1 Freitag, 24.06.2016 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs

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Freitag, 24.06.2016
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Jan Brachmann
Außergewöhnlich, persönlich, tiefgründig
David Geringas
The Sound of Lithuania
dreyer gaido 21099
Intimer Ton
J. S. Bach
The French Suites BWV 812-817
Richard Egarr, harpsichord
HMU 907583.84
Hoch verdienstvoll
George Butterworth
Orchesterwerke und Lieder
James Rutherford, Bariton
BBC National Orchestra of Wales
Kriss Russman
BIS 2195
Erfrischend vielfältig
Katia Tchemberdji
Klaviermusik
Katia Tchemberdji, Klavier
SOMNI RECORDS 4907
Großes Hörvergnügen
The Last Concert
Berliner Philharmoniker
Claudio Abbado
BPHR 160081-1
Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“. Am Mikrophon ist heute Jan Brachmann und
heißt Sie herzlich willkommen! Die folgenden 87 Minuten sind proppenvoll – und zwar mit
folgenden Themen: So klingt Bach – die Französischen Suiten im Interpretationsvergleich
mit Richard Egarr und Joseph Payne am Cembalo sowie Till Fellner am Klavier. So klingt
England – Lieder und Orchesteridyllen von George Butterworth mit dem BBC National
Orchestra of Wales. So klingen Haiku ohne Worte – Klaviermusik von Katia Tchemberdji. So
klingt ein Elfenfest – Felix Mendelssohn Bartholdys Sommernachtstraum mit den Berliner
Philharmonikern unter Claudio Abbado. Aber zunächst: So klingt Litauen:
Mikalojus Konstantinas Čiurlionis: Zwei Préludes VL 184 und 250
3’05
Zwei Préludes, 1901 und 1908 geschrieben von dem Komponisten und symbolistischen
Maler Mikalojus Konstantinas Čiurlionis, der Gründerfigur einer eigenständigen Musik
Litauens. Der Cellist David Geringas hat diese Klavierstücke arrangiert und zusammen mit
dem Urenkel des Komponisten, Rokas Zubovas, aufgenommen. Von Litauen, dem
südlichsten der drei baltischen Staaten, haben die meisten Deutschen heute nur einen
unscharfen Begriff. Noch vor 100 Jahren, als Teile Litauens zum Deutschen Reich gehörten,
war das anders. Hermann Sudermann hat die Landschaft an den Ufern der Memel, des
Nemunas, wie der Fluss heute heißt, 1917 verführerisch beschrieben. Vielleicht ist es genau
diese sommerliche Stille, die wir in der Musik von Čiurlionis gehört haben: „Von den
Uferwiesen her”, so Sudermann, „riecht das Schnittgras – man kann den Thymian
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unterscheiden und das Melissenkraut, auch den wilden Majoran und das Timotheegras –
und was sonst noch starken Duft an sich hat. […] Außer den plumpsenden Fischchen, die
nach den Mücken jagen, ist nicht viel zu hören”.
Der Cellist David Geringas, Schüler des legendären Mstislaw Rostropowitsch, wurde in
Litauens Hauptstadt Vilnius geboren. Am 29. Juli feiert er seinen 70. Geburtstag. Und er hat
sich zu diesem Anlass ein besonderes Geschenk gemacht: zwei CDs mit Musik für
Violoncello und Klavier unter dem Titel Sound of Lithuania – So klingt Litauen. Versammelt
sind darauf Stücke aus fast 100 Jahren litauischer Musik, von Čiurlionis bis in die Spätzeit
der sowjetischen Besatzung. Einige der Komponisten hat Geringas, der 1975 in die
Bundesrepublik Deutschland emigrierte, noch persönlich kennengelernt. Darunter Balys
Dvarionas, den er auf dessen Sterbebett 1972 im Krankenhaus besuchte. Geringas berichtet
im Beiheft davon.
