Abiturrede von Schulleiter OStD Dr. Müller 18. Juni 2016 Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, verehrte Eltern und Angehörige, zunächst herzlichen Glückwunsch euch, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, zu dem höchsten schulischen Bildungsabschluss, den man in Deutschland erreichen kann. Der Glückwunsch gilt auch all denen, die euch unterstützt haben: Eltern, Großeltern, Verwandten, Freunden und vor allem Lehrerinnen und Lehrern, Erzieherinnen und Erziehern, aber auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Kosmos Kolleg. Ein besonderer Glückwunsch gilt unseren ausländischen Schülerinnen und Schülern der ehemaligen Euroklasse und damit auch den Lehrerinnen, die euch, die ihr teilweise ohne oder nur mit ganz geringen Deutschkenntnissen gekommen seid, in diesen wenigen Jahren Deutsch so beigebracht haben, dass ihr ein deutsches Abitur mit deutschem Literaturaufsatz oder Essay bestanden habt. Unter den fünf Euroschülerinnen und –schülern sind auch vier Schülerinnen und Schüler aus China und eine aus Korea, also aus einem ganz anderen Sprach- und Kulturraum. Ihnen gilt mein besonderer Respekt! Ihr habt die letzten Tage ausgiebig gefeiert – ist es möglich, dass man einigen die Spuren der Nacht noch ansieht? Das Feiern sei euch gegönnt. Heute ist der Tag des Abschieds gekommen; gleich folgt der Gottesdienst im Dom, wo wir alle so oft zusammenkamen. Dann geht ihr auseinander; die Schulzeit ist vorbei. Sie wird Geschichte. Zurück bleibt euer Bild im Flur des Erdgeschosses. Die Antwort auf die Frage, was von den Jahren am Kolleg außerdem noch bleibt, könnt ihr heute noch nicht geben. Dafür braucht ihr den Abstand einiger Jahre. Gewiss bleiben Freundschaften, Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse, darunter vielleicht Erfahrungen, nach denen ihr euch nicht gesehnt habt… Erst im Rückblick werdet ihr sagen können, ob etwas dabei war, was ein Leben lang trägt. Vielleicht bleibt ja ein Lied in Erinnerung: P. Joos erzählte mir vor einiger Zeit, wie er in den Ferien auf der Peloponnes am Strand liegend plötzlich hinter sich „ad maiorem dei gloriam“ singen hörte, und als er sich umdrehte, sah er zwei junge Frauen im Bikini, die ihn gar nicht wahrgenommen hatten, ich glaube, es waren Schülerinnen aus eurem Jahrgang. Oder vielleicht bleibt ja eine Lektüre, die ihr u. U. während der Schulzeit als etwas gar nicht Besonderes empfunden habt. Als ich meine Schülerinnen und Schüler fragte, welche Lektüre, welcher Text sie im Laufe ihres Schullebens besonders beeindruckt habe, bekam ich sehr verschiedene Antworten: Für manche war es eher eine Lektüre aus der Mittelstufe wie ‚Malka Mai‘ von Mirjam Pressler, worin die Geschichte eines jüdischen Mädchens, ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester im Zweiten Weltkrieg erzählt wird. Oder ‚Rotkäppchen muss weinen‘ von Beate Teresa Hanika, eine Geschichte über die Problematik des Missbrauchs. Genannt wurden auch ‚Der Richter und sein Henker‘ von Friedrich Dürrenmatt, Schillers ‚Räuber‘, Homers ‚Odysee‘. Bemerkenswert bei der Befragung: Mancher Schüler hätte sich mehr deutsche Klassiker gewünscht… Bei mir waren es Goethes ‚Faust‘, der mich als Schüler zunächst nicht sonderlich beeindruckt hatte, daneben die ‚Odyssee‘ – beide nehme ich bis heute immer wieder hervor und empfinde sie als ein großartiges Geschenk. Was ist imstande, eine lebenslange Beschäftigung anzustoßen? Der verstorbene Altkanzler Helmut Schmidt erzählte immer wieder, dass ihn ein Büchlein des römischen Kaisers Marc Aurel