Lothar Greunke wurde 1954 in Dinslaken am Niederrhein

Lothar Greunke wurde 1954 in Dinslaken am Niederrhein geboren
und diente während des „Kalten Krieges“ von 1973-85 als Zeitsoldat
in der Bundeswehr. Seit 1986 arbeitet er als Verwaltungsangestellter
in einer Wirtschaftsorganisation. „Das Leben als Drama“ ist sein Romandebüt. Bisherige Veröffentlichungen:
Kara Ben Nemsi gegen Zarathustra. Leben und Visionen von
Karl May und Friedrich Nietzsche. ISBN 978-3-7323-4690-5
Hinführungen – Etappen auf dem Weg zu Karl May und Friedrich Nietzsche. ISBN 978-3-8495-7780-3
ZUM INHALT
Für Peter Stein wird der Verlust seines Großonkels zum Schlüsselerlebnis für seine weitere Entwicklung. Überzeugt, schuld an dem Tod
zu sein, will er werden wie der Verstorbene und durch ein Stellvertreterleben dessen Andenken bewahren. Dieses Leitbild führt dazu, dass
er zum Außenseiter wird, den viel stärker Dinge und Wissen interessieren als menschliche Gesellschaft. Introvertiert und voller romantisch-konservativer Ideale wird er nach dem Abitur Zeitsoldat bei der
Bundeswehr, die ihm zur zweiten Heimat wird. Die Offizierausbildung und berufliche Erfolge begünstigen seine Charakterprägung,
festigen seinen Glauben an die Kraft von Bildung und der Überzeugung, dass nur Härte gegen sich selbst und andere lebenstüchtig
macht. In seiner Entwicklung wiederholen sich typische Prägungseinflüsse. Nietzsches Modell der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ ist
die verbindende Klammer, die sowohl dieses Leben als auch den Helden als Drama begreiflich werden lassen. – „Das Leben als Drama“
ist der erste Teil des auf vier Bände angelegten Peter-Stein-Romanzyklus´.
www.tredition.de
Impressum
© 2016 Lothar Greunke
Umschlaggestaltung: Lothar Greunke. Das Coverbild ist
Ausschnitt aus einer Tuschezeichnung des Autors.
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN: 978-3-8495-8001-8
Printed in Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung
des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Lothar Greunke
Das Leben als Drama
oder
Drama ist der Mensch
Roman
Inhalt
Prolog
7
1. Akt: Vom Wachsen und Werden –
Kindheit und Schulzeit
9
1. Abschied
2. Rückblick
3. Katharsis
4. Schulentlassung
5. Gipfelstürme
6. Glück auf Zeit
7. Mittel und Wege
8. Hunger
9. Unter-Prima
10. Reflexionen
11. „Münster und die Münsteraner…“
12. Weichenstellung
13. Der Vorhang fällt
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35
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50
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98
106
2. Akt: Vom Suchen und Finden –
Soldat und Student
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1. Exodus
2. „Maskenball“
3. Grundausbildung
4. Vollausbildung
5. Führerausbildung I
6. Gegengewichte
7. Führerausbildung II
116
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137
149
157
168
174
8. Studienbeginn
9. Barabenteuer
10. Kehrtwende
11. Wechselfälle
12. Media in vita
13. Praxisschock
14. Wiedersehen
15. Lebensbund
16. Studienabschluss
17. Führerausbildung III
18. Führerausbildung IV
186
204
211
221
239
263
273
285
299
305
318
3. Akt: Vom Befehlen und Gehorchen –
Offizier
328
1. Ouvertüre
2. Kompanieoffizier
3. „Kandeler Nächte…“
4. Zugführer
5. Die Saat geht auf
6. S3-Offizier
7. Kompaniechef
8. Widerstände
9 Vorwärts!
10. Zu neuen Ufern
11. Countdown
12. Die Spinne im Mondlicht
329
334
349
362
381
397
417
438
442
462
483
500
Der vorliegende Roman beruht auf authentischen Erlebnissen. Frei erfunden sind – mit Ausnahme von Personen der Öffentlichkeit – die im Text vorkommenden Eigennamen der Akteure. Jede Ähnlichkeit mit real existierenden Namensträgern wäre also rein zufällig. Die im
Text genannten Bundeswehrdienststellen sind – mit Ausnahme der Schulungsstätten – inzwischen aufgelöst worden. Des weiteren wurden einzelne Ortsangaben anonymisiert.