Dvarionas hatte die offizielle Hymne der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik
geschrieben, war aber in seinem Innern litauischer Patriot geblieben, der die russische
Besatzung als Tragödie empfand. Von diesen Zwischentönen zu erzählen und sie hörbar zu
machen – das gelingt David Geringas hier in beispielhafter Weise. Pezzo elegiaco – Am See
heißt ein Stück, das Balys Dvarionas 1947 für Violine und Klavier geschrieben hatte. Auf
dem Sterbebett wünschte er sich, Geringas möge das Stück auf dem Cello spielen. Der
erfüllte dem Komponisten den Wunsch fast 20 Jahre nach dessen Tod bei seinem ersten
Konzert im freien Litauen, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Hier wird Geringas
begleitet von Justas Dvarionas, dem Enkel des Komponisten.
Balys Dvarionas: Pezzo elegiaco – Am See
5’30
Die Elegie Am See, 1947 im sowjetisch besetzten Litauen komponiert von Balys Dvarionas,
gespielt vom Cellisten David Geringas und dem Pianisten Justas Dvarionas, dem Enkel des
Komponisten. David Geringas hat in Litauen viele Nachfahren litauischer Komponisten
aufgespürt, die hier gemeinsam mit ihm musizieren. Auch das macht dieses Doppelalbum so
persönlich: Alle, die hier beteiligt sind, wissen um die Geschichte des Landes, kennen den
Alltag, in dem damals gelebt wurde, kennen aber auch Landschaft und Lieder, die diese
Musik färben. Man hört hier keine Sentimentalität, weil sich die Opfer, die man für seine
Gefühle der Sehnsucht und Heimatbindung bringen musste, durchgeschmerzt haben bis in
die Erinnerung.
Zu den schwersten Geschichten, die auf dieser CD erzählt werden, gehört jene der
Emigration: der Schritt, alles zurücklassen zu müssen, Heimat, Familie, Freunde, Sprache.
Auch David Geringas hat 1975 gemeinsam mit seiner jungen Familie das Land verlassen.
Das letzte Stück auf der Doppel-CD stammt von Vidmantas Bartulis. Es entstand 1981 und
hat einen langen Titel: Einen Freund verabschiedend beim letzten Blick auf die verschneiten
Bäume im Februar. Im Beiheft der CD erzählt David Geringas, worum es dabei geht: „Der
Komponist sitzt zusammen mit seinem Freund, der nach Israel ausreisen wird, vor
verschneiten Bäumen im Februar. Und sie wissen: Sie werden sich nie wieder begegnen.
Das war die Tragödie, das war die Stimmung in jener Zeit. Bartulis zitiert das Lied Du bist die
Ruh von Franz Schubert. Es taucht am Ende auf wie eine Offenbarung. Nach der ganzen
Beschreibung des Nichts-Sagen-Könnens entlädt sich die Emotion im Zitat”, soweit
Geringas. Es ist die Zeile „O fühl‟ es ganz”, die Bartulis von Schubert übernimmt; sie wird
zum Ventil für die eigene Sprachlosigkeit, den „Gefühlsstau”, wie der Psychoanalytiker HansJoachim Maaz die mentale Gemengelage zur gleichen Zeit in der DDR beschrieb. Vidmantas
Bartulis: Einen Freund verabschiedend beim letzten Blick auf die verschneiten Bäume im
Februar; es spielen David Geringas, Violoncello, und Petras Geniušas, Klavier.
Vidmantas Bartulis: Einen Freund verabschiedend …
4’50
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Einen Freund verabschiedend beim letzten Blick auf die verschneiten Bäume im Februar –
Vidmantas Bartulis schrieb dieses Stück 1981. Hier wurde es gespielt von David Geringas,
Violoncello, und Petras Geniušas, Klavier. Es ist das Schluss-Stück auf dem Doppelalbum
Sound of Lithaunia – So klingt Litauen, erschienen beim Label dreyer gaido. Eine ganz
außergewöhnliche CD, die Pionierarbeit leistet in der Erschließung Litauens als Musikland,
auf persönliche, tiefgründige Weise.
Und nun – Johann Sebastian Bach, die Gavotte aus der Französischen Suite G-Dur, mit
Richard Egarr am Cembalo:
Johann Sebastian Bach: Französische Suite Nr. 5 G-Dur BWV 816,
4. Satz, Richard Egarr
1‘05
Eines der lebensfrohesten Stücke europäischer Musik – die Gavotte aus der Französischen
Suite Nr. 5. Der britische Cembalist Richard Egarr hat die sechs Suiten von Johann
Sebastian Bach jetzt komplett auf zwei CDs für das Label harmonia mundi aufgenommen.
