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Predigt aus dem Gottesdienst in Jubilate am 19.6. 2016
Richtet nicht !
Pastor Gerhard Bothe
Liebe Gemeinde, die für den heutigen Sonntag vorgeschlagenen Predigtexte stehen
unter einem Leitgedanken: Du sollst nicht richten!
Das ist auch heute aktuell, so wie es wahrscheinlich zu allen Zeiten aktuell und gültig
war. Maße dir kein vorschnelles Urteil an. Schon gar nicht über Menschen.
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr
auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so
wird euch vergeben. So sagt es Jesus in der Bergpredigt.
Also: weniger richten, mehr zuhören, hinhören. Anstatt vorschnell zu urteilen, lieber
ersteinmal einen Schritt zurücktreten. Vielleicht sogar darüber schlafen.
Auch andere Menschen haben ihre Wahrheit, ihre Sichtweise. Wer weiß, wie die
Situation, die für dich klar zu sein scheint, aus ihrer Sicht aussieht. Kannst du dich
auch in ihre Position hinein denken?
Das ist manchmal leichter gesagt als getan. Du kannst einen anderen Menschen nur
verstehen, wenn du wenigstens in deiner Vorstellungskraft, ein paar Meilen in seinen
Mokassins, in seinen Schuhen gelaufen bist, sagt ein altes Indianersprichwort.
Richtet nicht, sagt Jesus, damit ihr nicht gerichtet werden.
Versucht stattdessen, barmherzig zu sein. Vielleicht gelingt es euch ja, das ihr im
Laufe eures Lebens, nicht zuletzt auf dem Weg eures Christseins, innerlich weiter
und von Herzen großzügiger werdet. Ist das so?
Ich will diesen Gedanken gern noch ein bisschen ausweiten. Es könnte ja tatsächlich
eine der besonderen Genüsse des Älterwerden sein: Nicht mehr zu allem eine
Meinung haben müssen. Nicht immer alles beurteilen müssen, weil man im Laufe
eines langen Lebens erfahren hat, dass alles mehrere Seiten hat. Dass alles Gute
eine Schattenseite und manches Übel ein Lichtseite hat. Dass jeder Mensch immer
auch ganz anders ist, als es den Anschein hat, dass man einfach nie genug wissen
wird,um eine Sache oder gar einen Menschen eindeutig und endgültig beurteilen zu
können. Das könnte ein Privileg der Ältern sein, in diesem Sinn mit wenig Urteilen
auszukommen.
Die Sache der Jüngeren ist es noch nicht, sollte es auch nicht sein. Das Privileg der
Jugendlichen ist es eine starke Meinung zu haben, deutlich Position zu beziehen, die
eigene Urteils-kraft zu schärfen und zu bilden,auch wenn es einmal einseitig und
übertrieben ist: eine These zu wagen und alles hineinzulegen, die ganze Wucht des
eigenen jungen Lebens. Und dann die Erfahrung zu machen, wie weit oder wie kurz
einen diese Meinung, diese Position, diese These trägt. Ob sie hält, was sie verspricht, oder ob sie an der widerspenstigen Wirklichkeit der Verhältnisse zerbricht,
ob sie den Menschen, mit denen man zu tun hat, nicht gerecht wird. Aus Fehlern
klug werden! Aber dazu muss man eben auch erst mal welche machen und machen
dürfen. Das kann auch bedeuten, als Jugendlicher es zu wagen, eine starke Meinung
beherzt aussprechen und dafür einstehen und sie dann auch zu revi-dieren, wenn
sich herausstellt, dass man falsch gelegen hat.
Das wäre doch eine schöne Gegenüberstellung der Älteren und der Jüngeren, und
die Beschreibung eines Lebensweges, auf dem wir, hoffentlich, immer weiter und
großherziger werden könnte. Aber so einfach ist es leider dann doch nicht.
Gerade in letzter Zeit gibt, auch auf den neuen elektronische Wegen, per Email und
Internet, viele Menschen, die zu allem und jedem sofort eine Meinung haben.
Oft genug leider auch ein vernichtendes, oft persönlich diffamierendes, abwertendes
Urteil. Der Anlass wechselt: die Äußerung eines Politikers oder anderen Würdenträgers, eine politische Entscheidung, die ich teile, eine kirchliche Maßnahme, die ich
so nicht getroffen hätte. Ein modernes Kunstwerk, das ich so nicht verstehe, ein
Restaurant, in dem ich neuerdings im Internet mein Essen, selbst das Auftreten des
Kellners bewerten kann. Neuerdings kann man im Internet ja fast alles so bewerten.
Es wird viel wahrgenommen, oft mit aller Wucht.
Und trifft jedesmal Menschen. Und ist ja oft noch harmlos gegen wachsende
Voruteile und festgezurrte Meinungen gegenüber ganzen Volksgruppen,
Nationalitäten, Rassen, Religionen, Fremden im allgemeinen. Es sind dazu gerade
wieder erschreckende Statistiken und Meinungsumfragen erschienen, und zwar durch
alle Altergruppen hindurch.
