Herr der Geschichte - Jes 48

Vom altorientalischen Geschichtsherrn zum deus creator et iustificans
- Zur Entwicklung der Geschichtstheologie im Raum der deuterojesajanischen
Prophetien In der Stunde der definitiven Ohnmacht des Gottesvolkes tritt die Geschichtsmacht JHWHs
ins Zentrum. Nachdem mehr als drei Generationen vorher im Jahr 722 v. Chr. bereits das erste
ihn verehrende Staatsvolk von der Bühne der Geschichte abgetreten war, folgt ihm unter dem
Druck der Neubabylonier zu Beginn des 6. Jh. v. Chr. mit Juda nun das zweite. Der
Nationalgott des Nord- und Südreiches kommt somit unter Ohnmachtsverdacht. Und genau zu
diesem Zeitpunkt proklamiert ihn ein unbekannter Prophet, den wir seit Bernhard Duhm als
Deuterojesaja zu bezeichnen pflegen1, als alleiniger Herr der Geschichte. Der traditionellen
Ansetzung der deuterojesajanischen Prophetien in Jes 40ff. folgend2 hat zuletzt Matthias
Albani die historische und religionsgeschichtliche Situation der Nabonid-Ära als Hintergrund
der entsprechenden Prophetenworte namhaft gemacht.3 Ihre Disputationen und die in Gestalt
von Gerichtsverfahren daherkommenden Beweisgänge seien „polemisch an Marduk
orientiert“.4 „Die Auseinandersetzung mit der universalen kosmischen Dimension der
Marduk-Theologie und seiner astralen Komponente hat DtJes‘ wahrscheinlich bereits
monolatrischem Gottesverständnis den entscheidenden Impuls zu einem konsequenten
Monotheismus gegeben. Der Marduk-‚Monotheismus‘ war inklusiver Art, dem JHWHGlauben prophetischer Provenienz dagegen eignete eine ausgesprochen exklusive Tendenz.
Die Begegnung beider Gottesvorstellungen im babylonischen Exil führte zu einem exklusiven
universalen Monotheismus.“5
I
Marduk und JHWH als Geschichtsherrn
Sowohl die babylonische als auch die spätisraelitisch-frühjüdische Gottesvorstellung enthält
eine Geschichtstheologie, zu deren essentiellen Elementen der Anspruch auf die Gestaltung
1
B. Duhm, Das Buch Jesaja, HK, Göttingen (1892) 19224 (=19685).
D. Michel, Deuterojesaja, TRE 8, 1981, 510-530, und H.-J. Hermisson, Deuterojesaja, RGG4 2, 1999, Sp. 684688.
3
M. Albani, Der eine Gott und die himmlischen Heerscharen. Zur Begründung des Monotheismus bei
Deuterojesaja im Horizont der Astralisierung des Gottesverständnisses im Alten Orient,. Arbeiten zur Bibel und
ihrer Geschichte, Bd. 1, Leipzig 2000.
4
Albani, Der eine Gott, 132.
5
Albani, Der eine Gott, 253
2
1
der Welt und auf die Bestimmung des Schicksals gehören. Marduk verfügt als oberster
babylonischer Gott über die Schicksalstafeln und bestimmt jeweils beim Neujahrsfest
zusammen mit seinen Sohn, dem Schreibergott Nabû, über die Geschicke.6 Die universale
Macht Marduks wird aus Anlaß des Festes eindrücklich proklamiert und in Szene gesetzt.7
Der
Schöpfergott
Marduk
ist
zugleich
Herr
der
Geschichte,
mušîm
šimâte
(Schicksalsbestimmer). Schon in der „Marduk-Prophetie“ aus dem 12. Jh. v. Chr. präsentiert
er sich entsprechend: „Ich bin Marduk, der große Herr. Der Herr der Geschicke und
Entscheidungen bin ich.“8 Auch die dreimalige Eroberung Babylons mitsamt der jeweiligen
Deportation der Marduk-Statue durch die Hethiter (etwa 1595 v. Chr.), Assyrer (Ende des 13.
Jh. v. Chr.) und Elamiter (um 1160 v. Chr.) wird als souveräne Aktion des Geschichtenlenkers
Marduk verstanden. Auf seinen Befehl hin erfolgte Deportation und Rückkehr nach Babylon.