Der Titel Französische Suiten ist dabei ähnlich wie bei den etwas früher entstandenen
Englischen Suiten von der Nachwelt erfunden worden. Bach selbst hatte ihnen keinen
Gemeinschaftstitel gegeben. Geschrieben hat er diese Sammlungen kunstvoller Tanzsätze
offenbar für seine zweite Frau Anna Magdalena und für die wachsende Familie zum
häuslichen Musizieren. Folglich ist ihr Charakter weniger auftrumpfend, weniger prunkvoll
und virtuos als jener der Englischen Suiten oder der sechs Partiten für Cembalo. Aber genau
diesen intimen Ton, das Nahe, Vertraute und Innige spürt Egarr in dieser Musik auf. Die
Allemande aus der Suite in h-Moll haben Legionen von Klavierschülern so forsch spielen
müssen, als würde der Hund zur Hasenjagd lospreschen. Aber eine Allemande ist ein
langsamer Tanz. Egarr spielt ihn zauberisch fließend, mit zartem Silbersang, in den
Wiederholungen durch neue Register abschattiert, im Tempo träumerisch fast, regelrecht
schwebend. Das ist auf stille Weise überwältigend.
Johann Sebastian Bach: Französische Suite Nr. 3 h-Moll BWV 814,
1. Satz, Richard Egarr
3’50
In der Bach-Interpretation, auch auf dem Cembalo, hat sich in den letzten Jahrzehnten
enorm viel getan. Während Richard Egarr, wie eben gehört, bei der Allemande in h-Moll aus
der dritten Französischen Suite, mit großer Taktfreiheit spielt, sich Temposchwankungen
erlaubt wie bei einem romantischen Rubato, blieb Joseph Payne vor 24 Jahren auf dem
Nachbau eines Ruckers-Cembalos so straff im Zeitmaß wie ein gut aufgezogenes
Metronom.
Johann Sebastian Bach: Französische Suite Nr. 3 h-Moll BWV 814,
1. Satz (Ausschnitt), Joseph Payne, BIS/BRILLIANT CLASSICS 99372/5
1’25
Bach streng im Takt gespielt, jedes Sechzehntel fast genau gleich lang, nach
mathematischem Proportionsplan – das nannte man früher „Stilsicherheit”. Joseph Payne
hat sie in dieser Aufnahme bewiesen. Aber die aufführungspraktische Forschung förderte
längst zutage, dass die Spieler im 18. Jahrhundert sich um die inégalité der Notenwerte,
deren Ungleichheit bemühten, ganz nach dem Vorbild des natürlichen Sprechens, wo wir
auch nicht alle Silben gleich lang nehmen, nicht einmal beim Gedichtaufsagen. Das Menuett
aus der Suite h-Moll wurde von unzähligen Pianisten und Cembalisten jahrzehntelang als
Staccatostudie wie das Phonogramm einer Lochstreifenstanze gespielt. Bei Richard Egarr
dagegen singt und schwingt es.
Johann Sebastian Bach: Französische Suite Nr. 3 h-Moll BWV 814,
5. Satz (Ausschnitt), Richard Egarr
1’35
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Anders als Richard Egarr, der auf dem modernen Nachbau eines historischen Cembalos von
Joseph Johannes Couchet spielt, interessierte sich Joseph Payne 1992 nicht so sehr für die
gesangliche Seite dieses Menuetts, sondern für das Tänzerische. Die drei Viertel in der
linken Hand nimmt er so, dass die Eins schwer wiegt, Zwei und Drei aber leicht abheben.
Dadurch federt die Musik. Payne artikuliert schärfer, und er benutzt auf seinem Nachbau
eines Ruckers-Cembalos den Lautenzug, was seiner Aufnahme durchaus Witz verleiht.
