Es ist genug für alle da - Diskussionspapier zum Grünen

Es ist genug für alle da - Diskussionspapier zum
Grünen Gerechtigkeitskongress 2016
Entstanden unter Mitwirkung von Franziska Brantner, Anja Hajduk, Sven-Christian Kindler, Sven
Lehmann, Eva Mädje, Cem Özdemir, Simone Peter und Klaus Seipp.
Menschen wünschen sich eine sichere und gute Zukunft. Für sich und für ihre Kinder. Viele denken
nicht nur an das Heute, sondern auch an das Morgen. Sie haben Hoffnungen, wollen etwas
aufbauen und im Alter abgesichert sein. Sie fürchten sich aber auch vor Armut, unzureichender
Rente und Pflege, machen sich Gedanken um die Lebensgrundlagen für ihre Kinder und Menschen
in anderen Erdteilen. Sie fragen sich, wie wir in Europa und in der Welt friedlich zusammen leben
können. Sie sorgen sich um den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
Zugleich unterscheiden sich die Lebensumstände der Menschen in verschiedenen Regionen in
Deutschland recht deutlich.

Da ist Nina aus Kassel, die mit ihren zwei kleinen Kindern und ihrem neuen Partner
zusammenlebt. Sie ist Altenpflegerin und Hartz-IV-Aufstockerin. Sie möchte nicht mehr
jeden Euro zweimal umdrehen und wünscht sich, dass ihre Kinder später eine gute
Schulbildung erfahren. An die Rente denkt sie lieber nicht, für private Vorsorge bleibt nichts
übrig.

Inge und Albert sind seit 30 Jahren verheiratet, beide Mitte 50 und kinderlos. Er leitet eine
familienbetriebene Bäckerei in zweiter Generation, sie arbeitet im Betrieb mit. Sie finden
keine Auszubildenden und sorgen sich zudem um die Unternehmensnachfolge. Außerdem
schauen sie mit Sorge auf die niedrigen Zinsen, ihr Erspartes soll ihnen im Ruhestand
helfen.

Peter, 56, lebt im Kyffhäuserkreis, ist geschieden, gelernter Schweißer und seit fünf Jahren
arbeitslos. Er möchte wieder gebraucht werden und schämt sich, seinen drei Enkelkindern
nichts schenken zu können. Sein Freund Martin, 53, ist gerade von einer schweren Krankheit
genesen und denkt dankbar an die gute medizinische Behandlung. Ihn störte allerdings die
spürbare Bevorzugung von privat Versicherten bei der Terminvergabe. Als MarketingSpezialist hat er zehn Jahre in Rom gearbeitet und sorgt sich um die Übertragbarkeit seiner
Rentenansprüche aus dieser Zeit.

Tim, Vater von zwei Kindern, Rolli-Fahrer ist auf eine zeitintensive Assistenz angewiesen. Er
arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an einer Uni. Da für einen Großteil der Kosten
sein Einkommen und Vermögen zur Finanzierung der Assistenz und Teilhabe herangezogen
wird, bleibt ihm lediglich ein Gehalt auf Hartz-IV-Niveau. Geld zu sparen oder etwa für das
Alter vorzusorgen, wird für ihn damit unmöglich. Er fragt sich, ob die Regelung, dass die
Menschen derart zu den Kosten ihrer Inklusion herangezogen werden, jemals verändert
wird, damit auch Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben ohne
Diskriminierung führen können.

Rana ist gerade mit ihren zwei Kindern vor den Bomben aus Aleppo geflohen und will neu
in Deutschland ankommen. Sie möchte schnell Deutsch lernen, arbeiten gehen und
begegnet dabei vielen Hürden in der deutschen Bürokratie. Sie hat Angst, weil es einen
Anschlag auf ihre Flüchtlingsunterkunft gab. Vor allem hofft sie, dass ihre Kinder es einmal
besser haben als sie.