PROLOG
D
er Glaube an die Einmaligkeit von Allem und Jedem
ist ein Kennzeichen der Jugend, ihre Erfahrungen
mit der Vergänglichkeit folglich Quelle großen Unglücks. Doch schaut man aus dem Abstand der Jahre auf
frühere Lebensabschnitte zurück, so offenbart sich aus
dieser Perspektive das eigene Da- und So-Sein wie beim
Blick durch ein Teleskop: Ursachen und Wirkungen für
das, was passiert ist, Zusammenhänge und Entwicklungen werden erkennbar! Mitunter ist manchmal der Eindruck unabweislich, dass das ganze Leben nach einem
heimlichen Drehbuch und den Anweisungen eines unbekannten Regisseurs verlaufen ist. Waren es nicht die allzu
bekannten Szenen, Bilder und Akte des Alltages, die sich
stets auf Neue wiederholten? War das Leben nicht ein
immer neu aufgeführtes Drama, das ewig überall – kaum
dass es zu Ende – wieder seinen Anfang nahm? Gläubige
Menschen mögen dieses Drehbuch „Schick-Sal“ und seinen Regisseur „Gott“ nennen. Ich gehöre nicht zu ihnen,
nicht mehr! Dass dies so ist, ist eben kein Zufall, sondern
auf bestimmte Anlässe und Erfahrungen zurückzuführen.
Sind nicht wir Menschen selbst die Schöpfer unseres Lebensdramas? Und gleichzeitig seine Protagonisten, Nebendarsteller, Komparsen? Und sein Publikum? Und
seine Kritiker? Sind wir darum nicht selbst Drama, in
dem alle diese Rollen ohne Unterlass von uns selbst ständig neu besetzt werden? Das Stück, das wir aufführen, ist
allem Anschein nach immer dasselbe: Alles kehrt wieder,
das Große und das Kleine, das Bedeutende und das Nebensächliche, jeder Gedanke, jeder Schmerz und jede
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Lust, jede Schuld und jede Hoffnung – der ganze Zusammenhang aller Dinge! Bis ins Kleinste und scheinbar Unwesentlichste wiederholt sich der unendliche Kreislauf:
wie auch jene „langsame Spinne, die im Mondschein
kriecht, und dieser Mondschein selber, und ich und du im
Torwege, zusammen flüsternd, von ewigen Dingen flüsternd, – müssen wir nicht alle schon dagewesen sein?“
(Nietzsche) Nicht Einzelwesen also, Drama ist der
Mensch! Und seine Erinnerungen sind nichts Anderes als
die mehr oder weniger langen Pausen in diesem Schauspiel. So wie dieses Buch.
Nun – den Vorhang auf! Das Stück beginnt...
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1. AKT
Vom Wachsen und Werden –
Kindheit und Schulzeit
“Weder wird die Welle, die vorüber floss,
noch einmal zurückgerufen werden,
noch kann die Stunde, die verstrich,
noch einmal zurückkehren.“
(Horaz)
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1. Abschied
D
onnerstag, 18. Januar 1968. Als ich am Nachmittag
von der Schule nach Hause kam und mein Fahrrad
in den Schuppen unterstellen wollte, sah ich meine Mutter am Küchenfenster sitzen. Sie saß einfach nur da und
blickte nach draußen. Sonst hatte sie dort immer irgendetwas zu tun – Speisen zubereiten, den Abwasch erledigen, Bügeln.
