Manuskript

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Freitag, 17.06.2016
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Susanne Stähr
Beglückend gelungen
Tchaikovsky & Grieg
Piano Concertos
Denis Kozhukhin
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
Vassily Sinaisky
PENTATONE PTC 5186 566
Singend, atmend, schweigend
Peter Tschaikowsky
Geistliche Chormusik
NDR Chor • Philipp Ahmann
Carus 83.338
Delikate Phrasierung
Mozart: Gran Partita
Royal Academy of Music Soloists Ensemble
Trevor Pinnock
LINN RECORDS CKD 516
Eigenartige Befangenheit
MOZART
VIOLIN SONATAS
KV 10, 14, 30, 301, 304, 379, 481
CÉDRIC TIBERGHIEN
ALINA IBRAGIMOVA
hyperion CDA 68091
Unverwechselbares Profil
PIERRE HANTAÏ | SCARLATTI 4
MIRARE MIR 285
Wunderbar beseelter Dialog
BRAHMS
CELLO SONATAS
MARIE-ELISABETH HECKER
MARTIN HELMCHEN
ALPHA CLASSICS 223
Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ … am Mikrophon begrüßt Sie herzlich:
Susanne Stähr. Gleich sechs neue CDs habe ich Ihnen mitgebracht – und ein Repertoire
vom Barock bis zur Romantik, das bunt ist wie ein Sommerstrauß: Schlachtrösser,
Mönchsgesänge und Aristokraten beim Tanze werden uns begegnen, die russische Seele
und der romanische Intellekt. Oder, um es konkret zu sagen: Der NDR Chor singt geistliche
Chormusik von Peter Tschaikowsky, Trevor Pinnock dirigiert die „Gran Partita“ von Mozart,
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und ihm, dem „Götterliebling“ Wolfgang Amadeus, widmen sich auch die Geigerin Alina
Ibragimova und ihr Klavierpartner Cédric Tiberghien. Marie-Elisabeth Hecker und Martin
Helmchen dagegen haben sich die Brahmsschen Cellosonaten vorgenommen, und Pierre
Hantaï erkundet auf dem Cembalo die Wunderwelten Domenico Scarlattis. – Zum Auftakt
der heutigen Sendung aber hören wir den Pianisten Denis Kozhukhin und das RundfunkSinfonieorchester Berlin – mit einem ganz unbekannten Werk:
Peter Tschaikowsky: Klavierkonzert Nr. 1 b-Moll op. 23,
1. Satz (Ausschnitt)
3:20
Zugegeben: Eine Rarität ist es nicht gerade, die Denis Kozhukhin mit dem RundfunkSinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Vassily Sinaisky bei PENTATONE eingespielt
hat. Ganz im Gegenteil: Peter Tschaikowskys erstes Klavierkonzert ist genau das, was man
ein „Schlachtross“ nennt. Hier können die Virtuosen brillieren und ihre Pranke vorführen. Die
Hörer wiederum lieben es, weil es so wunderbar schmissig ist und die Melodien einem sofort
ins Ohr gehen. Kaum ein anderes Werk ist öfter eingespielt werden, mehr als 200 Aufnahmen und Mitschnitte liegen vor. Braucht es da wirklich noch eine weitere? Wenn man
Denis Kozhukhin mit Tschaikowskys Dauerbrenner hört, dann lautet die Antwort: Ja! Schon
die ersten Takte gleichen einer Demonstration – man hat das Gefühl, nicht einem Klavier
allein, sondern einer ganzen Armada zu begegnen. Doch trotz aller Klang- und Kraftentfaltung ist Kozhukhins Spiel frei von jeder Härte oder Brutalität, sein Anschlag ist nicht
stählern, sondern opulent, warm und rund. Wer diesen Pianisten einmal live erlebt hat, ist
vom ersten Augenblick an beeindruckt von der absoluten Ruhe und Gelassenheit, die er
ausstrahlt – es ist die Aura eines Herrschers an den Tasten. Und der hat es nicht nötig, sich
mit äußerlichen Effekten zu begnügen. Die lyrischen Passagen im langsamen Satz zum
