Albert Einstein
Aufsatz von Carl Friedrich von Weizsäcker, aus dem dtv-Buch „Große Physiker“
Stellen wir uns vor, es werde in einigen Jahrtausenden noch Menschen geben, die sich für die dann
lange vergangenen Phasen menschlicher Geschichte interessieren, und fragen wir, welcher Name
unseres Jahrhunderts die beste Chance habe, ihnen noch bekannt zu sein. Gewiss hat uns
Zeitgenossen die Politik am meisten geschüttelt. Aber ihre Krisen und deren Träger werden dereinst
überschattet sein von den Krisen und, wenn Gnade uns beisteht, Lösungen, die jetzt auf uns
zukommen. Sollen Lösungen gefunden werden, so werden der Zukunft unsere radikalen Politiker zu
inhuman, unsere humanen Politiker nicht radikal genug scheinen; vielleicht wird von den Großen
unseres Jahrhunderts nur Gandhi vor ihrem Urteil bestehen. An die Kunst unserer Zeit wird man
sich vielleicht als an einen Seismographen unserer Erdbeben erinnern. Die Erdbeben werden
ausgelöst durch den technischen Fortschritt, und dieser ist ermöglicht durch die Wissenschaft. Die
Wissenschaft ist jedoch am größten und auch letztlich am wirksamsten, wo sie nicht technische
Weltveränderung, sondern Wahrheit sucht. Der berühmteste Wissenschaftler unseres Jahrhunderts
aber ist Einstein.
Würden auch wir Wissenschaftler unter uns ihn so als unseren Repräsentanten anerkennen?
Betrachten wir seinen außerordentlichen Ruhm als verdient? Als Physiker hat er eine Chance, denn
die Naturwissenschaft ist unter den Wissenschaften der erste Träger des neuen Weltbildes, und die
Physik ist die Grunddisziplin der Naturwissenschaft. Die Physik hat im Anfang unseres
Jahrhunderts zwei revolutionäre Schritte getan: die Relativitätstheorie und die Quantentheorie.
Die eine der beiden Theorien ist Einsteins Werk, an der anderen war er in ihrer ersten Phase neben
Planck und Bohr gleichrangig beteiligt. Einstein ist vielleicht auch deshalb der würdige
Repräsentant unserer Zunft, weil er im Grunde dieser Zunft nie ganz angehört hat.
Auf seine Umwelt wirkte er als naives Genie. Dabei war eben seine Naivität, die Natürlichkeit
seiner Fragen, der Kern seiner Genialität. Er stellte jede Frage direkt; gewiss nicht in Verachtung
des Wissens der Vernunft, aber nie aus dem gängigen Schema der Fragen der Vernunft heraus.
Antworten konnten auch andere; er war ein Meister des Fragens.
Und ein gleichsam unbewusster Meister: er konnte nicht anders als direkt fragen.
Wir feiern nun Einsteins hundertsten Geburtstag. Wie sollen wir ihn den Zeitgenossen darstellen?
Was hielt er selbst für darstellenswert? Die neueste und wohl beste Biographie (B. Hoffmann
und H. Dukas: ››Einstein, Schöpfer und Rebell«. Fischer Taschenbuch. 1978) erzählt: »Nachdem er
bei einem gesellschaftlichen Ereignis zum Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit gemacht
worden war, stellte er betrübt fest: ›Alles, was ich als junger Mensch vom Leben wünschte und
erwartete, war, ruhig in einer Ecke zu sitzen und meine Arbeit zu tun, ohne von den Menschen
beachtet zu werden. Und jetzt schaut bloß, was aus mir geworden ist.« Als siebenundsechzig
jähriger hatte er sich überreden lassen, eine kurze Autobiographie zu schreiben, die er - ›› mit
Galgenhumor«, sagt der Biograph - seinen Nekrolog nannte. Die Sprache dieser Geschichte seines
eigenen Lebens ist direkt, human, oft humorvoll, aber wovon berichtet sie?
Sie beginnt mit dem Eindruck, den dem Vier- oder Fünfjährigen ein magnetischer Kompass
gemacht hat - das Wunder einer unsichtbaren Kraft. Und indem er die Reihe der Fragen schildert,
die sich ihm als Schüler, Student, Forscher eröffneten, beginnt der alte Mann gleichsam mit sich als
dem jungen Entdecker der Fragen zu diskutieren; noch die Selbstbiographie wird ihm ein Stück
Wahrheitssuche. Er unterbricht sich; „Soll dies ein Nekrolog sein? - mag der erstaunte Leser fragen.