Heute nicht; heute saß sie nur da und blickte nach
draußen. Instinktiv fühlte ich, dass etwas Ungewöhnliches geschehen war. Doch ich konnte mir nicht vorstellen, was. Als ich nach kurzem Gruß in die Küche trat,
setzte sie mir wortlos das Mittagessen vor. Ich fragte
nicht, was los sei – ich wollte es nicht wissen, hatte Angst
vor dem, was sie sagen würde. So verlief die Mahlzeit
schweigsam wie in einem Refektorium. Bevor ich mit
meinen Schulaufgaben anfing, wollte ich innerlich erst
etwas Abstand gewinnen von dem Unterricht am Morgen
und im Keller an meinem Holzschiff weiterbasteln. Ich
war gerade bei Sägearbeiten, als die Tür oben an der
Treppe aufgemacht wurde und Mutter mich rief:
„Peter, komm mal her! Ich muss dir etwas sagen!“
Wortlos ging ich bis zu den Stufen vor.
„Ja?“ fragte ich halblaut.
„Der Opa ist heute Morgen gestorben!“ sagte sie bedrückt und ging wieder zurück in die Wohnung.
„Nein!“ schluchzte ich verzweifelt und musste mich
setzen.
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Obwohl ich gerade zu Mittag gegessen hatte, war mir
auf einmal flau im Magen, und meine Knie zitterten.
„Opa!“ flüsterte ich traurig, und wie im Zeitraffer zogen die letzten beiden Monate an mir vorbei: Opas Geburtstag, an dem alles anfing. Wie er sich beim Kaninchenbraten, den es immer an seinem Geburtstag gab, an
einem Knochen verschluckte und eine Ewigkeit würgen
musste, bis er wieder Luft bekam. Ganz blau war sein
Gesicht schon angelaufen; aufgeregt riefen Oma und
Mutter durcheinander, während Vater ihm unentwegt auf
den Rücken klopfte. Und wie er dann damit herauskam,
dass er schon seit Tagen nicht mehr richtig Wasser lassen
könne. Noch am selben Abend wurde er ins Krankenhaus
eingeliefert. Das Geräusch, das die Türen des Krankenwagens verursachten, hatte etwas Endgültiges an sich.
Etwas, dem ich hilflos gegenüber stand. Dann die Besuche in der Intensivstation des Städtischen Krankenhauses; das Geschäftsmäßige und Unpersönliche an der Art
der Behandlung; der Geruch nach Desinfektionsmitteln;
Schläuche, Kanülen und elektronische Anzeigen;
schließlich der Kommentar eines Mitpatienten nach Verlegung auf eine Krankenstation: „Hier sind schon drei
Andere gestorben!“, den ich dafür am liebsten ermordet
hätte. Weihnachten im Krankenhaus! „Es wird schon
wieder!“ hatte mir der Arzt versprochen, doch was er mir
nicht sagte, war, dass Opa Krebs im fortgeschrittenen
Stadium hatte, sodass eine Operation nicht mehr infrage
kam. Dass Opa nur noch wenig Zeit blieb. Dass ich ihn
verlieren würde. So traf mich Mutters Mitteilung völlig
unerwartet und löste in mir einen Schock aus.
Nicht anders erging es Thomas, meinem Zwillingsbruder, als er spät nachmittags von seinem Judo-Training
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nach Hause kam und in unser gemeinsames Kinderzimmer trat.
Ich saß dort verstört auf meinem Bett, unfähig viel zu
sagen und auch unfähig zu weinen. Das war etwas, das
ich nur zuließ, wenn ich ganz allein war. Schließlich war
ich schon dreizehn Jahre und ein Mann – so tapfer wie
die Helden in den Romanen von Karl May, die ich seit
Jahren fleißig sammelte.
Von all den pragmatischen Dingen, die mit einer Beerdigung zu tun hatten, bekamen wir Kinder so gut wie
nichts mit. Mutter war jetzt nur öfters bei Oma, um ihr
beizustehen, wie sie sagte. Thomas und ich blieben mehr
oder weniger uns selbst überlassen. Am Samstag wurde
die Todesanzeige veröffentlicht, die Oma ausgesucht
hatte. Sie lautete:
Ausgelitten hab ich nun,
bin an meinem Ziele;
von den Schmerzen auszuruh´n,
die ich nicht mehr fühle!
Gott der Herr nahm heute nach langer, schwerer Krankheit
HEINRICH STEIN
im Alter von 66 Jahren zu sich in die Ewigkeit...