Beispiel interpretiert er so raffiniert abschattiert, als ob es sich um ein Debussy-Prélude
handelte. Hören Sie selbst:
Peter Tschaikowsky: Klavierkonzert Nr. 1 b-Moll op. 23,
2. Satz (Ausschnitt)
3:15
Das war der Beginn des „Andantino semplice“, des zweiten Satzes aus Tschaikowskys
erstem Klavierkonzert mit Denis Kozhukhin, der den kontemplativen Charakter genau trifft:
Er nimmt sich Zeit, um die Musik ruhig ausschwingen zu lassen, er kostet die Phrasen aus
und scheint dabei die Tasten regelrecht zu streicheln – ein größerer Kontrast zum
kraftbetonten Beginn des Kopfsatzes ließe sich nicht denken. Aber der 30-jährige Kozhukhin
hat von ganz verschiedenen Lehrern profitiert: Für die russische Schule, die man seinem
Spiel fraglos anhört, steht Dmitri Bashkirov, bei dem er in Madrid studierte. Die kluge
Dramaturgie seiner Interpretationen verdankt sich wohl eher der Zusammenarbeit mit
Größen wie Charles Rosen oder Andreas Staier. Und bei Kirill Gerstein holte er sich an der
Stuttgarter Musikhochschule den letzten Schliff. Dass seine Tschaikowsky-Aufnahme so
beglückend gelungen ist, hat natürlich auch mit seinen künstlerischen Partnern zu tun, mit
dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und dem Dirigenten Vassily Sinaisky. In dieser
Kombination werden im Finale des Konzerts Details offenbar, die man sonst kaum zu hören
bekommt. Zum Beispiel das Wechselspiel des Klaviers mit den Einwürfen der Bläser, die
nicht mehr wie eine aparte Gewürznote oder eine bloße Beigabe wirken, sondern plötzlich
ganz eigenes Profil erlangen:
Peter Tschaikowsky: Klavierkonzert Nr. 1 b-Moll op. 23,
3. Satz (Ausschnitt)
2:55
Eine künstlerische Partnerschaft vom Feinsten demonstrieren hier Denis Kozhukhin und das
von Vassily Sinaisky dirigierte Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin im Finale von
Tschaikowskys erstem Klavierkonzert. Sie leuchten diese eher leichtgewichtige Musik
detailverliebt aus und verleihen ihr am Ende sogar eine so wuchtige Steigerung, als ob es
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eine Bruckner-Sinfonie wäre. Ein kurioses Detail übrigens noch zur Biografie des Pianisten:
Denis Kozhukhin wurde, genau wie seine beiden Altersgenossen und Kollegen Igor Levit und
Daniil Trifonov, in Nischni Nowgorod an der Wolga geboren: Das scheint also ein besonders
gutes Pflaster für große Pianisten zu sein … Alle drei haben sie das gewisse Etwas: Levit ist
der Intellektuelle unter ihnen, Trifonov der Hypervirtuose und Kozhukhin der absolute
Souverän, der alles kann. Das zeigt auch das zweite Werk auf seiner CD, nämlich Edvard
Griegs Klavierkonzert, aus dem ich Ihnen auch eine Kostprobe geben möchte, und zwar
einen Ausschnitt aus dem Finale:
Edvard Grieg: Klavierkonzert a-Moll op. 16,
3. Satz (Ausschnitt)
5:15
Wie vom Wind herübergeweht, zart und frei, klingen die lyrischen Passagen aus dem Finale
von Griegs Klavierkonzert, wenn Denis Kozhukhin es spielt. Aber gleichzeitig verfügt er über
alle technischen Finessen, um die pianistisch vertrackten Passagen dieses gefürchteten
Schlusssatzes zu meistern. Nichts wirkt da beiläufig oder wie Flitterwerk, alles hat Sinn und
Gehalt. Mit seiner bei PENTATONE erschienenen Aufnahme dieser beiden berühmten
Virtuosenkonzerte stellt Kozhukhin klar, warum er derzeit zu den am höchsten gehandelten
Jungstars der Pianistenszene gezählt wird.