Im wesentlichen ja, möchte ich antworten. Denn das Wesentliche im Leben eines Menschen von
meiner Art liegt in dem, was er denkt und wie er denkt, nicht in dem, was er tut oder erleidet. Also
kann der Nekrolog sich in der Hauptsache auf Mitteilung von Gedanken beschränken, die in
meinem Streben eine erhebliche Rolle spielten.“
Uns freilich gehen nicht nur diese Gedanken an, sondern zugleich der Mensch, der solche Gedanken
denken konnte. Daher zunächst an seine wichtigsten Lebensdaten erinnert.
Am 14. März 1879 wurde Albert Einstein in Ulm geboren, Spross einer seit langem in
Süddeutschland ansässigen jüdischen Familie. Der Vater, ein liberaler, nicht allzu erfolgreicher
Geschäftsmann, übersiedelt nach München, später nach Mailand. Der Sohn besucht in München das
Gymnasium ohne Abschluss; der hochbegabte Schüler wollte selber suchen und fand sich in dem
Lern- und Autoritätssystem nicht zurecht. Freie Monate als Fünfzehnjähriger in Mailand, dann
findet er gute Ratgeber in der Schweiz. Abitur an der Kantonsschule in Aarau, Studium an der
Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Der junge Diplomingenieur, der akademischen
Autoritätswelt so unassimilierbar wie einst der schulischen, muss sich zwei Jahre mit
Gelegenheitsarbeiten durchschlagen, dann finden verständige Freunde ihm eine Stelle
am Eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum (Patentamt), die ihn ernährt und ihm die Freizeit
zur Arbeit lässt. Nun ist er auf seinem Weg. Heirat, ein philosophischer Freundeskreis.
1905 eine Explosion von Genie. Vier Publikationen über verschiedene Themen, deren jede, wie
man heute sagt, nobelpreiswürdig ist: die spezielle Relativitätstheorie, die Lichtquantenhypothese,
die Bestätigung des molekularen Aufbaus der Materie durch die Brownsche Bewegung, die
quantentheoretische Erklärung der spezifischen Wärme fester Körper. Die Lebensphase äußerer
Misserfolge geht zu Ende. Der junge Forscher wird in Fachkreisen bekannt, berühmt. Professur in
Zürich 1909, in Prag 1911, Akademiemitgliedschaft in Berlin 1914. Die Jahre sind erfüllt von
intensiver wissenschaftlicher Arbeit, an der Klärung des begrifflichen Gehalts der Quantentheorie
und, mit wachsender Konzentration, an der Fortführung der Relativitätstheorie.
1915 der Durchbruch zur allgemeinen Relativitätstheorie. Die von dieser Theorie vorhergesagte
Ablenkung des Lichtstrahls eines Sterns im Schwerefeld der Sonne wird 1919 von Eddington durch
Beobachtung bei einer Sonnenfinsternis bestätigt. Dies bringt mit einem Schlag den Weltruhm, die
rauschhaft-verständnislose Publikumserregung, die sein Leben seitdem bedrängt. Einstein lebt nun
bis 1933 in Berlin, eine private Existenz im Lichte der Öffentlichkeit, nach Scheidung der ersten
Ehe mit seiner Cousine Elsa Einstein verheiratet, in ständig lebendigem Kontakt mit den Physikern
der ganzen Welt, geigend, auf dem Wannsee segelnd, ein fruchtbares, erfülltes, von den voraus
geworfenen Schatten einer schrecklichen Zukunft schon berührtes Leben.