Dabei ist es sicher gut, zu den wichtigen Fragen des Lebens eine eigene Meinung zu
haben. Man wird sich dabei auch immer ein eigenes Urteil bilden müssen. Wer
Verantwortung trägt, muss Entscheidungen treffen über Dinge u.Menschen. Als
Bürger und Berufsmensch muss man sich ein Bild von Verhältnissen und Personen
machen und dann eine Wahl treffen. In diesem Sinne treffen wir alle sicher jeden
Tag viele Urteilen oder setzen einmal getroffene Urteile fort.
Doch als gereifter Mensch wird man dabei immer bedenken, wie eng und einseitig
dieses Bild ist, wie vorläufig das eigene Urteilen bleiben muss.
Zum Beispiel in einem Streit: Da muss man sein Recht kennen und für es eintreten,
sich gegen die Gegenseite verteidigen, sie zur Not auch in die Schranken weisen.
Dabei wird man aber bedenken müssen, dass man die Gegenseite nie ganz wird
verstehen können.
Um einen schwierigen Mitarbeiter, einen unleidlichen Geschäftspartner, einen
störrischen Verwandten wirklich beurteilen zu können– was müsste man da nicht
alles über ihn wissen (die Quellen seiner Wut, die problematische Kindheit, das
Unglück seiner Familie, sein ungelebtes Leben, seinen inneren Schmerz).
Das kann man nicht wissen, das soll und will man nicht wissen. Deshalb sollte man
in allem Streit sich einen Rest an Urteilsenthaltung bewahren, im anderen einen
Rest an Geheimnis bewahren und achten.
Und was für das Kleine, Zwischenmenschliche gilt, gilt auch für das Große,
Weltpolitische. Auch hier gilt es, sein Recht zu verteidigen, für die eigenen
Grundsätze einzutreten – zugleich aber die Grenzen des eigenen Wissens und
Urteilens zu wahren, also z.B. nicht über „den“ Islam zu richten,„die“ Amerikaner für
alles verantwortlich zu machen, den Krieg oder den Terror auf die eine oder andere
Ursache zu reduzieren, sondern auf der Komplexität der Weltverhältnisse zu
bestehen, das innere Geheimnis auch in den Seelen der Feinde zu achten, und nicht
zu richten.
Was sagt unser christliche Glaube dazu ?
Nun, Jesus ist in seinem Urteil über das Urteilen ( wenn man das denn so sagen
kann!) sehr klar. Er findet vorschnelles Urteilen lieblos und in letzter Konsequenz
auch immer unwahr.
Weil du als einzelner Mensch die Wahrheit eben nicht hast! Du hast nur deine
Blickweise, die durch deine eigenen Erfahrungen, Hoffnungen, Wünschen, nicht
zuletzt auch Verletzungen im Leben geprägt und insofern auch eingeschränkt ist.
Du siehst die Welt, die Dinge und eben auch die Menschen halt immer nur durch
deine Brille!
Das Bild, das Jesus dafür in der Bergpredigt findet, nimmt die Erkenntnisse der
modernen Psychologie von den sogenannten Projektionen schon vorweg.
Ihr kennt es wahrscheinlich alle:
Was siehst du a ber den Splitter in deines Bruders/ Schwester Auge und den Balken
in deinem Auge siehst du nicht? Wie kannst du zu einem Menschen sagen Halt still,
ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in
deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann
zu, dass du den Splitter aus deines Schwesters oder Bruders Auge ziehst!
Ich finde darin dreierlei:
Erstens bedeutet es, dass man innere Großzügigkeit und innere Weite nicht einfach
so hat. Es mag Menschen geben, denen ein entsprechend weitherziges
Temperament in die Wiege gelegt worden ist, aber die meisten Menschen müssen es
lernen, sich auf den oft dornigen Wegen des Lebens erarbeiten: den Balken vor dem
eigenen Augen wahrzunehmen, sich – auch ohne ihn zu verurteilen - mit ihm
auseinanderzusetzen und um diesen eigenen Balken vor den Augen, die eigene
Empfindlichkeit, Verletzlichkeit, auch Voreingenommenheit zu wissen.
Zweitens bedeutet das Wort von Jesus in seiner Konsequenz, finde ich, dass wir uns
der Wahrheit über eine Angelegenheit nur gemeinsam annähern können.
Alles hat verschiedene Seiten. Die Wahrheit ist wie ein Würfel, den du von allen
Seiten drehen und betrachten musst. So komplex, wie die Dinge nun mal sind, so
vielschichtig, Menschen erst recht, oft gar nicht auszuloten, ist so ein Würfel sicher
noch ein viel zu einfaches Bild. Also werden wir immer darauf angewiesen bleiben,
nicht über einander, sondern miteinander zu reden und uns auszutauschen, über
unsere je eigenen Wahrnehmungen, Ängste und Hoffnungen auch.