Lisa und Ali leben in Hamburg und haben ein Kind. Er arbeitet Vollzeit als Ingenieur und sie
halbtags als Lehrerin. Beide möchten gerne ein zweites Kind und die Familienarbeit
gerechter aufteilen. Sie fürchten, dass sie dann aber keine größere und vor allem auch
bezahlbare Wohnung in der Nähe ihrer Arbeitsorte finden.

Susanne ist 32 Jahre alt und arbeitet als freie Grafikerin unter anderem in einem Start-UpUnternehmen. Sie braucht die Flexibilität für die Pflege ihrer Mutter. Sie fürchtet sich, selbst
krank zu werden und sich nicht um ihre Mutter kümmern zu können. Sie will sich um ihre
eigene Altersvorsorge kümmern und fragt sich, wer sie dafür gut und vertrauensvoll beraten
könne, damit ihre Vorsorge auch stabil und sicher bleibt.
Das sind Ausschnitte der vielfältigen Realität in Deutschland. Es ist uns wichtig, die Menschen in
ihrer individuellen Situation ernst zu nehmen und dabei zu versuchen, ihre Anliegen in eine
gerechtere Politik für alle zu übersetzen. Es ist uns bewusst, dass das nicht in jedem einzelnen Fall
gelingen kann und dass manchmal auch Umwege notwendig sind. Doch gilt, dass Politik sich
sowohl an leitenden Grundsätzen als auch an der konkreten Wirklichkeit von Menschen in
verschiedenen Lebensphasen orientieren muss, um dem Anspruch einer guten Politik für alle
gerecht zu werden.
Ein zentraler leitender Grundsatz für uns GRÜNE ist Gerechtigkeit. - Dieser Anspruch strahlt für uns
in alle Politikbereiche aus. Doch was meint "Gerechtigkeit", wenn GRÜNE darüber sprechen?
Gerechtigkeit bedeutet für uns, dass alle Menschen dazu gehören und gleiche Rechte haben,
unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Herkunft, ihrem Besitz oder ihren Fähigkeiten.
Gerechtigkeit verlangt eine gerechte Verteilung der Güter, so dass alle an der Gesellschaft teilhaben
können. Mit Gerechtigkeit verbinden wir das Ziel, dass Menschen nicht nur in Deutschland, sondern
in aller Welt eine Chance auf eine lebenswerte Gegenwart und Zukunft haben. Gerechtigkeit
bedeutet für uns, künftigen Generationen eine intakte und lebenswerte Welt zu übergeben.
Wir sagen nicht, dass diese Dimensionen der Gerechtigkeit immer leicht miteinander in Einklang zu
bringen sind. Sie sind aber untrennbar miteinander verbunden und leiten uns bei unserem
Anspruch, dass eine gerechte Politik allen Menschen zugutekommt.
Wir leben in einer Welt, in der genau diese Ziele noch längst nicht verwirklicht sind. Wir leben in
einer Gesellschaft, in der es vielen Menschen gut geht, in der Menschen aber auch benachteiligt
und abgehängt werden. Wir leben auch in einer Gesellschaft, in der viele verunsichert sind, ob sie
überhaupt eine faire Chance haben, vorwärts zu kommen und in der die wachsende ungleiche
Verteilung von Einkommen, Vermögen und Chancen einen Grad erreicht hat, der dem Gemeinwohl
insgesamt schadet. Für uns folgt daraus:

Wir wollen den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft stärken. Wir arbeiten für ein
gerechtes Land, für ein starkes Gemeinwesen und eine solidarische Gesellschaft, in der der
gemeinsam erwirtschaftete Wohlstand allen zugutekommt. Das bedeutet für uns auch, dass
Einkommen, Vermögen und Chancen gerechter verteilt werden. Nur eine Gesellschaft, die
zusammenhält, ist auch wehrhaft gegen Angriffe auf die Demokratie.

