Evian: Die wahre Geschichte des DFB-Quartiers Täglich vier Seiten EM-taz zur Euro 2016 ▶ Seite 15 bis 18 AUSGABE BERLIN | NR. 11042 | 24. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ MONTAG, 13. JUNI 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND USA: Terror in Schwulenclub ORLANDO Ein Attentäter erschießt in einem Nachtclub 50 Menschen, mindestens 53 weitere werden verletzt. Es gibt Hinweise, dass die Tat einen homophoben Hintergrund hat, so das FBI ▶ SEITE 2 NETZ Jacob Appelbaum, eben noch Held der Hackerszene, muss sich Vergewaltigungsvor würfen stellen ▶ SEITE 13 NAHRUNG Der iscounter dm vertreibt D Produkte der Naturkost marke Davert. Das sorgt für Ärger ▶ SEITE 7 NAZIS Berlusconi-Zei tung legt Hitlers „Mein Kampf“ der Samstag ausgabe bei ▶ SEITE 19 Foto oben: Björn Kietzmann VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! Für die nachfolgende Meldung trägt verboten keinerlei Verant wortung: In Indonesien ist ein Boot mit 44 Flüchtlingen in Seenot ge raten. Die eingeschalteten Behörden erklärten, alle Pas sagiere seien in guter Verfas sung. Das Boot sei seetauglich, nur der Motor sei ausgefallen, weshalb es in indonesische Gewässer getrieben sei. Da die Passagiere keine Einreise erlaubnis haben, werde es in internationale Gewässer hinausgeschleppt. Merke: Niemals kann verboten so zynisch sein wie die nackte Wahrheit. Freund*innen und Familienangehörige der Opfer in Orlando, Florida Foto: Steve Nesius/reuters „Einige Probleme“ CHINA Merkel mahnt bei Besuch Verbesserungen an PEKING dpa | Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat in Peking offen über Bedenken der EU-Kommission gesprochen, China, wie vor 15 Jahren versprochen, in diesem Jahr als Marktwirtschaft einzustufen. „Ich kenne die Vorgeschichte sehr gut, und ich weiß, dass es viele Anstrengungen gibt in China. Wir haben aber einige Prob- leme.“ Merkel ging speziell auf Chinas Stahlüberproduktion ein. „Das ist ein großes Problem für europäische Stahlhersteller. Wir müssen schauen, dass wir faire Wettbewerbsbedingungen haben.“ Am Montag sind in Peking die vierten deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen geplant. ▶ Wirtschaft + Umwelt SEITE 6 Abgeordnete unter Schutz BUNDESTAG Polizei schützt Parlamentarier nach Armenien-Resolution BERLIN taz | Nach den Mord- drohungen gegen elf deutschtürkische Bundestagsabgeordnete erhalten diese seit dem Wochenende Polizeischutz. Das Auswärtige Amt warnte die Abgeordneten zudem vor Reisen in die Türkei: Ihre Sicherheit sei dort derzeit nicht gewährleistet. Seit der verabschiedeten Armenien-Resolution im Bundes- tag sind die Politiker massiven Bedrohungen ausgesetzt. Der türkische Staatspräsident Erdo ğan hatte sie als Terrorhelfer bezeichnet, im Internet tauchten Steckbriefe und Kopfgelder auf. Die betroffene Linken-Politikerin Sevim Dağdelen forderte ein Einreiseverbot für Erdoğan. Dieser müsse nach seinen Ausfällen Sanktionen spüren. Gökay Sofuoğlu, Chef der Türkischen Gemeinde Deutschlands, kritisierte die Forderung. „Alle sollten den Ball jetzt flacher halten“, sagte er der taz. Sein Verband lud die Fraktionschefs aller Parteien, Bundestagspräsident Norbert Lammert und die Integrationsbeauftragte Aydan Özoğuz zum Austausch ein. ▶ Inland SEITE 5 TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.951 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 10624 4 190254 801600 KOMMENTAR VON FELIX LEE ZU MERKELS PEKINGREISE UND CHINAS WIRTSCHAFTSPOLITIK B Ungehemmter Freihandel rechnet sich nicht undeskanzlerin Angela Merkel und das halbe Bundeskabinett diskutieren auf ihrer anderthalbtägigen