Die musikalische Romantik ist die Epoche der Subjektivität, der hemmungslosen Lust am
Ich. Peter Tschaikowsky gab mit seinen Schicksalssinfonien das beste Beispiel dafür, denn
dort bespiegelt er nichts anderes als das eigene bittere Los: seine Außenseiterposition also,
seine verzweifelte Lage als Homosexueller im zaristischen Russland, der von
gesellschaftlicher Ächtung und juristischer Strafe bedroht ist. Was aber passiert, wenn sich
ein so egozentrierter Musiker, der nach eigenem Bekunden beim Komponieren oft geweint
haben will, mit einer überpersönlichen Tradition auseinandersetzt? Mit dem orthodoxen
Glauben und der Kirchenmusik?
Der NDR Chor und sein Chefdirigent Philipp Ahmann haben Tschaikowsky in die Kathedrale
begleitet und bei Carus 14 liturgische Sätze für Chor a cappella veröffentlicht. Für uns beten
sie jetzt als erstes das „Vater unser“ – auf Russisch, wie sich versteht.
Peter Tschaikowsky: Neun liturgische Chöre, Otče náš Nr. 6
3:10
„Otče náš“, das russische „Vater unser“ war das, wie es Peter Tschaikowsky für vier
Stimmen gesetzt hat. Sie hörten den NDR Chor unter der Leitung von Philipp Ahmann. Kein
Zweifel: Tschaikowsky hat sich mit den Melodien der orthodoxen Gesänge intensiv
auseinandergesetzt. In seinen Neun liturgischen Chören, zu denen dieses „Vater unser“
gehört, hat er die ursprünglich einstimmigen Weisen entweder harmonisiert, also ein
ähnliches Verfahren, wie es Johann Sebastian Bach bei seinen Choralbearbeitungen
anwandte. Oder er hat den Duktus der Gesänge nachgeahmt: mit ihren kleinen
Intervallschritten, den Tonrepetitionen, den kreisenden Melodiefloskeln. Und doch ist das
keine authentische Kirchenmusik, sondern unüberhörbar Kunstmusik des 19. Jahrhunderts,
mit weichem, romantisierendem Klang. Ein bisschen wirkt es, als würde auf der Opernbühne
eine Kirchenszene dargestellt. Interessant aber ist vor allem der Schluss: Bei den Worten
„Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“, da wird
Tschaikowsky immer leiser, als traue er sich kaum, das Ungeheuerliche auszusprechen.
Womit wir hier doch wieder beim Ich-Bezug wären.
Natürlich weiß Tschaikowsky sehr gut, wie man einen effektvollen Chorsatz baut. Ich spiele
Ihnen ein Beispiel aus der „Liturgie des Heiligen Johannes Chrysostomos“ vor:
Peter Tschaikowsky: Liturgie des Heiligen Johannes Chrysostomos op. 41,
Dostojno est’
2:20
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„Wahrhaft würdig ist es, dich selig zu preisen“ – so lautet der Text dieses Mariengesangs aus
Tschaikowskys „Liturgie des Heiligen Johannes Chrysostomos“, den der NDR Chor unter
Philipp Ahmann gerade vorgetragen hat. Tschaikowsky zieht hier alle Register der
Chorkunst. Nicht nur, dass er die polyphone mit der antiphonalen Setzweise verbindet, nein,
er reizt auch das komplette dynamische Spektrum aus, vom mystischen, gehauchten
Pianissimo bis zum expressiven Forte-Ausbruch. Und er mutet den Sängerinnen und
Sängern allerhand zu, führt die schwarzen Bässe in die untersten Kellergeschosse und die
armen Soprane in höchste Höhen. Dass es man es sich da oben nicht gerade bequem
machen kann, das ist allerdings durchaus zu hören … Auf der anderen Seite aber muss man
dem NDR Chor attestieren, dass er sich in die für ihn fremde Kultursphäre erstaunlich gut
einfühlt: Er versteht diese Musik nicht nur zu singen, sondern auch zu atmen. Und, vielleicht
noch wichtiger, er weiß gebührend zu schweigen. Denn die Pausen spielen als sinnstiftende
Momente im orthodoxen Kirchengesang und auch bei Tschaikowsky eine elementare Rolle.