Einsteins Herz schlug für die Schwachen, die Unbeliebten, die Unterdrückten. Krieg empfand er als
absurd; er war ein elementarer Pazifist, ein Pazifist des Herzens und des unbeirrten Urteils,
des gesunden Verstandes. An den nationalistischen Torheiten deutscher Professoren im Ersten
Weltkrieg nahm er nicht den geringsten Anteil. Als Deutschland 1919 in der Welt verfemt war,
erwarb er die einst aufgegebene deutsche Staatsbürgerschaft (neben der erworbenen
schweizerischen) zurück, lehnte Rufe ins Ausland ab, hoffte auf die republikanische Entwicklung
der Deutschen. In diesem Augenblick erkannte und übernahm er auch seine Schicksalsgemeinschaft
mit den Juden. In der Krisenatmosphäre der zwanziger Jahre wurde die älteren Physikern und
traditionellen Philosophen unverständliche Relativitätstheorie im Publikum mit dem Relativismus
der Werte zusammengebracht („Alles ist relativ“). Der angstvolle Protest hiergegen schloss eine
unheilige, bald eine randalierende Allianz mit dem Antisemitismus. Einstein, der sich der jüdischen
Glaubensgemeinschaft wie jedem Autoritätssystem ferngehalten hatte, bekannte sich nun willig als
Jude, als sozialistischer Zionist; mit Weizmann reiste er für den Zionismus durch Amerika.
Von Hitlers Machtergreifung auf einer Auslandsreise überrascht, kehrte er nicht nach Deutschland
zurück. Er trat aus der Preußischen Akademie aus, ehe diese Zeit fand, ihn auszustoßen.
Die Heimat seiner letzten zwanzig Lebensjahre fand er im Institute for Advanced Study on
Princeton, USA. Wissenschaftlich waren die letzten drei Lebensjahrzehnte für ihn schmerzlich; bei
ungemindertem Ruhm eine Zeit scheinbar vergeblicher Arbeit, vergeblichen Widerstands gegen
eine neue, ihm konträre Denkweise in der Physik. Menschlich war es ein glückliches Geborgensein
in der Fremde - und wo wäre er kein Fremder gewesen?
Caritas und Politik forderten ihn immer wieder, man brauchte -.einen Namen, und er folgte der
Forderung, wo immer er es verantworten und leisten konnte. Auch den Pazifismus trieb er nicht
dogmatisch. Den Krieg gegen Hitler sah er zum Schutz der Freiheit als notwendig an. Er
unterschrieb 1939 den von Szilard formulierten Brief an Roosevelt, der zum Bau der Atombombe
riet.Heimisch geworden in der vollendeten Liberalität des akademischen Amerika, kritisierte er in
späteren Jahren schmerzlich und erfolglos das politische Amerika, als es den jeder Großmacht vorgeschriebenen Weg zum Imperialismus ging.
Friedensbemühungen im kalten Krieg unterstützte er nach Kräften. Kurz vor seinem Tode
unterschrieb er das von Bertrand Russell initiierte Manifest, das die Pugwash-Bewegung, eine der
wichtigsten Formen inoffizieller Diplomatie der Wissenschaftler, einleitete. Die ihm nach
Weizmanns Tod angetragene Staatspräsidentschaft von Israel lehnte er, bewegt und schmerzlos, ab.
Sein Leben in den letzten Jahren charakterisiert er in einem Brief so: „Mit der Arbeit ist es nicht
mehr viel, das heißt, ich bringe nicht mehr viel fertig und muss mich damit begnügen, die alte
Exzellenz und den jüdischen Heiligen zu spielen (hauptsächlich letzteren) ...“
Dazu noch ein Satz aus derselben Zeit: „Es ist eine merkwürdige Sache mit dem Altwerden. Indem
man die intime Verwachsenheit mit dem Hier und dem Jetzt allmählich verliert und sich mehr oder
weniger allein in die Unendlichkeit hineingestellt empfindet, nicht mehr hoffend oder fürchtend,
sondern nur mehr schauend ...“. Ein alter Mann, wird man sagen dürfen, ist kein anderer als er war,
nur mehr er selbst. Am 18. April 1955 ist er gestorben.
Das war der Mann. Was waren die Gedanken, die das Wesentliche seines Lebens ausmachten?
Die theoretische Physik ist die Wissenschaft von den allgemeingültigen Naturgesetzen. Diese
Gesetze sind einfach. Deshalb kann ihre Erkenntnis nicht in langsamer Wissensanhäufung zustande
kommen, so nötig diese zur Vorbereitung und zur Bestätigung ist. Einfache Naturgesetze werden
inmitten einer - oft nur von wenigen wahrgenommenen - Krise in einem revolutionären Schritt,
einer plötzlichen Kristallisation gefunden. Der Weg, den uns diese Folge von Revolutionen führt, ist
vorweg unbekannt und nur im Rückblick verständlich. Will man den bisherigen Weg der neuzeitlichen Physik durch zwei große Krisen kennzeichnen, so muss man zuerst die Entstehung der
klassischen Mechanik irn 17. Jahrhundert nennen, gipfelnd in Newton, und dann die Relativierung
der klassischen Mechanik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, eingeleitet durch Einstein. Für
Einstein war in der Tat Newton der große Gesprächspartner.