Pekingreise mit der chinesischen Führung darüber, ob China den Status einer Marktwirtschaft verdient hat. Denn gerade in den vergangenen Monaten häufen sich in Deutschland und weltweit berechtigte Klagen, dass Chinas Unternehmen mit einer massiven Überproduktion, etwa von Stahl, die Weltmärkte überschwemmen und mit Dumpingpreisen ausländische Konkurrenten aus dem Markt drängen. In dem Streit verhalten sich beide Seiten, als müssten offene Märkte das Ziel jeder Entwicklung sein. Doch diese Sichtweise geht an den globalen Problemen vorbei, wie zuletzt auch der Streit über den transatlantischen Freihandel zeigt. Obwohl China immer darauf beharrt, einen anderen Weg zu gehen, macht die Regierung in Peking den Fehler, dem marktliberalen Mantra zu folgen. Das kurzfristige Ziel des chinesischen Premierministers Li Keqiang ist klar: Er will der eigenen, vom Wachstumsdiktat aufgeblähten Industrie eine Möglichkeit geben, ihren Überschuss an Solarpanelen und Stahl in einer anderen Weltgegend abzuladen, um daheim die Arbeitsplätze zu sichern. Die EU-Kommission und die Bundesregierung wettern verständlicherweise dagegen. Doch statt Missstimmung gegen die EU zu erzeugen, sollte die kommunistische Führung sich besser die richtigen Grundsatzfragen stellen. Ist ungehemmter Freihandel langfristig in Chinas Interesse? Offensichtlich nicht. Im Gegenteil: Das Land ist jahrelang gut damit gefahren, die eigenen Bürger und Betriebe vor dem Zugriff des US-geprägten Globalkapitalismus zu schützen. Eine Mischung aus Protektionismus zum Aufbau einer eigenen Indus- Ist eine Wirtschaftsweise des „höher, weiter, mehr“ langfristig nachhaltig? trie auf der einen Seite und der Hinwendung zum Welthandel auf der anderen – diese Kombination erklärt zumindest ein Stück weit Chinas Aufstieg zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt. Und: Ist eine Wirtschaftsweise des „Immer höher, immer weiter, immer mehr“ langfristig nachhaltig? Auch das Wachstum in China kennt Grenzen, wie die Luftverschmutzung, die Überkapazitäten und die Phantomschmerzen nach dem Sinken des Wachstums zeigen. Statt dem Westen in den Freihandelsirrsinn zu folgen, sollte Peking also lieber mit der Kanzlerin über ein Handelssystem diskutieren, das Kontrollen und Engpässe durchaus vorsieht. Zum Wohle aller. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Schwerpunkt MONTAG, 13. JU N I 2016 USA PORTRAIT Sie kamen, um zu feiern. Bis ein Mann um sich schoss. War es Hass auf Schwule? Todesschüsse zum Tanz in die Nacht MORD Beim Angriff in einer Schwulendisco in Orlando sterben 50 Besucher. Die Polizei identifiziert den Täter als Als Mensch nicht ernst genommen: Gina-Lisa Lohfink Foto: dpa Opfer von Sexismus S ie ist jetzt schon die größte Frauenrechtlerin, die Heidi Klums „Germanys Next Top Model“ hervorgebracht hat. Gina-Lisa Lohfinks Fall veranlasste nun sogar Manuela Schwesig zu einer Stellungnahme. „Wir brauchen die Verschärfung des Sexualstrafrechts“, sagte die Familienministerin vergangene Woche. Hintergrund ist ein Video aus dem Jahr 2012. Darin sieht man zwei Männer, die abwechselnd mit Lohfink Sex haben. Zwischendurch tanzt sie, dann wirkt sie betäubt. Und mehrfach sagt sie „Hör auf“. Klingt wie ein eindeutiger Beweis, dass es sich um eine Vergewaltigung handelt. Das Video verbreitet sich gegen ihren Willen, Lohfink zeigt die beiden mutmaßlichen Täter an, sagt der Polizei, sie glaube K.-o.