2016 - Baden-Württemberg Stiftung

Baden-Württemberg
Eine
Frage
der
Ehre
Es gibt 5,3 Millionen Ehrenamtliche
in Baden-Württemberg.
Wir haben mit acht von ihnen gesprochen.
01
2016
01/2016
Inhalt
Aus der
Stiftung
Christoph Dahl,
Geschäftsführer
Baden-Württemberg
Stiftung
Liebe
Leserinnen
und Leser,
20Wichtig ist das
Ent­d ecken von Leidenschaft und Obsessionen
Der Schriftsteller Heinrich Steinfest
im Interview
24Neue Wälder im
Turbotempo
Freiburger Biologen helfen China
beim Aufforsten
26Volle Drohnung
Wie der Journalismus neuen
Schwung erfährt
29Der Stadtentdecker
Der zwölfjährige Admir fotografiert
Freiburg
32Komm mit in das
gesunde Boot
Ehrenamt
4Engagement
ist eigensinnig
S
oziologe Stefan Selke und Jurist
Thomas Klie diskutieren
8Ich bin mehr Hip-Hop-
Fan a
ls Rollstuhlfahrer
P hil Hensel ist Inklusionsbegleiter
als Lesepate
14 Licht hat auch
e ine dunkle Seite
Matthias Engel will die Nacht
schützen
16 Warum hast du den Mann nicht verstanden
10Ich sehe mich als einen,
Ronald Heymann ist in der
der Brücken schlägt
11Jede Nacht ist anders
Ingrid Leonhardt wacht an
Krankenbetten
12Ein Land, das
Holland hieß
D
ie Angst der Umweltaktivistin
Myrthe Baijens
34Teamwork auf zwei
Kontinenten
Schüler aus Ghana und D
­ eutschland
entwickeln eine Ausstellung
37Adleraugen aus
13So sein, wie du bist
dem Drucker
R oland Lorson betreut Grundschüler
in Freiburg
Ayoub El Mkhanter heißt
­Neuzuwanderer willkommen
Erfolgreiches Programm für
Kindergärten und Grundschulen
Bewährungshilfe aktiv
17Ich teile gern Zeit
mit anderen Menschen
K
ornelia Wahl engagiert sich bei
City-Kidz
18Reine Ehrensache
Zahlen und Fakten zum Ehrenamt
So entstehen die kleinsten Linsen für
die Medizin
3 9Verwende deine
Jugend
Wie es um die Jugendbeteiligung im
Land bestellt ist
42Es ist ein Mythos, dass
Armut uns nichts kostet
Das sagt der Soziologe Andreas
Haupt
44Tablet am Zahnrad
Ein schwäbischer Maschinenbauer
probt die Industrie-Revolution
VERANTWORTLICH
Christoph Dahl, Geschäftsführer
Baden-Württemberg Stiftung
KONZEPTION UND REDAKTION
Julia Kovar-­Mühlhausen,
Nicolas Krischker
TEXT
Anette Frisch, Iris Hobler, Rolf Metzger,
Baden-Württemberg Stiftung
GESTALTUNGSKONZEPT UND
REALISATION
agencyteam Stuttgart GmbH
DRUCK
Druckerei Schefenacker GmbH & Co. KG,
Deizisau
HINWEIS
Bei allen Bezeichnungen, die auf
Personen bezogen sind, meint die
gewählte Formulierung beide
Geschlechter, auch wenn aus Gründen
der leichteren Lesbarkeit nur die
männliche Form verwendet wird.
© Juni 2016
Ihr
4 8 Kurz und knapp
50Perspektivwechsel
2
HERAUSGEBERIN
Baden-Württemberg Stiftung gGmbH
Kriegsbergstraße 42
70174 Stuttgart
Telefon+49 (0) 711 248476-0
Telefax+49 (0) 711 248476-50
[email protected]
www.bwstiftung.de
www.facebook.com/bwstiftung
mehr als 48 Prozent der Menschen in Baden-Württemberg engagieren sich
ehrenamtlich. Das ist nahezu jeder zweite Bürger im Land.
Ehrenamt ist für eine Gesellschaft von enormer, unverzichtbarer Bedeutung. Wenn sich Menschen für eine Sache freiwillig engagieren, ist das eine
sehr persönliche Entscheidung und sie sind mit dem Herzen dabei. Sie verschenken: Zeit, Wissen, Fürsorge. Und sie bekommen zurück: Dankbarkeit,
Freundschaft, Freude und oftmals Erfüllung und Selbstbewusstsein.
Auch für die Baden-Württemberg Stiftung sind ehrenamtlich tätige Bürgerinnen und Bürger unersetzlich. Sie engagieren sich in unseren Programmen und Projekten auf vielfältige Weise, füllen sie mit Leben und machen
sie oft überhaupt erst möglich. Ohne Ehrenamtliche geht es nicht, das hat
aktuell die Flüchtlingskrise sehr eindrucksvoll gezeigt.
Deshalb widmen wir unsere Ausgabe der Perspektive Baden-Württemberg
dem Ehrenamt, genauer gesagt den Persönlichkeiten dahinter. Wir haben
mit Menschen gesprochen, die sich in verschiedenen Bereichen und teils
ungewöhnlichen Projekten einbringen. Ingrid Leonhardt zum Beispiel hält
nachts Sitzwachen ab und steht schwerkranken Patienten bei; Ronald Heymann ist seit mehreren Jahren ehrenamtlich als Bewährungshelfer tätig;
und Hobby-Astronom Matthias Engel möchte den Sternenhimmel retten.
Wir geben Menschen aus unseren Projekten eine Stimme und lassen Forscher, Wissenschaftler, Pädagogen und Künstler zu Wort kommen, die sich
mit viel Leidenschaft engagieren. Wie beispielsweise eine Schülergruppe
aus Bad Mergentheim, die mit Schülern und Studenten aus Ghana eine
Ausstellung zum Thema Mobilität auf die Beine gestellt hat. Oder das Team
rund um Professor Thomas Laux, das an Turbopflanzen forscht. Und auch
der Schriftsteller Heinrich Steinfest, der als Schirmherr der Kulturlotsen
seinen Beitrag dazu leisten möchte, dass Kinder eine Leidenschaft für
etwas entwickeln.
An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Menschen bedanken, die durch
ihr Engagement anderen Menschen helfen und Baden-Württemberg
dadurch lebens- und liebenswerter machen. Insbesondere jenen gilt mein
Dank, die uns in den letzten Jahren unterstützt haben. Viel Freude und
Inspiration bei der Lektüre wünscht Ihnen
Christoph Dahl
3
»Engagement
ist eigensinnig«
01/2016
Dossier: Ehrenamt
Stefan Selke, 48, ist Soziologe und
Autor eines Buches, das die ehrenamtliche
Tafelbewegung untersucht.
Thomas Klie, 61, ist Jurist und Vorsitzender
der Sachverständigenkommission,
die den zweiten Engagementbericht der
Bundesregierung erstellt.
Zwei Professoren, die sich mit
unterschied­l ichen Aspekten von freiwilligem
Engagement beschäftigen.
Eine Diskussion.
Interview_Iris Hobler
Fotos_Christian Mader
W Für beide
Professoren
war das Streit­
gespräch, das in
der Evangelischen
Hochschule in
Freiburg i. Br. stattfand, das erste
Zusammentreffen.
4
ie wichtig ist ehrenamtliches
Engagement für eine Gesellschaft?
Klie: Keine Gesellschaft kommt
ohne die Verantwortung aus, die
ihre Bürgerinnen und Bürger übernehmen. Sei es
ehrenamtlich oder sei es in einer der vielen anderen
Formen freiwilliger Tätigkeit. Engagement kann an
Geselligkeit oder an einem konkreten politischen
Ziel orientiert sein, an Institutionen gebunden oder
informell sein, es kann auf politischen Widerspruch
ausgerichtet sein oder auf Konsens. Wir sprechen
also über ein außerordentlich heterogenes Gebiet,
das wissenschaftlich noch lange nicht vollständig
erschlossen ist.
Selke: Ist Engagement wirklich essenziell für eine
Gesellschaft? Es wird meiner Ansicht nach dann
schwierig, wenn es verlangt wird. Und genau den
Eindruck habe ich: In Deutschland wird Freiwilligkeit mehr und mehr in eine Pflicht umgewandelt.
5
Haben Sie ein Beispiel?
Selke: Ich führe zurzeit Gespräche mit Bewerbern für
eine Stelle an der Hochschule. Jeder, wirklich jeder
Bewerber betont, was er oder sie schon alles freiwillig
gemacht hat. Dabei hat das mit dem Inhalt der Stelle,
die wir besetzen wollen, nichts zu tun. Da stellt sich
doch die Frage: Warum denken diese jungen Menschen, dass ihr Engagement sie für den Job qualifiziert? Hier scheint mir etwas aus dem Gleichgewicht
geraten zu sein. Engagement wird zur Pflichtübung,
und das korrumpiert seinen eigentlichen Wert.
Klie: Darum betonen wir im zweiten Engagementbericht die Freiheit, aus der Engagement erwächst,
als Tugend. So, wie Aristoteles sie verstanden hat.
Abgesehen vom öffentlichen Ehrenamt, das seit Anfang des 19. Jahrhunderts bis heute Bürgerpflicht ist,
darf Engagement nicht zur Pflicht werden. Da bin
ich bei Ihnen: Bürgerschaftliches Engagement generiert sich aus der Freiheit des Menschen, der zum
Gelingen der Gesellschaft beitragen möchte.
>>>
01/2016
Dossier: Ehrenamt
»Wir müssen
Fragen sozialer
Ungleichheit
aufgreifen«
Um Ihr Beispiel von den Bewerbern aufzugreifen:
Sind freiwillig geleistete Tätigkeiten nicht ein
Zeichen für soziale Kompetenz?
Selke: Natürlich sollte man einen Bewerber nicht
nur nach seiner Abi-Note beurteilen. Aber wenn
ich weiß, dass jemand ehrenamtlich gearbeitet hat,
sagt das noch nicht viel über Kompetenzen aus.
Klie: Das sehe ich anders. Die Bereitschaft, mitverantwortlich zu leben und sich sozialen und politischen Anliegen zu öffnen, zählt zu den wichtigen
Persönlichkeitsmerkmalen. Wir konzentrieren uns
hierzulande sehr stark auf die MINT-Fächer. Die sind
aber nicht alles. Ich halte es für sinnvoll, Orte zu
schaffen, an denen sich junge Menschen in Sorgehaltungen üben. Engagement schafft Gelegenheit
zum sozialen Lernen.
sich ein. Sei aktiv! Dieser Imperativ ist die Voraussetzung dafür, dass der Staat seine Verantwortung
lockert. Ich will Politikern gar nicht unterstellen,
dass sie das bewusst tun. Aber es ist eine sehr feine
Wechselwirkung zwischen einer scheinfreiwilligen
Reaktion auf die Aktivierungsforderungen und staatlichem Rückzug.
Klie: Ich glaube, wir können da ganz beruhigt sein. Die
Bürgerinnen und Bürger in einem aufgeklärten Land
lassen sich nicht so einfach instrumentalisieren. Das
wird gern versucht. Aber es wird nicht funktionieren.
Selke: Was stimmt Sie da optimistisch?
Klie: Weil eines der wichtigsten Motive für das
Engagement ist, die Gesellschaft im Kleinen mitzugestalten, sich zu entfalten, Freude zu haben. Nicht:
dem Staat zu dienen. Engagement ist eigensinnig
und lässt sich nicht dauerhaft domestizieren.
Hochkomplex sei
das Phänomen
des Engagements,
sagt Thomas
Klie: „Noch haben
wir in diesem
Bereich keine entfaltete Forschung.“
Was weiß die Wissenschaft über die Menschen,
die sich hierzulande engagieren?
Klie: Der Großteil der mehr als 30 Millionen Engagierten hat einen höheren Bildungsstand und ein
höheres Einkommen. Wenn wir über das in Studien
sichtbar werdende freiwillige Engagement sprechen,
besteht die Gefahr, dass wir nur einen Teil der Gesellschaft in den Blick nehmen. Engagement bedeutet
Teilhabe an der Gesellschaft, und deshalb müssen
wir Fragen der sozialen Ungleichheit aufgreifen.
Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Klie: Eines meiner Forschungsinstitute hat im Auftrag des Landes Brandenburg eine kleine Studie
in Cottbus durchgeführt und nach in der Pflege
Engagierten gesucht. Wir haben kaum jemanden
gefunden. Dann sind wir direkt in die Stadtteile
gegangen. Dort fanden wir nachbarschaftliche
Netzwerke, die gegenseitige Hilfe so selbstverständlich sichergestellt haben, dass keine organisierte
Nachbarschaftshilfe mithalten kann. Sehr beein­
druckend! Wir haben gefragt, warum sie sich nicht
unterstützen lassen, etwa von der Freiwilligen­
agentur. Die Reaktion war: Lassen Sie uns damit in
Ruhe. Wir machen das unter uns und für uns.
Selke: Menschen mit weniger Bildung und Einkommen setzen sich auch ein, aber anders. Es gibt beispielsweise Armutsnetzwerke, in denen Menschen
sich selbst organisieren. Sie sind aber viel weniger
Teil der öffentlichen Debatte und schaffen es nicht,
sichtbar zu werden …
Selke: Man muss sehr genau hinschauen, wenn
Bürger etwas tun, was Aufgabe des Staates wäre.
Aus gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive
wird inzwischen deutlich, dass sich immer stärker
fordernde Aktivierungslogiken entwickeln, die in
viele Bereiche der Gesellschaft eindringen.
Klie: … und sie wollen es auch nicht unbedingt.
Ich nenne das gern stilles Engagement. Nehmen
Sie die ehemaligen sozialistisch geprägten Bundesländer: Da finden wir in hohem Maße solidarisches
Verhalten in Nachbarschaften, das aber bewusst
unter dem öffentlichen Radar bleiben möchte.
Was meinen Sie mit Aktivierungslogik?
Selke: Wenn man die Sprache öffentlicher Diskurse
analysiert, zeigt sich, dass die Menschen regelrecht
dazu gedrängt werden, freiwillig aktiv zu sein.
Das gilt für junge Menschen, für alte Menschen,
für Arbeitslose. Es wird kaum hinterfragt, es schleicht
6
Selke: Damit tun Sie so, als ob Engagement eine
natürliche Konstante ist. Genau das glaube ich nicht.
Es ist vielmehr eine Folge davon, dass den Menschen
suggeriert wird, es sei gut für sie. Niemand sagt:
Liebe Bürger, ersetzt bitte den Staat. Aber es gibt subtile
In seinem Buch
„Schamland. Die
Armut mitten unter
uns“ betrachtet
Stefan Selke
die Tafelbewegung
in Deutschland
kritisch.
Suggestionen. Dass es einen glücklicher macht und
bereichert, wenn man sich engagiert. Dass es gut
ist, wenn man im Alter noch aktiv ist. Und es wird
immer schwieriger zu sagen: Das will ich aber nicht.
Ohne das Wollen vieler Menschen hätte es nicht
funktioniert, mehr als eine Million Flüchtlinge
aufzunehmen. Muten wir uns zu viel zu?
Klie: In dieser Krisensituation hat sich gezeigt, dass
wir in Deutschland über eine vitale und innovative
Zivilgesellschaft verfügen. Sie hat das sich in Teilen
offenbarte Versagen des Staates kompensiert und
eine politische und humanitäre Kultur gezeigt. Aber
auch Ambivalenzen wurden deutlich: Es gibt diejenigen, die zu Demonstrationen von Pegida gehen und
die AfD wählen. In der Summe sehe ich die Chance,
dass sich verkrustete Strukturen der klassischen
Engagementszene gegenüber einer enorm kreativen
und vielfältigen Art des Engagements öffnen.
Selke: Da werden verkrustete Strukturen aufgebrochen – und dann liegt die Aufgabe bei denen, die
sich freiwillig des Themas angenommen haben. Die
Gefahr der Verstetigung ist groß. Hier sind die Tafeln
in Deutschland ein Beispiel. Da gibt es 60.000 Ehrenamtliche, die alle wie selbstverständlich in der
Daseinsvorsorge aktiv sind, seit mehr als 20 Jahren.
Kaum jemand stellt die Frage danach, ob man nicht
etwas an den Ursachen von Armut ändern müsste.
Klie: Das stimmt so nicht. Wir wissen, dass Strukturmerkmale von Regionen wie Arbeitslosigkeit und
Armut eine geringe politische und bürgerschaftliche Beteiligung begünstigen. Strukturpolitik ist
Voraussetzung für Engagement. Deshalb werden
wir der Bundesregierung vorschlagen, ein Monito­
ring zu installieren, das den strukturpolitischen
Handlungsbedarf sichtbar macht.