Die aristotelische Physik beschrieb die Welt in der Vielgestalt, in der wir sie wirklich erfahren; ihr
integrierendes Prinzip war der Gedanke eines sinnvollen Ganzen, eine immanente Teleologie
(die Lehre vom Zweck und von der Zweckmäßigkeit). Die klassische Mechanik beruht auf der nicht
wieder rückgängig zu machenden Entdeckung, dass es mathematisch formulierbare strenge
Naturgesetze gibt. So analysierte sie die Phänomene mathematisch. Sie drang in die Einfachheit
hinter den Phänomenen vor und machte eben dadurch die Phänomene vorhersagbar und
manipulierbar. Ihr integrierendes Prinzip wurde nun der Vergleich einer Ereignisfolge mit dem
Funktionieren einer Maschine, im » mechanischen Weltbild « der Vergleich der Welt selbst mit
einer großen Maschine. Die Begriffe, die sie dazu brauchte, wurden in der Newtonschen Mechanik
kodifiziert._Es sind im wesentlichen vier: Körper, Kraft, Raum, Zeit.
Im absoluten Raum bewegen sich, das heißt ändern ihren Ort im Verlaufe der absoluten Zeit, die
raumerfüllenden Körper unter dem Einfluss der auf sie einwirkenden Kräfte. Man hoffte,
schließlich auch die Kräfte noch »mechanisch erklären«, das heißt auf Druck und Stoß, also
auf die Raumerfüllung der Körper zurückführen zu können. Eine materialistische Metaphysik
erschien jedoch nicht als notwendige Konsequenz der klassischen Mechanik. Descartes behauptete
zwei Substanzen: die ausgedehnte Materie und den denkenden Geist; Gott könne als der Ingenieur
der Weltmaschine aufgefasst werden.
Die Krise unseres Jahrhunderts hat die klassische Mechanik relativiert, das »mechanische Weltbild«
zerstört. Die Entdeckung mathematisch einfacher Naturgesetze wurde festgehalten, ja sehr
viel weiter in ein Feld größerer begrifflicher Einfachheit und darum höherer Abstraktion
vorangetrieben. Dabei erwiesen sich Newtons Grundbegriffe Körper, Kraft, Raum, Zeit, jedenfalls
so, wie er sie konzipiert hatte, als Vordergrundaspekte. Kritische Gedanken zu diesen Begriffen
hatte es in der Philosophie längst gegeben, so bei Leibniz, Kant, Mach. Einstein war der erste
Physiker, der mit empirischer Relevanz, durchs Experiment überprüfbar, bewusst und erfolgreich an
diese Grundbegriffe rührte.
Der erste Schritt war die spezielle Relativitätstheorie. »Relativität« bedeutete in diesem Namen die
Relativität der Bewegung. Schon Leibniz und Mach hatten gegen Newton auf den Gedanken des
Aristoteles zurückgegriffen, dass der Ort eines Körpers nichts Absolutes, sondern eine Relation zu
benachbarten Körpern sei, dass man also einen absoluten Raum (und entsprechend eine absolute
Zeit) nicht zu postulieren brauche. Schon in der klassischen Mechanik galt de facto ein
Relativitätsprinzip für die Geschwindigkeit, mit der sich ein Körper bewegt. Nach dem
Trägheitsgesetz behält ein Körper seinen Zustand der Ruhe oder geradlinig gleichförmigen
Bewegung ohne Einwirkung äußerer Kraft bei. Daraus folgt, dass es durch keine Messung von
Kraftwirkungen zwischen Körpern möglich ist, festzustellen, welcher von ihnen ruht, welcher
gleichförmig bewegt ist; nur die Relativgeschwindigkeit ist feststellbar.