Wir wollen eine Politik machen, die gleiche Chancen und gleiche Rechte für jede und jeden
zum Ziel hat. Uns geht es um eine Gesellschaft, in der alle Menschen unabhängig von ihrer
Herkunft und ihrem Geldbeutel Chancen ergreifen und nutzen können, um ihre Träume und
Wünsche zu verwirklichen. Wir können es uns als Gesellschaft nicht leisten, auch nur ein
Talent zurückzulassen.

Wir stehen für eine Politik der sozialen Sicherheit und Teilhabe, die niemanden durchs
Raster fallen lässt. Jeder Mensch soll ein selbstbestimmtes Leben führen können. Wir
wollen der Angst vor gesellschaftlichem Abstieg und Armut eine Politik der sozialen
Sicherheit und Teilhabe mit starken öffentlichen Einrichtungen für alle entgegensetzen.
Großer Reichtum - Mittelschicht unter Druck
Deutschland ist nicht nur ein buntes Land, sondern eines der reichsten Länder. Das
durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen gehört zu den höchsten in der ganzen Welt. Die Einführung
des gesetzlichen Mindestlohns hat Millionen Menschen aus Armutslöhnen geholfen, seit 2010 sind
die Reallöhne wieder gestiegen.
Doch von der guten Lohnentwicklung profitieren längst nicht alle. Die freie Mitarbeiterin oder
Minijobberin hat davon häufig nichts. Die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossenen Langzeitarbeitslosen
schon gar nicht. Jüngere stehen unter dem dauerhaften Druck befristeter Jobs. Während viele
Familien jeden Euro zweimal umdrehen müssen, steigen hohe Managergehälter auch dann noch an,
wenn die Unternehmen Verluste machen.
Wir wissen, dass ein Blick auf das Einkommen nur begrenzt hilft bei der Beschreibung der sozialen
Lage der Mittelschicht. Sie ist heterogen in vielerlei Hinsicht, nicht nur sozioökonomisch, sondern
auch hinsichtlich sozialer Milieus und Lebensstile. Zugleich gilt, dass ein mittleres Einkommen in
Schwerin oder im Emsland eine gute Teilhabe ermöglicht, während eine vierköpfige Familie in
München damit möglicherweise keine großen Sprünge machen kann. In den letzten zehn Jahren
haben die unteren Einkommensschichten weiter an Vermögen verloren, während das obere ein
Prozent der Bevölkerung nun ein Drittel des Nettovermögens besitzt. In keinem Land der Euro-Zone
ist die Vermögensungleichheit größer als in Deutschland. In den letzten zehn Jahren ist es nicht
gelungen, die Mittelschicht in ihrer regionalen Unterschiedlichkeit zu stabilisieren und zu
verbreitern. Stattdessen sehen wir vererbte Armut und Benachteiligung und vererbten Reichtum
und Privilegierung.
Es kann uns keine Ruhe lassen, wenn Kinder zu haben in Deutschland tatsächlich ein Armutsrisiko
ist. Alleinerziehend zu sein ist der Armutsfaktor Nummer eins. Vierzig Prozent der Alleinerziehenden
beziehen in Deutschland Hartz IV. Mütter wollen heute mehrheitlich mehr arbeiten, doch die
Realität ist eine andere. Im Durchschnitt arbeiten Frauen neun Stunden pro Woche weniger als
Männer. Auch an dem großen Lohnunterschied (21%) gegenüber ihren männlichen Kollegen ändert
sich bislang nichts. Das sind große Ungerechtigkeiten, mit denen die Menschen in ihrem Alltag und
bei der Lebensplanung konfrontiert sind. Diese Ungerechtigkeiten können Hoffnungen und das
Vertrauen in unsere demokratische Gesellschaft zerstören.