Tschaikowsky war ein großer Mozart-Bewunderer, und er teilte mit seinem Vorbild auch das
Faible für unterhaltende Genres. Zum Beispiel für Suiten oder Serenaden mit ihren
tänzerisch inspirierten Sätzen, die ursprünglich des Abends unter freiem Himmel musiziert
wurden und sich später erst im Konzertsaal etablierten. Mozart hat etliche solcher
Serenaden komponiert, schon in seiner Salzburger Zeit. Die erstaunlichste davon aber ist die
„Gran Partita“ für 13 Blasinstrumente, die wahrscheinlich 1784 in Wien entstand: ein
ausgreifendes Werk von bald 50 Minuten Spieldauer. Erstaunlich auch deshalb, weil diese
Serenade weit mehr ist als ein leichtes, eingängiges Divertissement – sie durchmisst ganze
Welten des Ausdrucks und der Klangrede. Trevor Pinnock hat sie jetzt mit einem Ensemble
von Absolventen der Londoner Royal Academy of Music eingespielt, bei LINN RECORDS.
Wenn man zum Beispiel den dritten Satz hört, das Adagio, dann hat es fast schon eine
sakrale Aura oder erinnert an ein freimaurerisches Zeremoniell.
Wolfgang Amadeus Mozart: Serenade B-Dur KV 361, „Gran Partita“, 3. Satz
5:15
„Brüder, reicht die Hand zum Bunde“: Dieses Adagio aus Mozarts „Gran Partita“, das Sie
gerade mit einem Solistenensemble der Royal Academy of Music unter Trevor Pinnock
hören konnten, hat den Charakter eines Rituals: Am Anfang steht eine Urformel, die dann,
auf dem festen Fundament eines ostinaten Basses, von einer Stimme an die andere
weitergereicht wird – das ist wie bei einem antiphonalen Wechselgesang in der
Kirchenmusik. Frappierend ist, wie sich die 13 Blasinstrumente zu immer neuen
Kleinensembles zusammenfinden und sich dabei die Klangfarben ändern: wie bei einem
Kaleidoskop oder bei einem Kirchenfenster, dessen Farbintensität je nach Lichteinfall
changiert. Trevor Pinnock, der Ende des Jahres seines 70. Geburtstag feiert und der die
historisch informierte Aufführungspraxis mit dem English Concert über Jahrzehnte
mitgeprägt hat – dieser Trevor Pinnock weist alle Meriten eines großen Mozart-Interpreten
auf: Er trifft nicht nur diese aparte klangliche Identität ganz genau, er hat auch ein Gespür für
die delikate Phrasierung und für den rhythmischen Impuls, für den Swing dieser Musik. Wie
zum Beispiel im Finale.
Wolfgang Amadeus Mozart: Serenade B-Dur KV 361, „Gran Partita“, 7. Satz
3:15
Mozart „alla turca“: Im Finale der „Gran Partita“ klingt als fetziger Rausschmeißer sogar die
Janitscharen-Musik an – was für ein Kontrast zur Weihe-Aura des Adagios! Das
Solistenensemble aus Studierenden der Londoner Royal Academy of Music, das Trevor
Pinnock hier leitete, ist durch die Bank exzellent besetzt. Die jungen Musiker meistern die
hohen virtuosen Anforderungen mit scheinbarer Leichtigkeit. Ganz so hätte sich Mozart das
wohl selbst auch gewünscht. Denn sein höchstes Lob lautete: „Man merkt nicht, dass es
schwer ist. Man glaubt, man kann es gleich nachmachen. Und das ist das Wahre.“
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Sie hören SWR2, den Treffpunkt Klassik mit neuen CDs. Und einer weiteren Mozart-Novität.