-Tropfen bekommen zu haben. Ein Gutachter befindet, das Video würde nicht beweisen, dass sie betäubt wurde. Auch eine Vergewaltigung sah das Gericht nicht dadurch bewiesen. Bei dem letzten Verhandlungstermin Ende Mai wird sie im Gericht von Zuschauern als „Hure“ beschimpft. Die Personalien werden nicht aufgenommen. Sie fühle sich von Polizei und Staatsanwaltschaft nicht richtig ernst genommen, sagte Gina-Lisa Lohfink der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Viele Medien berichten eher über ihre Brüste als über Details des Falls. Und erinnern wie zum Beweis an ihre bisherige Karriere. Die 1986 im hessischen Seligenstadt geborene Lohfink machte nach der Schule eine Ausbildung zur Arzthelferin. Sie nahm an verschiedenen regionalen Schönheitswettbewerben teil, bis sie sich 2008 auf die dritte Staffel von Heidi Klums Castingshow „Germany’s next Topmodel“ bewirbt. Nachdem Lohfink dort als Schnattertante für den Unterhaltungswert sorgte, sah man sie in diversen Reality-Formaten oder neben Richard Lugner auf dem Wiener Opernball. Sie war im Playboy, drehte Amateurpornos. Oder man las, dass sie sich von Frederic von Anhalt adoptieren lassen will, um ihre Schauspielkarriere mit einem Adelstitel voranzutreiben. Jetzt ist die 29-Jährige die meistdiskutierte Frau des Landes und stößt eine wichtige Debatte an: Wie geht die Gesellschaft mit mutmaßlichen Opfern sexueller Gewalt um? LAURA EWERT Muslim mit familiären Wurzeln in Afghanistan und schließt ein Hassverbrechen oder Terrorismus nicht aus AUS WASHINGTON FRANK HERRMANN Es ist das schlimmste Schusswaffenmassaker der US-Geschichte: In der Nacht zum Sonntag hat ein Angreifer in einem Nachtclub in Orlando 50 Menschen getötet und mindestens 53 verletzt. Das FBI sprach von einem möglicherweise terroristischen Hintergrund. Bei dem Täter handelt es sich um Omar Saddiqui Mateen, einen in den USA geborenen, in Florida lebenden 29-Jährigen, dessen Eltern aus Afghanistan stammen. Mateen soll bei einer privaten Sicherheitsfirma angestellt gewesen sein. Begonnen hatte das Töten zwei Stunden und zwei Minuten nach Mitternacht, als der Mann, bewaffnet mit einem Sturmgewehr, einer Pistole und weiteren Waffen, das beliebte Lokal im Zentrum Orlandos stürmte und zu schießen begann. Zu dieser Zeit waren über dreihundert Gäste im „Pulse“, einem Club, zu dessen Stammpublikum Schwule und Lesben zählen. Auf dem Programm stand eine Nacht mit lateinamerikanischer Musik. Gegen 5 Uhr beschloss eine Sondereinheit der Polizei, das Gebäude zu stürmen, um die Geiseln zu befreien. Dabei, so John Mina, der Polizeichef Orlandos, sei es zu einem Feuergefecht zwischen dem Geiselnehmer und neun Beamten gekommen, bei dem der Täter erschossen und ein Ordnungshüter am Kopf verletzt worden sei. Nach Darstellung Minas hatte der Angreifer zunächst zu fliehen versucht, nachdem er in dem Club ein Blutbad angerichtet hatte. Ein einzelner Polizist, der nicht im Dienst war und sich offenbar als Türsteher etwas dazuverdiente, soll sich ihm in den Weg gestellt haben. Da raufhin soll der Schütze in das Gebäude zurückgerannt sein und Geiseln genommen haben. Unklar war zunächst, wie viele Menschen starben, als Mateen um 2.02 Uhr zu feuern begann, und wie viele die Geisel- befreiung mit ihrem Leben bezahlten. Das Police Department Orlandos sprach von ungefähr 30 Personen, die man durch die Erstürmung gerettet habe. Nach den Worten eines FBIErmittlers wird das Verbrechen als ein möglicherweise terroristischer Akt untersucht. Es gehe es auch um etwaige Verbindungen zu radikalislamischen Terrorgruppen, nichts werde ausgeschlossen. „Wir prüfen alle Aspekte“, sagte FBI-Vertreter Ronald Hopper. Es gebe erste Hinweise darauf, dass der Schütze Kontakte zur radikalislamischen Szene unterhielt. Allerdings seien das noch keine definitiven Erkenntnisse. Ein FBI-Ermittler