Als ich die Zeilen las, kämpfte ich erneut mit den Tränen. Ich wollte nicht, dass Opa tot war. Ich wollte, dass
er lebte.
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Die Trauerfeier sollte am Montagmittag stattfinden.
Thomas und ich bekamen schulfrei. Wir hatten den Ministrantendienst während der Totenmesse übernommen;
es war für uns eine Ehrensache. In der Aussegnungshalle
der Friedhofskapelle war der Leichnam aufgebahrt worden. Mein Bruder und ich standen mit brennenden Kerzen davor Totenwache. „Geht nicht da hinein!“ sagte
Mutter zu uns. „Behaltet den Opa so in Erinnerung, wie
ihr ihn erlebt habt!“ Schließlich wurde der Sarg geschlossen und in die Kapelle gefahren, in den Mittelgang bis
vor dem Altar. Wenn ich es auch jetzt gewollt hätte: Opa
konnte ich nicht mehr sehen, nie mehr. Links und rechts
von dem Sarg waren zahlreiche Kränze aufgestellt, deren
Bandinschriften ich studierte, um mich innerlich abzulenken: „Meinem lieben Mann“, „Unserem lieben Großonkel“, „Unserem Kameraden“, „Unserem Nachbarn“,
„Unserem Vereinsmitglied“, „Unserem lieben Schwager“, „Meinem Bruder“ und so weiter wurden letzte
Grüße entboten. Orgelmusik, die rituellen Handlungen
und Gebetsformeln des Priesters, der Nekrolog, in dem
so vieles ungesagt blieb. Schon öfter hatte ich bei einer
Totenmesse „gedient“, sodass mir der formale Ablauf bekannt war. Neu war für mich der Spielmannszug der
Bergknappen in schwarz-goldenen Uniformen und rotem
Federbusch auf der Kappe. Oma hatte sich die bergmännische Ehrung bei der Trauerzeremonie ausdrücklich gewünscht, war ihr Mann doch jahrelang Hauer gewesen.
Als die Musiker beim Auszug des Sarges aus der Kapelle
Richtung Grabstätte mit Trommelschlag den Takt für die
Prozession vorgaben, war es um meine Selbstbeherrschung fast geschehen. Jeder Schlag, jeder Schritt wird
mich jetzt von dir trennen, Opa, dachte ich nur. Es kostete
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mich große Überwindung, nicht laut zu weinen; es wäre
das Letzte, das mir passieren sollte!
Am offenen Grab angekommen, wurde der Sarg von
sechs Trägern auf die Stahlseile des Rahmens abgestellt.
Der Pfarrer bespritzte ihn mit Weihwasser und löste dann
die Sperre, die die Stahlseile langsam nach unten auslaufen ließ. Zentimeter für Zentimeter entschwand der Sarg
unseren Blicken. Für Oma war dies der schwerste Augenblick. Sie taumelte und musste von Vater und dem Priester gestützt werden. „Ich hatte nur einen Kameraden“
spielte die Bergmannskapelle. Viele der Trauergäste
weinten. In seiner Grabrede beschwor der Priester das
„finstere Tal“ und die „grüne Au“ mit dem „Herrn als
Hirten“, doch für mich zählte nur das „Bedenke, Mensch,
du bist Staub und zum Staub wirst du zurückkehren“,
während er drei kleine Schaufeln voll Erde auf den Sarg
prasseln ließ. „Nein, Opa, nein!“ schrie im Stillen alles in
mir, während ich nur stumm dastand und das Weihrauchgefäß hielt. Vom „In-die-Grube-fahren“ sprach dann ein
hoch dekorierter Bergmann der Ortsgruppe Feldmark,
der Opa angehört hatte. Noch mehrere andere Leute sagten etwas, doch hörte ich nicht mehr zu. Grauen erfüllte
mich bei der Vorstellung, wie dunkel es in dem Sarg sein
musste, wie kalt und wie einsam.
An diesem Tag verlor ich die Unbeschwertheit in meinem Wesen. Denn ich war schuld an Allem. Ich fühlte
mich schuldig am Tode des mir liebsten Menschen.