Johann Sebastian Bach: Französische Suite Nr. 3 h-Moll BWV 814,
5. Satz (Ausschnitt), Joseph Payne
1’25
Ob man Bach auf dem Cembalo oder auf dem Klavier spielen soll, ist heute keine Streitfrage
mehr. Beide Instrumente haben ihre Eigenheiten, die ganz unterschiedliche Züge an Bachs
Musik hervortreten lassen. Die Frage ist nur, was man als Interpret zeigen will, und wie man
die Möglichkeiten seines Instruments nutzt. Eine der schönsten Aufnahmen der
Französischen Suite in G-Dur auf dem Klavier ist für mich jene mit Till Fellner, die 2009 bei
ECM erschien. Leider hat Fellner nur diese eine Suite aufgenommen, als Anhang zur
Gesamtaufnahme der Inventionen und Sinfonien. In der Vorrede zu seinen Inventionen hatte
Bach ein kantables Spiel gefordert. Fellner überträgt diese Forderung auch auf die Suiten. In
dieser Allemande singt der Flügel wirklich, auch im behutsamen An- und Abschwellen der
Lautstärke, und Fellner bringt in der Wiederholung eigene, freie Verzierungen an, was
ebenfalls stilecht ist.
Johann Sebastian Bach: Französische Suite Nr. 5 G-Dur BWV 816,
1. Satz (Ausschnitt), Till Fellner, ECM 2043
1‘30
Viele Pianisten glauben, sie müssten sich bei Bach auf dem modernen Flügel eines
trockenen Spiels befleißigen: ohne Pedal, mit viel Staccato; das würde dem Klang des
Cembalos entsprechen. Till Fellner gehört nicht zu ihnen. Wie man dem Vergleich mit
Richard Egarr entnehmen kann, ist das Cembalo ein extrem gesangliches Instrument, auf
dem der Klang strömt, wie es auf dem modernen Flügel nur unter Einsatz des
Nachhallpedals möglich wäre. Egarr und Fellner sind im Tempo nah beieinander, weil sie
vom Gesang her denken. Der Vorteil des Cembalos zeigt sich bei Egarr gleichwohl: Man
kann mehr Verzierungen anbringen, weil die Mechanik leichter anspricht und der Klang
durchsichtiger bleibt.
Johann Sebastian Bach: Französische Suite Nr. 5 G-Dur BWV 816,
1. Satz, Richard Egarr
3‘35
Richard Egarr zeigt in seiner Aufnahme der Französischen Suiten von Johann Sebastian
Bach, dass das Cembalo ein seelenvolles Instrument sein kann, ein Organ der Innerlichkeit.
Wie weit der Klang trägt, hört man am schönsten in der Sarabande der Suite G-Dur.
Johann Sebastian Bach: Französische Suite Nr. 5 G-Dur BWV 816,
3. Satz (Ausschnitt), Richard Egarr
1‘35
So erstaunlich die Tragfähigkeit des Cembaloklangs bei einem solch phantasievollen Spieler
wie Richard Egarr auch ist – in den langsamen Sätzen der Suiten zeigt das moderne Klavier,
dass es legitimen Anspruch auf Bachs Musik erheben darf. Bei einem Satz wie dieser
Sarabande hätte ich große Schwierigkeiten, einem der beiden Instrumente den Vorzug zu
geben. Der Vergleich mit Till Fellner am Flügel lehrt, dass das Klavier dem reinen Klang
vertrauen kann, der perlend leicht bleibt und trotzdem länger währt als auf dem Cembalo.
Um diesem Klang Dauer zu verleihen, braucht es weniger Ornamente. Das gibt der Musik
Ruhe, Weite, Größe. Hier nun Till Fellner mit der Sarabande aus der Französischen Suite in
G-Dur von Johann Sebastian Bach.
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Johann Sebastian Bach: Französische Suite Nr. 5 G-Dur BWV 816,
3. Satz, Till Fellner
5‘10
Till Fellner mit der Sarabande aus der Französischen Suite G-Dur von Johann Sebastian
Bach. So klar die Vorteile des modernen Klaviers in diesem langsamen Satz hörbar sind, so
klar bemerkt man auch, dass der Pianist beim schnellen Schluss-Satz der Gigue wieder
Kompromisse suchen muss. Denn wenn das Tempo zu hoch und der Tonsatz zu dicht ist,
verliert der moderne Klavierklang an Transparenz. Fellner greift hier zu einem Hilfsmittel, das
seit Glenn Gould immer wieder genutzt wurde: das non legato, das ungebundene, fast
gehackte Spiel, das hohe Virtuosität verlangt und für Trennschärfe sorgt, auch für
Fröhlichkeit.