In der Elektrodynamik (die seit Maxwell die Optik mit umfaßte) hatte man gehofft, ein im Mittel
absolut ruhendes Medium, den Äther, konstatieren zu können, dessen Schwingungen uns als
Lichtwellen sichtbar werden. Michelson entdeckte 1887, dass die Bewegung eines Körpers relativ
zum Äther empirisch nicht festgestellt werden kann. Einstein erkannte, dass demnach das
Relativitätsprinzip universell, auch für die Elektrodynamik, postuliert werden konnte. Mathematisch
war dies schon in den kurz vor der seinen veröffentlichten Arbeiten von Lorentz und Poincaré
enthalten. Bei ihm aber erschien es nicht mehr wie ein kompliziertes Resultat, sondern wie ein
Prinzip höherer Einfachheit. Er mußte dazu auch eine »Relativität der Gleichzeitigkeit« zulassen.
Zwei voneinander entfernte Ereignisse, die von einem Körper (Bezugssystem) aus betrachtet
gleichzeitig sind, werden für einen relativ dazu bewegten Körper ungleichzeitig sein. In Newtons
absolutem Raum und absoluter Zeit ist dergleichen nicht denkbar. Einstein entdeckt die Befreiung
des Denkens durch den Verzicht auf diese erfundenen Absolutheiten.
»Lieber Leser« - so redete Einstein gern in seinen populären Schriften sein Publikum an. In seinem
Tone also sei es gesagt: Lieber Leser, verzeih die Zumutung des ohne physikalische Vorbildung
Unverständlichen! Willst du lieber nur die Dramatik der Biographie eines großen Mannes
anschauen oder wenigstens eine Ahnung davon gewinnen, warum er groß war?
Die spezielle Relativitätstheorie hatte Einstein wie eine reife Frucht gepflückt. Die Weiterführung
zur allgemeinen Relativitätstheorie ist seine eigenste Leistung. Unter allen bekannten großen
Theorien der Physik ist sie die einzige, bei der man zweifeln kann, ob sie bis heute überhaupt
gefunden worden wäre, wenn derjenige nicht gelebt hätte, der sie in der Tat gefunden hat. Formell
intendierte Einstein sie als die Ausdehnung des Relativitätsprinzips über die geradlinig
gleichförmigen Bewegungen hinaus auf alle Bewegungen. Tatsächlich führte sie ihn zu Gedanken,
die weder seine Zeitgenossen vermutet hatten noch er selbst, als er den Weg einschlug.
„Derjenige kommt am weitesten, der nicht weiß, wohin er geht“, sagte einst Oliver Cromwell.
Einstein kritisierte Newtons Raum und Zeit als eine „Mietskaserne“, in welcher die Körper ein- und
ausziehen; mit Leibniz und Mach wollte er den Raum auf Relationen zwischen Körpern reduzieren.
Tatsächlich kam es umgekehrt. Einstein sah sich genötigt, den von dem Mathematiker Riemann
schon 1854 konzipierten Gedanken eines gekrümmten Raumes, und zwar mit von Ort zu Ort
veränderlicher Krümmung, zu übernehmen. Einstein verknüpfte, was nach klassischer Philosophie
scharf zu trennen gewesen wäre, Raum und Gravitation, Geometrie und Erfahrung. Die von
Newton zuerst postulierte universelle Schwerkraft wurde ihm zum Maß der lokalen
Raumkrümmung, also zu einer geometrischen Größe. Der Raum wird aus einer starren
Mietskaserne nicht zu einer bloßen Relation, sondern zu einer physischen Realität mit innerer
Dynamik, mit variablen Eigenschaften. Und Einsteins Fernziel wurde es nun, umgekehrt die Körper
nur noch als singuläre Stellen im Raum-Zeit-Kontinuum zu erklären.
Die Einheit der Natur sollte sich als Einheit des metrischen Feldes des Raum-Zeit-Kontinuums
erweisen. Hier begann die Tragik der letzten Lebensjahre Einsteins. Er mußte eine einheitliche
Feldtheorie suchen, welche alle damals bekannten Felder, also neben der Gravitation auch das
elektromagnetische Feld, umfasste. Er scheiterte, vordergründig betrachtet, an den mathematischen
Schwierigkeiten des Problems einer sogenannten nicht linearen Feldgleichung. Wir können heute
sehen, dass der Grund des Scheiterns tiefer lag. Zunächst kennen wir heute empirisch sehr viel mehr
Felder als die zwei, die Einstein zu vereinigen suchte. Insbesondere aber fassen wir die Felder
quantentheoretisch auf, als Wahrscheinlichkeitsfelder für das Auftreten von Teilchen. Für uns ist die
Quantentheorie die fundamentale Theorie, der auch der Feldbegriff entspringt. Heisenberg, der
etwa dreißig Jahre nach Einsteins Ansatz, auch er als eine nicht zum sichtbaren Erfolg führende
Altersarbeit, den Gedanken der allgemeinen Feldtheorie aufnahm, konzipierte diese mit SelbstVerständlichkeit als eine Quantentheorie der Felder. Einstein aber wollte von einer so
fundamentalen Rolle der Quantentheorie nichts wissen. Dies war eine philosophische Entscheidung.