ergänzte, es stehe auch die Möglichkeit „Ich habe Schüsse gehört, einer nach dem anderen nach dem anderen. Das kann einen ganzen Song lang gedauert haben“ BARBESUCHER CHRISTOPHER HANSEN im Raum, dass sich der Angriff gegen Homosexuelle gerichtet haben könnte. Der Vater des mutmaßlichen Täters sagte, er glaube nicht an ein religiöses Motiv. Er berichtete, sein Sohn sei einmal extrem ärgerlich geworden, als sich zwei Männer in der Öffentlichkeit geküsst hätten. Augenzeugen schilderten, dass viele Besucher im „Pulse“ zunächst an einen Clou glaubten, als die ersten Schüsse fielen. Rosie Feba war zum ersten Mal mit ihrer Freundin im „Pulse“. Als Mateen zu feuern begann, versuchte sie ihre Freundin noch zu beruhigen. „Ich sagte ihr, das kann nicht echt sein, das gehört bestimmt zur Musik. Bis ich sah, dass der Mann wirklich Nach dem Attentat in Orlando: Die Polizei sperrt die Umgebung ab Foto: Phelan M. Ebenhack/ap Wie der Hass in Amerika tötet GEWALT schoss“, erzählte sie der Lokalzeitung Orlando Sentinel. „Es ist einfach schockierend“, sagte Christopher Hansen, ein anderer Besucher des Clubs. Er habe Schüsse gehört, „einer nach dem anderen nach dem anderen. Das kann einen ganzen Song lang gedauert haben.“ Hansen saß an der Bar und hatte gerade einen Drink bestellt. Dann „sah ich einen Körper nach dem anderen auf den Boden fallen“, berichtete er. Als Buddy Dyer, der Bürgermeister Orlandos, im Laufe des Tages an ein Mikrofon trat, rang er sichtlich um Fassung. „Wir haben es mit etwas zu tun, was wir uns nie vorstellen konnten, mit etwas, was einfach unvorstellbar ist“, sagte er. THEMA DES TAGES Das Verbrechen von Orlando reiht sich in eine Serie von Taten ein, die als Hasskriminalität bezeichnet werden BERLIN taz | Den USA steht mög- licherweise eine neue giftige Debatte im Wahlkampf bevor. „Eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich“ hatte der Täter in Orlando ein „ideologisches Motiv. Das sagte ein Vertreter der Sicherheitsbehörden am Abend. Aus einzelnen Informationen setzte sich am Sonntag allmählich ein Bild zusammen, das auf einen islamistisch motivierten Überfall hindeutet. Ein Indiz dafür war, dass, direkt nachdem die Polizei erste Informa tionen über den Täter öffentlich gemacht hatte, ein Vertreter einer muslimischen Gemeinde vor „vorschnellen Schlüssen“ warnte. Sollte sich das Motiv des Täters als islamistisch herausstellen, dürfte dieser Appell wenig helfen. Im Dezember 2015 hatte ein islamistisch radikalisiertes Ehepaar 14 Menschen erschossen und 21 verwundet. Der potenzielle republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump konnte ein solches Attentat in seinem rassistisch geprägten Wahlkampf nutzen. Mindestens 50 Tote bei einem Überfall oder einem Amoklauf sind selbst für die USA eine verstörende Größenordnung. Schießereien, Mehrfachmorde und Überfälle an öffentlichen Orten indes sind nicht selten. In den Vereinigten Staaten gibt es deshalb Sparten in der Statistik, die in Deutschland relativ unbekannt ist: Sie heißen „Mass Shooting Tracker“ (Monitor der Massenschießereien) oder auch „Timeline of Mass Killings“ (Zeitschiene von Mehrfachmorden). Die Kriterien, nach denen ein Vorfall zu den Massenschießereien oder zu Mehrfachmorden gezählt wird, variieren. Entsprechend unterscheiden sich auch die Gesamtzahlen, mit denen hantiert wird. Nach der Definition des Trackers von mindestens vier Toten oder Verwundeten gab es im Jahr 2015 372 Massenschießereien, mit 475 Toten und 1870 Verwundeten. Das Magazin Mother Jones dagegen spricht eher von dem, was man in Deutschland unter einem Schusswaffenanschlag versteht. Dazu