Johann Sebastian Bach: Französische Suite Nr. 5 G-Dur BWV 816,
7. Satz (Ausschnitt), Till Fellner
1‘30
Dieses ratternde non legato ist auf dem Cembalo gar nicht nötig und von Bach auch nicht
gewollt, denn die schnellen 16tel-Figuren dieser Gigue sind auf den Tasten so gelegt, dass
man sie bequem in gebundenem, gesanglichem Spiel ausführen kann. Man hört es bei
Richard Egarr. Sein Tempo ist auch längst nicht so schnell wie bei Fellner. So bleiben Platz
und Zeit für drollige Verzierungen in all dem Wirbel. Weil Egarr hier mit einer Kopplung
zwischen beiden Manualen des Cembalos arbeitet, ist der Klang saftig, voll und festlich.
Johann Sebastian Bach: Französische Suite Nr. 5 G-Dur BWV 816,
7. Satz, Richard Egarr
3‘50
Die Gigue aus der Französischen Suite Nr. 5 G-Dur von Johann Sebastian Bach, gespielt
von Richard Egarr auf dem Cembalo. Seine Gesamtaufnahme der Französischen Suiten
erschien bei harmonia mundi.
Nachdem nun so viel von Gesanglichkeit bei den Tasteninstrumenten die Rede war, soll nun
endlich gesungen werden. Lovliest of Trees, die Beschreibung eines blühenden
Kirschbaums in England, ist das erste der sechs Lieder aus A Shropshire Lad, die George
Butterworth 1911 schrieb. Es singt der Bariton James Rutherford, begleitet vom BBC
National Orchestra of Wales unter der Leitung von Kriss Russman.
George Butterworth: Lovliest of Trees (Track 2)
2’45
Die Six Songs from ‘A Shropshire Lad’ nach Gedichten von Alfred Edward Housman sind
das berühmteste Werk von George Butterworth. Diese ländlichen Idyllen über eine Jugend
voller Melancholie und Todesahnung trafen den Nerv der Zeit. Ursprünglich schrieb
Butterworth die Lieder für Stimme und Klavier. Der Komponist und Dirigent Kriss Russman
hat sie orchestriert und zusammen mit originalen Orchesterwerken und -liedern von
Butterworth aufgenommen. Beim Label BIS ist diese liebevoll gemachte, hoch verdienstvolle
CD erschienen.
Der Todestag von George Butterworth jährt sich bald zum 100. Mal. Der Komponist,
Volksliedsammler und Tänzer hatte sich 1914 freiwillig als Soldat zum Ersten Weltkrieg
gemeldet. Er zeichnete sich durch große Tapferkeit im Stellungskrieg in Nordfrankreich aus,
bis ihn am Morgen des 5. August 1916 die Kugel eines deutschen Scharfschützen traf. Damit
endete nach nur 31 Jahren das Leben einer der größten Begabungen der englischen Musik,
deren Stärke vor allem im Lied lag. Die Doppelbödigkeit einer Sehnsucht nach dem
ländlichen Leben bei klarem Bewusstsein, dass es dorthin kein Zurück mehr gibt, verbindet
Butterworth durchaus mit den Wunderhorn-Liedern seines Zeitgenossen Gustav Mahler.
Love blows as the Wind blows – Die Liebe weht wie der Wind – heißt ein originaler Zyklus
von Orchesterliedern nach Gedichten von William Ernest Henley. Im Lied Auf dem Weg nach
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Kew schmiedet der Sänger am Ufer eines Flusses Pläne für die Zukunft, obwohl die
glückliche Zeit lange vorbei ist und er statt mit einem Menschen mit einem Geist redet. Diese
Aufnahme ist eine echte Rarität. Man könnte sich den Gesang noch etwas lyrischer denken,
aber der Lyrismus der Musik ist intensiv genug. James Rutherford singt, Kriss Russman leitet
das BBC National Orchestra of Wales.