In unserer Gesellschaft wächst das Unverständnis darüber, dass einige Wohlhabende ihre Vermögen
steuerfrei in Panama verstecken und sich der solidarischen Gemeinschaft entziehen. Viele
Menschen haben den Eindruck, dass wir nicht mehr in einer sozialen Marktwirtschaft leben, in der
man mit eigener Anstrengung und durch eine faire Unterstützung der Gemeinschaft vorankommen
kann, sondern dass wir längst in einer Machtwirtschaft leben, in der große Konzerne und ihre
Lobbys regieren und ihre Interessen auf Kosten des Gemeinwohls durchsetzen können. Auch das
gefährdet den sozialen Zusammenhalt und die Akzeptanz unserer Demokratie in unserer
Gesellschaft.
Chancenungleichheit: Hürden abbauen
Die ungerechte Verteilung von Einkommen und bereits erworbenem Eigentum ist nur eine
Dimension der Ungleichheit in Deutschland. Die Ungerechtigkeit fängt in Deutschland früher an.
Deutschland schafft es nicht, Chancengleichheit und echte Teilhabe aller von Anfang an zu
ermöglichen. Der soziale Aufzug nach oben funktioniert nicht. Viel zu oft entscheidet die soziale
Herkunft, der Geldbeutel, das Geburtsland der Eltern oder das Geschlecht über den zukünftigen
Lebensweg unserer Kinder und ihre Teilhabe. Die eingeschränkte Teilhabe von Vielen und eine
enorme Konzentration von Geld und Einfluss bei Wenigen werden somit auch zu einer sich
verschärfenden strukturellen Machtfrage in Deutschland.
Die beklemmende Realität zeigen repräsentative Umfragen unter Kindern: Ein Fünftel der 6 bis 11
Jährigen bezeichnet sich selbst schon als abgehängt und hat kaum Erwartungen an die eigene
Zukunft. Sie streben schon gar keine guten Schulabschlüsse mehr an. Das spiegelt sich darin wieder,
dass laut OECD in Deutschland nur ein Prozent derjenigen, die aus einem Arbeiterhaushalt
kommen, ein Studium aufnehmen. Hinzu kommt, dass in Deutschland 1,5 Millionen junger
Menschen unter 29 Jahren ohne Ausbildung und ohne Abschluss sind.
Das alles lässt sich nicht von heute auf morgen ändern. Aber es muss heute begonnen werden, so
dass unsere Gesellschaft in fünf, zehn und zwanzig Jahren anders, besser und gerechter ist. Um
einen echten Unterschied zu machen, kommt es vor allem auf die Qualität der Kitas und
Ganztagsschulen an, auf eine bessere Unterstützung der Eltern und echte Teilhabemöglichkeiten
für Kinder an Kultur und Sport. Jetzt in echte Teilhabe zu investieren ist besser als später zu
reparieren.
Arbeit, Alter, Wohnen: Soziale Sicherheit erneuern
Die Arbeitswelt ist im Wandel, sie wird bunter und vielfältiger. Die Digitalisierung hat das Potential,
wirtschaftlichen Erfolg mit guter Arbeit und auch mit mehr Schutz der Umwelt zu verbinden. Sie
stellt uns aber auch vor Herausforderungen. Wie verhindern wir, dass Arbeitnehmer rund um die Uhr
verfügbar werden? Wie sichern wir neue Formen der Selbständigkeit? Wie schaffen wir neue
berufliche Perspektiven für Menschen, die ihren Job an eine Maschine verloren haben?
Die Nachrichten vom Arbeitsmarkt sind gut, denn heute sind deutliche weniger Menschen
arbeitslos als noch vor zehn Jahren. Die Arbeitslosigkeit fiel von ihrem Höchststand von fast 4,9
Millionen im Jahr 2005 auf 2,8 Millionen im Jahr 2015. Die Jugendarbeitslosigkeit ist in
Deutschland im europäischen Vergleich mit rund sieben Prozent auch dank unseres starken dualen
Ausbildungssystems niedrig und im Jahr 2016 gibt es rund 41.000 gemeldete unbesetzte
betriebliche Ausbildungsplätze. Die regionalen Unterschiede sind aber enorm. In Eichstätt in Bayern
herrscht Vollbeschäftigung während in Bitterfeld 13 Prozent der Menschen ohne Arbeit sind. Das
Risiko arbeitslos zu werden verschärft sich mit dem Alter und je nach Herkunft - und die Zahl der
Langzeitarbeitslosen wurde kaum reduziert. Das macht deutlich: Trotz der guten Statistik gibt es
viel zu tun. Ziel muss die Teilhabe am Arbeitsmarkt sein, auch für die 2,8 Millionen Menschen, die
noch keine Arbeit gefunden haben.