Selke: Wenn das bedeutet, dass Politik für Engagierte
gemacht wird, dann wäre ich einverstanden. Nicht
wenn es bedeutet: Engagement statt Politik. <<<
»Menschen
werden dazu
gedrängt, freiwillig
aktiv zu sein«
7
01/2016
Dossier: Ehrenamt
P Eine Frage der Ehre:
Acht Menschen aus
Baden-Württemberg
erzählen, warum sie sich
ehrenamtlich engagieren.
hil Hensel hat als einer der Ersten den Zertifikationskurs zum
Inklusions­begleiter an der Akademie Himmelreich in Kirchzarten
absolviert. Gemeinsam mit anderen ehrenamtlich Engagierten
setzt sich der 32-Jährige dafür ein, dass das Zusammenleben
von Menschen mit und ohne Behinderung besser läuft.
Sie haben sich als Inklusionsbegleiter qualifiziert. Was kann man sich
darunter vorstellen?
In der Schulung ging es vor allem darum, klarzukriegen, was Inklusion
eigentlich bedeutet und wie sie sich im Alltag umsetzen lässt. Wir waren
eine Gruppe von zehn Teilnehmern, ein bunt gemischter Haufen aus Alt
und Jung, behindert und nicht behindert. Die Weiterbildung lief über
ein halbes Jahr an Wochenenden. Mit den drei Dozenten haben wir über
unterschied­l iche Themen gesprochen, wie es beispielsweise um Inklusion in Deutschland steht oder wie die Rechtslage aussieht. Ein weiterer
Schwerpunkt waren Rollenspiele. Die haben mich beeindruckt.
Was hat Ihnen daran so gut gefallen?
Wir haben Übungen zum Thema Anti-Bias gemacht. Bias bedeutet so viel
wie Schieflage. Die entsteht dadurch, dass die Mehrheit definiert, was normal ist, und Menschen mit Behinderung aus diesem Raster fallen. In den
Rollenspielen ging es darum, die eigene Position zu stärken und herauszuarbeiten, dass Behinderung erst einmal kein Nachteil ist, sondern Möglichkeiten eröffnet, aus der Behinderung heraus Positives zu bewirken.
Wie sieht Ihre Arbeit als Inklusionsbegleiter konkret aus?
Generell ist mein Verständnis, dass ich mit meinem Engagement den
Prozess der Inklusion mitgestalte, und zwar ganz konkret aus meinem
Lebensumfeld heraus. Letzte Woche habe ich zum Beispiel eine Stadt­
führung für Absolventen des Freiwilligen Sozialen Jahres gemacht. Ich
habe ihnen gezeigt, wo es für Rollstuhlfahrer oder Blinde schwierig ist,
sich in der Stadt zu bewegen. Ich habe ihnen von meinem Alltag und
meinem Leben erzählt. Man merkt, dass da ganz viel Interesse ist. Die
Leute trauen sich aber oft nicht, zu fragen. Das finde ich schade. Man
muss sich mehr begegnen.
»Ich bin mehr
Hip-Hop-Fan als
Rollstuhlfahrer«
8
Weil Begegnung Hemmschwellen abbaut?
Ganz genau. Mir ist es wichtig, dass man miteinander ins Gespräch
kommt. Ich verstehe Inklusion als etwas sehr Persönliches, das nur
bedingt mit Gesetzen oder Rechtsfragen zu tun hat. Andererseits muss
sich auch strukturell etwas verändern.
Phil Hensel studiert
Heilpädagogik und engagiert sich bei der Initiative
„Freiburg für alle“. Sein
Lieblingsmotivationssong
ist „Der beste Tag meines
Lebens“ von Kool Savas.
Und was muss sich ändern?
Das Bild, das viele Nichtbehinderte von Rollstuhlfahrern haben, ist einseitig und oft zu pauschal. Kategorien wie Rollstuhlfahrer, Menschen
mit Down-Syndrom oder mit geistiger Behinderung funktionieren nicht.
Solche Verallgemeinerungen greifen nicht. Man muss immer das Individuum im Blick haben. Ich bin Rollstuhlfahrer, klar. Aber ich bin auch
Hip-Hop-Fan. Und zwar mehr Hip-Hop-Fan als Rollstuhlfahrer.
Die Qualifikation wurde von der Baden-Württemberg Stiftung in
Kooperation mit der Lechler-Stiftung im Rahmen des Programms
Inklusionsbegleiter gefördert: www.wir-sind-inklusionsbegleiter.de
Text: Anette Frisch; Foto: Christian Mader
9
01/2016
Dossier: Ehrenamt
»Ich sehe mich
als einen, der
Brücken schlägt«
W kommen, mit den ganzen Gesetzen
und Regeln.“
er mit Ayoub El
Mkhanter spricht,
dem fällt sofort der
melodiöse, sanfte
Akzent auf – diese
typisch französische Färbung. Der
Student ist in Marokko aufgewachsen,
in der Millionenstadt Casablanca. Französisch und Arabisch sind seine Muttersprachen. Seit zehn Jahren lebt er in
Deutschland, studiert derzeit International Business und Intercultural
Studies in Heilbronn, und
zwar auf Englisch. Vier
Sprachen also: der ideale
Welcome Guide!
Welcome Guides, das ist ein Netzwerk in Heilbronn. Seit 2015 qualifiziert
die städtische Stabsstelle Partizipation
und Integration Menschen, die Neuzuwanderer auf ihrem oft komplizierten
Weg durch deutsche Behörden und
Beratungsstellen begleiten.
Dafür ist Ayoub El Mkhanter, ebenso
wie 56 weitere Guides, in mehreren
Kursen entsprechend qualifiziert worden. Wie füllt man welche Formulare
aus? Wie sehen die rechtlichen Aspekte
aus? Wie geht man mit Konflikten
um? Wie mit stressigen Situationen?
Diese Kurse, sagt El Mkhanter, waren
wichtig, um die eigene Rolle zu finden.
„Ich sehe mich als einen, der Brücken
schlägt. Ich weiß ja selbst, dass es nicht
ganz einfach ist, in Deutschland anzu-
Im Durchschnitt arbeitet er wöchentlich vier bis fünf Stunden ehrenamt­lich;
dafür erhält er eine kleine Aufwandsentschädigung. Vor einigen Monaten
hat Ayoub El Mkhanter ein Praktikum
bei der Stadt Heilbronn begonnen, das
er für sein Studium braucht. Eine seiner
Auf­gaben ist die Mitarbeit an einer
neuen Web­seite, die für Neuankömmlinge Informationen in 14 Sprachen bereitstellen wird.
Außerdem steckt er mitten
in der Qualifizierung zum
sogenannten kulturellen Mittler, einem weiteren Ehrenamtsnetzwerk, das in Heilbronn zur besseren
Verständigung bei Gesprächen in
Beratungsstellen beitragen soll.
Ayoub El Mkhanter
sagt, dass die Tätigkeit als Welcome
Guide für ihn keine
Arbeit ist: „Es macht
mir Freude und es
stimmt mich fröhlich,
dass ich helfen kann.“
10
Das Engagement als Welcome Guide
und die Begegnungen mit den Menschen, die nach Deutschland geflüchtet
sind, haben El Mkhanter motiviert,
seine beruflichen Perspektiven zu
überdenken. Es ist nicht mehr der Job
in einem Unternehmen, der ihn reizt,
sondern interkulturelle Tätigkeiten bei
entsprechenden Trägern. „Für eine gute
Integration ist es wichtig, Menschen
aus anderen Kulturen wertschätzend
zu begegnen. Dazu will ich einen Beitrag leisten, auch mit meinem künftigen Beruf.“
Text: Iris Hobler; Illustration: Bernd Schifferdecker
und die Älteste 81. Natürlich ersetzen wir das Pflege­
personal nicht. Wir unterstützen die Schwestern,
indem wir ganz allein für den Patienten da sind.
Wir sind in einem Kurs auf unsere Tätigkeit sehr
gut vorbereitet worden. Fachärzte, Psychiater und
Experten der Palliativmedizin haben Vorträge gehalten und sich sehr viel Zeit für anschließende Gespräche genommen. Wir haben sogar auf Stationen
hospitiert. Die Vorbereitung hat mir viel gegeben
und ich empfinde meine Tätigkeit als Bereicherung.
Unsere Sitzwachengruppe trifft sich regelmäßig.
Wir tauschen uns intensiv aus und haben einen
starken Zusammenhalt. Auch das Team vom Marienhospital ist immer für uns da. Niemand bleibt mit
seinen Erlebnissen allein.
»Jede
Nacht
ist
anders«
Viele von uns sind durch persönliche Erfahrungen
zur Sitzwache gekommen. Ich habe meinen Mann
und meinen Bruder gepflegt und begleitet. Sie sind
daheim gestorben. Warum ich mich engagiere?
Aus Dankbarkeit! Weil es mir selbst so gut geht,
ich gesund bin und etwas weitergeben möchte.
Ich halte auch einiges aus. Die Angst des Patienten
und auch die Schmerzen. Eine Situation hat mich
tief berührt. Ein 50-jähriger Mann lag im Sterben.
Seine Ehefrau war hilflos und konnte nicht bei ihm
ausharren. Sie war einfach überfordert. Für ihren
Mann war das Loslassen dadurch schwerer. Eine
halbe Stunde, nachdem ich abgelöst wurde, starb er.
Jede Nacht ist anders.“
E s gibt Nächte, da habe ich nichts zu tun.
Diese Nächte sind in gewisser Weise
anstrengender. Ich sitze im Zimmer
und höre auf den Atem des Patienten
und die Töne der Instrumente. Setzt
der Atem aus? Piepst was? Auch wenn die Patienten nicht mehr ansprechbar sind, sie fühlen, dass
jemand im Raum ist, und das beruhigt sie.
Nicht jede Nacht verläuft so. Vor zwei Tagen war ich
auf der Gynäkologie bei einer 85-jährigen Dame.
Sie war sehr unruhig und verwirrt. Sie räumte ihre
Sachen aufs Bett, weil sie mit mir weggehen wollte.
Ich habe ihr gut zugeredet und dann alles wieder
eingeräumt. Wichtig ist für mich der Respekt vor dem
kranken Menschen. Dass man vollkommen auf seine
Bedürfnisse eingeht und sich selbst zurücknimmt.
Seit drei Jahren engagiere ich mich ehrenamtlich
als Sitzwache im Marienhospital. Ich verbringe vier
Stunden bei einem Patienten. Häufig nachts, aber
auch tagsüber gibt es Schichten. Im Marienhospital
sind wir 40 Sitzwachen. Die Jüngste ist 35 Jahre alt
Text: Anette Frisch; Fotos: Christian Mader
Ingrid Leonhardt,
70, engagiert sich
als Sitzwache im
Marienhospital
Stuttgart.
11
01/2016
Dossier: Ehrenamt
»So sein,
wie du bist«
Myrthe Baijens, 23, studiert Erneuerbare
Energien an der Hochschule für Forstwirtschaft in
Rottenburg am Neckar. Sie kam 2014 über das
Stipendium der Baden-Württemberg Stiftung vom
niederländischen Leeuwarden nach Deutschland.
D »Ein
Land,
das
Holland
hieß«
M anchmal habe ich Angst,
dass wir Menschen
das Chaos, das wir mit
dem Klima anrichten,
nicht mehr in den Griff
bekommen. Vielleicht werden meine
Enkel oder Urenkel in Büchern lesen,
dass es mal ein Land gab, das Holland
hieß und das leider wegen der Erderwärmung vom Meer verschluckt wurde.
Meine Hoffnung treibt mich an, doch
etwas verändern zu können. Auch
wenn ich nur ein kleiner Mensch bin;
wir sind doch viele, die sich für unser
Klima engagieren. Und wir bewirken
etwas. Noch vor ein paar Jahren hätte
niemand gedacht, dass der Kohleausstieg zu einem Thema wird. Jetzt ist er
onnerstag früh, 7.45 Uhr.
Roland Lorson trifft die
achtjährige Azra und den
siebenjährigen Efe im
Klassenzimmer der Schillerschule in Wiesloch. In der nächsten
Dreiviertelstunde gehört seine ganze
Aufmerksamkeit den beiden. Roland Lorson, im beruflichen Leben selbstständiger
Coach und Mediator, ist ihr Lesepate.
Wie sind Sie auf dieses Ehrenamt aufmerksam geworden?
Ich habe in der Zeitung gelesen, dass
die Bürgerstiftung Lesepaten sucht. Erst
habe ich noch gezögert, aber dann dachte ich: Du möchtest gern etwas für die
Gemeinschaft tun. Und so habe ich mich
bei der Stiftung gemeldet.
es. Und wenn Deutschland dabei vorangehen würde, wäre das ein großes
Signal an die Welt.
Ich bin seit vielen Jahren Aktivistin.
Mit der Hochschulgruppe von Global
Marshall Plan habe ich im letzten Jahr
in Tübingen die Weltklimawoche organisiert. An jedem Abend kamen interessierte Menschen zu Vorträgen, Filmen
und einem Poetry-Slam.
Außerdem setze ich mich für Fossil Free
ein. Diese Kampagne hat an kleinen
Universitäten in den USA begonnen.
Wir sprechen mit Städten, Pensionskassen und anderen Institutionen, um sie
davon zu überzeugen, nicht in fossile
Brennstoffe zu investieren.
12
Zu meinem Engagement gehört auch,
manchmal bewusst gegen Normen zu
verstoßen. Etwa im Rahmen der Aktion
Ende Gelände, bei der wir Kohlebagger
für einen Tag gestoppt haben. Der Abbau
dort ist für mich illegaler als unser ziviler
Ungehorsam dagegen.
Noch ist mein Klimaaktivismus ehrenamtlich, aber ich möchte ihn zu meinem
Beruf machen. Vielleicht bei 350.org oder
bei Greenpeace. Oder in der Politik. Als
Ministerin für Energie würde ich vieles
anders machen. Aber jetzt schreibe ich
erst mal meine Bachelorarbeit. Darüber, wie sich Mensaküchen nach­haltig
be­treiben lassen.“
Text: Iris Hobler; Foto: privat
Was macht ein Lesepate?
Viele Kinder haben Probleme damit,
Sätze und Zusammenhänge in Texten zu
verstehen. Ich übe es mit ihnen. In den
letzten fünf Jahren habe ich als Lesepate
neun Kinder begleitet und unterstützt.
Ein Schuljahr lang, einmal pro Woche.
Lesen ist für Sie …
Freiheit! Wer lesen kann, der kann sein
Leben gestalten.
Und mit welchem Erfolg bringen Sie
den Kindern das Lesen bei?
Jede einzelne Stunde ist ein Erfolg, weil
die Kinder immer etwas mitnehmen.
Eine Lehrerin hat mir mal gesagt, dass
ein Junge nach dem Lesen mit mir immer ganz fröhlich sei. Das ist mir wichtig:
den Kindern zu vermitteln, dass Sprache
und Lesen Freude machen.
Wie genau tun Sie das?
Ich bin mit meiner ganzen Aufmerk­
samkeit bei den Kindern und in diesem
Text: Iris Hobler; Foto: Antonio Bello
Roland Lorson ist der
Lesepate von Efe.
Ein Schuljahr lang treffen sie
sich einmal in der Woche und
lesen gemeinsam.
Oder sprechen über Star
Wars, Efes Lieblingsfilm.
Moment. Was gestern war oder aus
welcher Kultur ein Kind kommt, das ist
unwichtig. Jetzt sitzen wir hier gemeinsam, und dieses Kind ist klasse und
einmalig. Ich vermute, diese Einstellung
fördert die verborgenen Talente.
Sie schätzen die Kinder …
Ja. Die Zeit mit ihnen bereitet mir große
Freude. Ich tauche ein in eine andere
Welt. Kinder erlauben dir, so zu sein,
wie du bist. Sie sind direkt und ehrlich.
Und wenn sie lieber die Sonne aufgehen
13
sehen wollen, als zu lesen, dann lasse ich
mich darauf ein und wir sprechen erst
mal über die Sonne.
Was bedeutet Ehrenamt für Sie?
Ehrenamt ist Geben und Nehmen gleich­
zeitig. Wir Menschen sollten uns viel
stärker als Gemeinschaft verstehen und
uns gegenseitig unterstützen. Mein
Leben bis hierher hat mich gelehrt, dass
wir ein neues Bewusstsein brauchen. Ich
trage ein kleines bisschen dazu bei.
Die Lesepaten sind ein Projekt der
Bürgerstiftung Wiesloch
(www.buergerstiftung-wiesloch.de),
die auch Partnerin beim diesjährigen
Kinderliteratursommer ist.
Mehr zu diesem Festival auf Seite 49.