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2. Rückblick
I
n den folgenden Monaten fuhr ich mehrmals wöchentlich nach der Schule zum Friedhof, um dort stumme
Zwiesprache mit meinem toten Freund zu halten. Oder
ich fuhr weiter zu Oma, um einfach in ihrer Nähe zu sein
und Erinnerungen lebendig werden zu lassen. Opa Heinrich – wer war das eigentlich? Vieles von dem, was Oma
mir an diesen Tagen erzählte, hörte ich zum ersten Mal.
Opa war in Wirklichkeit mein Großonkel, der Bruder
von Vaters Vater. Wie mein Vater, stammte er aus der
Stadt Stolp in Pommern, von wo er als junger Mann mangels Arbeit ins Ruhrgebiet übersiedelte, nachdem eines
Tages Werber in Pommern Arbeitskräfte für den Bergbau
rekrutierten. In einem „Bullenkloster“ genannten Ledigenheim brachte er in einer Kleinstadt am Niederrhein
die ersten Jahre zu, eingesetzt in Wechselschichten als
Hauer unter Tage. Viel Geld war es nicht, das er verdiente; er teilte nicht nur sein Zimmer mit einem Kumpel,
sondern auch einen Anzug, sodass immer nur einer von
beiden am Wochenende ausgehen konnte. Weil die Verpflegung im Heim nicht nur spärlich, sondern auch wenig
schmackhaft war, wurde er bald zum Kostgänger, das
heißt, er wurde gegen Bezahlung in einem fremden Haushalt beköstigt. Die Hausfrau war Hertha, meine spätere
Großtante, die in erster Ehe unglücklich verheiratet war.
Ihr Mann war ein regelrechter Sadist, der sie insbesondere unter Alkoholeinfluss aufs Übelste schikanierte und
quälte. Noch nach fünfzig Jahren war ihr die Empörung
anzuhören, als sie von dessen Untaten erzählte, zum Beispiel wie er eines Tages in den Küchenschrank urinierte.
Das Maß aber war endgültig voll, als dieser Mann sich an
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den beiden Adoptivtöchtern – Oma konnte selbst keine
Kinder bekommen – verging: Hertha brachte ihn vor Gericht, das ihn zu einer Zuchthausstrafe verurteilte. Kurz
nach der Scheidung zog sie dann mit Heinrich zusammen
und wurde Frau Stein. Die Wohnung, die sie dann bezogen, existiert heute noch.
Wie sich die beiden zusammengerauft haben mochten, konnte ich indes nur ahnen. Opa, der das Junggesellendasein über lange Zeit verinnerlicht hatte, wird wohl
seine liebe Not damit gehabt haben, sich auf Omas pedantische Ordnungsliebe einzustellen. Das Wichtigste
aber war, dass er ihr versprach, ihm möge die Hand abfallen, wenn er sie je einmal schlagen sollte. Und wie er
eines Weihnachten am Zahltag nach der Schicht in der
Gaststätte „Zum scheelen Jan“ versackt war, andere
Bergleute ihn ausraubten und anschließend im Straßengraben liegen ließen, war er von Alkoholexzessen kuriert. Fortan ging er nach der Arbeit regelmäßig nach
Hause und wurde solide.
Ein Jahr nach Kriegsende erhielten sie einen Brief von
meinem Vater. Dieser war nach seiner Verwundung in
Russland zunächst nach Sonthofen ins Lazarett verlegt
worden und arbeitete anschließend in einer Reha-Werkstatt in Herzogsägmühle. Den erlernten Beruf als Autoschlosser konnte er nicht mehr ausüben, da ihm sein rechter Unterarm amputiert werden musste. Seine Heimat in
Pommern stand nun unter polnischer Verwaltung und
war somit unerreichbar geworden. Wohin sollte er gehen? Da fiel ihm sein Onkel im Ruhrgebiet ein. Über Umwege fand er dessen Adresse heraus und fragte an, ob er
bei ihm Aufnahme finden könne. Wieder war es Weihnachten, als ihm ein Telegramm zugestellt wurde, das nur
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ein einziges Wort enthielt: „Komm!“ Oma, die – wie
schon gesagt – keine Kinder bekommen konnte, und ihr
Mann nahmen den Neffen auf wie einen Sohn. Vater trug
durch Gelegenheitsarbeiten dazu bei, das Einkommen zu
verbessern. Schließlich fand er eine Anstellung in einem
Kfz-Betrieb, bei dem er in der Lagerverwaltung tätig sein
konnte. Allmählich wurde das Leben nach dem Krieg
wieder erträglicher, die Aufbauarbeit begann zu greifen.