George Butterworth: On the Way to Kew
3’45
George Butterworth zählt neben seinem Freund Ralph Vaughan Williams zu jenen
Komponisten, die – fast schon zu spät – entdeckten, dass Folklore und Landschaft ihrer
englischen Heimat von der Industrialisierung bedroht waren. Sie versuchten, in der Kunst zu
retten, was in der Wirklichkeit verschwand. Eine dieser tragischen Idyllen, die ihre eigene
Vergänglichkeit mitdenken, ist The Banks of Green Willow – Die Ufer von Green Willow,
offenbar ein Ort, wo grüne Weiden wuchsen. Sie entstand 1913 und verwendet mehrere
Volkslieder, die Butterworth selbst gesammelt hatte. Die Zweitaufführung des Stücks in
London, Mitte März 1914, war die letzte Gelegenheit, bei der Butterworth seine Musik in der
Öffentlichkeit hörte. Hier spielt das BBC National Orchestra of Wales, dirigiert von Kriss
Russman.
George Butterworth: The Banks of Green Willow
5’55
The Banks of Green Willow – Idyll einer bedrohten Welt, 1913 komponiert von George
Butterworth. Diese CD des BBC National Orchestra of Wales und des Dirigenten Kriss
Russman erschien beim Label BIS.
In Berlin, bei der unabhängigen, kleinen Firma SOMNI RECORDS, die man leicht im Internet
findet, kam jetzt eine CD heraus mit Klaviermusik von Katia Tchemberdji, gespielt von ihr
selbst. Die Komponistin und Pianistin stammt aus Moskau und lebt seit 1990 in Berlin. Ihr
Schaffen ist erfrischend vielfältig: Filmmusiken mit echten Ohrwürmern gehören dazu,
pointierte Chansons mit eigenen, virtuos auf Deutsch gereimten Texten, aber auch Musik,
die in die Düsternis unserer Welt eintaucht mit ausdrucksstarken, verstörenden Klängen.
1983 schrieb Katia Tchemberdji in Moskau einen Klavierzyklus von Sechs Haiku, inspiriert
von russischen Übersetzungen der Haiku des japanischen Dichters Matsuo Basho aus dem
17. Jahrhundert. Das Haiku mit drei Gruppen zu fünf, sieben und fünf Silben gilt als kürzeste
Gedichtform der Welt. Bewundernswert an den Haiku für Klavier von Katia Tchemberdji sind
deren Knappheit, Prägnanz und Fasslichkeit. In Nummer zwei folgen auf einen perkussiven
Anfangsimpuls jeweils unterschiedliche lineare Antworten. Am Ende bleibt der
Anfangsschlag ohne Antwort und muss aus sich selbst heraus eine Fortsetzung finden.
Katia Tchemberdji: Haiku Nr. 2
1’25
Haiku Nummer vier von Katia Tchemberdji beginnt mit einem tonalen Unisono, fast idyllisch,
über hallenden Resonanzsaiten des Klaviers. Aber dann krabbelt oder fließt eine unerwartet
andere Musik über dieses allzu schöne, reine Weiß.
Katia Tchemberdji: Haiku Nr. 4
1’10
Man hört, dass Katia Tchemberdji nicht nur eine klar denkende Komponistin, sondern auch
eine berufene Interpretin ihrer selbst ist. Die sorgsam gestalteten Pedaleffekte verlangen
eine intime Kenntnis des Instruments. In den Jahren 2010 bis 2012 schrieb sie an einem
Klavierzyklus mit dem russischen Titel Kamni, auf Deutsch: Steine.
