zehn Prozent der
Schüler/-innen an allgemeinbildenden Schulen. „Freie“ Träger leisten einen
wesentlichen Beitrag, damit der Zuwachs an Schülern/Schülerinnen bewältigt wird. Nur die Gestrigen reden von „Privatschulen“ und denken an teure
Luxusenklaven für die Kinder besser verdienender Eltern. Wo aufgrund von
Vorurteilen freie Träger nicht einbezogen werden, bleibt sehr viel Elternengagement, bleiben pädagogische Kompetenzen mit eigenen Akzenten und viele
Zugänge zu Netzwerken zivilstaatlichen Engagements brach liegen. Das muss
man sich leisten können!
Die wachsende Einsicht in Bildungspolitik und Bildungsverwaltungen,
dass eine Einbindung aller Kräfte im Schulsystem nötig ist, zeigt sich darin,
dass das Brennpunktschulprogramm für freie Träger geöffnet wird und der
Senat auf die freien Träger zukommt, um sie in die Bewältigung der Flüchtlingsbeschulung einzubeziehen. Für die meisten freien Träger entspricht es
ohnehin dem Selbstverständnis, am Gemeinwohl eines leistungsfähigen
Schulsystems und an der Verbesserung der Bildungschancen für alle jungen
Menschen mitzuarbeiten. Die Zusammenarbeit von Verwaltung und freien
Schulträgern an einem transparenteren Modell zur Refinanzierung von Schulen in freier Trägerschaft schafft Verständnis füreinander und für die vielfältige Wirklichkeit Berliner Schulen. Und doch staunt der Unternehmer, der
ich als Vertreter eines Freien Trägers auch sein muss, dass der Staat weiterhin
meint, Kosten ignorieren zu können, zum Beispiel für die Entwicklung und
Verwaltung von Immobilien und auf dem Feld der Deckung von Pensionsansprüchen. Am Ende aller Berechnungen wird sich die Gretchenfrage stellen, was der Preis der „Freiheit“ ist, welche Kosten den „Freien“ also nicht
rückerstattet werden. Daran zeigt sich auch, welche Bedeutung der Staat zivil-
66
Die Politische Meinung
Sitzengeblieben?, P. Tobias Zimmermann SJ
gesellschaftlichem Engagement bei der Bewältigung der Herausforderungen
einer qualitätsvollen Schulbildung in Berlin beimisst. Die freien Schulen verdienen eine „faire“ Kostenerstattung! In der Freiheit zur Gestaltung leisten
sie einen wichtigen Beitrag zur Bildung in Berlin und damit zugleich zur
Integration.
DIVERSITÄT ALS CHANCE FÜR DAS BILDUNGSSYSTEM
„Ich kann ‚Integration‘ nicht mehr hören“, sagte kürzlich der im Westjordanland geborene Berliner Fraktionsvorsitzende der SPD, Raed Saleh. Das kann
man ihm nicht verdenken, wenn man sich klarmacht, dass auch die Enkel dieses deutschen Politikers in Bildungsstatistiken – zumindest Stand heute –
noch als Schüler „mit Migrationshintergrund“ erscheinen werden. Die Betrachtung der Absurditäten eines oberflächlichen Integrationsimages im
Bildungssystem lässt sich vertiefen: Wie müsste eigentlich eine Integrationsleistung des Bildungssystems im Blick auf jene selbsternannten Patrioten aussehen, die infolge eines offensichtlichen Mangels an Beheimatung in deutscher Geschichte die von dem NS-Widerstandskämpfer Josef Wirmer
entworfene Kreuzflagge schwenken, während sie ernsthaft vor der Islamisierung des christlichen Abendlands warnen?
Mir scheint, dass wir im Bildungssystem vor einem Generationenprojekt
stehen wie zuletzt nach dem Zweiten Weltkrieg. Gerade deshalb und trotz des
Problemdrucks sollten wir uns Zeit nehmen, die Vorzeichen richtig zu setzen.
Geht es wirklich „nur“ um die Integration einer Gruppe junger Menschen in
eine homogene Mehrheitsgesellschaft? Ergibt sich nicht gerade die Chance,
das Schulsystem auf einen tief greifenden Kulturwandel vorzubereiten?