Opa, der sich schon länger um eine Werkswohnung
bemüht hatte, erhielt diese Anfang der 1950er Jahre von
der Zeche, bei der er arbeitete, in der Talstraße angeboten. Die großzügigere Fläche und Wohnraumaufteilung
tat ihnen allen gut. Kurz darauf lernte Vater dann bei einer Tanzveranstaltung meine Mutter kennen, die schon
bald unerwartet schwanger wurde und – wohl zur Freude
meiner Oma, sicher aber zum eigenen und Vaters Entsetzen – Zwillinge zur Welt brachte. Ein Wäschekorb, das
war Thomas´ und meine Kinderkrippe in der Talstraße
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sich bei der Säuglingspflege und -versorgung abwechselten. Und auch, wenn wir mitunter zur Unzeit gestillt werden wollten und den Erwachsenen die nötige Nachtruhe
raubten, waren „die Jungens“ doch Omas und Opas ganzer Stolz. Heinrich machte aus jedem Spaziergang mit
dem Kinderwagen eine Parade, und Oma ließ nicht zu,
dass irgendjemand etwas Nachteiliges über uns sagte.
Ihre Bereitschaft zu unermüdlicher Mithilfe, ihre tatkräftige Unterstützung und entschiedene Parteilichkeit für
uns Kinder wird wohl die Quelle für die Eifersucht gewesen sein, die Mutter bald auf Oma empfand.
Die Folge dessen war, dass sich meine Eltern eine eigene Drei-Zimmer-Wohnung mieteten, knapp 500 Meter
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von Oma und Opa entfernt. Doch gingen wir immer wieder zum Spielen dorthin, wie um nicht zuzulassen, dass
wir aus unserem Paradies vertrieben würden. Noch heute
fühle ich die Sonne auf meinem Gesicht brennen und rieche den Sand, als ich mich – müde geworden von der Anstrengung – im Sandkasten hinlegte und einschlief. Beeindruckt von Opas Beruf, spielten Thomas und ich
„Bergmann“, indem wir – angetan mit Opas Kitteln und
ausgestattet mit Hämmern und Taschenlampen – unter
die Ehebetten krochen und die Matratzenfedern als Flöze
bearbeiteten. All das brachte Heinrich und Hertha nur
zum Lachen, und nie kam aus ihrem Mund jemals ein Tadel oder Schelte wegen des damit verbundenen Aufwandes. Auch sehe ich mich noch Bienen fangen auf der
Wiese hinter dem Haus. Ein Konservenglas mit durchlöchertem Deckel war die Falle, die wir benutzen. Oder wie
wir aus den Goldregensträuchern eine Höhle bauten, in
der wir uns als Räuber und Piraten versteckt hielten. Oder
wie wir in dem Hühnerstall das Gelege aus den aus Apfelsinenkisten gezimmerten Nestern einholten. Selbst als
meine Eltern sich einen eigenen Fernseher leisten konnten, gingen wir nachmittags lieber zu Oma und Opa, deren Gerät eine viel kleinere Bildröhre und nicht so einen
guten Empfang besaß. All das war sekundär. Wichtig war
uns das eindeutig vermittelte Gefühl, jederzeit und bedingungslos angenommen und geliebt zu sein.
Unser Schulweg führte uns an Omas und Opas Haus
vorbei, und wenn wir mittags dort vorübergingen, gab ich
– zum steten Ärger gewisser Nachbarn – ein lautes Pfeifsignal, worauf Thomas und mir aus dem Fenster im zweiten Stock jedes Mal zwei große Delicious-Äpfel nach unten geworfen wurden. Der größte Hunger war danach natürlich gestillt, sodass wir kaum Appetit besaßen, wenn
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wir zu Mutter nach Hause kamen. Dies war wiederum
nicht dazu angetan, ihr Ressentiment Oma gegenüber zu
besänftigen.