01/2016
Dossier: Ehrenamt
Blick in den winterlichen Sternenhimmel über
der Burgruine
Bichishausen im
Großen Lautertal,
Schwäbische Alb.
»Licht
hat
auch
eine
dunkle
Seite«
A ls sich Matthias Engel
aufmacht, den Sternenhimmel zu beobachten,
fehlt ihm ein geeigneter
Standort. Der sollte richtig dunkel und möglichst hoch gelegen
sein. Rund 50 Kilometer von seiner Heimatstadt Stuttgart entfernt findet Engel
so einen Ort: Die Gegend um den ehemaligen Truppenübungsplatz Münsingen auf der Schwäbischen Alb. Die ist
dünn besiedelt und es gibt nur wenig
Straßenverkehr. Von hier aus schaut
Engel durch sein Teleskop in einen der
letzten von künstlichem Licht nicht
beeinträchtigten sternenklaren Nachthimmel Baden-Württembergs.
Mit dem himmlischen Zustand kann es
schon in wenigen Jahren vorbei sein.
14
Nomen est omen:
Zwischen Matthias
Engel und dem
Sternenhimmel über
der Schwäbischen
Alb besteht eine
besondere Verbindung.
Denn immer mehr Gemeinden rüsten auf
zu helle LED-Beleuchtung um oder achten nicht darauf, wie sie das Licht ihrer
Straßenlaternen ausrichten. Was dazu
führt, dass es teilweise ungenutzt in die
Umwelt ausstrahlt. Matthias Engel möchte das ändern. Er will die Nacht schützen
und die Öffentlichkeit für das Thema
Lichtverschmutzung sensibilisieren. Was
gar nicht so leicht ist. „Licht ist ein Zeichen für Fortschritt und Urbanität“, sagt
der promovierte Ingenieur. „Vielen ist
gar nicht bewusst, dass es auch negative
Auswirkungen haben kann. “Denn falsch
ausgerichtetes Licht kostet nicht nur jede
Menge Energie – es ist auch schädlich
für Mensch und Natur. Weil das Auge
zum Beispiel die Fähigkeit verliert, sich
an Dunkelheit anzupassen; oder weil es
den Tag-Nacht-Rhythmus von Tieren so
durcheinander­bringt, dass es zu Verschiebungen im Ökosystem kommen kann.
Es gibt aber noch ein weiteres Thema,
das dem 35-Jährigen am Herzen liegt.
Er möchte, dass die Schwäbische Alb
ein offizieller Sternenpark wird. Das ist
eine Region, die sehr dunkel ist und wo
sich Sterne besonders gut beobachten
lassen. In Deutschland gibt es bislang
nur drei der sogenannten Dark Sky Parks:
den Nationalpark Eifel, das UNESCO-Bio­
sphärenreservat Rhön und Brandenburgs
Naturpark Westhavelland.
2011 hat Matthias Engel aus seinem persönlichen Interesse ein ehrenamt­liches
Projekt gemacht und die Initiative „Sternenpark Schwäbische Alb“ gegründet.
Mit weiteren „Schützern der Nacht“ klärt
Text: Anette Frisch; Fotos: Till Credner, AlltheSky.com; privat
15
Engel Gemeinden über eine umweltgerechte Beleuchtung auf, organisiert Ausstellungen und Sternen­führungen oder
hält Vorträge zum Thema Lichtverschmutzung. Wie 2015 bei der Zukunftsakademie
der Stiftung Kinderland, wo der Stuttgarter Jugendlichen „die dunkle Seite des
Lichts“ näherbrachte.
Matthias Engel ist zwar stolz darauf, dass
die Verantwortlichen des Biosphärengebiets Schwäbische Alb und das Umweltministerium die Arbeit der Sternenaktivisten
sehr schätzen – „ohne das Engagement der
Ehrenamtlichen wäre aber kaum etwas
zu erreichen“, sagt er. „Von offizieller Seite
wird noch zu wenig dafür getan, Lichtverschmutzung zu vermeiden.“
www.sternenpark-schwaebische-alb.de
01/2016
Dossier: Ehrenamt
»Warum
hast du den
Mann nicht
verstanden«
Ronald Heymann hat früher
Sozialarbeit studiert; davon
profitiert er bei seiner Arbeit
für Neustart.
lustlos, manchmal auch voller Abwehr.
Schließlich ist er ja zur Bewährungsstrafe verdonnert worden.
Wenn meine Klienten mich dann kennen, sind wir schnell auf einem guten
Weg. Sie merken, dass ich sie ernsthaft
dabei unterstützen möchte, mit eigener
Kraft die Kurve zu bekommen. Und das
gelingt den meisten.
Muss es aber nicht. Einer meiner Klien­
ten, ein sehr sympathischer junger
Mann, war mehrfach beim Klauen
er­w ischt worden. Ich dachte, er sei
auf einem guten Weg, als er anfing, in
einem Restaurant zu jobben. Als dort
ein Diebstahl begangen wurde, beteuerte er seine Unschuld. Ich habe ihm
geglaubt und ihn zu seiner Aussage
bei der Polizei begleitet.
Kurz darauf wurde er bei einem schweren Einbruch gefasst. Das war wie ein
Schlag ins Gesicht. Er hatte sich mit dem
organisierten Verbrechen eingelassen.
Ich hatte nichts weniger erwartet als
ausgerechnet das! Acht Jahre Bau waren
die Konsequenz.
R onald Heymann, 60, ist
technischer Sachbearbeiter.
Ihn rufen die Kunden an,
wenn sie Reklamationen
haben. Dann ist Zuhören
gefragt, Verbindlichkeit und Offenheit:
Eigenschaften, die ihm auch bei Neustart
helfen, einer gemeinnützigen Gesellschaft, die straffällig gewordene Menschen bei der Resozialisierung unterstützt.
Ronald Heymann engagiert sich hier seit
acht Jahren – und ist dabei auch schon an
Grenzen gelangt.
Ich habe oft gegrübelt: Was ist falsch
gelaufen? Warum hast du den Mann
nicht verstanden? Das war für mich eine
schwierige Grenzerfahrung. Ich weiß ja,
dass der Knast ihn nicht besser machen
wird. Der Austausch mit den Hauptamtlichen im Verein hat mir damals geholfen zu erkennen: Hier geht’s auch um
mich und um meinen Selbstzweifel.
„Ich finde gut Zugang zu Menschen,
selbst wenn sie vielleicht schwieriger
sind. Das hat mich wohl auch motiviert,
als ehrenamtlicher Bewährungshelfer
anzufangen.
Ich betreue die eher leichten Fälle.
Junge Männer, die durch Betrug,
Diebstähle oder Prügeleien auffällig
geworden sind. Der Anfang ist oft nicht
so einfach. Da komme ich mit meiner
Neugier und meiner Portion Enthusiasmus, und der andere ist bestenfalls
16
Die Arbeit bei Neustart hat für mich einiges relativiert. Vieles, über das ich mich
früher aufgeregt habe, ist Kleinkram
im Verhältnis zu dem, was die meisten
meiner Klienten erlebt haben. Schwere
familiäre Brüche, Knastväter, Alkoholismus in der Familie. Da ist es für mich
wichtig, die persönliche Distanz gut zu
wahren. Immer siezen, dem anderen
nichts abnehmen. Sondern klarmachen:
Lösen musst du deine Probleme selbst.“
www.neustart.org
Text: Iris Hobler; Foto: privat
»Ich teile
gern Zeit
mit anderen
Menschen«
I
Kornelia Wahl ist die Patin
von Admir. Die beiden stehen
auf ihrem Lieblingsplatz in
Freiburg: dem Münsterplatz.
m Oktober 2015 startete in Freiburg das Projekt City Kidz.
Erwachsene übernehmen eine Patenschaft für ein Kind, dessen
Familie geflüchtet ist, und entdecken gemeinsam mit ihm die
Stadt. Das Besondere: Die Kinder fotografieren ihre Eindrücke.
Kornelia Wahl engagiert sich seit Beginn für City Kidz.
„Ich bin als Imageberaterin selbstständig und kann mir
meine Zeit frei einteilen. Ich wollte immer schon etwas mit
Kindern machen. Eine Freundin hatte mich auf das Projekt
aufmerksam gemacht. Und dann habe ich mich beworben.
Bei der Auftaktveranstaltung von City Kidz im Rathaus haben
wir unsere Patenkinder und deren Familien kennengelernt.“
Admir ist mit seiner Familie vor sechs Jahren aus dem Kosovo nach Deutschland gekommen. Der 12-Jährige geht in die
6. Klasse einer Förderschule und trifft Kornelia Wahl an einem
Nachmittag der Woche. Dann planen die beiden, was sie
unter­nehmen möchten. Gemeinsam mit der 60-Jährigen war
Admir beispielsweise Schlitten fahren mit anschließendem
Picknick im Schnee, hat im Mundenhof Tiere fotografiert, ist
den Münsterturm hochgeklettert oder hat das Naturkunde­
museum besucht. Wenn Admir nicht mit Kornelia Wahl unterwegs ist, spielt er auf dem Gelände der Gemeinschaftsunterkunft. Sein Vater ist sehr ängstlich und möchte nicht, dass
Admir allein unterwegs ist.
„Die Familie ist froh, wenn Admir aus der Enge rauskommt
und andere Dinge erlebt. Er lebt mit seiner achtköpfigen
Text: Anette Frisch; Foto: Sina Leppert
Familie in zwei Zimmern. Tagsüber lehnen die Matratzen,
auf denen sie schlafen, an den Wänden. Ich frage mich oft,
wie man das aushält.“
Zurzeit kümmert sich Kornelia Wahl darum, dass Admir eine
andere Schule besuchen kann. Eine, die seine Talente stärker
fördert. Sie schaut sich um und spricht mit Lehrern. Eigentlich
ist das nicht ihr Job, aber sie fühlt sich verantwortlich.
„Die Familie ist mir ans Herz gewachsen, es ist eine emotionale Nähe entstanden. Das bleibt nicht aus, wenn man dort
ein- und ausgeht.“
Nach den Sommerferien werden Admir und Kornelia Wahl
getrennte Wege gehen. Die Patenschaft endet dann. Admir
wird, wenn er möchte, eine neue Patin bekommen. Und Kornelia Wahl ein neues Patenkind. Dass sie sich weiterhin ehrenamtlich engagiert – das steht für die Freiburgerin fest.
„Wenn Glück nicht so ein großes Wort wäre, würde ich sagen,
ich bin glücklich. Ist es da nicht selbstverständlich, dass man
von diesem Glück etwas abgeben möchte? Menschen etwas
Gutes tun, denen es weniger gut geht? Wenn ich Geld übrig
habe, spende ich. Und wenn ich Zeit übrig habe, teile ich sie
mit anderen Menschen.“
Was Admir in Freiburg entdeckt hat,
lesen Sie auf Seite 29.
17
01/2016
Dossier: Ehrenamt
Reine Ehrensache
61In%Baden-Württemberg engagieren
43,643,6
% 43,6
% %
80
In Baden-Württemberg engagiert sich fast jeder Zweite freiwillig.
Die Grafik zeigt, warum sich Menschen für andere einsetzen und wo
in der Welt die Bevölkerung besonders hilfsbereit ist.
1 Myanmar
2 USA
3 7 8 Sri Lanka
9 Irland
16 Guatemala
19 Thailand
20
23 28 40 58 74 78 102 129 144 48,2
der deutschen
sich
ehrenamtlich. Das sind 30,9 Mio. Einwohner.
%
61%
%
Weil es mir
Spaß macht.
Niederlande
%
Weil es mir
Bürger
engagieren
Spaß
macht.
80
Neuseeland
Weil ich
sich überdurchschnittlich viele Menschen.
mit anderen
Generationen
in Kontakt
komme.
Weil ich
mit anderen
Generationen
in Kontakt
komme.
80
61%
Weil ich
mit anderen
Generationen
in Kontakt
komme.
%
61%
Weil es mir
Spaß macht.
80
57%
Weil ich die
Gesellschaft
mitgestalten
möchte.
Weil ich
mit anderen
Generationen
in Kontakt
komme.
%
Weil es mir
Spaß macht.
Ein Tag im Leben eines
Baden-Württembergers:
2:03 Std.
57%
Deutschland
Weil ich die
Gesellschaft
mitgestalten
möchte.
Österreich
Schweden
57%
34
Weil%
ich die
Ehrenamtliches
Engagement
Weil
ich
Gesellschaft
mich mitgestalten
weiterqualifiziere.
möchte.
Schweiz
57%
Spanien
Frankreich
34%
Polen
Weil ich
mich weiterqualifiziere.
Japan
Russland
China
45,7
%
45,7
%
*
Weil ich die
Gesellschaft
mitgestalten
möchte.
*
41,5
41,5%%
*
5:41 Std.
*
Freizeit
34%
Bereiche, in denen
sich Ehrenamtliche
engagieren ...
18
16,3 %
Sport
9,1 %
Schule und
Kindergarten
9:23 Std.
Ausruhen und
Körperpflege
Wenn sich 30,9 Mio. Ehrenamtliche 2 Std. / Wo. engagieren, multipliziert mit dem Mindeststundenlohn von
8,50 Euro, ergibt sich dieser monetäre Gegenwert.
Weil ich
mich weiterqualifiziere.
Wer gibt am meisten?
6:29 Std.
Arbeit, Ausbildung,
Hausarbeit, Familie
27.315.600.000 €
Weil ich
mich weiterqualifiziere.
34%
Der World Giving Index ermittelt die
Hilfsbereitschaft eines Landes. In den
Index fließen drei Faktoren ein: wie viel
ein Land spendet, wie viele Freiwillige
sich engagieren und wie viele Menschen
Fremden helfen.
0:24 Std.
Essen,Trinken,
Sonstiges
9,0 %
Kultur
8,5 %
Sozialer
Bereich
QUELLEN: Deutsches Zentrum für Altersfragen, Freiwilligensurvey 2014 |
Charities Aid Foundation, World Giving Index 2015 | Statistisches
Landesamt Baden-Württemberg, Zeitverwendungserhebung | Ministerium für
Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren Baden-Württemberg
* von 100 % der männl. und weibl. Survey-Teilnehmern
Infografik: Golden Section Graphics, Anton Delchmann
19
»Wichtig ist das Ent decken
von Leidenschaft
und Obsessionen«
01/2016
Aus der Stiftung
Text_Anette Frisch
Fotos_Burkhard Riegels, Wilhelm Betz
Der Autor Heinrich Steinfest
ist Schirmherr des KulturlotsenProjekts der Stiftung Kinderland am Eltern-Kind-Zentrum
Stuttgart-West. Im Interview
spricht er darüber, warum es
wichtig ist, die Talente von
Kindern frühzeitig zu fördern.
Herr Steinfest, Sie haben kurz vor dem
Abitur die Schule verlassen.
Was war passiert?
Oje, das hätte ich damals in dem Interview mit der ZEIT nicht gestehen dürfen.
Jetzt muss ich mich erklären. – Nun, es
war so, dass ich nach Jahren der Talent­
verleugnung und einer Fokussierung
auf meine Defizite schlichtweg atemlos
dastand, außerstande, noch durchs Ziel
zu laufen. Solche Momente kommen im
Leben vor und da hilft dann auch kein
Zusammenbeißen der Zähne. Der Schritt
in die Kunst erschien mir da genau der
richtige Weg, um wieder etwas Luft zu
kriegen. Natürlich, das ist ein steiniger
Weg, wie gern gesagt wird, aber diese
Steine waren mir so viel lieber. Steine,
mit denen ich mich anfreunden konnte.
Außerdem hatte ich Kafka im Gepäck.
Man sollte immer eine Flasche Wasser
und ein gutes Buch dabeihaben. Ich
würde also auf die Frage nach den drei
Dingen, die man auf eine einsame Insel
mitnehmen möchte, antworten, zwei
genügen.
Was hat Kafka in Ihnen ausgelöst?
Ich habe zum ersten Mal gespürt, wie
viel Trost von der Literatur ausgehen
kann. Gar nicht so sehr Rat, sondern
eben Trost. Indem da einer unsere Ängste mit Sprache einfängt und sie dadurch
bannt. Mir war, als könnte ich meine
ganze Furcht vor dem Leben wie eine
kleine Skulptur in der Hand halten. Ihr
Wesen erkennen. Und daraus lernen,
meinerseits solch tröstliche Skulpturen
zu verfertigen.
Ihre Lehrerin hat damals Ihr Sprachtalent entdeckt und Sie in Ihrer Entscheidung bestärkt. Wie wichtig war das für
Sie?
Sie hat einfach gesagt, ich würde das
auch ohne den Abschluss hinbekommen, da in der Regel Romane nicht aus
Abschlüssen herauswachsen.