gehörten Schießereien, bei denen Einzeltäter mindestens vier Menschen an einem öffentlichen Ort töten. In den vergangenen 30 Jahren gab es in den USA demnach etwa 80 Schusswaffenanschläge, vier davon im vergangenen Jahr. Seit der Nacht auf Sonntag steht auch Orlando in Florida auf jenen Listen von „Tracker“ und Mother Jones, zusammen mit San Bernardino in Kalifornien, Charleston in South Carolina, Newtown in Connecticut oder Aurora in Colorado. Diese Städtenamen haben sich ins öffentliche Bewusstsein eingebrannt. Sie stehen zugleich stellvertretend für Konflikte in der US-Gesellschaft. Und die meisten zeigen ein ums andere Mal das massiv Problem des freien Waffenbesitzes. Bis zu der Tat von San Bernardino hatte zuletzt die Diskussion über rassistische Gewalt viele Debatten in den USA bestimmt. Insbesondere nachdem in Ferguson, Missouri, im Sommer 2014 der junge Schwarze Michael Brown von einem Poli- zisten erschossen worden war, folgten bei weiteren solchen Fällen Proteste und Demonstra tionen im ganzen Land. Im Juni vergangenen Jahres dann hatte ein Anhänger des Ku-KluxKlan neun Afroamerikaner in einer Kirche in Charleston erschossen. Städte wie Aurora und Newtown stehen für willkürliche öffentliche Morde aus anderen, nicht politischen Motiven. In Newtown hatte im Dezember 2012 ein 20-Jähriger 27 Menschen erschossen. Obama und Vizepräsident Joe Biden hatten nach Newtown eine Initiative für strengere Waffengesetze angekündigt. Angesichts des Widerstands im USKongress reichten die dann beschlossenen Maßnahmen aber BARBARA JUNGE nicht weit. Schwerpunkt Wald MONTAG, 13. JU N I 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Eichen werden immer anfälliger für Schädlinge. Und teilen das mit. Ihre Hilferufe wollen Wissenschaftler jetzt genauer untersuchen AUS RHINOW HEIKE HOLDINGHAUSEN Wo bleiben sie nur, Puppenräuber und Erzwespen, Raupenfliegen und Kuckuck? Ganz sicher hat der Wald sie schon benachrichtigt. Maren Grüning will wissen, wie. Darum steht die 27- jährige Doktorandin an einem sonni gen Maimorgen mit einem Brat schlauch, einem Plastikschlauch ähnlich einer Frischhaltefolie, und einer Isomatte in einem Eichenwald. Dass die 120 bis 150 Jahre alten Eichen sich untereinander verständigen und Mitteilungen an Insekten und Parasiten aussenden, wissen die Bodenkundlerin und ihre Kolleginnen. Aber wie genau funktioniert die Kommunikation – und was sagen die Bäume? „Achtung, ich werde angeknabbert“ oder „Hallo, hier gibt’s Raupen zu fressen“? Ein Hilferuf wird es wohl sein, denn der etwa 4,4 Hektar große Eichenwald bei Rhinow im brandenburgischen Havelland ist von dem gefräßigen Eichenprozessionsspinner befallen, und zwar massenhaft. Doch Puppenräuber und Kuckuck, die natürlichen Feinde der Raupe, bleiben aus. Und so kräuseln sich braungrau an Stämmen und Ästen die Nester des vergangenen Jahres. Dazwischen stapfen die Biologen, Forstwissenschaftler und -ingenieure des Forschungsprojekts MOPM umher. „MOPM“ steht für „Modelling Oak Processionary Moth“ und ist ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Projekt der Uni Göttingen. Die Wissenschaftler tragen gelbe Schutzanzüge – denn die Raupen und Nester des Falters haben es in sich (siehe Kasten). Hightech und Basteln In Schulterhöhe wickelt Maren Grüning einen Bratschlauch um einen Eichenstamm. Mit einem Heißluftföhn aus dem Baumarkt erhitzt sie den Schlauch am oberen und unteren Rand: Der Kunststoff schrumpelt zusammen und zieht sich fest um den Stamm. „Bei Kiefern müssen wir immer aufpassen, dass wir nichts abfackeln“, sagt Grüning. Zusätzlich dichtet sie die Schlauchränder mit zwei Streifen