Die Rente ist besser als ihr Ruf. Jedoch ist das Leistungsniveau der gesetzlichen Rente in den
letzten Jahren stark gesunken. Ganze Gruppen wie Selbständige oder Beamte sind nicht in die
gesetzliche Rente integriert. Im Vergleich zu anderen OECD-Staaten liegt das Rentenniveau in
Deutschland unterhalb des Durchschnitts. Wird nicht gegengesteuert, ist zu erwarten dass es schon
Ende der 2020-Jahre nicht mehr ausreicht, 30 Jahre lang mit einem durchschnittlichen Gehalt in die
Rentenkasse eingezahlt zu haben, um einen Sozialhilfebezug zu vermeiden. Viele Bürgerinnen und
Bürger fragen sich: Wie gestalte ich angesichts des sinkenden Rentenniveaus meinen Ruhestand,
besonders wenn die zusätzliche Altersvorsorge hinter den Erwartungen zurückbleibt? Und wer
pflegt mich im Alter?
In den Ballungszentren, Universitäts- und Großstädten steigen die Mieten kontinuierlich.
Bezahlbarer Wohnraum ist in vielen Gegenden Deutschlands mittlerweile Mangelware. Die
niedrigen Zinsen treiben die Marktpreise nach oben, der Druck auf die Mieten steigt entsprechend
mit. Der Einfluss von Investmentfonds mit hoher Renditeerwartung treibt die Spaltung des
Wohnungsmarktes voran. Hinzu kommt die überproportionale Steigerung der Energiekosten: Strom
wurde in den vergangenen 10 Jahren um über 60 Prozent teurer und Heizen um mehr als 35
Prozent. Die soziale Frage des Wohnens wird immer brisanter. Es braucht wirksame Anreize, damit in
neuen und bezahlbaren Wohnraum in sozial gemischten Quartieren investiert wird.
Verantwortung in einer globalisierten Welt
Weltweit sehen wir, dass globale Regulierung den oft kreativen Kapitalströmen meilenweit
hinterherhinkt. Mit Hilfe von Briefkastenfirmen werden Vermögen auch bei Banken in Deutschland
geparkt. Ein Prozent der Weltbevölkerung besitzt fast die Hälfte des weltweiten Vermögens. In
vielen Ländern bereichern sich korrupte und reiche Eliten im Zusammenspiel mit multinationalen
Konzernen. Unterstützt durch eine falsche Handelspolitik des globalen Nordens werden die
Ressourcen von Ländern geplündert, deren Bevölkerungen dabei leer ausgehen.
Auch die Auswirkungen und Kosten von Umweltschäden, Artenverlust und Klimawandel sind
ungerecht verteilt. Das gilt zum einen zwischen globalem Norden und Süden, zum anderen aber
auch innerhalb der Gesellschaften. Denn privat verursachte Umweltschäden und die Folgekosten
werden auf die Allgemeinheit abgewälzt. Hinzu kommt die staatliche Förderung von
Umweltverschmutzung durch Subventionen in Milliardenhöhe. Der vermeintliche Widerspruch
zwischen ökologischer und sozialer Frage berührt auch die Machtfrage, inwiefern einflussreiche
Lobbys ihre Interessen auf Kosten des Gemeinwohls durchsetzen können.
Viele gewaltvolle Unruhen und Kriege haben nicht zuletzt ihre Ursache in diesen
Ungerechtigkeiten. Ungerechtigkeit in der Welt ist somit auch eine wesentliche Fluchtursache. Es
ist an der Zeit, diesen Teufelskreislauf endlich zu durchbrechen mit einer gerechteren Handels-,
Agrar-, Klima- und Finanzpolitik.