>>>
20
21
01/2016
Aus der Stiftung
»Zur Kultur
gehört
der Streit
ganz
unmittelbar
dazu«
Wertvolle
Freundschaften
Bildung findet durch Beziehung statt
und Beziehung durch gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen. Im Projekt „Kul-
Kultur hier wirklich alles ist: Nicht nur das,
was man sofort assoziiert wie etwa einen
Theaterbesuch, sondern ebenso gemeinsames Kochen oder Sport und vor allem
die Philosophie. Das Leben erdenken. Sätze
finden, die einem erklären, was man ist.
turlotsen – Welten verbinden für Kinder
und Zukunft“ des Eltern-Kind-Zentrums
Stuttgart-West (EKiZ) kommen Erwachsene und Kinder zusammen, um gemeinsam
Kultur zu erleben und erlebbar zu machen. Jede Patenschaft ist individuell
und wird von den Kindern und ihren Lotsen selbst gestaltet. Dadurch entstehen
Partnerschaften, die Kinder stärken und
auch die Familien entlasten. Das EKiZ
möchte mit dem Kulturlotsen-Projekt zu
mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen,
Und wenn die Obsession Computerspiele sind?
Das ist ja grundsätzlich nichts Schlechtes.
Wichtig ist, das Kind nicht allein mit den
Dingen zu lassen, sondern auf seine Interessen einzugehen und miteinander zu reden. Da darf es auch Sachen geben, über die
man streitet. Zur Kultur gehört der Streit
ganz unmittelbar dazu. Und vor allem, wie
man streitet. Die Streittechnik. Eine gute
Streittechnik könnte uns alle retten.
deshalb spricht es vor allem auch Kinder aus bildungsfernen Milieus an. Im
Anschluss an die Förderung durch die
Stiftung Kinderland wird das Kulturlotsen-Projekt des EKiZ bis Ende 2016 vom
SWR-Programm Herzenssache unterstützt.
Weitere Infos unter
www.eltern-kind-zentrum.de/kulturlotsen
Auch beim Projekt Kulturlotsen des
Eltern-Kind-Zentrums Stuttgart-West
geht es darum, Talente von Kindern zu
fördern und sie zu begleiten. Sind Sie
deshalb Schirmherr geworden?
Zunächst habe ich einen persönlichen
Bezug zum Eltern-Kind-Zentrum. Ich lebe
seit 16 Jahren im Stuttgarter Westen und
bin seit 14 Jahren Vater eines Sohnes.
Und als der klein war, habe ich diesen
Ort immer mal wieder aufgesucht. Ein
offener Ort, und zugleich ein geschützter.
Und natürlich begreift man am besten
den Nutzen einer Sache, wenn man
selbst mal deren Nutznießer war. Für
mich besitzen die Kulturlotsen einen
zukunftsweisenden Modellcharakter.
Wie meinen Sie das?
Bei den Kulturlotsen geht es darum, dass
Erwachsener und Kind über die Kultur
miteinander ins Gespräch kommen und
Vertrauen zueinander entwickeln. Der
Pate lockt das Kind sozusagen wie ein
Bergführer – und Talführer – in die Kultur
hinein und erfährt dadurch auch etwas
über das Kind. Er führt nicht nur, sondern
lässt sich auch führen, ebenfalls verlocken, weil ja auch das Kind etwas über die
Topographie der Kultur weiß. Woraus ein
„Zugleich“ entsteht, ein Dialog. Das hat
mich animiert, das Projekt zu beschirmen.
Es ist also gar nicht klar, wer hier der
Kulturlotse ist?
Genau das meine ich! Der Begriff sagt
ja erst einmal gar nicht aus, wer wen
lotst. Man meint zunächst einmal den
Erwachsenen, aber es wird ja auch der
Erwachsene aus seinem weltlichen
Leben herausgerissen. Für ihn ist das
keine Alltagssituation. Er kümmert sich
ja nicht um die Enkelin oder den eigenen
Sohn oder die eigene Tochter. Die beiden
22
Der Schriftsteller Heinrich
Steinfest (55) lebt seit
16 Jahren in Stuttgart. Er ist
in Albury, Australien, geboren
und in Wien aufgewachsen.
Für seine Kriminalromane ist
er mehrfach mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet worden, wie auch mit dem
Heimito-von-Doderer-Preis. Im
Herbst erscheint sein neuer
Roman „Das Leben und Sterben der Flugzeuge“ im Piper
Verlag.
müssen sich miteinander bekannt
machen und eine Menge Dinge annehmen, die ihnen vielleicht am anderen
zunächst gar nicht so vertraut sind. Diese
Vertrautheit, die die Blutsverwandtschaft
suggeriert, fehlt ja zunächst. Darum geht
es, dass man sich mit dem anderen und
sich selbst auseinandersetzt. Das sind
wertvolle Erfahrungen.
Wäre das nicht eher Aufgabe der Familie?
Ich denke, dass das Kind beim Lotsen
über gewisse Dinge sprechen kann, die
in der Familie nicht immer so leicht
möglich sind. Der Kulturlotse ist der „vertraute Fremde“. Deshalb ist es auch so
wichtig, dass bei den Kulturlotsen keine
Vorgaben bestehen. Im Grunde erhalten
Kinder bei den Kulturlotsen eine Auszeit
von der Überforderung, einen intellektuellen Freiraum, der auch ohne Schnelligkeit und Zielvorgabe besteht.
Warum glauben Sie, dass Talente in der
Schule untergehen?
Gegenfrage: Glaubt jemand ernsthaft,
dass der immense Druck, der besteht,
das Beste aus uns herausholt? W. H.
Auden schrieb einmal in einem Gedicht:
„Alles, worum wir beten können, ist,
dass Künstler, Meisterköche und Heilige
uns lang noch das Leben erheitern.“ Das
mit den Heiligen ist natürlich schwierig,
aber man kann vielleicht versuchen, den
Künstler und Meisterkoch, der in einem
jedem von uns steckt, zum Vorschein zu
bringen. Anzustoßen. Aufzuwecken.
Oder wie bei Ihnen dazu führen, die
Schule vorzeitig zu verlassen ...
Auf die Geschichte habe ich im Übrigen
auch viele negative Kommentare bekommen. Das sei nun wirklich ein schlechter
Rat für junge Menschen, einfach so von der
Schule zu gehen. Wobei ich das niemandem geraten habe. Es war für mich, den
damals Atemlosen, allein der richtige Weg,
und ich habe gewusst, worauf ich mich
einlasse. Mit allen Konsequenzen. Aber der
Punkt, der mir so wichtig erschien, war es,
einen Zuspruch erfahren zu haben. Eine
Inspiration. Eine Begleitung. Und dass der
Weg vorbei am Gymnasium nicht notwen<<<
digerweise ins Fegefeuer führt.
Kultur bewegt
Das Projekt des Eltern-Kind-Zentrums ist eines von 14 Vorhaben, die
die Stiftung Kinderland im Rahmen ihres Programms An die Hand nehmen –
Kulturlotsen für Kinder von 2011 bis 2014 mit insgesamt 750.000 Euro
gefördert hat. Ziel war es, insbesondere benachteiligten Kindern die
Warum ist Kultur für die persönliche
Entwicklung so wichtig?
Mir fällt dazu ein Satz ein, den ich vor
Ewigkeiten gelesen habe und der mich
sehr beeindruckt hat. Er ist von Antoine
de Saint-Exupéry: „Eine Kultur beruht
nicht auf dem Gebrauch der erschaffenen Dinge, sondern auf der Glut, die sie
hervorbringt.“ Und darum geht es bei den
Kulturlotsen. In den Kindern diese Glut zu
erwecken. Entscheidend ist das Entdecken
von Leidenschaft und Obsessionen. Wobei
Teilhabe am kulturellen Leben in der Region zu ermöglichen. Im Februar­2016 wurde das Patenschaftsprogramm mit der Veröffentlichung der
Begleitforschung abgeschlossen. Wissenschaftler der Dualen Hochschule
Baden-Württemberg stellten die Ergebnisse vor: 580 Paten und mehr als
1.500 Kinder haben in den drei Jahren am Kulturlotsen-Programm teilgenommen. „Gerade für Kinder ist es wichtig, in die beeindruckende Welt
der Künste eintauchen zu können“, so Christoph Dahl, Geschäftsführer
der Baden-Württemberg Stiftung. „Mit unserem Programm haben wir viele
junge Menschen erreicht, die bisher keinen Zugang zur kulturellen
Bildung hatten. Das ist ein toller Erfolg!“ Die Schriftenreihe kann
auf der Homepage der Baden-Württemberg Stiftung heruntergeladen oder
bestellt werden. www.bwstiftung.de/publikationen
23
Neue
Wälder im
Turbotempo
Text_Rolf Metzger
Illustration_Bernd Schifferdecker
China will riesige Waldflächen neu aufforsten.
Für Wachstum und
Entwicklung der Pflanzen
sorgen Stammzellen.
Aus ihnen entstehen
ständig neue Wurzeln
und Zweige.
Freiburger Forscher
helfen dabei – mit
einem neuen Verfahren, das Bäume
rasch vermehrt.
Durch eine Kombination
von Kreuzen und Klonieren entstehen schnell
wachsende Bäume in
großer Zahl.
S
sagt Biologe Prof. Thomas Laux von der Universität
Freiburg. Das unterscheidet sie von Menschen und
Tieren. Ihnen wächst allenfalls verletzte Haut nach,
aber nie ein Arm oder eine Niere.
Laux forscht seit Jahren, wie es Bäumen und anderen
Pflanzen gelingt, sich zu regenerieren und neue Teile
ihres Organismus herzustellen. „Verantwortlich für
eit fast 10.000 Jahren steht „Old
Tjikko“ in einer schwedischen Berg­
region. Diese Fichte ist der älteste Baum
der Welt und der knorrige Methusalem
gönnt sich keine Ruhe: Bis heute bildet
er Nadeln, Zweige und Wurzeln. „Pflanzen wachsen
immer und können stetig neue Organe bilden“,
24
01/2016
Aus der Stiftung
Die Form der Blüte des
Chinesischen Tulpenbaums
gab ihm seinen Namen.
»Wir helfen den Pflanzen,
ihre Fähigkeiten
effektiver zu nutzen«
Superbäume aus
dem Labor
das Wachstum bei allen Lebewesen sind Stammzellen“,
sagt Laux. Das sind zelluläre
Alleskönner, die sich in verschiedene Zelltypen verwandeln können. So entsteht aus ihnen zum Beispiel
ein neuer Ast oder eine Wurzel. Das
Ungewöhnliche an pflanzlichen
Stammzellen ist ihre enorme
Beharrlichkeit: „Sie bleiben Hunderte oder Tausende Jahre lang
aktiv und behalten dennoch ihre
Wandlungsfähigkeit“, erklärt der Biologe.
Gewichtige Winzlinge
Wie ihnen das gelingt, hat Laux mit seinem Team
herausgefunden: Biomoleküle sorgen dafür, dass
stets genügend Stammzellen vorhanden sind.
Diese sammeln sich an bestimmten Stellen der
Pflanze und verwandeln sich entweder in Organoder in neue Stammzellen. „Eine zentrale Rolle
dabei spielen sogenannte Mikro-RNAs“, sagt Laux.
Das sind kleine Ribonukleinsäuren, die als Botenstoffe in und zwischen den Zellen unterwegs sind.
Diese Mole­k üle transportieren Informationen und
steuern so die Aktivität der Stammzellen.
Das gewonnene Wissen nutzt Laux nun, um Pflanzen
mit „Turboeigenschaften“ zu entwickeln – in einem
neuen Forschungsprojekt, das die Baden-Württemberg Stiftung im Rahmen des Programms Nicht-­
kodierende RNAs finanziert. Ziel ist, dass Bäume
besonders ertragreich und schnell wachsen. Dazu
setzt der Freiburger Forscher bei einem Effekt an,
den Biologen „Heterosis“ nennen: „Beim Kreuzen
bestimmter Varianten einer Pflanzenart entstehen
Nachkommen mit außergewöhnlichen Eigenschaften“, erklärt Laux. Sie tragen besonders viele Früchte
oder wachsen schneller als ihre „Eltern“. Doch diese
einzigartigen Merkmale gehen bei der weiteren
Fortpflanzung rasch wieder verloren. Damit sie viele
schnell gedeihende Exemplare erhalten, müssen die
Züchter daher ständig neue Kreuzungen herstellen –
ein aufwändiger und langwieriger Prozess.
Die Forscher aus
Freiburg nutzten
Tulpenbäume für
ihre Experimente.
Um ihn zu umgehen, bilden
Laux und sein Team Klone aus
künstlichen Embryonen und vervielfältigen so die Pflanzen der ersten Zuchtgeneration. Das geht schnell, ist aber erst
bei wenigen Pflanzenarten möglich.
Bei Bäumen etwa war dieses Verfahren oft recht ineffektiv. Die Freiburger Forscher dagegen schafften
es nun, die Kombination von Kreuzen und Klonieren
erstmals auch für das Vermehren von Bäumen
nutzbar zu machen. Sie verwendeten dazu unter
anderem Chinesische Tulpenbäume. Die Biologen
sorgten mithilfe der steuernden Mikro-RNAs dafür,
dass die jungen „Turbobäume“ besonders viele
hochproduktive Stammzellen in sich trugen. Klingt
wie Gentech­nologie, ist aber keine, betont Laux:
„Wir helfen den Pflanzen einfach, ihre Fähigkeiten
effektiver zu nutzen.“
Freiburger Hilfe
für die Grüne Mauer
Gemeinsam mit chinesischen Kollegen der Nanjing
Forestry University wollen die Biologen aus Freiburg die neue Methode nun in der Praxis testen. „In
China hat der wachsende Wohlstand zu einer stark
steigenden Nachfrage nach Holz geführt“, sagt
Laux. Die Menschen brauchen es als Brennstoff
oder Baumaterial. Zwischen 2000 und 2015 hat sich
der Verbrauch von Holz in China mehr als verdoppelt. Viele Wälder wurden dafür gerodet. Dem stellt
die Regierung in Peking seit einigen Jahren große
Pflanzungsaktionen entgegen – etwa durch das
Setzen der Grünen Mauer im Norden des Landes,
des größten Aufforstungsprojekts der Welt. Schnell
wachsende Bäume, die sich mithilfe von winzigen,
aber wirkungsvollen RNA-Molekülen rasch vermehren lassen, sollen China und anderen Ländern
beim Wiederaufforsten helfen.
<<<
25
Volle
Drohnung
01/2016
Aus der Stiftung
Text_Anette Frisch
Fotos_KD Busch/Katrin Spannblöchl
Max Ruppert
möchte dem
Journalismus
mit Drohnen
neuen Schwung
verpassen. An
der Hochschule
der Medien in
Stuttgart hat er
damit begonnen.
D
as Ding, das da durch die
Abenddämmerung schwirrt,
hört sich an wie ein Hornissenschwarm. Nur wenige
Meter von Max Rupperts
Balkon entfernt, bleibt es in der Luft stehen. Rote Lämpchen blinken. Ruppert ist
auf Augenhöhe mit der Drohne – und er
ist aufgebracht. „Hey, was soll das?“, ruft
er vom fünften Stock hinunter in den
Garten. „Filmst du mich etwa?“
Diese Begegnung mit dem unbemannten Flugobjekt ist mehr als drei Jahre
her. Für Ruppert war sie ein Schlüsselmoment. „Ich fühlte mich in dem
Augenblick beobachtet und bedroht,
aber irgendwie war ich auch fasziniert“,
erzählt der 41-Jährige in seinem Büro
an der Hochschule der Medien (HdM) in
Stuttgart. Und dieses „irgendwie“ hat bei
dem Kommunikationswissenschaftler
und TV-Journalisten dazu geführt, sich
intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen. Mittlerweile zählt Ruppert zu den
wenigen Experten in Deutschland, wenn
es um Drohnenjournalismus geht.
Bekannt aus Film
und Fernsehen
Max Ruppert (re.) und Thomas
Maier (li.) sorgen an ihrer Hochschule
für neue Perspektiven.