Einstein hatte zur frühen Phase der Quantentheorie Wesentliches beigetragen. Ihren Siegeszug in
der Gestalt, die sie um 1925 annahm, machte er nicht mehr mit. Als ich vor nun fünfzig Jahren,
1929, Physik zu studieren begann, war nicht mehr der fünfzigjährige Einstein, sondern der um
sieben Jahre jüngere Bohr der geistige Führer der jungen Generation. Die beiden Männer waren
persönliche Freunde geworden, als Wissenschaftler war es ihr Schicksal, sich zu Gegnern, zu
Antipoden zu entwickeln. Einstein war genialer, vielseitiger, einfacher, Bohr aber war Wohl der
noch tiefere Denker.Was war der Kern des Konflikts?
Die Stelle, an der sich der Konflikt entzündete, war die Aufopferung des klassischen
Determinismus, die grundsätzliche Reduktion der physikalischen Prognosen auf
Wahrscheinlichkeiten. „Gott würfelt nicht“, sagte Einstein, worauf Bohr replizierte: „ Es ist nicht
die Frage, ob Gott würfelt, sondern was wir meinen, wenn wir sagen, Gott würfele nicht.“
Eigentlich ging es um den Begriff der physikalischen Realität. Einstein verstand die Realität als
etwas im Sinne der klassischen Physik Objektives, das »unabhängig vom Wahrgenommen-werden
gedacht wird«. Bohr hatte den kantischen Gedanken der Subjektivitätsphilosophie vollzogen, dass
all Wissenschaft unser Wissen, ein Wissen der Menschen ist. Bohrs Denken kreiste um die Frage,
unter welchen Bedingungen wir das Wahrgenommene durch ein ››objektives«, ››unzweideutiges«,
Modell des Geschehens beschreiben können. Die Quantentheorie war ihm eine Bestätigung der
Grenzen dieser Möglichkeiten. Eben darum schien sie ihm den Weg zur Überwindung des
unverständlichen cartesischen Dualismus von Geist und Materie zu bahnen. Bohr dachte
nicht in substantiellen Dualismen, sondern in komplementären Beschreibungsweisen. Einstein
konnte diese Denkweise nur als ››positivistisch<< verstehen, und es war ihm unmöglich, ihr zu
folgen. Einsteins bis an sein Lebensende festgehaltener Widerstand markierte wenigstens die (bis
heute) ungelösten Probleme der philosophischen Deutung der Quantentheorie.
Einsteins Haltung in diesem Konflikt war metaphysisch bestimmt, und er wusste das. Er liebte es,
wie im Beispiel des Würfelns, im Gespräch ein philosophisches Argument unter scheinbar
spielerischer Verwendung des Namens Gottes vorzubringen. So, als von der Schwierigkeit der
Erkenntnis der Naturgesetze die Rede war: ››Raffiniert ist der Herrgott, aber boshaft ist er nicht.<<
Wenn man ihn stellte, antwortete er direkt: »Ich glaube an Spinozas Gott, der sich in der
gesetzlichen Harmonie des Seienden offenbart, nicht an einen Gott, der sich mit den Schicksalen
und Handlungen der Menschen abgibt.«
Er stand damit freilich de facto, wie Spinoza selbst, außerhalb seiner jüdischen religiösen
Tradition, aber innerhalb der von den Griechen herkommenden europäischen Metaphysik. Waren
die Denkmittel griechisch, so war aber die besondere Art des moralischen Ernstes, in dem Spinoza
wie Einstein diese Denkmittel gebrauchten, zutiefst jüdisch.