Keine einfachen Antworten – Rechtspopulisten entlarven
Breite Schichten der Bevölkerung sind verunsichert, sie fürchten, ihren Lebensstandard nicht halten
zu können, zweifeln daran, dass ihnen und ihren Kindern der Aufstieg gelingen kann. Die Angst vor
einer weiteren Spaltung der Gesellschaft und zunehmender sozialer Kälte treibt viele Menschen
um. Rechtspopulisten versuchen auf die Probleme eine einfache Antwort zu geben, indem sie den
vermeintlich Fremden die Schuld in die Schuhe schieben. Sie profitieren von den Ängsten der
Deutschen. Dabei würden sie mit ihrer marktradikalen Sozial- und Wirtschaftspolitik gerade die
Benachteiligten weiter schwächen. Eine gerechte und emanzipatorische Antwort spielt Geflüchtete
und Einheimische nicht gegeneinander aus. Die Aufnahme und Integration der Geflüchteten ist
zwar eine Herausforderung, aber auch eine Chance für unsere Gesellschaft, wenn sie mit Mut und
den notwendigen Investitionen angegangen wird. Zugleich muss uns klar sein: Es geht hier auch
um unterschiedliche Weltanschauungen. Rechtspopulisten attackieren auch Demokratie,
Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten. Diese Werte sind für uns nicht verhandelbar.
Thesen
Öffentliche Einrichtungen und materielle Absicherung stärken
Wer benachteiligt und arm ist, ist auf den Zugang zu guten öffentlichen Einrichtungen angewiesen.
Die Forderung nach einem Recht auf Teilhabe läuft ins Leere, wenn es keine öffentlichen
Institutionen gibt, die eine soziale und kulturelle Teilhabe erst anbieten bzw. ermöglichen.
Institutionen alleine reichen nicht aus, um soziale und kulturelle Teilhabe zu sichern. Es braucht
daher beides: Starke Institutionen und eine gute materielle Absicherung.
Kinder unterstützen
Ein Fünftel der Kinder ist in Deutschland abgehängt – vom Bildungserfolg, vom sozialen und
kulturellen Leben, von Gesundheit und Partizipation am politischen Alltag. Das ist zutiefst
ungerecht. Das können wir uns nicht leisten. Wir dürfen kein Kind zurücklassen. Die Qualität der
Institutionen, die Kindern gutes Aufwachsen und Teilhabe ermöglichen und ihre Eltern
unterstützen, ist ebenso vordringlich wie eine sozial ausgewogene Familienförderung, die Familien
unabhängig von der rechtlichen Verbindung ihrer Eltern zugutekommt.
Familie ist dort, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen
Wir setzen auf Selbstbestimmung und Individualisierung, aber nicht Atomisierung. Eine
Gesellschaft, in der es nur den Staat und das Individuum gibt, ist für uns keine erstrebenswerte. Wir
wollen anerkennen, wenn Menschen Verantwortung füreinander übernehmen, ganz gleich in
welcher Verbindung.
Nachhaltige Finanzierung der Rente sichern
Die Rente ist besser als ihr Ruf. Eine Stabilisierung des Rentenniveaus ist selbst ohne deutliche
Anhebung der Rentenbeitragssätze möglich. Die Verunsicherung heutiger und künftiger
Rentner*innen rührt auch aus der offenen Frage einer gerechten Finanzierung des Rentensystems.
Die Bürger*innenversicherung ist ein wichtiger Teil der Antwort. Die Einbeziehung von
Selbständigen führt zu einer besseren Absicherung im Alter sowie auch zu einer stabileren
Finanzierungsgrundlage der gesetzlichen Rentenversicherung. Perspektivisch wollen wir eine
Bürgerversicherung für alle, das heißt auch Abgeordnete, Menschen in freien Berufen und
Beamt*innen einbeziehen. Die Zukunft der Rente entscheidet sich auch am Arbeitsmarkt. Wenn es
uns langfristig gelingt, dass Frauen sich beruflich genauso verwirklichen können wie Männer, dann
stabilisiert das die Rente und sichert den Frauen zudem eine eigenständige Altersvorsorge.