Isomatte ab, die fest mit Gurten um den Baum gezogen werden. Fertig ist das Vakuum. Mittels eines Ventils, das Grüning in den Schlauch gebastelt hat, leitet sie nun gefilterte Luft hinein. Und jetzt? „Jetzt warten wir“, sagt Grüning. Ihre These: Der Baum sendet ununterbrochen Signale an seine Umwelt aus, und zwar mittels flüchtiger Moleküle, sogenannter Volatile Organic Compounds, kurz VOCs. Zigtausende der Moleküle kennen Biochemiker schon, aber sie ahnen, dass sie die meisten noch nicht entdeckt haben. „Wir stehen hier in einem riesigen Duftstoffgemisch, aber uns fehlen die Sinne, um es wahrzunehmen“, sagt Grüning. Die Bäume besäßen vermutlich Rezeptoren für die Moleküle, auch Insekten könnten die Botschaften entziffern. „Aber wie das genau funktioniert“, die Forscherin zuckt mit den Schultern, „keine Ahnung.“ Nach zwei Stunden zieht sie die Luft unter dem Bratschlauch durch das Ventil in ein spezielles Röhrchen. Das wandert in ein sündhaft teures Massenspektrometer der Uni Freiburg, Kooperationspartner der Göttinger. Hightech meets Selberbasteln, Ungestörtes Festmahl: Die Raupen fressen die Eiche kahl. Die ruft dann wohl deren natürliche Feinde herbei Foto: A. Jagel/picture alliance Die Eiche riecht gestresst UMWELT In einem Eichenwald im brandenburgischen Havelland versuchen Forstwissenschaftler die Sprache der Bäume zu entziffern. Sie glauben, dass das Gequassel des Waldes den Klimawandel befeuert so funktioniert Forschung im Wald. In dem Massenspektro meter werden die Stoffe analysiert, die der Baum ausgeatmet hat. Kolleginnen von Grüning messen auf ähnliche Weise VOCs von Blättern, Wurzeln und Waldboden. Dazu rammen sie ein beschnittenes Abflussrohr in den Boden und dichten es ähnlich der Bratschlauchmethode ab. Nach zwei Stunden wird die Luft abgesaugt und im Labor untersucht. „Uns interessiert nicht der einzelne Baum, sondern der Wald als System“, sagt Grüning. Sie will nicht nur die Sprache des Waldes entschlüsseln, sondern interessiert sich auch dafür, was sein Gerede bewirkt. Denn die VOCs sind Kohlenstoffverbindungen wie die Treibhausgase Kohlendioxid und Methan. Die Göttinger Wissenschaftler nehmen an, dass sich die Luft in einem stark von Schädlingen befallenen Wald anders zusammensetzt als in einem gesunden. „Unsere Wälder wandeln sich von Kohlenstoffsenkern zu Kohlenstoffquellen, wenn der Schädlingsbefall stark und wiederkehrend ist“, sagt Anne Arnold, Leiterin des Göttinger Forschungsprojekts und Chefin von Maren Grüning. Allein in Brandenburg seien von den 1,1 Millionen Hektar Maren Grüning, mit Bratschlauch und Isomatte Foto: Heike Holdinghausen Wald etwa 150.000 Hektar betroffen. Almut Arneth erforscht am Institut für Meteorologie und Klimaforschung des Karlsruhe Institute of Technology (KIT) die Wirkungen des Klimawandels in Wäldern. „Dass VOCs eine zen trale Rolle im Kohlenstoffhaushalt spielen“, sagt sie, „darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“ Bislang spielen sie in der Debatte über die Treibhausgasbilanzen der Wälder kaum eine Rolle. „Es ist interessant, sich das anzuschauen“. Der Baum wird krank Um das Patent mit den Bratschläuchen genauer anzuschauen, ist Katrin Möller in das Wäldchen nach Rhinow gefahren. Die promovierte Biologin leitet den Fachbereich Waldschutz des Landeskompetenzzentrums Forst in Eberswalde und sorgt sich um die Eichen. Mit hungrigen Raupen kommen die in der Regel gut klar. Schon vor der letzten Eiszeit in Mitteleuropa heimisch, hatten sie lange Zeit, um einen gemeinsamen Lebensraum mit über tausend Insekten zu bilden. Frühlingseulen, Eichenwickler, Eichenkarmin, Großer Goldkäfer, Eichenprachtkäfer, alle leben in und von den Eichen. Die Bäume gehen mit dieser „Eichenfraßgesellschaft“ souverän um: Die Blätter treiben zuerst im Mai aus, dann noch mal im Juni und August. Ab- und angefressene Blätter werden stetig ersetzt, Baum und Schädling leben im Gleichgewicht. In Brandenburg allerdings nicht mehr, sagt Möllers. „Die frisch geschlüpften Raupen des Eichenprozessionsspinners sind sehr empfindlich“, sagt die Biologin, „im kalten, wechselhaften Aprilwetter sterben die meisten.