sein Leben über begleitet hat; er hatte es auch im Krieg dabei, und es hat ihm über manch schwere Situation hinweggeholfen. Bei Helmut Schmidt wird es so gewesen sein, dass er nur ganz wenige Bücher in den Krieg mitnehmen konnte und dass er dann dieses eine Büchlein, das in seiner Tasche war, immer wieder meditierend durchdachte. Ich kannte die ‚Selbstbetrachtungen‘ des Marc Aurel bislang nicht und habe sie erst jetzt gelesen. Wenige Sätze daraus will ich euch, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, mitgeben. Marc Aurel schreibt (2,8): „Diejenigen, die nicht mit Aufmerksamkeit den Bewegungen der eigenen Seele folgen, geraten notwendig ins Unglück.“ Den Bewegungen der eigenen Seele folgen – das ist sicherlich eine der wichtigsten Herausforderungen, die ihr in nächster Zeit zu bewältigen habt, wenn es um die Studien- und Berufswahl oder gar um die Entscheidung für einen Lebenspartner geht. Dass euch dieses gelingen möge, ist mein erster Wunsch. Für meinen zweiten Wunsch will ich etwas weiter ausholen: Erst die Neuzeit hat die Ratio wieder in ähnlicher Weise in den Mittelpunkt des Denkens und Handelns gerückt wie der Stoizismus. Die letzten beiden Jahre eurer Schulzeit waren von politischen Ereignissen geprägt, welche die Bedeutung der Ratio, (genauer gesagt: ihr Fehlen) für das Selbstverständnis Europas in leidvoller Weise vor Augen führten. Fanatismus und Terrorismus bekämpfen Denken und Rationalität. Nach den Anschlägen in Paris haben deshalb Demonstranten den großen Satz von René Descartes ‚Cogito ergo sum‘, ‚Ich denke, also bin ich‘ auf ihre Plakate geschrieben. Die Aufklärung ist auf dem Weg, den Marc Aurel eingeschlagen hat, weiter gegangen, indem sie echt stoisch - die Vernunft und die Pflichterfüllung in den Vordergrund gestellt hat. Immanuel Kant übersetzt den kurzen Satz ‚Sapere aude‘, der zum Leitspruch der Aufklärung wurde, so: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Rationalismus und Aufklärung gehören zu den geistigen Grundlagen Europas. Sie waren uns zur Selbstverständlichkeit geworden, und bis vor wenigen Jahren hätte niemand daran gedacht, dass die Europäer für diese Grundlagen würden kämpfen müssen. Die Tatsache, dass ihr ‚freeDom‘ zu eurem Motto gemacht habt, zeigt euer Verlangen nach Freiheit, eine Konsequenz aufklärerischen Denkens. Es passt in diese Zeit – tretet aktiv für sie ein. Das ist mein zweiter Wunsch. Der römische Dichter Horaz, von dem Immanuel Kant den Satz ‚Sapere aude‘ „gestohlen“ hat, hatte diesen in einen anderen Zusammenhang gestellt: ‚Dimidium facti, qui coepit, habet. Sapere aude! Incipe!‘ ‚Wer einen Anfang gemacht hat, hat schon die Hälfte des Vorhabens erledigt. Wage, deinen Verstand zu gebrauchen, und fang’ an.’ Daran will ich den dritten und letzten Wunsch, den ich euch mitgeben will, anknüpfen: Ich wünsche euch die Kraft, Dinge, die ihr als richtig erkannt und durchdacht habt, auch wirklich anzugehen. Das Verschieben von Dingen, die man am besten gleich tun sollte, scheint mir ein großes Problem eurer Generation zu sein. Dieses Problem hat sogar einen eigenen Namen erhalten „Procrastination“. Oft bleiben wichtige Dinge unerledigt – und ein „schade“ bleibt zurück. Manchmal ist es auch mehr als nur ein „schade“; ja, das Nicht-Angehen-Wollen kann geradezu zu moralischem Versagen führen. Marc Aurel führt dazu aus (9,5) „Oft tut auch der Unrecht, der nichts tut; wer das Unrecht nicht verbietet, wenn er es kann, befiehlt es.“ In diesem Sinne: - Incipe – pack’s an!
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