Kein Tatort oder Polizeiruf kommt heute
ohne Drohne – oder „Copter“, wie es im
Fachjargon heißt – aus. Mit einer Kamera
ausgestattet, lassen sich ungewöhnliche
Aufnahmen machen. Beispielsweise der
rasante Flug knapp über der Wasser­
oberfläche des Bodensees oder eine
Nahaufnahme von der Spitze des Ulmer
Münsters. „Kein Hubschrauber kommt
so nah an Objekte heran wie ein Copter“,
sagt Ruppert. Außerdem sei es einfacher
und günstiger, eine Drohne loszuschicken, als einen Kamerakran aufzubauen
oder Aufnahmen mit dem Helikopter zu
machen. Für Ruppert steht fest: „Drohnen werden im Journalismus und in der
27
Medienproduktion in den nächsten Jahren immer häufiger eingesetzt, weil sie
neue Möglichkeiten eröffnen.“
Die sieht der Stuttgarter beispielsweise
beim Datenjournalismus. Mit Sensoren ausgestattete Drohnen können
Informationen aus der Luft sammeln,
die am Boden zu Grafiken verarbeitet
werden. Ein weiteres Feld sieht Ruppert
bei der investigativen Recherche, wo es
bereits erste Ansätze gibt. 2013 filmte ein
Reporter etwa die Proteste auf dem Taksim-Platz in der Türkei mit einer Drohne
und dokumentierte damit die brutale
Vorgehensweise der Polizei – bis der
Copter von den Beamten abgeschossen
wurde.
Wildwest
am Himmel
Legal ist ein solcher Einsatz allerdings
nicht. Der Reporter hätte eine offizielle
Aufstiegsgenehmigung gebraucht, die er
im Zweifel nicht erhalten hätte. Als Journalist weiß Ruppert, dass bei investigativen Recherchen rechtliche Grenzen überschritten werden können. Profis sind sich
darüber im Klaren – bei Laien sieht das
möglicherweise anders aus. Seit es Copter in Elektromärkten schon ab 70 Euro
gibt, herrscht „Wildwest-Stimmung am
Himmel“. Grundsätzlich kann jeder eine
Drohne steuern, der Lust dazu hat. Er
darf sie allerdings nicht über Menschen
fliegen lassen und muss das Gerät stets
im Blick haben. Das allerdings wissen die
Wenigsten.
„Es ist nicht einfach, einen Copter zu
fliegen. Wenn man den nicht richtig
steuert und kontrolliert, kann es gefährlich werden“, sagt Thomas Maier. Er ist
wie Ruppert akademischer Mitarbeiter
an der HdM und ein erfahrener Modellflugzeug-Pilot. Seit drei Jahren baut und
fliegt er Multicopter. Die tech>>>
01/2016
Aus der Stiftung
»Copterjournalismus
ist unweigerlich
mit technischen,
rechtlichen und
ethischen Fragen
verzahnt«
Den Hexa-Copter haben die
Studierenden selbst gebaut.
Die Propeller sind sehr
scharfkantig, deshalb sollte
das Fliegen gelernt sein.
nische Expertise des
30-Jährigen floss in
das zweisemestrige „Copter
Communication Camp“ ein, das
Ruppert ab dem Sommersemester 2015
an der HdM entwickelt und durchgeführt hat. Sein Ziel: Das Thema Copter
Communication an der Hochschule zu
verankern und mit dem Camp eine neue
Seminarform auszuprobieren. Gefördert
wurde Rupperts Vorhaben im Rahmen
eines Fellowship für Innovationen in der
Hochschullehre von der Baden-Württemberg Stiftung und dem Stifterverband.
Die Mischung
macht’s
15 Studierende aus unterschiedlichen
Fakultäten nahmen am Camp teil. Darunter angehende Informationsdesigner,
Journalisten, Medieninformatiker und
Studierende der Druck- und Medientechnik. Die Heterogenität war Max Ruppert
wichtig, denn „Copterjournalismus ist
unweigerlich mit technischen, recht­
lichen und ethischen Fragen verzahnt“.
Gerade Letzteres führt bei der Thematik
immer wieder zu hitzigen Diskussionen.
Beispielsweise über Datenschutz oder
die Angst vor Überwachung. „Wenn es
darum geht, gibt es schlimmere Dinge“,
sagt Thomas Maier. „Beispielsweise
Ihr Smartphone, das Sie überall ortet.“
Außerdem seien Multicopter so laut,
dass man sie auf jeden Fall bemerkt.
„Dennoch muss das Bedrohungspoten­
28
zial der fliegenden Systeme für Menschen und Tiere im Einsatz ernst genommen werden.“
Eine weitere Besonderheit des Camps
war die enge Verknüpfung von Technik
und ihrer praktischen Anwendung. Dazu
zählte beispielsweise, dass die Teilnehmer zwei Copter bauten – und dafür
weltweit Teile bestellen mussten, dass
sie eine Aufstiegsgenehmigung beantragen und dafür den gesamten bürokratischen Prozess durchlaufen mussten, oder
den Copter mit einem Sensor ausstatteten, um die Feinstaubwerte in der Luft zu
messen. „Meines Wissens nach sind wir
die einzige deutsche Hochschule, die das
in der Form so macht“, so Ruppert.
Willkommen
im MakerSpace
Ruppert bekommt auch nach Abschluss
seines Camps im Februar regelmäßig
Anfragen. Von Studierenden, die sich
einen Copter gern für eine Filmproduktion ausleihen möchten. Oder von den
Agrarwissenschaftlern der Uni Hohenheim, die für Forschungsprojekte einen
Copterpiloten suchen. „Wir haben durch
das Camp viel Know-how aufgebaut“,
sagt Ruppert. Dass das nicht verloren
geht, daran arbeiten Ruppert und Maier
derzeit. Sie haben sich mit dem Copter-Communication-Projekt für einen
Raum im geplanten MakerSpace der
Hochschule beworben – eine Art Hightech-Werkstatt, in der Studierende rund
um die Uhr tüfteln können.
<<<
volledrohnung.wordpress.com
drohnenjournalismus.tumblr.com
L e se n S
me h r z u i e
rP
Korne lia at i n
W
a u f S e i t a hl
e 1 7.
Der
Stadtentdecker
„Das Foto mag ich sehr gern.
Da habe ich vom Münster­
turm herunterfotografiert. Wir
mussten 209 Stufen gehen,
bis zur Kasse. Dann nochmal
56 bis nach oben. Von hier aus
sind die Menschen so klein,
dass man meint, sie zerdrücken zu können.“
Der zwölfjährige Admir und Kornelia Wahl
sind über das Projekt City Kidz zusammengekommen. Auf ihren Streifzügen durch Freiburg
und Umgebung hat Admir Fotos gemacht –
und dabei interessante Dinge entdeckt.
29
01/2016
Aus der Stiftung
„Das Fahrrad steht
immer im Bächle. Es ist
so eine Art Werbung.
Als ich einmal dran vorbeigegangen bin, war es
so, als würde der Frosch
Fahrrad fahren. Genau
wie jetzt auf dem Foto.“
„Man guckt nicht immer
nach oben, sondern
manchmal auch auf den
Boden. Da habe ich die
Spalten zwischen den
Steinen entdeckt. Die
finde ich toll. Sie sehen
aus wie ein Labyrinth.“
„Das Krokodil schwimmt im Gewerbebach. Der fließt
mitten durch die Stadt. Ob ich Angst vor dem Krokodil
habe? Warum? Es ist nett, es macht nichts.“
„Das war bei unserem ersten Treffen. Da waren Konni und
ich im Mundenhof. Der Bulle war ein bisschen böse. Er hat mich
provoziert, er ist immer mit den Hörnern nach vorn gekommen.
Ein bisschen hatte ich Angst vor ihm.“
„Die Rutsche steht im Badeparadies in Titisee. Es gibt
dort Rutschen, die sind 120
und 180 Meter lang. Ich
finde die Farben echt cool.“
City Kidz
Admir kam mit seiner Familie vor sechs Jahren aus dem Kosovo nach Freiburg. Über
City Kidz hat er Kornelia Wahl, seine Patin auf Zeit, kennengelernt (s. S. 17). Das
Projekt des Freiburger Vereins Kommunikation und Medien startete im Oktober 2015.
Es ermöglicht Patenschaften, bei denen Kinder mit Fluchterfahrung individuell
betreut werden. Dabei treffen sich Pate und Patenkind einmal wöchentlich und verbringen Zeit miteinander. Das Besondere: Die Kinder können ihre Eindrücke kreativ
verarbeiten, indem sie zum Beispiel Fotos machen oder Bilder malen. Im Rahmen
ihres Programms Pädagogische Freizeitangebote für Kinder mit Flucht­
erfahrung
fördert die Stiftung Kinderland das Projekt City Kidz drei Jahre lang. Weitere
Informationen: www.citykidz.de
30
Text: Anette Frisch; Fotos: Admir, Sina Leppert
31
Komm
mit
in das
gesunde
Boot
01/2016
Aus der Stiftung
Einfach mal
innehalten
Die Kinder beobachten, wie auf
einer großen Uhr mit Sekundenzeiger eine Minute vergeht.
Danach schließen sie die Augen
Kinder gehen auf eine span-
Die wissenschaftliche Evalua-
nende Entdeckungsreise beim
tion des Programms durch ein
Fühlspaziergang. Sie schließen
Team der Universität Ulm
immer mal wieder die Augen und
zeigt: Das gesunde Boot wirkt,
ertasten Dinge, die sie jeden
ist ökonomisch effektiv und
Tag sehen. Den Baumstamm, das
bei allen Beteiligten – Kin-
Treppengeländer, die Hecke,
dern, Pädagogen und Eltern –
die Pflastersteine ...
in hohem Maße akzeptiert.
und versuchen, eine Minute
2.739 Lehrer ×
gesundes Boot =
65.000 Schüler
lang still zu sitzen.
von Grund- und Sonderschulen, die Finn
und Fine kennen. Plus 26.500 Jungen und
Mädchen aus Kindergärten Baden-Württembergs, die mit im Boot sitzen. Finn und
Fine sind übrigens die Identifikationsfiguren des Programms und wahre Experten, wenn’s um Gesundheit geht.
Zu wenig Obst,
Gemüse und
Ballaststoffe
Es ist gesund, sich regelmäßig zu bewegen und
sich abwechslungsreich zu ernähren: Eine Binsen­
weisheit, und dennoch zeigen Studien, dass die körperliche Aktivität tendenziell abnimmt und immer
mehr Menschen sich eine ungesunde Lebensweise
angewöhnen.
Vorbeugung findet idealerweise so früh wie
möglich statt: im Kindesalter. Genau da setzt das
Programm Komm mit in das gesunde Boot der
Baden-Württemberg Stiftung an. Schon im Kinder­
garten vermittelt es den Mädchen und Jungen
Freude an der Bewegung, sensibilisiert sie für eine
gesunde Ernährung und gibt ihnen Anregungen,
wie sie die eigene freie Zeit sinnvoll und abwechslungsreich gestalten.
In den zehn Jahren, die es das Programm bereits
gibt, ist es an mehr als einem Drittel aller Grundschulen und in mehr als 550 Kindergärten in
Baden-Württemberg umgesetzt worden. Und es
geht weiter: Die Stiftung hat die Finanzierung bis
Ende 2018 verlängert.
60
Die Eltern sitzen mit im
gesunden Boot. Über spezielle
Informationen und die sogenannten Elternbriefe werden
sie mit in das Programm
einbezogen. Diese Briefe gibt
Zu viel Fleisch und Süßigkeiten:
es in vier Sprachen: Deutsch,
Dadurch ist schon bei den Drei-
Russisch, Türkisch und
bis Sechsjährigen die Ernährung
Englisch. Und Arabisch wird
gekennzeichnet.
derzeit vorbereitet.
„Abrakadabra – ich verzaubere euch in Elefanten“: Ein
Übergewicht
Minuten
Kind ist der Zauberer, die
anderen bewegen sich wie die
Tiere, die der Zauberer sich
Eltern geben laut der Stu-
Mehr als neun Prozent der Drei- bis
So lange sollten Kinder und
die „Kinder und Medien“ (KIM)
Sechsjährigen in Deutschland wiegen
Jugendliche im Alter von fünf
an, dass ihre Kinder an einem
zu viel; bei den Sieben- bis Zehn-
bis 17 Jahren jeden Tag kör-
durchschnittlichen Tag 93 Minu-
jährigen sind es bereits 15 Prozent.
perlich aktiv sein, empfiehlt
ten fernsehen, 36 Minuten das
Verglichen mit Zahlen aus den 1980er
die Weltgesundheitsorganisati-
Internet nutzen, 33 Minuten
und 1990er Jahren, so sagen Wissen-
on (WHO). In Deutschland macht
an Computer, Konsole oder im
schaftler, ist das ein Anstieg um
www.gesundes-boot.de
das nur jedes siebte Kind.
Internet spielen.
50 Prozent.
KIM-Studie unter www.mpfs.de
32
Text: Iris Hobler; Fotos: Franz Scholz
33
ausdenkt. Gelingt es ihm, ein
anderes Kind zu fangen, übernimmt das die magische Rolle.
01/2016
Aus der Stiftung
Teamwork auf
zwei Kontinenten
Die eine Schule liegt in Bad Mergentheim. Die andere in
Accra, der Hauptstadt von Ghana. Ein Ausstellungsprojekt
brachte die Schüler einander näher.
Das Projektteam der Kaufmännischen Schule aus Bad Mergent­
heim hatte viel Unterstützung beim Umsetzen der Ausstellung.
M
obil – nicht nur auf Rädern, sondern auch
im Kopf: Unter diesem Motto stand der
beo – Wettbewerb Berufliche Schulen, den die
Baden-Württemberg Stiftung alle zwei Jahre
ausruft.
„Mobilität ist einerseits ein menschliches Grundbedürfnis.
Andererseits wandelt es sich in unserer immer stärker technisierten und globalisierten Welt ständig“, sagt Christoph Dahl,
Geschäftsführer der Stiftung. „Mit unserem Thema haben wir
den Bogen bewusst weit gespannt. Die Schüler sollten Mobi­
lität räumlich, virtuell und nachhaltig interpretieren können.“
Acht eingereichte Projektideen wurden finanziell gefördert.
Eines der Projekte war schon in der Durchführung besonders
auf virtuelle Mobilität angewiesen: Das Projektteam des
Wirtschaftsgymnasiums Bad Mergentheim stellte gemeinsam mit einem Team von der Accra Academy in Ghana – rund
5.000 Kilometer Luftlinie entfernt – eine Ausstellung auf die
Beine. „One world – two realities. A chance to connect different worlds“, so der Titel der Schau, die sich mit Mobilität in
Deutschland und in Ghana befasste.
Wieso ausgerechnet Ghana? Klaus Huth, Lehrer am Wirt­
schaftsgymnasium: „Vor einem Jahr war Gershon Awudi,
ein Lehrer der Accra Academy, für drei Wochen als Austausch­
lehrer an der Kaufmännischen Schule Bad Mergentheim.
In unseren Gesprächen entstand die Idee, dass die Schüler
hier und in der ghanaischen Hauptstadt Accra irgendwann
einmal etwas gemeinsam machen könnten.“ Als Klaus Huth
die beo-Ausschreibung in die Hände fiel, konkretisierte sich
das deutsch-­a frikanische Vorhaben. Die eingereichte Projekt­
skizze überzeugte und noch vor den Sommerferien 2015 kam
die Förderzusage.
Von September 2015 bis zur Ausstellungseröffnung im
Februar 2016 lief das Projekt parallel zum ganz normalen
Unterricht. Intensiv beschäftigten sich die Schülerinnen und
Schüler mit Aspekten von Mobilität, standen im Austausch
mit jungen Menschen in Ghana und entwickelten im Kontakt mit den Experten des Deutschordensmuseums in Bad
Mergentheim Ideen für die Sonderausstellung, die von Februar bis April in den repräsentativen Räumen des ehemaligen
Schlosses zu sehen war.
Was unterscheidet den Handel in Deutschland von dem in
Ghana? Wie hoch sind die Bruttoinlandsprodukte der beiden
Länder? Wie sieht der Schulalltag in einem afrikanischen
Land aus? Themen der Ausstellung, die eine Ahnung von den
großen Unterschieden zwischen beiden Ländern vermittelten.
Klaus Huth fasst zusammen, was für alle am Projekt Beteiligten eine wichtige Einsicht war: „Für uns in Deutschland ist
eine große Beweglichkeit in unserem Alltag absolut selbstverständlich. Erst in der Begegnung mit einer anderen Kultur
konnten wir das auch erkennen und wertschätzen.“
<<<
Mehr zum beo-Wettbewerb unter www.beo-bw.de
34
Text: Iris Hobler; Fotos: KD Busch; privat
L »Wir haben gelernt, wie
man Pläne über den Haufen
wirft und neu beginnt«
ea, Mareike und Simon: Die
drei 18-Jährigen gehen aufs
Wirtschaftsgymnasium der
Kaufmännischen Schule in
Bad Mergentheim und haben
gemeinsam mit elf Mitschülerinnen und
zwei Lehrern die Ausstellung im Deutschordensmuseum auf die Beine gestellt. Ein
Projekt, das allen viel abverlangte.
Geschichten haben wir in die Ausstellung integriert.