Der große Pianist Artur Schnabel hat es mit einem Bonmot auf den Punkt gebracht: Mozart
sei zu leicht für Kinder, aber zu schwierig für Künstler, soll er einmal gesagt haben. Und
damit hat er das Dilemma umrissen, dass manche Mozart-Interpretationen klingen, als
würden sie auf zierlichem Nymphenburger Porzellan angerichtet: graziös, rokokohaft – und
ein bisschen langweilig.
Als ich las, dass die russische Geigerin Alina Ibragimova und ihr langjähriger Klavierpartner,
der Franzose Cédric Tiberghien, eine Auswahl von Mozarts Violinsonaten aufgenommen
haben, da war ich sofort neugierig und habe mir die CD bestellt. Denn beide sind textbewusste, intelligente Musiker; sie kennen sich aus mit der Klangkultur des 18. Jahrhunderts
und haben einen Scharfblick für die Details der Musik. Doch dann habe ich das zu hören
bekommen:
Wolfgang Amadeus Mozart: Sonate für Klavier und Violine G-Dur KV 379,
2. Satz
7:55
Sie hörten den wunderschönen Variationensatz aus Mozarts G-Dur-Sonate KöchelVerzeichnis 379 für Klavier und Violine, gespielt von der Geigerin Alina Ibragimova und dem
Pianisten Cédric Tiberghien auf ihrer neuen CD, die bei hyperion erschienen ist. Das
plätschert über weite Strecken nett und niedlich vor sich hin, verzichtet zu oft auf schroffe
Kontraste oder expressive Ausbrüche. Ibragimova und Tiberghien nähern sich dem großen
Mozart zuweilen mit einer eigenartigen Befangenheit. Sie benehmen sich wie Besucher in
einem Museum, die nicht zu laut reden oder unangenehm auffallen wollen. Natürlich, bei
Mozart kann man ungeheuer viel falsch machen, aber man sollte aus lauter Furcht vor
Übertreibung oder Romantisierung das Musizieren nicht in schierem Understatement
verdämmern lassen. Mozart, dessen Musik so viel Unberechenbarkeit bereithält, braucht die
Lust am Spiel und der Improvisation, er braucht temperamentvolle Interpreten, die mit
Überraschungen aufwarten. Von all dem ist hier zu wenig zu hören.
Vielleicht hat die Entscheidung für das moderne Klavier auch eine nachteilige Rolle gespielt.
Denn auf historischen Tasteninstrumenten ist die Klangbalance oft besser zu wahren.
Kontraste lassen sich dort radikaler ausreizen, und man muss sich keine Zwänge auferlegen,
braucht keine Angst zu haben, den akustischen Rahmen zu sprengen. Das beweist die
nächste CD, die ich Ihnen vorstellen möchte: Es ist die vierte Folge der Edition mit Sonaten
von Domenico Scarlatti, die der französische Cembalist Pierre Hantaï gegenwärtig für
MIRARE erarbeitet. Wer glaubt, man würde nur vornehmes, höfisches Gezirpe vernehmen,
wenn Scarlatti auf dem Cembalo gespielt wird, der darf gleich bei der ersten Sonate staunen.
Wenn Pierre Hantaï in die Tasten greift, dann klingt es wie ein Volksfest, ein spanisches
Volksfest.