Wir haben heute als KGR wieder einen Einkehrtag. Da wird es auch wieder um die
Zukunft unserer Gemeinde und ihre zukünftige Gestalt gehen. Auch um Pläne und
Vorstellungen, die diese Kirche hier betreffen. Wir oder die Aramäer, wir und die
Aramäer, oder noch einmal ganz andere Entwürfe und Gedanken dazu. Bei dem,
was das an Gefühlen und unterschiedlichen gewachsenen Standpunkten berührt,
kann uns das Jesuswort vom Nicht- Richten eigentlich nur helfen.
Ich finde darin noch etwas Drittes, vielleicht das tiefste.
Ich habe es eben schon einmal angedeutet, als ich formuliert habe, wir können uns
als Menschen einer Wahrheit nur annähern. Ich habe das bewusst so gesagt.
Wir sehen die Welt und einander nur gebrochen, wie durch einen dunklen Spiegel,
wie Paulus sagt.
Erst am Ende aller Tage, fährt Paulus fort, werden wir erkennen, so wie wir vor Gott
schon erkannt worden kann. Dann werden wir sehen von Angesicht zu Angesicht.
Und er schliesst: Es bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe. Die größte unter ihnen aber ist
die Liebe. Was ein Mensch im letzten Geheimnis ist, was das Glück und die Aufgabe
seines Lebens ist, dass weiß Gott allein, das ist aufgehoben in seinen Händen.
Am Donnerstag während unseres Friedensgebetes hier in der Kirche kam mir dazu
folgendes Bild, dass ich gern mit Ihnen teile. Jeder Mensch ist ein Licht von Gottes
Licht. Auch wenn wir alle dieses Licht manchmal verdunkeln und gar nicht
wahrnehmen, in der Tiefe ist es doch so. Oder nicht ? Jeder Mensch ein Licht von
Gottes Licht, unabhängig von seiner Nation, seiner Religion, seiner Kultur, was auch
immer. Und dann kam dieser Gedanke zu mir: wie kann ich ein Vorurteil, ein festes,
negatives Urteil haben – gegen ein Licht ...!
Es bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe. Die größte unter ihnen aber ist die Liebe. Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.
Das ist auch der Taufspruch von Wladimir. Sie haben ihn für sich so ergänzt:
Unsere Händen werden dich halten, solange du es brauchst. Unsere Füße werden
dich begleiten, solange du es willst. Unsere Herzen werden dich lieben, solange wir
leben. Das ist wunderschön.
Wenn man Sie besucht, merkt man schnell, mit wieviel Liebe Sie Wladimir begleiten
– zur Zeit ist es ja eher ein Kreis der Frauen, aber auch das kann sich ja ändern.
Wladimir ist Ihr Augenstern, wie es in einem wunderbaren alten Wortbild heißt, und
er entwickelt sich unter Ihren Augen. Und Sie staunen, was er so alles an den Tag
bringt, immer wieder und weiter. Etwas, was Gott in ihmn angelegt hat, und was in
seiner Zeit Stück für Stück, nach und nach sich entwickeln, zeigen und ans Licht
kommen wird. Spannend. Manchmal sicher auch herherausfordernd. Aber vor allem:
ein großes Geschenk. So viel offenes Leben!
Ich wünsche Ihnen, dass Sie neugierig bleiben auf die Farben, die er mit und auch in
Ihr Leben bringt. Dass es Ihnen dabei nicht zu bund wird. Und dass Sie ihn daebi
nach Ihren Kräften unterstützen, mit sicherer Hand, auch klaren Meinungen und
Haltungen, wenn es um notwendige Grenzen geht. Aber doch offen und frei, ohne
ein festes Urteil.
Ich bin neugierig , was du noch alles an den Tag bringen wirst. Ich spüre in dir
Möglichkeiten, die du selbst vielleicht noch nicht einmal ahnst.
Auch so kann ein Bild aussehen, dass wir von einander haben, ein Bild, dass uns
nicht wie ein Urteil festschreibt, sondern Leben in all seinem Reichtum einlädt.
Gott - das ist seine tiefe Liebe - will, dass wir für die Zukunft leben. Und er will
nicht, dass wir uns gegenseitig an unserer Vergangenheit festnageln.
Und darum traut er uns zum, die Bilder, die wir voneinander haben, unsere
Konzepte, wie etwas sein zu hat (vielleicht einfach, weil es ja immer so war..) ,
dass wir das als Momentaufnahmen erkennen, die immer wieder durch neue und
hoffentlich lebensfreundlichere Bilder und Lebensentwürfe ersetzen.
Damit bleiben wir unterwegs. In unseren Beziehungen, mit unseren Kindern allemal.
Als Kirchengemeinde und gesellschaftlich auch. Es kann gut werden.
Amen.