Diese kontemplative Metaphysik sprach, so können wir am Ende unserer Betrachtung sehen, wohl
den Kern seines Wesens, seine Urerfahrung aus. Hierin wurzelt auch seine Distanz zu den
Menschen. „Mit meinem leidenschaftlichen Sinn für soziale Gerechtigkeit und soziale
Verpflichtung stand stets in einem eigentümlichen Gegensatz ein ausgesprochener Mangel an
unmittelbarem Anschlussbedürfnis an Menschen und an menschliche Gemeinschaften. Ich bin ein
richtiger Einspänner, der dem Staat, der Heimat, dem Freundeskreis, ja selbst der engeren Familie
nie mit ganzem Herzen angehört hat, sondern all diesen Bindungen gegenüber ein nie sich legendes
Gefühl der Fremdheit und des Bedürfnisses nach Einsamkeit empfunden hat, ein Gefühl, das sich
mit dem Lebensalter noch steigert“. Und später an Hermann Broch als Dank für dessen 'Vergil':
„Ich bin fasziniert von Ihrem Vergil und wehre mich beständig gegen ihn. Es zeigt mir das Buch
deutlich, vor was ich geflohen bin, als ich mich mit Haut und Haar der Wissenschaft verschrieb:
Flucht vom Ich und vom Wir in das Es.“
Es war wohl ebendiese Distanz zur Gesellschaft, welche Einstein ermöglicht hat, in seinem
politischen Denken der naiven Direktheit seines Urteils treu zu bleiben. Eben damit ist er aber
den großen politischen Aufgaben der Zukunft tiefer verbunden als viele von uns, welche den
politischen Vorurteilen der Gegenwart die Konzession gemacht haben, scheinbar oder wirklich an
sie zu glauben, um in ihrer Mitte konkret wirken zu können.
Er dachte zeitlos. Vier Wochen vor seinem eigenen Tode schrieb er den Hinterbliebenen seines
Jugendfreundes Besso: “Nun ist er mir auch im Abschied von dieser sonderbaren Welt ein wenig
vorausgegangen. Dies bedeutet nichts. Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion.“
Einige Anmerkungen (von mir):
1.) Einsteins spezielle Relativitätstheorie (SRT) lieferte zum einen die Erkenntnis, dass Raum und
Zeit zusammenhängen (Raum-Zeit-Kontinuum), und dass Raumabstände, Zeitabstände und
Gleichzeitigkeit relative Begriffe sind, die von Bewegungszustand des Beobachters abhängen.
Zum anderen folgerte er daraus aber auch, dass auch die Masse eines Körpers relativ ist (nur die
„ Ruhemasse“ ist ein absoluter Wert), dass materielle Körper nicht auf Lichtgeschwindigkeit
beschleunigt werden können (da dafür unendlich viel Energie erforderlich wäre), und dass Masse
und Energie äquivalent und in einander umwandelbar sind (E=mc2).
2.) Die allgemeine Relativitätstheorie (ART) erweitert die SRT durch Einbeziehung der Gravitation.
Demnach wird die Raumzeit durch in sie eingebettete Massen und Energien gekrümmt, diese
Krümmung der Raumzeit bewirkt die Gravitation, indem sie Masse-behafteten Körpern eine
entsprechende Bewegungsbahn aufzwingt, die wir als gravitative Beschleunigung wahrnehmen. So
wie eine Eisenkugel in ein aufgespanntes Tuch eine Delle drückt, in welche eine andere Kugel
hinein rollen kann, so „fallen“ Masse-behaftete Körper entlang der von ihnen erzeugten
Krümmungslinien des Raumes aufeinander zu. Dabei entstehen weitere relativistische Effekte, so
wird die Zeit in der Nähe gravitierender Massen gedehnt. Nicht nur Masse, sondern jede Form von
Energie (z.B. Licht) unterliegt der Gravitation und erzeugt Gravitation. „Die Raumzeit interagiert
mit der in sie eingebetteten Massenenergie, sie wird durch diese gekrümmt, sie vibriert und
schwingt im Gleichklang mit den Bewegungen der großen Massen des Universums.“
Die Änderung einer Gravitationswirkung breitet sich mit Lichtgeschwindigkeit aus. Direkte Folgen
dieser Theorie sind u.a. die Existenz von Gravitationswellen (von Einstein postuliert), die Existenz
von Schwarzen Löchern (von Karl Schwarzschild postuliert) und die Dynamik (Expansion) des
Universums (von A. Friedman postuliert).
3.) Einsteins Widerstand gegen die Quantentheorie bezog sich nur auf die Kopenhagener Deutung
der Quantentheorie. Diese nicht-deterministische Deutung ist auch heute umstritten.