Diskussion um gruppennützige Forschung

POLITIK
KLINISCHE PRÜFUNGEN
Diskussion um gruppennützige Forschung
Sollen zum Beispiel Demenzkranke in Studien einbezogen werden, von deren Ergebnissen sie
selbst nicht profitieren? Über diese Frage herrscht Uneinigkeit quer durch die Bundestagsfraktionen.
Die Abstimmung über die Novelle zum Arzneimittelgesetz wurde deshalb verschoben.
igentlich sollte der Bundestag
am 9. Juni über das Vierte Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften beraten. Es passt im Wesentlichen deutsches Recht an die Vorgaben der
EU-Verordnung über klinische Prüfungen (Nr. 536/2014) an. Doch zur
Abstimmung im Parlament kam es
nicht. Der Punkt wurde von der Tagesordnung gestrichen. Man benötige mehr Zeit für die Diskussion,
hieß es zur Begründung.
E
Patienten sind gut geschützt
Anlass der neuerlichen Debatte, die
quer durch die Bundestagsfraktionen verläuft, ist ein Passus im deutschen Gesetzentwurf, der die Forschung an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen in engen Grenzen
erlaubt, auch wenn diese nicht
selbst von den Ergebnissen profitieren (gruppennützige Forschung).
Voraussetzung ist, dass die Betroffenen zu einer Zeit, als sie noch im
Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte waren, eine entsprechende Patienten-
verfügung verfasst haben. Außerdem muss der gesetzliche Betreuer
nach „umfassender Aufklärung“
durch einen Arzt in die klinische
Prüfung einwilligen.
Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) verweist darauf, dass der
Gesetzentwurf das Schutzniveau für
die Patienten hebt, indem er die Studienteilnahme an das Vorliegen einer
Patientenverfügung knüpft. Die EUVerordnung sieht für die Teilnahme
nicht einwilligungsfähiger Personen
an gruppennützigen Studien lediglich die Zustimmung eines gesetzlichen Vertreters vor. Sie stellt allerdings auch klar, dass die Prüfungsteilnehmer nur einem geringen
Risiko und einer minimalen Belastung ausgesetzt werden dürfen.
Während die Kritiker der geplanten Regelung grundsätzliche ethische Bedenken gegen die gruppennützige Forschung an nicht Einwilligungsfähigen anführen, halten
Vertreter der akademischen Forschung diese für „zwingend erforderlich“, wie das KKS-Netzwerk,
KOMMENTAR
Michael Schmedt, Deutsches Ärzteblatt
Medien sollten komplizierte Sachverhalte der Leserschaft verständlich erläutern. Beim „Vierten
Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und
anderer Vorschriften“ ist dies nur leidlich gelun-
Besser informieren
gen. Zu verkürzt mutierte es zum „Gesetz zu
Tests an Demenzkranken“. Das schürte Ängste
und schnell machte das Schreckensszenario
„Versuchskaninchen Demenzkranke“ die Runde.
Eine ausgewogene Diskussion? Selten. Zunächst
gab es nur „schwarz oder weiß“. Die Politik war
daran nicht unschuldig, denn der Passus zur
gruppennützigen Forschung kam später und vielfach unbemerkt in das Gesetz. Aber gerade bei
medizinethischen Themen ist ein breiter gesellschaftlicher Diskurs unabdingbar, wie es das Thema Sterbehilfe gezeigt hat. Und dazu müssen Gesetzespläne und Sachverhalte bekannt sein. Dass
die Politiker sich nun mehr Zeit nehmen wollen
und die Aufhebung des Fraktionszwangs diskutiert wird, zeigt, dass medizinethische Gesetzesvorhaben nicht einfach unbemerkt durch das Parlament gewunken werden. Das ist beruhigend. In
diesem Fall gibt es kein „gut oder böse“, nur gut
informiert sollten die Entscheidungsträger sein.
ein Verbund universitär verankerter
Koordinationszentren für klinische
Studien, in einer Stellungnahme
mitteilt. Bei der akademischen klinischen Forschung gehe es um die
Optimierung der Therapie der Patienten auf der Basis von Evidenz.
Es gebe Fälle, in denen sich Ergebnisse aus früheren Krankheitsstadien oder von einwilligungsfähigen
Patienten nicht übertragen ließen.
Diese seien zwar selten, hier sei
aber gruppennützige Forschung
notwendig. „Eine solche Forschung
ist für diese Gruppe von Patienten
von höchster Relevanz und sollte
daher nicht grundsätzlich vorenthalten, sondern unter den vorgesehenen engen Vorgaben und strengen
Schutzvorschriften ermöglicht werden“, so das KKS-Netzwerk.
Wenige Forschungsvorhaben
Auch beim Arbeitskreis Medizinischer Ethikkommissionen in
Deutschland geht man davon aus,
dass sich die Zahl der gruppennützigen Forschungsvorhaben in
Grenzen halten wird. „Wir sind außerdem der Ansicht, dass die EUVerordnung mit ihren strengen Anforderungen die Studienteilnehmer
ausreichend schützt“, sagte deren
Vorsitzender, Prof. Dr. med. Joerg
Hasford. Zumal Studien nicht ohne
Genehmigung von Behörden und
Ethikkommission stattfinden könnten. Eine Evaluation der Regelung
nach drei Jahren sei jedoch wünschenswert.
In den Fraktionen des Bundestags wird zurzeit darüber diskutiert,
als weiteren Schutzmechanismus
das Abfassen einer Patientenverfügung an eine ärztliche Beratung zu
koppeln. In Regierungskreisen geht
man davon aus, dass das Parlament
Ende Juni erneut über den Gesetz▄
entwurf beraten wird.
Heike Korzilius
A 1138
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 24 | 17. Juni 2016