Domenico Scarlatti: Sonate A-Dur K 212
3:45
Die Musik, die uns spanisch vorkommt, muss nicht unbedingt von einem Spanier stammen:
Das beweist diese A-Dur-Sonate, Kirkpatrick-Verzeichnis 212, die der Italiener Domenico
Scarlatti komponiert hat – Pierre Hantaï hat sie interpretiert. Allerdings war Scarlatti fast vier
Jahrzehnte auf der iberischen Halbinsel tätig: zunächst in Lissabon, dann in Sevilla, wo er
die Musik der spanischen Roma kennenlernte, und schließlich, ab 1733, noch am Hof von
Madrid – dort hat er die letzten 24 Jahre seines Lebens zugebracht. Wenn Hantaï diese
A-Dur-Sonate spielt, dann sind die Anklänge an die spanische Volksmusik unüberhörbar –
das Cembalo erinnert im Klang immer wieder an eine Gitarre. Und doch ist das nur ein
Aspekt, denn Scarlattis Sonaten bieten eine unglaubliche Vielfalt an Formen und
Charakteren. Zum Beispiel die Sonate Kirkpatrick 279, ein Andante-Satz ebenfalls in A-Dur:
Sie beginnt wie ein höfischer Tanz, mit Verbeugung und Knicks, aber bald gerät die Musik
auf harmonische Abwege:
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Domenico Scarlatti: Sonate A-Dur K 279
4:50
Sie hörten Pierre Hantaï mit Domenico Scarlattis A-Dur-Sonate Kirkpatrick 279: ein
langsamer Satz, der auf die höfische Tanztradition zurückgehen dürfte. Andere der
kontemplativeren Sonaten wirken dagegen wie ein Selbstgespräch, ein Dialog zwischen der
rechten und der linken Hand. Oder sie scheinen fast schon Franz Schubert
vorwegzunehmen. Hantaï, ein Schüler des großen Gustav Leonhardt, der auch viel mit Jordi
Savall zusammengearbeitet hat, entwickelt für jede dieser kurzen, einsätzigen Sonaten ein
unverwechselbares Profil. Seine Interpretationen bieten nie abstrakte Kunst, sondern führen
das pralle Menschenleben vor: ein instrumentales Theater mit Szenen, Figuren, Charakteren
und Miniaturdramen. Und in den schnellen Sätzen steigert er sich wie in einen Spielrausch,
die Motive beginnen zu kreisen und um sich selbst herumzuwirbeln.
Domenico Scarlatti: Sonate G-Dur K 201
4:00
Das war noch einmal Pierre Hantaï, diesmal mit Scarlattis G-Dur-Sonate Kirkpatrick 201 im
Tempo vivo. Der französische Cembalist hat im Booklet seiner CD selbst die schönste
Beschreibung von Domenicos Scarlattis Kunst geliefert. Er sagt, das sei „verspielte Musik
voll stürmischer Scharmützel und feurigem Schwung“. Damit das tatsächlich so klingt,
braucht es freilich einen Meister wie ihn. Und ein Cembalo, denn auf diesem Instrument
wirken Scarlattis Sonaten einfach viel farbiger, orchestraler und radikaler als auf einem
Konzertflügel.
Bei der letzten neuen CD, die ich Ihnen heute mitgebracht habe, feiert das moderne Klavier
allerdings noch einmal einen großen Auftritt – kein Wunder, denn es geht um Johannes
Brahms. Genauer gesagt: um die beiden Cellosonaten, die Marie-Elisabeth Hecker und
Martin Helmchen für ALPHA aufgenommen haben. Und da hat nicht nur die Cellistin,
sondern auch der Pianist alle Hände voll zu tun. Hecker und Helmchen haben sich 2006
kennengelernt, bei Gidon Kremers Kammermusikfest in Lockenhaus. Schon damals spielten
sie gemeinsam Brahms, die F-Dur-Sonate op. 99. Jetzt, zehn Jahre später, sind sie
miteinander verheiratet – und die F-Dur-Sonate ist ein echtes Paradestück ihres Repertoires
geworden. Was ihre Interpretation so überzeugend macht, das ist die enorme Präsenz: Hier
muss man sich nicht erst warm- und einhören, nein, mit dem ersten Takt schon, zack, sind
sie da und nehmen die Hörer sogleich gefangen.