Sehnsüchtig wartete der oberste Gott des babylonischen Pantheons bis die Zeit der
Abwesenheit von seinem Heiligtum erfüllt war, um dann mit dem Wiedereinzug eine neue
Heilszeit zu beginnen. So erweist die vermeintliche Ohnmacht Marduks, die an der Einnahme
Babylons und der Bemächtigung des Götterbildes durch die fremden Völker ablesbar scheint,
gerade seine uneingeschränkte Geschichtsmacht.9 Er bestimmt noch über feindliche
Völkerschaften und setzt mit oder gegen sie seinen Plan um.10 Wie aus der Babylon-Inschrift
Asarhaddons deutlich wird, kann er dabei die festgesetzte Zeit des Gerichts von 70 Jahren
auch souverän verkürzen und so seine Barmherzigkeit unter Beweis stellen. Albani macht
zurecht auf Parallelen zwischen der Inschrift und Jes 40ff. aufmerksam. So geht es in beiden
Vorstellungskreisen um die Zerstörung von Stadt und Kultzentrum11, die auf göttlichen Zorn
über die Sünden der Völker zurückgeführt wird. Die Gerichtsperiode von 70 Jahren hat
alttestamentlich ihre Parallele in der Jeremiaüberlieferung (Jer 25,10; 29,10) sowie in Sach
1,12; 7,5, Dan 9,2 und II.Chr. 36,21.12 Wiederaufbau und Rückkehrzusage gehören genauso
6
Albani, Der eine Gott, 78-82, liefert eine zusammenfassende Darstellung nebst Verweis auf die wichtigsten
Quellen.
7
Vgl. B. Pongratz-Leisten, Ina Šulmi Īrub. Die kulttopographische und ideologische Programmatik der AKĪTUProzession in Babylonien und Assyrien im 1.Jahrtausend v. Chr., BaF 16, Mainz 1994, 40ff. und 83ff., zum
akītu.Fest.
8
Zitiert nach TUAT II, 66, Kol. I, Z. !8‘-19‘ – insgesamt vgl. K. Hecker, TUAT II, 65, und R. Borger, Gott
Marduk und Šulgi als Propheten, Bi Or 28, 1971, 3-24.
9
Vgl. TUAT II, 65-68.
10
Zur Vorstellung eines göttlichen Plans B. Albrektson, History and the Gods. An Essay on the Idea of
Historical Events as Divine Manifestations in the Ancient Near East and in Israel, Lund 1967, 68-97, und W.
Werner, Studie zur alttestamentlichen Vorstellung vom Plan Jahwes, BZAW 173, Berlin und New York 1988.
11
Babylon wird mitsamt dem Marduk-Tempel Esagila 689 v. Chr. durch Sanherib vernichtet, Jerusalem mit dem
JHWH-Heiligtum im Jahr 587/86 v. Chr. durch Nebukadnezar.
12
Vgl. G. L. Keown, P. J. Scalise, Th. G. Smothers, Jeremiah 26-52, WBC 27, Dallas 1995, 74f., mit
verschiedenen inhaltlich orientierten Deutungsvarianten, sowie K. Schmid, Buchgestalten des Jeremiabuches,
WMANT 72, Neukirchen-Vluyn 1996, 220ff.; 346-349 und 364ff.
2
zu den übereinstimmenden Elementen wie die Inanspruchnahme eines fremden Herrschers als
„Knecht“13 zur Durchführung des Heilsplanes.
Die differenzierte und keineswegs bloß affirmativ auf die Geschichte des eigenen Volkes
bezogene Geschichtstheologie der Marduktradition findet sich zeitnah zu der in den dtjes
Prophetien vorausgesetzten Situation in der Babel-Stele des letzten neubabylonischen
Herrschers Nabonid.14 Erneut wird darin die Zerstörung Babylons im Jahr 689 v. Chr. durch
Sanherib als Strafe Marduks über das eigene Volk verstanden. „Ein bewährtes
geschichtstheologisches Deutemuster von politischen und religiösen Katastrophen gab es also
schon in der Marduk-Theologie seit der Zeit Nebukadnezar I.“15 Dazu gehörte, anders als es
in der alttestamentlichen Diskussion der Vergangenheit vielfach angenommen wurde, sowohl
die Rede vom Zorn über das eigene Volk als auch die Vorstellung eines weiterreichenden,
planmäßigen Handels der Gottheit.16
Auf diesem Hintergrund gilt es die seit langem17 vermerkten Motivparallelen zwischen dem
sogenannten Kyros-Zylinder und dem Kernbereich dtjes Prophetien zu Aufstieg und Auftrag
des Perserkönigs zu verstehen.18 Nach der friedlichen Übernahme der Macht durch Kyros in
Babylon wird dieser Vorgang ganz im Sinn der Geschichtstheologie der Marduktradition als
souveränes Handeln des obersten babylonischen Gottes verstanden: „Kyros, den König von
Anschan, berief er, zur Herrschaft über das ganze All sprach er seinen Namen aus ... (....) Er
befahl ihm, nach seinen Stadt Babel zu gehen und er ließ ihn den Weg nach Babel
einschlagen. Gleich einem Freunde und Genossen ging er an seiner Seite ... Ohne Kampf und
Schlacht ließ er ihn in seiner Stadt Babel einziehen.“.19 Nach Albani entstand diese
propersische Reformulierung babylonischer Geschichtstheologie bereits in den letzten Jahren
vor dem Ende der von den Priestern Marduks ungeliebten Herrschaft Nabonids. „Dtjes schloß
sich offenbar dieser propersischen Propaganda aus den Kreisen der Mardukpriesterschaft an
13
So bedient sich Marduk des neuassyrischen Herrschers Asarhaddon und JHWH des persischen Regenten
Kyros.