Sie haben also im Laufe des Projektes
noch die Konzeption verändert?
Lea: Wenn wir etwas gelernt haben in
>>>
diesem Projekt, dann wie man
Was hat Sie gereizt, an dieser Ausstellung mitzuarbeiten?
Lea: Am Wirtschaftsgymnasium haben
wir keine Fächer wie Kunst oder Musik.
Deshalb war es eine gute Gelegenheit,
etwas Kulturelles zu machen.
Simon: Mich hat vor allem die Zusammenarbeit mit den Jungen des Internats
aus Accra interessiert. Was sie denken,
wie ihr Alltag aussieht. Dieser direkte
Kontakt war eine super Gelegenheit,
mein Englisch zu verbessern.
Mareike: Ich wollte mehr über die Fluchtproblematik erfahren. Das ist ja auch
eine Form von Mobilität: Da machen
sich Menschen auf den Weg, aber unfreiwillig. Jedenfalls haben wir zu Anfang
vorgehabt, am Beispiel von Ghana
Gründe für die Flucht nach Europa darzustellen.
Zu Anfang?
Mareike: Unser Ansprechpartner in
Accra, Derice, hat recherchiert, dass
Flucht gar kein großes Thema in Ghana
ist. Da hatten wir ganz einfach falsche Vorstellungen. Wir haben dann
beschlossen, Gründe für Flucht trotzdem als Ausstellungsthema beizubehalten, weil es uns gerade alle bewegt
und betrifft. In Bad Mergentheim
haben wir zwei junge Männer ausfindig
gemacht, die vor ein paar Monaten aus
Syrien und Gambia geflohen sind. Ihre
35
Lea (links), Simon und Mareike
vor dem Deutschordensmuseum
in Bad Mergentheim, dem Ort
ihrer Ausstellung.
01/2016
Aus der Stiftung
»Mir ist klar geworden,
wie verwöhnt wir sind«
Pläne über den Haufen wirft und neu
beginnt. Das fing schon mit der Kontaktaufnahme zu den Jungs in Accra an. Wir
wussten anfangs nicht, dass die Schüler
im Internat keine Handys und Laptops
benutzen dürfen. Und zu Hause sind sie
ja nicht oft. Also sind unsere Mails einige Wochen lang ins Leere gelaufen.
Simon: Als die Kommunikation allmählich funktionierte, haben wir uns auf die
verschiedenen Themen und Aufgaben
geeinigt. Wir wollten ja Informationen
über Mobilität direkt aus dem Land, und
uns war die Sicht der ghanaischen Schüler wichtig, ihre eigenen Erfahrungen.
Stattdessen schickten viele von ihnen
Texte aus Wikipedia …
Mareike: Im Nachhinein glaube ich,
dass viele der Jungs mit ihren 16 Jahren
einfach zu jung waren. Ein paar haben
super mitgearbeitet, aber die meisten
hatten einfach kein Interesse. Deshalb
haben wir Kontakt zur Uni aufgenommen und zwei Studentinnen gefunden,
die uns unterstützt haben. Das lief dann
sehr gut.
Lea: Und dann ist die Verpflichtungserklärung trotz Einschreiben verloren
gegangen. Also haben wir sie erneut
ausgefüllt und per Express versendet.
Ende Januar hat die deutsche Botschaft
den Vieren dann einen Termin gegeben:
für den 23. März! Wir haben mit der
Botschaft telefoniert, die Stiftung hat
sich eingeschaltet, alles vergeblich. Drei
Wochen vor der Vernissage wussten wir
also, dass wir nicht gemeinsam auf der
Bühne stehen würden.
Simon: Das war echt bitter. Wir machen
ein Mobilitätsprojekt, und schaffen es
nicht, unsere Partner hierherzubringen.
Diese ganze Bürokratie sorgt dafür, dass
Mobilität eine Einbahnstraße ist.
beo fördert den
Teamgeist
Seit 15 Jahren gibt es den beo – Wettbe­
werb Berufliche Schulen der Baden-Württemberg Stiftung. Mehr als 800 Projektgruppen aus über 200 beruflichen Schulen
Waren Sie mit der Vernissage trotzdem
zufrieden?
Lea: Unbedingt! Sana, das ist eine
Ghanaerin, die seit etwa 20 Jahren
in Bad Mergentheim lebt, hat für den
Abend afrikanisch gekocht, Kartoffeln
mit Yams. Sie hat Trommeln mitgebracht
und wir haben Musik gemacht, getanzt
und gesungen. Der rote Saal des Museums war voll. Wir hatten 200 Gäste!
Hat das Projekt etwas für Sie ganz
­persönlich verändert?
Simon: Ich habe gelernt, anderen zu
vertrauen und ihre Arbeit zu schätzen.
Bisher war ich eher derjenige, der alles
am liebsten selbst macht …
Lea: Mein Problem ist, dass ich schwer
nein sagen kann. Damit habe ich mir
viel Stress bereitet. Ich werde künftig
besser Grenzen ziehen.
Mareike: Mir war gar nicht klar, wie
viele Vorurteile ich habe. Erst als ich die
Flüchtlinge kennen gelernt habe, sind
mir meine Berührungsängste deutlich
geworden. Ich bin heute viel offener.
Adleraugen
aus
dem
Drucker
und Ausbildungsbetrieben haben bereits
Diese beiden Studentinnen und zwei
von den Jungen aus dem Internat sollten bei der Vernissage Ende Februar
mit auf der Bühne im Museum stehen –
warum hat das nicht geklappt?
Simon: Es ist wahnsinnig kompliziert,
für einen Besuch in Deutschland ein
Visum zu bekommen. Unser Lehrer,
Klaus Huth, musste eine sogenannte
Verpflichtungserklärung ausfüllen. Da
wurde sein Einkommen abgefragt und
das seiner Frau, die Zinsbelastung des
Hauses und solche Dinge.
Mareike: Außerdem mussten wir im Vorhinein eine Haftpflicht- und eine Krankenversicherung für jeden Besucher
abschließen, Geld für die Pässe überweisen und die Flüge buchen. Alles, obwohl
nicht klar war, ob die Visa für die drei
Wochen überhaupt ausgestellt werden.
daran teilgenommen. Die jungen Menschen
stellen in Projekten zu thematischen
Schwerpunkten Kreativität, Teamgeist
und Engagement unter Beweis. Und zeigen so auch anschaulich, was die duale
Ausbildung in Baden-Württemberg zu leisten vermag.
In diesem Jahr gingen die beo-Trophäe
und der Jurypreis in Höhe von 1.500 Euro
an das Projektteam der Beruflichen Schule im Mauerfeld Lahr. Die Schüler hatten
eine webbasierte Plattform entwickelt,
mit deren Hilfe sich Menschen mit einer
körperlichen Beeinträchtigung leichter
im öffentlichen Nahverkehr der Stadt
bewegen können. Die zweite Auszeichnung
und den Publikumspreis über 500 Euro
erhielt das Team der Gewerbeschule Breisach, das ein klassisches Kart mit einem
Elektromotor ausgestattet hatte.
36
Und was haben Sie über Mobilität
gelernt?
Lea: Zu Anfang war das für mich nur ein
Begriff mit einer ungefähren Bedeutung.
Jetzt ist es viel mehr: Beweglichkeit im
Geist, Improvisation, sich öffnen, Freiheit …
Mareike: … aber es gibt eben auch eine
Kehrseite. Da sind Jungs, jünger als ich,
und die sind monatelang über viele Grenzen hinweg unterwegs. Zu Fuß, mit Bus,
Auto, Schiff. Und ich beschwere mich,
wenn ich mal mit dem Zug fahren muss.
Simon: Mir ist klar geworden, wie verwöhnt wir sind. In Deutschland fährt
der Bus auch, wenn ich allein drinsitze.
In Ghana fährt der Bus erst, wenn er voll
ist. Von Deutschland aus fliege ich relativ
einfach in alle Welt – für viele Afrikaner
ist das utopisch.
<<<
E
ndoskope ermöglichen es Ärzten, tief in
den menschlichen Körper hineinzublicken, ohne zu Schere oder Skalpell greifen
zu müssen. Geschwüre im Magen, Polypen im Darm, Ablagerungen in der Lunge
oder Schädigungen der Gebärmutter lassen sich mit
den millimeterdünnen, schlauchartigen Instrumenten aufspüren und untersuchen. Kleine optische Linsen, lichtleitende Glasfasern und mitunter auch eine
winzige Kamera an der Spitze des Endoskops liefern
aufschlussreiche Bilder aus dem Körperinneren.
Doch trotz des enormen Fortschritts bei der schonenden Diagnostik, den die Endoskopie den Medizinern in den letzten Jahrzehnten beschert hat, ist
der Zugang zu einigen besonders engen Körperregionen, etwa zum Tränenkanal am Auge oder zu
Speichelkanälen im Mund, bislang sehr schwierig.
Superschlanke Endoskope, die nicht dicker sind als
ein menschliches Haar, könnten das ändern. Die
Basis dafür legten Wissenschaftler der Universität
Stuttgart. Ihr Trick: Sie stellen die Linsen, die für das
Objektiv eines Endoskops benötigt werden, nicht
auf herkömmliche Weise durch Gießen, Pressen
oder Schleifen von Glas oder Kunststoff her, sondern
lassen sie von einem 3D-Printer drucken. „Damit
können wir Linsen produzieren, die nur wenige
Zehntelmillimeter klein sind und dennoch exzellente optische Eigenschaften haben“, sagt Prof. Harald
Giessen, Leiter des 4. Physikalischen Instituts der
Universität Stuttgart.
Dass das geht, bewies Dr. Timo Gissibl aus Giessens
Forscherteam in den letzten Jahren im Rahmen
seiner Doktorarbeit, für die er mit dem Nachwuchs­
preis 2015 der Deutschen Gesellschaft
>>>
37
Ein feiner Spion:
Winzige Linsen aus
dem 3D-Drucker,
angebracht an
ultradünnen medizinischen Endoskopen, ermöglichen
einen scharfen
Blick in Körperregionen, die bislang
für solche Instrumente unzugänglich waren.
Text: Rolf Metzger;
Fotos: © edwardolive/istock.com; Timo Gissibl, Universität Stuttgart
01/2016
Aus der Stiftung
Filigrane Linsen: Die Aufnahmen eines
Elektronenmikroskops offenbaren die Details
der Optiken aus dem 3D-Drucker: wenige
Mikrometer kleine Linsen auf einer Glasfaser
(links). Mehrere frei geformte Linsen lassen
sich an einem Stück drucken (rechts).
Verwende
deine
Jugend!
Das Projekt In Zukunft mit UNS! wird im Auftrag
der Baden-Württemberg Stiftung vom Landesjugend­
ring Baden-Württemberg in enger Abstimmung mit der
Landeszentrale für politische Bildung durchgeführt. Es ist Teil des Stiftungsprogramms Bürger­
beteiligung und Zivilgesellschaft. Ziel des Pro-
für angewandte Optik ausgezeichnet wurde. Mit
einem 3D-Drucker stellte der Physiker etliche Linsen unterschiedlichster Form her sowie komplette
Objektive, die von vornherein aus mehreren Linsen
bestehen. Die Hohlräume zwischen ihnen werden
beim Drucken des Objektivs einfach ausgespart.
Die bestmögliche Gestalt der optischen Elemente
errechnet Kollege Simon Thiele per Software am
Computer, bevor sie mithilfe von Laserlicht aus
einer speziellen lichtempfindlichen Flüssigkeit Zeile
für Zeile und Schicht für Schicht gedruckt werden.
Mit Laserlicht
zur Linse
Das Projekt wurde von der Baden-Württemberg
Stiftung finanziert, die im Rahmen des Programms
Internationale Spitzenforschung II auch den Weg für
die Anschaffung des speziellen 3D-Druckers ebnete. Mit diesem Gerät schaffte es Gissibl ebenfalls,
die Endoskopoptik direkt auf eine feine Glasfaser
aufzubringen – eine enorme Vereinfachung bei
der Fertigung des medizinischen Instruments. Der
Stuttgarter Physiker, der mit Forscherkollegen des
Instituts für Technische Optik (ITO) zusammenarbeitete, konnte nebenbei noch ein weiteres Manko
der Endoskopie beseitigen. „Ein großes Problem bei
solchen Untersuchungen ist die Beleuchtung“, sagt
Institutsleiter Giessen. Wenn das Endoskop etwa in
den Magen oder Darm geschoben wird, lässt eine
Lampe, deren Licht über eine Faser aus Quarzglas
in den Körper gelangt, die Mitte besonders hell
erscheinen – der Rand dagegen wird nur schwach
beleuchtet. Dazu kommt ein optischer Effekt, den
auch Fotografen kennen und der im Fachjargon als
Vignettierung bezeichnet wird: Er sorgt dafür, dass
die Objektivhülle den Rand des Bildes abschattet.
Deshalb geht auch dort die Helligkeit teilweise verloren. „Ein doppeltes Ärgernis“, meint Giessen.
Mithilfe des 3D-Druckers lassen sich diese störenden Einflüsse durch ein geschicktes Design der
38
Linsen vermeiden. „Mit dem dreidimensionalen
Drucken ist es zum ersten Mal möglich, beliebig
geformte optische Elemente herzustellen“, betont
Timo Gissibl – etwa Linsen mit unterschiedlich
starker Krümmung oder Dellen in der Oberfläche.
Herkömmliche Fertigungsverfahren sind dazu
kaum in der Lage. Für die Zukunft der medizinischen Praxis bedeutet die enorme Flexibilität bei
der optischen Gestaltung: Die Bilder des Endoskops
werden gleichmäßiger ausgeleuchtet und hochaufgelöst, krankhafte Veränderungen am Körpergewebe werden sich dadurch besser und frühzeitiger als
bisher erkennen lassen.
jekts ist es, junge Menschen zu motivieren und zu
qualifizieren, sich für die Verbesserung ihrer
Lebensbedingungen einzusetzen. Weitere Infos ­unter
www.beteiligungslotse.de
Scharfblick für
Minidrohnen
In einem neuen Forschungsprojekt wollen die
Stuttgarter ihr pfiffiges Verfahren weiterentwickeln. „Unser Ziel ist es, optische Linsen direkt auf
einen winzigen Mikrochip zu drucken“, sagt Simon
Thiele vom ITO. Dass das funktioniert, haben Timo
Gissibl und er im Labor bereits gezeigt. Nun wollen
die beiden Forscher die Technologie zur Produktreife bringen. Was am Ende entstehen soll, sind scharfe digitale Augen für Maschinen, Fahrzeuge oder
Flug­objekte. „Hummelgroße fliegende Drohnen
würden damit zu findigen Spähern“, sagt Harald
Giessen. Mit derartigen Adleraugen ließen sie sich
zwar glänzend für Spionagezwecke nutzen – aber
auch, um Brücken oder Türme auf Schäden zu inspizieren. In Fabriken könnte das winzige Chip-Auge
Robotern ein künstliches Augenlicht geben.
An Ideen, wie sich ihre Erfindung nutzen ließe,
mangelt es den Forschern also nicht. Für ihre bisherigen Entwicklungen, über die sie in renommierten
Fachmagazinen berichtet haben, sind mehrere
Patente angemeldet. Für medizinische Anwendungen entwickeln sie derzeit neuartige ultradünne
Endoskope, für die der Eingang zum Tränen­kanal
kein Hindernis mehr darstellen wird.
<<<
Seit Ende 2015 soll in Baden-Württembergs Städten und Gemeinden nichts
mehr ohne die Stimmen der Jugend­
lichen entschieden werden. Früher
konnten sie bei kommunalen Vorhaben,
die ihre Interessen berühren, beteiligt
werden – mit Paragraf 41 der geänderten
Gemeindeordnung müssen Kommunen
sie einbeziehen. Im Februar trafen sich
mehr als 80 Akteure aus Kommunen
und Jugendarbeit zur Tagung „Jugendbeteiligung wirksam gestalten“ an der
Evangelischen Akademie Bad Boll. In
Workshops diskutierten die Teilnehmer
Möglichkeiten, wie Jugendliche noch
stärker ins Gemeindeleben eingebunden
werden können. Die zweitägige Veranstaltung war ausgebucht und wurde
von der Baden-Württemberg Stiftung
und der Jugendstiftung des Landes
gefördert. Wie es um die Jugendbeteiligung im Land bestellt ist? Das sagen die
Teilnehmer:
Birthe Tillmann, 29, ist Jugendreferentin beim
Kreisjugendring Ravensburg
Jede Gemeinde
funktioniert anders
„Jugendliche sind politisch sehr interessiert. Sie
reagieren emotional, haben eine feste Meinung,
möchten etwas bewegen. Vielen ist nicht bewusst,
dass genau das schon Politik ist. Ein Teil meiner
Arbeit besteht darin, Kommunen bei der Planung von
Beteiligungsmodellen zu beraten. Dabei schaue ich
mir mit den Jugendlichen und Verantwortlichen aus
Stadt und Vereinen die Situation vor Ort an. Gemeinsam entwickeln wir Möglichkeiten, die zur Kommune
passen. Jede Gemeinde funktioniert anders.“
>>>
39
Text: Anette Frisch; Fotos: Christian Mader
01/2016
Aus der Stiftung
Jugendliche müssen
begleitet werden
Wir müssen auch die
erreichen, die wir sonst
nicht im Blick haben
Herbert Stemmler, 58, leitet das Kinderund Jugendreferat der Stadt Rottweil
Daniel Mühl, 30, betreut als Programmreferent
des Landesjugendrings Baden-Württemberg unter
anderem das Projekt In Zukunft mit UNS!