Opa, der wegen seiner Steinstaublunge Frührentner
wurde, trug zeitlebens einen Hitler-Schnauzbart und extrem kurze Haare im Fasson Schnitt. Einmal begleitete ich
ihn auf seinem Weg zum Friseur, was ziemlich lange
dauerte, da er humpelte. Mit seiner Prinz-Heinrich-Mütze
und der alten schwarzen Jacke hatte er etwas von einem
Kapitän! Wegen einer Absperrung des Bürgersteigs
mussten wir auf einmal auf die Straße hinuntersteigen,
was Opa erhebliche Mühe bereitete. Also entfernte ich
einfach die Absperrung, als er beim Haare schneiden saß.
Während ich noch damit zugange war, das Baustellenband einzuholen, kam einer der Arbeiter wütend auf mich
zu gerannt und gab mir eine Ohrfeige. Was mir denn einfallen würde, schimpfte er. „Der Opa...“ brachte ich nur
hervor. Doch das interessierte den Mann nicht weiter,
und so verzog ich mich. Parteiisch, ohne Wenn und Aber
– so wollte auch ich für meinen Großonkel eintreten;
hatte es wenigstens versucht.
Opa war es auch gewesen, der Thomas und mir das
Karten spielen beigebracht hatte. Es begann mit „Junge,
du lügst“. Jeder bekam eine gleiche Anzahl Spielkarten,
und dann wurde reihum jeweils eine Karte verdeckt in
der Mitte des Tisches abgelegt. Dabei sagte der Spieler
den anderen an, was für eine Farbe seine Karte gehabt
habe, also: Herz, Karo, Kreuz oder Schippen. Der nächstfolgende Spieler konnte dies nun glauben und einfach
weiterspielen, wobei sich allmählich ein großer Kartenhaufen auf dem Tisch bildete. Oder er glaubte es nicht
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und schaute nach: Trug beim Umdrehen die Karte tatsächlich die angekündigte Farbe, musste er den Stapel
übernehmen; hatte der Vorgänger gelogen, bekam dieser
den Stapel. Gewonnen hatte natürlich, wer es als erster
schaffte, alle seine Karten abzulegen, ohne beim Schummeln erwischt zu werden. Lügen – etwas, was sonst als
böse bestraft wurde, war in diesem Spiel die Voraussetzung zum Gewinnen! Es machte uns einen Heidenspaß!
Nicht zuletzt, weil Opa nur schlecht lügen konnte; er
musste jedes Mal lachen, wenn er eine „falsche“ Farbe
ausspielte, und dann wussten wir Kinder natürlich sofort
Bescheid. Nie werde ich diese Spielpartien vergessen:
Opa stets mit einem „Sportstudent“-Zigarillo zwischen
tabakgebräunten Fingern, den er zwischendurch mit dicken Rauchwolken paffte, der aber auch gelegentlich einfach ausging – je nachdem, wie sich das Spiel entwickelte; neben ihm ein alter viereckiger Aschenbecher aus
grünem Glas mit der Gravur „Collie“.
Ein anderes Spiel war „Schwimmen“, bei dem es darum ging drei Karten zu sammeln, die entweder von gleicher Farbe und möglichst hohem Punktwert waren oder
aber den gleichen Punktwert besaßen, zum Beispiel drei
Könige. Gewonnen hatte, wessen Konfiguration am
Ende, wenn alle anderen Mitspieler gepasst hatten, am
meisten zählte. Keines aber wurde so oft gespielt wie
„Siebzehn und Vier“, und zwar mit Knöpfen oder Pfennigen als Spieleinsatz. Natürlich gingen die Pfennige später wieder in den Sammeltopf zurück, sodass kein wirklicher Gewinn zu erzielen war. Doch zu beobachten, wie
der Berg aus Knöpfen oder Pfennigen immer höher
wuchs, ließ die Spannung rapide ansteigen, sodass Oma
vor lauter Aufregung rote Flecken an ihrem Hals bekam.
Opas Spezialität bei diesem Spiel war der Bluff: Er zog
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