“ Aber im deut- Haarige Raupe ■■ Das Tier: Der Eichenprozes sionsspinner gehört zur Familie der Zahnspinner und ist in Mittel europa heimisch. Der Nachtfalter fliegt zwischen Juli und Anfang September. Die langen Haare sei ner Raupe sind harmlos, doch die winzigen Härchen älterer Raupen können Allergien und Asthma anfälle auslösen. ■■ Das Gift: Befallene Forste werden aus Hubschraubern mit einem biologischen Schädlings bekämpfungsmittel besprüht. „Dipel ES“ enthält ein Protein, das im Darm von Schmetterlings larven in Gift umgewandelt wird. Sie hören auf zu fressen und sterben. (hol) schen Nordosten ist der April immer seltener kalt und wechselhaft, sondern warm und trocken. Darum überleben immer mehr Raupen, stürzen sich auf das frische Grün der Eichen und fressen diese Jahr für Jahr kahl. „Zwei, drei Jahre halten die das durch“, sagt Möller, „aber sehen sie das?“, fragt sie, und zeigt auf die vielen dicken, kahlen Äste im Blättermeer. Werden die Eichenblätter zu oft abgeknabbert, fehlen Reservestoffe. Die sind aber nötig, damit auch im neuen Jahresring das geniale Wasserleitsystem im Baum gebildet werden kann. Die Wasserversorgung bricht zusammen, junge Triebe werden immer seltener. Der Baum wird krank. „Wenn dann noch Dürre, Käfer und Pilze hinzukommen“, sagt Möller, „dann stirbt der Wald.“ Soll er doch, meint Tomas Brückmann vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND). Der Experte für Pestizide und Biodiversität sagt, auch ein Eichenwald sei eine Monokultur. Bayern habe vorgemacht, wie mit solch einer Situation umgegangen werden sollte: „Man lässt den Wald zusammenbrechen“, sagt Brückmann, „und lässt ihn dann wieder austreiben.“ Ganz von allein würden sich dort Bäume ansiedeln, die mit dem Boden, der Feuchtigkeit und dem Klima der Region gut klarkämen. Ein wenig könne der Förster auch nachhelfen, und ökonomisch interessante Bäume unterstützen: Gelenkte Sukzession nennt sich das und ist für Brückmann das beste Mittel gegen gestresste Wälder. Möller findet das kurzsichtig: „In Brandenburg wachsen auf 78 Prozent der Waldfläche noch immer Kiefern“, sagt sie, „da haben Eichen und Eichenmischwälder eine herausragende Bedeutung und sollten unbedingt erhalten werden.“ Die Forstverwaltungen im Land haben erkannt, dass Kiefernmonokulturen dem Klimawandel nicht gewachsen sind. Im Mittelpunkt ihrer Waldumbauprogramme steht die Eiche, und ausgerechnet die schwächelt nun. Um sie zu schützen, hat man nicht nur in Brandenburg auch dieses Jahr wieder zur Giftspritze gegriffen. Maren Grüning kann das nachvollziehen, schließlich hätten die Bäume auch eine ökonomische Bedeutung. Die Eichen in dem Wäldchen bei Rhinow verkauft ihr Besitzer als Schnittoder Brennholz; für den Landwirt sind sie ein wesentlicher Teil seines Einkommens. Für Grüning sind sie jetzt aber erst mal Schattenspender. Nachdem sie stundenlang mit Bratschläuchen und Rohren durch den Wald gestapft ist, lässt sie sich für ein Päuschen in einer Lichtung nieder. Es duftet nach Gundermann und Erde, und ganz nah ruft ein Kuckuck. Na immerhin.
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