Markus Dehnert, 31, arbeitet in der Verwaltung
des Kreisjugendrings Göppingen
Sich trauen,
zu vertrauen
„In Geislingen gab es einen kleinen Skatepark. Ich
war damals im Vorstand des Stadtjugendrings.
Gemeinsam mit dem Jugendgemeinderat haben
wir uns beim Oberbürgermeister dafür eingesetzt,
den Platz zu einem inklusiven Skatepark auszubauen. Heute geben wir dort nicht nur Workshops
für Anfänger. Wir haben auch Leihrollstühle und
bieten Jugendlichen ohne Behinderung an, damit
zu fahren und sich auszuprobieren. Wenn man
gemeinsam Politik machen will, müssen sich
Erwachsene noch mehr trauen, Jugendlichen zu
vertrauen. Das fehlt mir manchmal noch zu sehr.“
„Wir haben in der Vergangenheit mehrere Versuche
gestartet, Jugendliche konsequent in die Gemeinde
einzubinden. Durch ein Jugendforum zum Beispiel. Das hat einige Zeit funktioniert. Wir wollten
auch einen Jugendgemeinderat. Aber der ist nicht
zustande gekommen. Das Interesse der Jugend­
lichen verlor sich auf dem Weg dorthin. Heute
denke ich, vielleicht waren das nicht die richtigen
Beteiligungsmodelle. Vielleicht passen ein Jugendbeirat oder eine Zukunftswerkstatt besser zu unserer Gemeinde. Gleichgültig für welches Modell wir
uns entscheiden: Mir ist klar geworden, dass wir
in der Kommune die Jugendlichen begleiten und
unterstützen müssen. Und dafür brauchen wir
zusätzliche Ressourcen.“
Politik geht nicht
von 0 auf 100
Anne-Marie Berg, 19, engagiert sich im
Jugendgemeinderat Pforzheim und macht
derzeit ihr Freiwilliges Soziales Jahr bei der
Jugendstiftung Baden-Württemberg
40
„Jugendliche sind stark darin, eine Idee zu finden.
Das habe ich im Jugendgemeinderat oft genug
erlebt. Da wird schnell mal gefordert, ein Gebäude abzureißen und durch ein Café zu ersetzen.
Aber natürlich lassen sich Gebäude nicht einfach
so abreißen. Und das ist es, was Erwachsene an
Jugendlichen oft kritisieren und was Jugendliche
lernen müssen: dass Engagement Beständigkeit
und Ausdauer braucht. Politik geht nicht von 0 auf
100, manchmal funktioniert etwas nicht und
dann muss man einen anderen Weg suchen. Der
Jugendgemeinde­rat ist eine gute Vorbereitung darauf, wie Politik funktioniert. Ich bin zwei Jahre lang
aktiv gewesen und mit meiner Stadt zusammengewachsen. Ich werde mich immer dafür interessieren, was sich politisch in Pforzheim tut.“
„Die große Herausforderung besteht darin, auch
Jugendliche zu erreichen, die wir sonst nicht im
Blick haben. Die schulischen oder außerschulischen
Bildungsangebote sind viel zu sehr auf Gymnasien
ausgerichtet und zu wenig auf Haupt- oder Werk­
realschulen. Wir brauchen neue Methoden und
Formate. Die Stadt Herrenberg macht das zum Beispiel ganz gut. Hier gehen junge Menschen, die in
Beteiligungsprozessen involviert waren, an diese
Schulen und erklären, was Beteiligung eigentlich
ist und wie sie in der Kommune funktioniert. Diesen ersten persönlichen Kontakt brauchen Jugendliche, um überhaupt ein Interesse fürs Thema zu
entwickeln.“
<<<
Isabell Kasalo, 26, arbeitet bei der Fachstelle für
Jugendbeteiligung beim Stadtjugendausschuss in
Karlsruhe
Wir möchten eine
stadtweite lebendige
Jugendbeteiligung
„Jugendbeteiligung spielt in Karlsruhe eine wichtige Rolle. Wir haben letztes Jahr bereits unsere
dritte Jugendkonferenz veranstaltet. Und es wird
auch nächstes Jahr eine geben. Unsere Herausforderung ist derzeit, die vorhandenen Beteiligungsformen in Verbänden, Vereinen, Schulen und
der Jugendarbeit zu bündeln und sie als festen
Bestandteil der kommunalen Politik zu integrieren. Wir möchten, dass sich eine stadtweite lebendige Jugendbeteiligung entwickelt.“
Es gibt viele Arten,
sich zu engagieren
„Jugendliche müssen nicht unbedingt partei­
politisch aktiv sein, um etwas zu verändern. Es
gibt viele Arten, sich zu engagieren. Beispielsweise das Jugendhaus mitgestalten, Kinder bei einer
Ferien­f reizeit betreuen und dort Beteiligung vorleben oder sich in einem Verein engagieren. Mit
unserem Projekt haben wir den Blick auf Jugendbeteiligung deutlich erweitert und dazu beigetragen, dass sich der Diskurs in Baden-Württemberg
weiterent­w ickelt hat.“
Nikolaj Midasch, 33, ist beim Landesjugendring tätig und koordiniert
das Projekt In Zukunft mit UNS!
41
»Es ist ein
Mythos, dass
Armut uns
nichts kostet«
Über Armut lässt sich trefflich streiten.
Ist die Armutsquote aussagekräftig? Wer ist besonders
betroffen? Wie lässt sich wirkungsvoll gegensteuern?
Der Soziologe Andreas Haupt nähert sich dem
Thema auf neuen Wegen.
Herr Haupt, Ihre Leidenschaft
gehört der Armut. Warum?
Andreas Haupt: Ich verstehe mich als
Ungleichheitsanalytiker. Mich hat schon
während meines Soziologiestudiums
in Jena interessiert, wie Ungleichheit
entsteht, etwa bei Bildungschancen
oder bei Erbschaften. Es war der nächste
logische Schritt, mich mit Armut und
Reichtum in Deutschland zu befassen.
Was Sie zurzeit ganz intensiv
tun, nämlich im Rahmen Ihrer
Habilitation …
Ja. Mich stellen die gängigen Modelle,
mit denen Armut erklärt wird, nicht
zufrieden. Ich möchte anders an Verteilungen herangehen und mehr über die
Ursachenkomplexe forschen, sozusagen
die Verteilungslogik verstehen. Die Basis
dafür ist ein ganz neues statistisches
Verfahren, das ich für die Armutsforschung einsetze. Meine Habilitation
wird eine Art Lehrbuch, in dem ich dieses Verfahren diskutiere und erweitere.
Haben Sie ein Beispiel dafür, was Sie
anders machen?
Nehmen Sie junge Menschen, die
ausziehen und den eigenen Haushalt
gründen. Sie spielen für den Anstieg
der Armutsquote eine sehr kleine Rolle.
Daraus könnte man folgern, dass es jungen Haushalten auch nicht schlechter
gehe. Wir können mit unserem neuen
Verfahren hingegen statistisch belegen:
Die ökonomische Situation junger Haushalte hat sich in den letzten 30 Jahren
stark verschlechtert. Das schlägt sich
nur deshalb nicht in der Armutsquote
nieder, weil immer weniger junge Menschen den eigenen Haushalt gründen.
42
Andreas Haupt, 33, wird seit
Mai 2015 über das Eliteprogramm für Postdoktorandinnen und Postdoktoranden der
Baden-Württemberg Stiftung
gefördert. Damit finanziert er
sein For­s chungsprojekt am
­Institut für Soziologie, Medienund Kultur­w issenschaften des
KIT für die nächsten zwei Jahre.
Text: Iris Hobler; Fotos: privat; © estherpoon/fotolia.com
01/2016
Aus der Stiftung
Eine Entwicklung, die man beispielsweise aus Italien oder Spanien kennt.
12,5 Millionen arme
Menschen in Deutschland
Ihre Methode erlaubt es Ihnen also,
Ursachen nachzuweisen, die so bislang
allenfalls vermutet wurden?
Exakt. Wir sind mit unserer Methode in
der Lage, falsche Schlüsse zu enttarnen
und zielgenauere Maßnahmen zu empfehlen.
Nach einer Definition der EU gelten Menschen als
von Armut gefährdet, wenn sie über weniger als 60
Prozent des mittleren gesellschaftlichen Einkommens
verfügen. Haushalte mit einer Person und einem Einkommen von weniger als 892 Euro netto pro Monat sind
nach dieser Definition hierzulande arm; bei einer
Seit rund 18 Jahren steigt die Armutsquote in Deutschland. Und über die
Gründe wird viel diskutiert. Was haben
Sie dazu herausgefunden?
Wir können belegen, dass es ganz eindeutig der Arbeitsmarkt ist, der die Zahl
der von Armut Betroffenen in die Höhe
treibt. Erstens werden im Durchschnitt
deutlich niedrigere Löhne gezahlt als
etwa in den 1990er Jahren. Zweitens sind
immer mehr Frauen auf dem Arbeitsmarkt – und das eher im unteren Teil
der Lohnschere, die sich weiter öffnet.
Drittens verändern sich die sogenannten Erwerbsbiographien. Immer weniger
Menschen arbeiten mehrere Jahrzehnte ununterbrochen. Sie zahlen weniger
in die Rentenversicherung ein, erhalten
künftig also eine geringere Rente. Das ist
ein Armutsrisiko, dessen Ausmaß uns
jetzt noch gar nicht richtig klar ist.
Bislang wird aber öffentlich vor allem
darüber diskutiert, dass demographische Veränderungen wie der Anstieg
von Singlehaushalten oder die Alterung der Gesellschaft Ursachen für den
Anstieg der Armutsquote seien. Oder ein
womöglich ineffizientes Sozialsystem.
Das alles können wir auf Basis unseres
Verfahrens als Ursachen nicht bestätigen. Im Gegenteil: Günstige demographische Entwicklungen haben das Ausmaß der Armutsentwicklung sogar
entscheidend gedämpft, wie etwa eine
hohe Zahl gut situierter Rentner oder
deutlich weniger junge Menschen mit
eigenem Haushalt.
Sie vergleichen in Ihrer Arbeit die
Entwicklung der Armutsquoten in
Deutschland und den USA. Was sind
erste Ergebnisse?
Familie mit zwei Kindern liegt die Grenze bei 1.872
Euro netto. Laut aktuellem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes sind in Deutschland
derzeit 12,5 Millionen Menschen arm – das sind rund
15 Prozent der Bevölkerung.
In beiden Ländern polarisiert sich der
Arbeitsmarkt zunehmend: Es gibt immer
mehr gering verdienende Menschen,
aber auch immer mehr Spitzenverdiener.
Interessanterweise ist die Armutsquote
in den USA jedoch konstant. Ein Grund
könnte der dort bereits deutlich höhere
Mindestlohn sein. Aber auch der sogenannte Earned Income Tax Credit spielt
vermutlich eine Rolle. Das sind staatliche
Transferleistungen an Haushalte mit
geringem Arbeitseinkommen, die dafür
sorgen, dass sich deren Arbeit lohnt.
Diese Zusammenhänge untersuchen wir
momentan genauer.
Würde die Armutsquote sinken, wenn
wir in Deutschland den Mindestlohn
anheben?
Das wäre eine Maßnahme, um Haushalte nachweislich besser zu stellen und die
Armutsgefährdung zu reduzieren. Über
14 bis 16 Euro müssten wir schon reden,
vor allem wenn der Mindestlohn gegen
drohende Altersarmut helfen soll. Mit
Blick auf die immer weiter steigenden
Mieten wäre es außerdem sinnvoll, die
Eigenheimzulage erneut aufzulegen.
Damit hätten auch Menschen mit geringem Einkommen die Chance auf Eigentum. Eine wirkungsvolle dritte Maßnahme wäre es, bezahlbare und flexible
Ganztagsbetreuung für Kleinkinder zu
schaffen, damit die Erwerbstätigkeit
alleinerziehender Frauen unterstützt
wird.
43
16 Euro Mindestlohn! Die Gewerkschaften fordern bescheidene 10 Euro. Wie
lassen sich Ihre Vorschläge bezahlen?
Hohe Einkommen und Erbschaften
angemessen besteuern, beispielsweise.
Und warum sollen sehr gut verdienende
Menschen nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze in die Sozialkassen einzahlen? Oder anders gefragt: Wenn starke
Schultern mehr tragen sollen als schwache, warum hört das bei einer bestimmten Stärke der Schultern auf?
Sie plädieren für mehr Solidarität …
Die in unser aller Interesse ist. Es ist ja
ein Mythos, dass Armut uns nichts kostet. Arme Menschen sind gesundheitlich
stärker belastet, und sie konsumieren
weniger. Während Besserverdiener ihr
Geld an Banken, Versicherungen und
Fonds weltweit verteilen. Das ist absurd.
Sie sind einer von 212 Postdocs, die von
der Baden-Württemberg Stiftung seit
2012 mit insgesamt 14,8 Millionen Euro
gefördert worden sind. Was bedeutet
die Teilnahme am Programm für Sie?
Diese Förderung versetzt mich in die Lage,
eigenverantwortlich mit Mitteln und Personal umzugehen. Das und der Kontakt zu
anderen Wissenschaftlern im Netzwerk
sind für meine persönliche Entwicklung
äußerst gewinnbringend.
<<<
Mehr zum Eliteprogramm für Postdocs
unter www.bwstiftung.de
Tablet am Zahn r ad
01/2016
Aus der Stiftung
Fabrik der Zukunft:
In der „Urbanen Produktion“
in Fellbach werden Zahn­
räder gefertigt – und dabei
innovative Konzepte der
Industrie 4.0 in der Praxis
erprobt.
Die vierte industrielle Revolution hat
­begonnen – auch bei mittelständischen
Unternehmen in Baden-Württemberg.
Was das bedeutet, lässt sich in Fellbach
betrachten.
K
urz vor Ende der Spätschicht
ist Schluss an Maschine 8.
Mit lautem Krachen bricht
eine Fräse. Doch den Mitarbeiter, der die Maschine
überwacht, bringt das nicht aus der
Ruhe. Er nimmt einen Tablet-Computer zur Hand und scannt damit einen
QR-Code an der Fertigungsstation, wo
Zahnräder ausgefräst werden. Sofort
hat er alle Daten zu dem betroffenen
Auftrag im Blick. Wenige Fingerbewegungen über das Display genügen, ihn
zu sperren und festzulegen, wer sich
um die Behebung der Störung kümmern soll. Um den Schaden deutlich zu
machen, fotografiert der Mitarbeiter das
Werkzeug und fügt das Bild dem elektronischen Bericht bei, der unmittelbar
auch bei den Kollegen der Arbeitsvorbereitung eingeht. Keine Viertelstunde
später kann es an der Fräsmaschine mit
einem anderen Auftrag weitergehen.
Die Anlage steht in der „Urbanen Produktion“ – einer hochmodernen Fertigungshalle, die die Wittenstein bastian
GmbH 2012 in Fellbach bei Stuttgart
eröffnet hat. In dem Werk stellt das
Unternehmen, das Teil der Wittenstein
AG mit Hauptsitz in Igersheim (MainTauber-Kreis) ist, verschiedene Varianten von Zahnrädern her – als Komponenten für Getriebe, Servomotoren oder
elektromechanische Antriebssysteme
der Wittenstein AG und für Kunden im
In- und Ausland. Die Urbane Produktion
ist ein Vorreiter für die Industrieproduktion der Zukunft. Denn der Fellbacher
Zahnradhersteller hat dort in den letzten
Jahren erste Schritte hin zur sogenannten Industrie 4.0 unternommen. Dieser
vor rund fünf Jahren in Deutschland
geprägte Begriff steht für eine radikale
Änderung von Prozessen und Arbeitsweisen in der produzierenden Industrie.