Selbstbestimmung und Teilhabe sichern
Für viele Menschen, die auf Assistenz und Unterstützung angewiesen sind, ist die
Selbstbestimmung und Teilhabe immer noch nicht selbstverständlich. Barrieren und hohe
Anrechnungen der Kosten für die Inklusion auf ihr Einkommen führen dazu, dass wir in Deutschland
trotz UN-Behindertenrechtskonvention immer noch weit davon entfernt sind, die Teilhabe und
Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen zu sichern. Hier bedarf es grundlegender
gesetzlicher Änderungen.
Ökologie und Gerechtigkeit verwirklichen mit besserem Mietrecht und bezahlbarem Wohnraum
Deutschland hat ein massives und wachsendes Problem bei den Wohnkosten. Seit Ende der 1980er
Jahre die Wohnungsgemeinnützigkeit abgeschafft wurde, sind über drei Millionen mit öffentlichen
Mitteln gebaute Sozialwohnungen privatisiert worden. Dem massiven Mangel an preiswerten
Wohnungen wollen wir durch die Neubelebung von sozialem Wohnungsbau sowie der Förderung
von gemeinnützigen und genossenschaftlichen Wohnformen entgegentreten. Ein niedriger
Energieverbrauch in unseren Wohnungen nützt dem Klima und dem Geldbeutel. Falsche
Rahmenbedingungen führen aber oft dazu, dass energetische Gebäudesanierung als Mittel von
Verdrängung verschrien ist. Wir brauchen daher eine zielgenaue Förderung und ein besseres
Mietrecht, um Sanierungskosten gerecht zu verteilen und so Ökologie und Gerechtigkeit zu
verbinden.
Kommunen stärken
Die Gestaltungskraft der Kommunen zu stärken, ist für die soziale Teilhabe aller Menschen zentral.
Die Kommune ist für die soziale und demokratische Teilhabe von herausragender Bedeutung. Nur
wenn es gelingt, die Kommune überall in Deutschland als handlungsfähigen Ort zurückzugewinnen,
kann eine Politik der sozialen Teilhabe Erfolg haben und das Gemeinwesen zu einem lebenswerten
Ort für alle machen.
Rechtspopulismus begreifen und entlarven
Die Anziehungskraft einer rechtspopulistischen Politik der einfachen Antworten hängt auch mit
echten sozialen Problemen zusammen. Es sind die Ängste und Sorgen der Menschen vor
Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg, die sie in die Arme der Rechtspopulisten treiben. Die
Anziehungskraft rechtspopulistischer Politik fußt aber auch darauf, dass sie Leute anzieht, für die
eine repräsentative Demokratie kein Wert an sich ist. In diesem Weltbild stehen Grundrechte und
der Schutz von Minderheiten zur Disposition. Deshalb kann eine so genannte „Sozialpolitik für die
kleinen Leute“ keine ausreichende Antwort auf den Rechtspopulismus sein.
Europäische Solidarität leben
Europäische Solidarität ist eine Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Gerechtigkeitsdebatte in
unserem Land – sowohl beim Euro als auch in der Flüchtlingsaufnahme. Eine falsche Sparpolitik
ohne nachhaltige Investitionen führt Europa nicht weiter. Die EZB wird die Krise nicht alleine lösen
können, deshalb brauchen wir einen europäischen Green New Deal. Wir müssen wirtschaftliche
Strukturen schaffen, die der breiten Bevölkerung Chancen und Perspektiven bieten und die
ökologische Frage angehen. Dabei geht es auch um soziale Gerechtigkeit und den Zusammenhalt in
Europa. Durch die hohe Jugendarbeitslosigkeit leidet eine ganze Generation unter der
verheerenden wirtschaftlichen Krise Europas. Wenn wir wollen, dass Europa auch in Zukunft noch
stark ist, müssen wir die Menschen überzeugen, dass Europa auch Solidarität bedeutet.