Johannes Brahms: Sonate für Violoncello und Klavier F-Dur op. 99, 1. Satz
8:40
Marie-Elisabeth Hecker und Martin Helmchen spielten den Kopfsatz der zweiten Cellosonate
von Johannes Brahms: Das hat eine unglaubliche Kraft, die aber nicht allein aus der
Dynamik oder der Attacke entsteht, sondern aus Intensität und Entschlossenheit. Für
Cellisten ist es nicht immer ganz einfach, sich bei diesem Stück gegenüber dem vollgriffigen
Klaviersatz zu behaupten. Schon der Brahms-Freund Josef Gänsbacher, dem die erste
Cellosonate gewidmet ist, soll sich einmal beim Komponisten beschwert haben, dass man
sein Instrument bei diesem kompakten Klavierpart ja wohl kaum hören könne … Aber MarieElisabeth Hecker hat mit ihrem sonoren, kraftvollen Ton und ihrem Temperament hier
überhaupt keine Probleme. Und sie ist perfekt eingespielt mit Martin Helmchen – die private
Partnerschaft trägt ohne Zweifel künstlerische Früchte. Beide verstehen sie sich vortrefflich
auf die Grundpfeiler des Brahmsschen Komponierens, auf die Verbindung zwischen
Konstruktion und Passion. Sie meißeln die elementaren Motive, aus denen der Satz gefügt
ist, wie bei einer Skulptur heraus; auf der anderen Seite aber haben sie auch die notwendige
Leidenschaft. Und sie verfügen über den langen Atem, den man hier braucht. Es gelingt
ihnen, Steigerungskurven über Minuten hinweg aufzubauen, ohne dass je die Spannung
abreißt. Wie gut sie zugleich die Kunst der Verinnerlichung, des gelösten Gesangs
beherrschen, das hören Sie jetzt im zweiten Satz, im Adagio affettuoso.
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Johannes Brahms: Sonate für Violoncello und Klavier F-Dur op. 99, 2. Satz:
6:55
Einen wunderbar beseelten Dialog zwischen Cello und Klavier stimmen Marie-Elisabeth
Hecker und Martin Helmchen hier an, im zweiten Satz der F-Dur-Sonate op. 99 von
Johannes Brahms. Nie klingt ihr Spiel sentimental, die Intensität rührt vielmehr aus der
perfekten Phrasierung und der bis in die Extreme ausgereizten Dynamik her. Vor allem bei
der 29-jährigen Cellistin, die 2005 als Gewinnerin des Rostropowitsch-Wettbewerbs in Paris
erstmals ins internationale Rampenlicht trat, beeindrucken die Kantilenen: Sie schlägt
organische Bögen durch alle Lagen ihres Instruments und durch die verschiedensten
dynamischen Register, ohne dass jemals ein Bruch oder ein Riss zu hören wäre. Man hat
den paradoxen Eindruck, es mit einem Sänger zu tun zu haben, der nie atmen muss.
Schade nur, dass diese schöne CD mit 52 Minuten nicht gerade üppig bespielt ist …
Und das war er schon wieder, der Treffpunkt Klassik am Freitag. Eine Aufstellung der sechs
neuen CDs, in die wir heute reingehört haben, finden Sie im Internet unter www.swr2.de.
Wenn Sie dort auf den Button „Nachhören“ klicken, dann können Sie die ganze Sendung in
der kommenden Woche noch einmal komplett abrufen. Fürs heutige Ersthören bedankt sich:
Susanne Stähr. Und legt Ihnen das weitere Programm von SWR2 ans Herz, zunächst den
Kulturservice und dann Aktuell mit den neuesten Nachrichten.