Dahinter stehen der Einzug der Digitalisierung in alle Bereiche der Fertigung
sowie eine weitgehende Vernetzung von
Menschen, Maschinen und Produkten –
das „Internet der Dinge“. Industrie 4.0
gilt als die vierte Stufe der industriellen
Revolution (siehe Infografik).
Chancen
für die deutsche
Industrie
„Vor allem in Deutschland, wo der
Anteil der produzierenden Industrie an
der Gesamtwertschöpfung vergleichsweise hoch ist, bietet das eine Chance,
die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu wahren“, sagt Dr. Peter Stephan.
Der studierte Maschinenbauer ist stellvertretender Leiter des Zukunftsfelds
Cyber-Physical-Systems bei der Wittenstein AG – und mit dafür verantwortlich,
44
dass der Wandel der industriellen Fertigung am Standort Fellbach schon heute
deutlich zu erkennen ist.
Nicht immer unterstützten dort digitale Assistenzsysteme die Mitarbeiter
im schnellen Umgang mit Störungen,
berichtet Stephan: „Noch vor wenigen
Jahren wurden Probleme beim Bearbeiten von Fertigungsaufträgen mündlich
kommuniziert, ihre Ursachen dokumentierten die Mitarbeiter durch handschriftliche Vermerke, etwa auf Auftragspapieren.“ Die Umplanung des
Produktionsbetriebs erfolgte eher nach
bestem Wissen als nach einem Algorithmus. Und auch im Betrieb kommunizierten die Mitarbeiter Informationen weitgehend auf Papier: Zu Beginn
jeder Schicht wurden die anstehenden
Arbeitsaufträge ausgedruckt und mit
Karteikärtchen in eine große Plantafel
per Hand einsortiert.
Aktuelle Daten
im Blick
In der Urbanen Produktion ist damit
Schluss. „In mehreren Workshops mit
den Mitarbeitern haben wir zunächst
nach Medienbrüchen im Produktionsablauf gesucht, die die Planung behinderten und bremsten“, berichtet Stephan.
Mit den daraus gewonnenen Erkenntnissen erfolgte die Umsetzung einer
digitalen Plantafel sowie eines mobilen
Störungsmanagements.
Nun können Mitarbeiter in der Fertigung per App mit einem Tablet auf
sämtliche Informationen über die in
der Bearbeitung befindlichen Fertigungsaufträge zugreifen. Der Informationsfluss im Unternehmen wird
beschleunigt und für alle Mitarbeiter
und Abteilungen transparent. Auch die
Produktionsplanung profitiert davon,
dass alle Daten digital erfasst werden:
Sie kann stets auf einem aktuellen
Informationsstand aufsetzen. Wo vor
kurzem noch die Plantafel stand, hängen nun mehrere große Monitore. Verschiedene Symbole weisen die Mitarbeiter auf Besonderheiten hin, etwa auf
die hohe Priorität eines Auftrags.
Mehr Transparenz, höhere
Flexibilität
„Neben qualitativ hochwertigen Standardprodukten, die hier in großer Zahl
gefertigt werden, erfolgt am Standort
Fellbach auch die Entwicklung und
Produktion von Sonderverzahnungslösungen für Spezialanwendungen“,
sagt Peter Stephan. „Die meisten dieser
individuellen Produkte werden nur in
45
kleiner Stückzahl oder als Unikat hergestellt.“ Dabei stecken Zahnräder und
Antriebssysteme der Wittenstein AG
beispielsweise in klassischen Werkzeugmaschinen, Produkten der Medizintechnik, in Ventilen für Ölförderanlagen in
der Tiefsee oder in Bauteilen für das
Großraumflugzeug Airbus A380. In dem
Riesenjet ermöglichen sie ein elektronisch gesteuertes Öffnen und Schließen
der Türen, die so schwer sind, dass sie
sich von Hand nicht öffnen lassen. Die
Herstellung von Spezialprodukten in
teils sehr geringer Stückzahl pro Fertigungsauftrag zu vertretbaren Kosten
macht es unabdingbar, transparente,
effiziente und flexible Prozesse aufzubauen – und das ist nach wie vor eine
enorme Herausforderung. „Industrie 4.0
bietet zentrale Konzepte und Ansätze,
um genau das zu ermöglichen“, sagt
Stephan.
>>>
Text: Rolf Metzger; Fotos: Wittenstein AG
01/2016
Aus der Stiftung
»Zur vierten industriellen
Revolution gehören nicht nur
vernetzte Fabriken, sondern
auch smarte Produkte«
Auf dem Weg zur Industrie 4.0
1784
1800
Erster mechanischer
Webstuhl
das Netz. „Ein Unternehmen, das solche
oder ähnliche digitale Dienstleistungen anzubieten beginnt, verändert die
Beziehung zu seinen Kunden.“
Alle Infos digital:
Dr. Peter Stephan
(rechts) treibt die
neue industrielle
Revolution bei
Wittenstein voran.
Hier betrachtet er
mit einer Kollegin
am Tablet und auf
der digitalen Plantafel die aktuellen
Daten zum Produktionsablauf.
Frühes
Engagement in
der Forschung
Die Wittenstein AG, die weltweit
knapp 2.000 Mitarbeiter beschäftigt,
beteiligte sich an einem mehrjährigen
Forschungsprojekt. Gemeinsam mit
Unternehmen wie Siemens, Trumpf
und BMW sowie dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz DFKI in Kaiserslautern. Gleichzeitig gründete Wittenstein intern das
Zukunftsfeld Cyber-Physical-Systems
für die Realisierung von Industrie 4.0.
Laut einer im Herbst 2015 veröffentlichten Studie der Impuls Stiftung des
Verbands der Deutschen Maschinenund Anlagenbauer VDMA agieren rund
Drei Viertel der mittelständischen
Unternehmen in Deutschland noch
zurückhaltend. Gründe dafür liegen
in den Kosten, die es mit sich bringt,
neue Technologien ins Unternehmen
zu holen, und bei der Herausforderung,
Infrastruktur sowie Geschäftsmodell
anzupassen. „Zur vierten industriellen
Revolution gehören nicht nur eine
intelligent vernetzte Fabrik“, sagt
Stephan, „sondern auch smarte Produkte, die beispielsweise nach dem Verkauf mit dem Hersteller in Verbindung
stehen.“ Das wiederum ermöglicht
innovative Dienstleistungen – etwa
eine Fernwartung von Maschinen über
46
Allianz für den
Mittelstand aus
dem Land
Um Unternehmen im Südwesten auf
ihrem Weg zur Industrie 4.0 zu unterstützen, gründete der ehemalige Finanzund Wirtschaftsminister Nils Schmid
im März 2015 die Allianz Industrie 4.0
Baden-Württemberg. Zu dieser Allianz
gehören rund 50 Verbände, Forschungseinrichtungen, Unternehmen sowie
die Baden-Württemberg Stiftung. Seit
Anfang 2016 finanziert sie mehrere
Forschungsprojekte. Im Februar zeichnete die Allianz die Wittenstein AG als
einer von „100 Orten für Industrie 4.0
in Baden-Württem­berg“ aus. Am Standort Fellbach will das Unternehmen
den nächsten Schritt auf dem Weg zu
Industrie 4.0 gehen: Es sollen weitere
Werkzeuge und Hilfsmittel durch
QR-Codes informationstechnisch
erfassbar gemacht werden – und sich
so in Planungsprozesse ein­be­ziehen
lassen. „Die Fülle der Daten über reale
Abläufe im Werk schafft künftig das
Potenzial, bislang verborgene Zusammenhänge zu erkennen“, sagt Stephan:
„zum Beispiel, ob der Zustand eines
Werkzeugs noch ausreichend gut für
die Bearbeitung eines Auftrags ist.
Störungen wie an Maschine 8 lassen
sich so künftig vielleicht vorhersehen
und vermeiden.“
<<<
1970
1900
Erstes Fließband:
Schlachthöfe in Cincinnati
1969
Dritte industrielle Revolution:
Elektronik, IT, Automatisierung
2025
1870
Erste industrielle
Revolution:
mechanische Fertigung,
Dampfmaschine
Erste speicherprogrammierbare
Steuerung (Modicon 084)
Zweite industrielle
Revolution:
Massenproduktion,
elektrische Energie
1914
Fließbandfertigung bei Ford
Vision:
Smart Factory
Für eine erhöhte Transparenz und erweiterte
Planungsfähigkeit werden die Anlagen
mit Sensorik ausgestattet und vernetzt
Smart Operations
Die Smart Factory ermöglicht
eine flexible Produktionsplanung
und -steuerung
Factory
Data-driven
Services
Durch die Vernetzung von Produkt,
Hersteller und
Kunde eröffnen sich
neue Märkte für
Dienstleistungen
Smart Products
Das Produkt denkt mit und steht
auch nach dem Verkauf mit dem
Hersteller in Verbindung
Nach dem Einzug von Maschinen, Fließband und Computern in die Fabriken
bringen Digitalisierung und Vernetzung eine vierte industrielle Revolution.
47
Illustration: Golden Section Graphics, Anton Delchmann
01/2016
Aus der Stiftung
Ein Sommer
voller Literatur
Ausgezeichnet
vorbereitet
Erfinder an Bord: Das Segelschiff ALDEBAR AN
diente Schülerinnen und Schülern an Pfingsten
als Forschungslabor.
Ein
Preis
vom
Scheich
Riesenerfolg für ein Team des Schülerforschungszentrums Südwürttemberg: Die jungen Forscher
erhielten den Zayed Future Energy Prize 2016. Die
Auszeichnung für zukunftsweisende Energieprojekte hat Scheich Zayed bin Sultan al-Nahyan aus
den Vereinigten Arabischen Emiraten ins Leben
gerufen. Die Schüler aus Saulgau erhielten den mit
100.000 Dollar dotierten Preis für ein Konzept zur
Gewinnung und Speicherung von erneuerbaren
Energien – entwickelt im Rahmen des Programms
mikro makro der Baden-Württemberg Stiftung.
Inzwischen ist daraus mikro makro mint geworden: Sein Schwerpunkt liegt auf Projekten aus den
MINT-Fächern. Nach der ersten Ausschreibung
gingen 2015 über 150 Erfinderteams aus Schulen
im Land an den Start, die mit bis zu 2.500 Euro
gefördert werden. Einige der jungen Forscher
konnten ihre Ideen in den Pfingstferien in einer
besonderen Umgebung voranbringen, nämlich
auf dem 14 Meter langen und modern ausgestatteten Forschungsschiff ALDEBARAN, das auf dem
<<<
Bodensee unterwegs war.
Um zu mehr Bildungsgerechtigkeit beizutragen, hat die BadenWürttemberg Stiftung 2006 das BoriS-Berufswahl-­SIEGEL
ins Leben gerufen. Damit werden baden-württembergische
Schulen ausgezeichnet, die Jugendliche individuell auf die
Berufs- und Studienwahl vorbereiten – und zwar über die Standards der Bildungspläne hinaus. Zum zehnjährigen Jubiläum
ist nun die Publikation „10 Jahre BoriS – eine Erfolgsgeschichte“
erschienen. Sie steht als PDF zum Download bereit oder kann
über die Baden-Württemberg Stiftung bestellt werden.
<<<
www.bwstiftung.de
Schriftenreihe Bildung Nr. 79
Kick it
like a poet!
Die Stärkung der Lesekompetenz bei Kindern und Jugendlichen ist der Baden-Württemberg Stiftung ein wichtiges
Anliegen. Im Rahmen der Initiative kicken & lesen wurden im
März zwölf neue Projekte ausgewählt, darunter eine Aktion
der Falkenrealschule in Freudenstadt. Die jungen Akteure
wollen einen großen Lesefußball bauen und ihn auf dem
Marktplatz präsentieren. Außer eine finanzielle Unterstützung von bis zu 4.000 Euro zu erhalten dürfen die Jungs an
einem kicken & lesen-Camp bei den Vereinen VfB Stuttgart und
SC Freiburg teilnehmen. Zum Projektabschluss im Herbst werden alle Projekte für ihren erfolgreichen Doppelpass mit Ball
und Buch im Rahmen eines Stadionbesuchs belohnt.
<<<
www.kickenundlesen.de
Slammen
zum Licht
Erneut bittet die Stiftung Jungforscher
in die Arena. Beim zweiten WANTED
Science Slam, der am 10. November 2016
gemeinsam mit dem Innovationsnetz
Photonics BW veranstaltet wird, können sie das Publikum auf originelle
Weise für ihr Forschungsthema begeistern. Dabei dreht sich alles ums Licht.
Wie die Nachwuchsforscher ihre Arbeit
„verkaufen“, bleibt ihrer Kreativität
überlassen: Ob Gedicht, Gesang, Videoclip oder Cartoon – alles ist erlaubt. Nur
unterhaltsam muss es sein – und erhellend für das Publikum, das am Ende
entscheidet, welcher Slammer das Rennen macht. Beim ersten Science Slam
im Frühjahr 2015 ging der Hauptpreis
an Carsten Reichert von der Universität Stuttgart, der – verpackt in eine
Science-Fiction-­Story – erklärte, wie
man ein Smart­phone zum Mikroskop
macht. Mit dem Slam zur Materialforschung im Juni 2016 ging die Veranstaltungsreihe unter dem Titel „WANTED – Wissenschaft anschaulich und
verständlich“ weiter. Für den nächsten
Slam im November kann man sich
bei der Baden-Württemberg Stiftung
<<<
bewerben.
www.bwstiftung.de
Die kicken&lesen-Camps finden beim VfB Stuttgart und
SC Freiburg statt.
48
Kinder und Jugendliche haben in Baden-Württemberg ihren eigenen
­L iteratursommer: mit einer Vielzahl spannender Veranstaltungen.
Woher kommst du und wer bist du? Die Frage nach Heimat und Identität ist eines der ganz großen Menschheitsthemen. In Zeiten von
Globalisierung und Flucht ist es umso dringender, sie neu zu stellen.
Genau das macht der achte Literatursommer der Baden-Württemberg
Stiftung in seinen beiden Veranstaltungsreihen: Bis Ende Oktober
greifen mehr als 200 Veranstaltungen unter dem Motto „Herkunft –
Ankunft – Zukunft“ die vielfältigen Facetten von Heimat und Identität auf.
70 Kultureinrichtungen bieten unter anderem Lesungen, Symposien,
Schreibwerkstätten, Musik und Performances. Zum ersten Mal wird es
in diesem Jahr einen Deaf Slam geben, eine Art Poetry Slam in Gebärdensprache. Im Mittelpunkt der ersten Reihe steht die Vielfalt der
literarischen Auseinandersetzung mit Aspekten wie Herkunft, Familie, Fremdheit, Landschaft und Sprache. Mit dabei sind die Autoren
Ilija Trojanow, José F. A. Oliver und die Büchner-Preis-Trägerin Sibylle
Lewitscharoff.
Der parallel laufende Kinder- und Jugendliteratursommer steht unter
dem Motto „Meine Heimat – Meine Zukunft“. Kinder und Jugendliche
lernen, wie das schwierige und zugleich spannende Thema mit Phan­
tasie und großer Erzählkunst, mit Humor und Wärme behandelt werden kann.
<<<
Alle Termine im Programm unter www.literatursommer.de
49
01/2016
Perspektivwechsel
»Die Zeit
wirkt wie
eingefroren«
I
st das der Blick durch ein Kaleidoskop? Ein Teilchenflug in Lichtgeschwindigkeit? Oder kunstvolle Falttechnik? Nichts von alledem. Fotograf
Boris Schmalenberger hat den Stuttgarter Fernsehturm aus einer ungewöhnlichen – und für viele sicher unbekannten – Perspektive fotografiert. Um
die Aufnahme machen zu können, stellte sich Schmalenberger auf das Dach des
Aufzugs, wählte eine lange Belichtungszeit und fuhr 150 Meter zur Aussichtsplattform hinauf – gesichert und begleitet von einem offiziellen Aufzugführer.
Mit rund zwei Stundenkilometern dauerte der ungewöhnliche Aufstieg fünf
Minuten. „Das war für mich wie Achterbahnfahren“, schwärmt der Stuttgarter. Das Rauschhafte spiegelt sich in dem
Foto nicht wider. Im Gegenteil: „Die Zeit
wirkt wie eingefroren.“
<<<
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Text: Anette Frisch;
Foto: plainpicture/Boris Schmalenberger
Heimat und Identität in der Literatur
2016
LITERATURSOMMER 2016
DIE SCHÖNSTEN
SEITEN DES
SOMMERS
Eine Veranstaltungsreihe der
Die Baden-Württemberg Stiftung präsentiert den Literatursommer 2016
zum Thema „Heimat und Identität in der Literatur“. Erleben Sie die schönsten
Seiten des Sommers bei mehr als 200 Veranstaltungen im ganzen Land.
Alle Termine unter www.literatursommer.de