„Als inneres Programm könnte man die Trauer über die Vergänglichkeit, das Vergessen, die
Namenlosigkeit und den Tod bezeichnen”, bemerkte die Komponistin selbst anlässlich der
Uraufführung 2012. Und sie setzte fort: „Ich habe als Kind Die Abenteuer des Till
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Eulenspiegel von Charles de Coster gelesen. Darin fällt, nachdem Tills Vater Klaas
umgebracht wurde, der Satz: „Die Asche von Klaas pocht immer an mein Herz‟. Dieser Satz
hat eine allgemeinere Bedeutung: Das Leiden von Opfern – durch Krieg, Gewalt oder
Naturkatastrophen – brennt in uns Lebenden weiter. Irgendwann empfand ich es als
unmöglich, damit weiterzuleben. Andere beten oder erweisen jemandem Wohltaten. Ich
schreibe eben. Für mich. Und dann kam ich nach Südafrika und besuchte mit meinem Mann
das Apartheid-Museum. Da gab es große Gefäße mit Steinen, einfach schwarze Steine,
rundpoliert, persönlichkeitslos, als Erinnerung an Menschen. Wenn ich am Meer bin, sehe
ich immer Steine und stelle mir die Frage, was sie wohl früher gewesen sein mögen. Berge?
Felsen? Häuser? So wie Menschen, die weggingen oder umkamen. Deshalb habe ich
diesen Titel Kamni – Steine gewählt.”
Am Schluss dieses Zyklus, in den letzten beiden Stücken, hört man dieses Pochen der
Asche aus dem Inneren des Klaviers sehr deutlich – Signal der Toten, die nicht vergessen
werden wollen. Der Schluss mit seinem dumpfen Knall ist wohl auch eine Geste verzweifelter
Wut.
Katia Tchemberdji: Kamni Nr. 6 und 7
4’50
Kamni – Steine – der Schluss eines Klavierzyklus von Katia Tchemberdji, gespielt von der
Komponistin selbst, erschienen beim Berliner Label SOMNI RECORDS.
Heute ist Johannistag, Mittsommer. Die letzte Nacht muss turbulent gewesen sein. Immerhin
feierten Titania und Oberon, das Elfenkönigspaar, ihren Hochzeitstag, und alles, was Elf und
Elfe heißt, traf sich zum Tanz. Die Musik von Felix Mendelsohn Bartholdy zu William
Shakespeares Komödie Ein Sommernachtstraum stand auf dem Programm des letzten
Konzerts, das die Berliner Philharmoniker unter der Leitung ihres früheren Chefdirigenten
Claudio Abbado im Mai 2013 gaben. Abbado starb im Januar 2014. Das Konzert, bei dem
auch die Symphonie fantastique von Hector Berlioz erklang, erschien jetzt beim
orchestereigenen Label Berliner Philharmoniker Recordings in Form eines Bilderbuchs mit
CDs, Blue-Ray-Disc und Bonus Video, alles in zinnoberrotes Leinen gebunden.
Die Musik zum Sommernachtstraum knistert vor Spuk, Schabernack und Lebensfreude, bei
Abbado in einem hochkonzentrierten Pianissimo mit haarscharf gezeichneten Einzellinien.
Das macht beim Hören großes Vergnügen. „Bei des Feuers mattem Flimmern, Geister,
Elfen, stellt euch ein! Tanzet in den bunten Zimmern manchen leichten Ringelreihn! Singt
nach meiner Lieder Weise! Singet! Hüpfet! Lose! Leise!” – das Finale aus dem
Sommernachtstraum von Mendelssohn. Es singen die Damen des Chores des Bayerischen
Rundfunks, es spielen die Berliner Philharmoniker, es dirigiert Claudio Abbado.
Felix Mendelssohn Bartholdy: Ein Sommernachtstraum,
Finale: Allegro di molto
4’20
„Nun genug! Fort im Sprung, trefft ihn in der Dämmerung!” – das Finale aus dem
Sommernachtstraum von Felix Mendelssohn Bartholdy, das letzte Konzert der Berliner
Philharmoniker mit Claudio Abbado, erschienen bei Berliner Philharmoniker Recordings.
Damit geht Treffpunkt Klassik – Neue CDs in SWR2 für heute zu Ende. Das Manuskript
finden Sie im Internet unter www.swr2.de. Dort steht die Sendung auch noch eine Woche
lang zu Nachhören. Hier folgen nun die Veranstaltungstipps vom Kulturservice und dann die
Nachrichten. Einen schönen, frohen Johannistag wünscht Ihnen Jan Brachmann.