Künftig müssen – und zwar nicht erst aufgrund der Ankunft von Flüchtlingen – junge Menschen auf Begegnung und Kooperation in einer von Diversität geprägten Gesellschaft besser vorbereitet werden. Berlin, das sich als internationale Drehscheibe versteht, hat das Potenzial, Zukunftslabor zu werden.
Die Schulen sind längst mit den Folgen der Mobilität von Elternhäusern konfrontiert. Internationalität in der Bildung könnte substanzieller gedacht werden als die bloße Vermittlung guter Englischkenntnisse. Dazu gehören Fragen wie diese: Wie findet man vor dem Hintergrund pluraler Werteordnungen
einen gemeinsamen Wertekonsens, der nicht nur den kleinsten gemeinsamen
Nenner markiert? Wie entwickelt man eine gemeinsame Identität, die nicht
auf der Verdrängung von Kultur und Geschichte der Minderheiten beruht?
Wie ist das zu schaffen? Zunächst müssten Geisterdebatten enden. Bisher werden ganze Milieus als „bildungsfern“ diffamiert. Der Beitrag von Eltern zur Wertebildung ihrer Kinder wird damit komplett negiert. Menschen
spüren Misstrauen. Warum wundert uns ihre Distanz zu unserem Bildungssystem? Studien belegen, dass Immigranten, denen ein lebendiger Kontakt
67
Nr. 538, Mai/Juni 2016, 61. Jahrgang
Schwerpunkt
zu ihrer Herkunftskultur ebenso gelingt wie die Teilhabe an ihrer neuen Heimat, sich stabiler mit der neuen Heimat identifizieren als Menschen oder
Gruppen, die nur über eine der beiden Quellen zur Identitätsbildung verfügen.
Warum binden wir in die konkrete Gestaltung des Bildungssystems nicht
stärker die Erfahrungen und Kompetenzen von Menschen, gesellschaftlichen
Gruppen und religiösen Gemeinschaften ein, die seit Langem in unserer Gesellschaft integriert leben? Auch die erneute Debatte von „Pro-Reli“ ergibt
Sinn: Begegnung mit dem anderen ist nur für Menschen bedrohlich, die in
der eigenen Kultur oder Religion nicht ausreichend beheimatet sind. Deshalb
gehört in einer pluralen Gesellschaft die Auseinandersetzung mit der eigenen
Weltanschauung gerade nicht in die private Nische. Begegnung, die nicht in
Orientierungslosigkeit enden soll, baut auf dem kritischen Wissen um die eigene Identität auf. Das ist der Sinn des konfessionellen Unterrichts im Sinne
des Grundgesetzes. Dass Berlin sich hier ausgeklinkt hat, verdankt es dem
Konsens säkularer Mehrheitsmilieus, die jedoch gerade beunruhigt zu entdecken beginnen, dass die eigene Deutungshoheit wieder verstärkt angefragt
wird. Das alles sollte dazu führen, dass Bildung wieder stärker dahin rückt,
wo sie hingehört, nämlich in die Mitte der Zivilgesellschaft.
Und es braucht mehr als eine standardisierte Schullaufbahn. Nur ein
Schulsystem, das Diversität in der sozialen Wirklichkeit beantwortet mit einer
Vielfalt pädagogischer Optionen und einem hohen Maß an Durchlässigkeit,
die viele Neuanfänge, Umstiege und Möglichkeiten für Schulabschlüsse bietet,
schafft angemessene Möglichkeiten zur Vielfalt der Bildung. Das bedeutet
aber auch, dass sich Gymnasien und leistungsstarke Oberschulen nicht vor
der Aufgabe wegducken können, begabte Schüler unter den Flüchtlingen
möglichst umfassend zu fördern, also gleiche Bedingungen zu gewährleisten.
Alle Schulen und Schularten müssen sich bewegen.
