Das Risiko wird massiv unterschätzt

INTERVIEW
„Das Risiko wird massiv unterschätzt“
Stefan Bielmeier, Chefvolkswirt der DZ Bank, erklärt, welche Folgen ein Austritt Großbritanniens
aus der EU nach sich zieht, warum die EZB nicht eingreifen kann und was Anleger jetzt tun sollten
FOCUS-MONEY: Wie wahrscheinlich ist ein Brexit?
Stefan Bielmeier: Ich rechne mit einer Wahrscheinlichkeit
des Austritts von 40 Prozent.
MONEY: Das verspricht wohl unfreiwillig Spannung.
Bielmeier: Die Unsicherheit ist sehr, sehr groß. Laut den
jüngsten Umfragen deutet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen
der Befürworter und Gegner eines Austritts an. Erschwerend
kommt hinzu, dass sich weiterhin ein relativ hoher Anteil der
Briten noch keine Meinung gebildet hat. Das vergrößert die
Unsicherheit und erschwert eine Prognose.
MONEY: Wie spiegelt sich denn die Stimmungslage in den
Aktien- und Anleihenmärkten wider? Ist der größte Schrecken mittlerweile eingepreist, oder wird das Risiko eines Brexit unterschätzt?
Bielmeier: Meiner Meinung nach wird das Risiko massiv unterschätzt von Seiten der Märkte als auch von den Wählern.
Nichts davon ist im Aktien- oder Anleihenmarkt eingepreist. Es
sieht danach aus, als ob niemand den Brexit auf dem Schirm
hat. Selbst an den Währungsmärkten tut sich kaum etwas Außergewöhnliches.
MONEY: Was passiert denn beispielsweise mit dem britischen
Pfund im Austrittsfall?
Bielmeier: Gegenüber dem US-Dollar und dem Euro sollte
das britische Pfund deutlich abwerten.
MONEY: Wen träfen die Folgen des Austritts denn am härtesten: Großbritannien oder die EU?
Bielmeier: Es kommt darauf an, wie der Brexit ausgehen würde. Man darf nicht vergessen, dass Großbritannien im Fall einer Entscheidung für ein Verlassen der EU zunächst noch Teil
der Staatengemeinschaft bleibt. Innerhalb von zwei Jahren ließe sich dann ein Austritt vereinbaren. Allerdings gibt es eine
Vielzahl von bilateralen Verträgen, die neu verhandelt werden
müssten. Kommt es zu einer konstruktiven Verhandlungslösung, sind die Folgen für Großbritannien, die EU und Deutschland gering. Das Problem, das dieses Szenario in sich birgt,
ist, dass es viele Nachahmer in der EU geben könnte.
MONEY: Inwiefern?
Bielmeier: Unter diesen Umständen sähe es so aus,
als sei ein Austritt aus der EU sehr attraktiv. Staaten
treten aus, haben gegenüber der EU kaum mehr Verpflichtungen, genießen auf Basis der neu ausgehandelten Verträge allerdings weiterhin viele Vorteile
eines Mitgliedsstaats – beispielsweise in Sachen Zollabkommen. Das würde die EU auf
doppelte Weise schwächen: Innenpolitisch
würde der Zusammenhalt der Mitgliedsstaaten leiden, außenpolitisch würde das
Gewicht der EU erheblich abnehmen.
MONEY: Kehren wir wieder zu den Zuständen zur Hoch-Zeit der Euro-Krise
zurück, als Hedge-Fonds auf den Austritt einzelner Staaten wetteten.
bleib Großbritanniens sollte hingegen die
Aktienmärkte beflügeln.
Stefan Bielmeier: Der Chefvolkswirt der DZ Bank zeichnet
für den Bereich Research und
Volkswirtschaft verantwortlich
Bielmeier: Das kann durchaus
passieren, insbesondere, wenn
FOCUS-MONEY 25/2016
die Renditen für Staatsanleihen wieder ansteigen. An eine
gütliche Verhandlungslösung glaube ich ohnehin nicht. Daran hat die EU auch nur ein geringes Interesse. Sie muss sich
genau überlegen, welche Zugeständnisse sie im Fall eines
Austritts machen kann und wofür sie als Wertegemeinschaft
stehen will. Diese Werte gilt es im Verhandlungsfall gegenüber Großbritannien durchzusetzen.
MONEY: Welches Mittels bedarf es denn, um ein Auseinanderfallen der EU in der Folge zu verhindern? Müsste die EZB
nicht abermals das Kaufprogramm für Staatsanleihen erhöhen, um die Renditeabstände zu verringern?
Bielmeier: Die EZB hat wenig Handlungsmöglichkeiten.
Wenn die Europa-Skepsis wächst und Investoren sich zurückziehen, kann die EZB nur wenig tun. Denn selbst ein noch
größeres Anleihenkaufprogramm kann verlorenes Vertrauen
nicht ersetzen. Viel entscheidender wird es sein, einen möglichen Zerfall der EU auf politischer Ebene zu stoppen. Die
Tendenz zur Fragmentierung muss schnell beendet werden.
MONEY: Mit welchem Trumpf ginge die EU im Austrittsfall
denn in die Verhandlungen mit Großbritannien?
Bielmeier: Das Pfund, mit dem sie wuchern kann, ist die Teilnahme am EU-Binnenmarkt. Wer nicht Teil der EU ist, sollte auch
keinen Zugang erhalten. Einer der großen Profiteure des Binnenmarkts ist der Finanzplatz London. Kommt es zum Austritt
des Königreichs, könnten die Kreditinstitute ins Grübeln geraten, ob sie in London überhaupt derartig stark repräsentiert sein
müssen. Zudem dürfte es für sie im Austrittsfall teurer werden.
MONEY: Worin bestünde denn eigentlich die Chance eines
Austritts der Briten?
Bielmeier: Großbritannien war von jeher ein Staat, der das
Zusammenwachsen Europas gebremst hat. Kommt es zum
Austritt, könnte der Wegfall des Bremsklotzes Kräfte freisetzen und das Zusammenwachsen der übrigen Mitgliedsstaaten beschleunigen. Die wirtschaftlichen Auswirkungen
auf die EU wären mittelfristig sogar positiv.
MONEY: Wie sollten sich denn Anleger derzeit positionieren? Gibt es Chancen?
Bielmeier: Unmittelbar vor der Wahl macht es keinen Sinn, ein Engagement einzugehen. Kommt
der Austritt, rechne ich damit, dass der Dax unter
hoher Volatilität bis Jahresende auf der Stelle tritt.
Derzeit ist es wohl am klügsten, Aktienpositionen abzusichern und abzuwarten. Ein Ver-
Fotos: xxxxxxxxxxx/FOCUS-MONEY
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