Digitalisierung gerecht gestalten
Wir denken Digitalisierung und Gerechtigkeit zusammen. Die voranschreitende Digitalisierung und
Automatisierung führt dazu, dass bestimmte berufliche Tätigkeiten immer einfacher zu
standardisieren und zu ersetzen sind. Gleichzeitig wird der Anteil von menschlicher Arbeit an der
Wertschöpfung im Vergleich zum Einsatz von Kapital geringer. So wird die Digitalisierung auch zu
einer Machtfrage, bei der die Mittelschicht unter Druck geraten kann. Die Digitalisierung erfordert
umfassende Reformen des Arbeitsrechts sowie der Steuer- und Sozialversicherungssysteme.
Bildung und Weiterbildung sind entscheidend und werden immer wichtiger. Politik hat die Aufgabe,
die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Menschen im gesamten Lebensverlauf in ihre
(Weiter)Bildung investieren können.
Lohnpolitik als Mittel gegen Ungleichheit und für Gleichberechtigung
Löhne sind die wichtigste Stellschraube gegen Ungleichheit. Die Lohnungleichheit zwischen
Männern und Frauen zu beseitigen ist eine zentrale Frage der Gerechtigkeit. Von bisherigen
Lohnsteigerungen sind alle jene Sektoren, in denen Dienst am Menschen geleistet wird, fast
gänzlich ausgeschlossen. Daher brauchen wir neben dem Mindestlohn weitere politische
Maßnahmen, wie eine generelle Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, die Aufwertung von
Care Arbeit, den Übergang des Ehegattensplittings zur Individualbesteuerung und die Eindämmung
von Minijobs.
Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit zusammendenken
Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit sind keine Gegensätze, sondern vielmehr zwei
Seiten derselben Medaille. Umverteilung findet nicht nur durch monetäre Transfers statt, sondern
auch durch nicht-finanzielle Leistungen des Staates. Vor allem Ausgaben für Bildung und
Gesundheit steigern die Chancengleichheit aller und wirken mittelfristig ausgleichend auf die
Verteilung von Einkommen und Vermögen. An diesen Ausgaben müssen alle ihren angemessenen
Anteil leisten und der besonders privilegierte Teil unserer Bevölkerung muss sich fairer als heute
an ihrer Finanzierung beteiligen.
Gewinne in Investitionen lenken
Wir erleben in Deutschland seit einigen Jahren einen Trend aus steigenden
Unternehmensgewinnen und gleichzeitig sinkenden Investitionen. Wir brauchen eine politische
Antwort auf die Frage, wie diese ungenutzten Gewinne für private und öffentliche Investitionen
nutzbar gemacht werden können.
Steuergerechtigkeit umsetzen
Wir sehen die Notwendigkeit, mit einer verfassungsfesten, ergiebigen und umsetzbaren
Vermögensbesteuerung einer sich verstärkenden Vermögensungleichheit entgegen zu wirken und
die Mittel zu erwirtschaften, die für die Finanzierung von Maßnahmen zu mehr Chancengleichheit
vor allem im Bildungsbereich notwendig sind. Im Dschungel des von Land zu Land
unterschiedlichen Steuerrechts finden sich große Unternehmen mit Hilfe von riesigen
Steuerabteilungen und hochbezahlten Berater*innen viel besser zurecht als kleinere und mittlere
Unternehmen. Darum tragen große Unternehmen, gemessen an ihrer Leistungsfähigkeit, in der
Regel weniger zum Steueraufkommen und somit zur Finanzierung der öffentlichen
Daseinsvorsorge, von der sie profitieren, bei. Wir Grüne wollen darum ein Steuerrecht, das für große
und kleine Firmen fair ist und nicht unnötig Ressourcen verschlingt.