EINSICHT IN EIGENE GRENZEN
Inklusion, Integration, Förderung besonders begabter Kinder – die Aufgaben
der Schulen sind gewachsen. Überlastung wird – wie in Baden-Württemberg –
oft von ideologisch gefärbten Entscheidungen der Politik verursacht: Die
Klassenfrequenzen der Gymnasien werden auf bis zu 33 Kinder erhöht, die
Lehrenden gleichzeitig mit intensiver, individueller Förderung im Namen
der Inklusion konfrontiert. Steht hier auf der hidden agenda nicht eher die
Beseitigung einer ungeliebten Schulart? Auch Berliner Politik liest sich
manchmal so, wenn es um die Einheitsschule, den Einheitslehrer und die
Rahmenbedingungen für Gymnasien geht. Wo immer aber Bildungstechnokraten Schulen vorschreiben, grenzenlos für alle da sein zu müssen, da verliert die Schule die einzelnen Schüler/-innen aus dem Blick und wird sie in
ihren Stärken nicht fordern und in ihren Schwächen nicht fördern können.
68
Die Politische Meinung
Sitzengeblieben?, P. Tobias Zimmermann SJ
Wo das geschieht, werden für abstrakte Visionen die realen Bildungschancen
von Schülerinnen und Schülern und die Motivation von Lehrkräften geopfert.
Zum Gelingen guter Schulbildung gehört, dass Schulen sich Schwerpunkte
setzen (dürfen). Wissenserwerb braucht das Labor, die Selbstbegrenzung und
den Schutzraum. Hier sind freie Träger oft besser aufgestellt als staatliche
Träger. Sie müssen – schon aus wirtschaftlichen Gründen – stärker darauf
achten, die Aufgaben ihrer Schulen nicht zu überdehnen.
Es gibt seit Jahren Anzeichen dafür, dass der Staatsdirigismus im
Schulwesen an seine Grenzen gestoßen ist. Eltern wehren sich gegen die
Sprengelpflicht. Ganze Lehrerkollegien gehen in die innere Emigration.
Es bräuchte einen Mentalitätswechsel.
GUTE BILDUNG ZUR
CHEFSACHE MACHEN
Warum setzen wir nicht auf mehr Eigeninitiative und schaffen entsprechende
Anreize? Das Brennpunktschulprogramm zum Beispiel ist gut, heilt aber nur
offene Wunden. Warum ermutigen wir nicht Schulen in der ganzen Stadt,
sich aktiv um eine buntere Schülerschaft und um geeignete Formen schulischer Förderung unabhängig von Elternhaus und sozialem Umfeld zu bemühen? Lernen in Vielfalt ist eine Grundbedingung guter Bildung.
Dies erfordert allerdings ein verändertes Selbstverständnis von Leitung auf den verschiedenen Ebenen. Schon die Unklarheit, wann die Schulverwaltung in ihrer Aufsichtsfunktion für die Qualität des gesamten Schulsystems auftritt und aus welchen Maßnahmen der staatliche Schulbetreiber
spricht, ist nicht hilfreich. Eine klare Rollentrennung von Aufsicht und Schulbetreiber wäre ein wichtiger Schritt. Die Entwicklung von Potenzialen in den
Schulen, aber auch Selbstbegrenzungen gelingen nur, wo Schulleitung auf
der Basis klarer Kompetenzen ausgeübt und in die strategische Planung ihres
Schulstandortes einbezogen wird. Derzeit sind die Anreize, beginnend beim
Lohngefälle bis hin zum Mangel an Gestaltungsspielräumen, so gesetzt, dass
es sich nicht lohnt, in Schulen Leitungsverantwortung zu übernehmen. Einzelne Lehrende oder ganze Kollegien sehen sich oftmals mit unmöglichen
Situationen alleingelassen. Ein Change-Prozess unter diesen Vorzeichen
kann nicht gelingen. Dabei hat Berlin viele sehr motivierte, sehr engagierte
und kompetente Lehrende. Dieses Personal gilt es zu stärken und weiterzuentwickeln. Eltern, Lernende und Lehrende verdienen als Gegenüber ein
Führungspersonal, das Verantwortung übernimmt und Gestaltungsspielräume ausmisst. Eine sinnvolle Führungsstruktur setzt jedoch voraus, dass
Bildungspolitik wieder zur Chefsache wird in den Parteien. Kennen Sie einen
wirklich profilierten Bildungspolitiker, seit Annette Schavan das Feld verlassen hat?
69
Nr. 538, Mai/Juni 2016, 61. Jahrgang