14
TUAT I, 407.
15
So folgert treffend Albani, Der eine Gott, 89.
16
So argumentiert noch R. Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit 2, ATD.E 8/2,
Göttingen 1992, 437: „Vor allem fehlt in der babylonisch-assyrischen Religion der positive religiöse Rückbezug
auf nationale Katastrophen“. Dies läßt sich genauso wenig als Proprium der alttestamentlichen Überlieferung
festhalten wie die Differenz zwischen Einzelereignissen bzw. –epochen bei Marduk versus Kontinuität oder Plan
JHWHS.
17
R. Kittel, Cyrus und Deuterojesaja, ZAW 18, 1898, 149-162.
18
Besonders deutlich fallen die Parallelen zwischen Jes 45,1-7 und den Z. 10-17 (TUAT I, 408) aus. Kyros wird
jeweils namentlich angesprochen und von der Gottheit bei der Hand ergriffen. Ihm wird die Weltherrschaft
übertragen, was sich zunächst in der Zusage des Sieges über die Feinde, sprich: Babylon konkretisiert. Wobei
der Kyroszylinder ausdrücklich den friedlichen Einzug in die Stadt Babel, „ohne Kampf und Schlacht“ festhält
(Z. 17).
19
Auszug aus Z. 12-17 (TUAT I, 408).
3
und erwartete von Kyros das Ende der Gefangenschaft.“20 Unterstellt man dies, so geriet der
Prophet und seine Kreise damit in einen doppelten Gegensatz - politisch gegenüber der
Marduktheologie eines Nabonid: Sie verstand den „Knecht Marduks“, Kyros, als von der
Gottheit gesandten Verbündeten gegen die Meder. Mit seiner Hilfe solle Nabonid seine Pläne
zum Wiederaufbau des Mondheiligtums Echulchul in Harran, durch Marduk legitimiert,
verwirklichen.21 Theologisch positioniert er sich gegen die propersische Mardukpriesterschaft: Mit ihr stimmt er zwar in der politischen Logik überein, bestreitet aber die
theologische Rückführung der weltpolitischen Umwälzungen auf Marduk.
Gerade angesichts der Unterschiedlichkeit springen die konzeptionellen Übereinstimmungen
zwischen den Geschichtstheologien ins Auge. Der eine höchste Gott Marduk und der einzige
Gott JHWH werden in großer Parallelität als Herren der Geschichte vorgestellt. Nur die
Proklamation JHWHs als einziger Gott im Sinne eines erstmals formulierten Ein-GottGlaubens, wie wir sie in den Prophetien der dtjes Grundschrift finden, unterscheidet die
Theologien.22 Allerdings werden die Konsequenzen dieses Ein-Gott-Glaubens in der
Grundschrift zunächst kaum entfaltet.23 Man gewinnt vielmehr anhand der Gerichtsreden und
des darin geführten Weissagungsbeweises gerade auf Grund der weitgehenden Analogien
zum babylonischen Material den Eindruck, daß unter Zuhilfenahme des alten polytheistisch
geprägten Sprach- und Vorstellungsgutes eine neue Sicht auf JHWH in Worte gefaßt werden
soll, ohne daß Sprache und Motive selbst bereits dem Neuen angemessen wären.24 Es bestätigt
sich dabei erneut die von Albrektson in seiner Untersuchung „History and the Gods“
20
Albani, Der eine Gott, 96. Auffällig ist dabei die Diskrepanz zwischen der – jedenfalls im Kyroszylinder –
festgehaltenen friedlichen Einnahme Babylons, die auch vor 538 v. Chr. als Zukunftshoffnung jedenfalls aus der
Perspektive babylonischer Bewohner und Priesterschaft wünschenswert und in der theologischen Logik einer
Befreiung der Marduk-Stadt durch den Knecht Marduks erwartbar ist, und der etwa in Jes 47 gewaltsam
gedachten Entmachtung Babylons. Der Kyroszylinder formuliert allerdings erkennbar aus der Retrospektive,
während für Jes 47 üblicherweise eine Ansetzung vor 538 v. Chr. angenommen wird. Die relative Chronologie
der neueren redaktionsgeschichtlichen Entwürfe wirft dabei allerdings neue Fragen auf – vgl. Anm. 26.
21
So nach dem Traum der Nabonidinschrift, vgl. TUAT II, 493-496, bes. 494f.
22
In diesem Sinne markiert auch Albani, Der eine Gott, 90, die Differenz.
23
Albani, Der eine Gott, 102-122, bes. 107-113, versucht eine Deutung von Jes 47, die den babylonischen Streit
zwischen Nabonid und der Mardukpriesterschaft in der Endphase des Reiches als Hintergrund annimmt. Dtjes
setze „der langwierigen Gelehrtendiskussion aufgrund der komplizierten Omenwissenschaft“ (112) den einen
Willen JHWHs entgegen. Damit wäre implizit das prae eines monotheistischen Glaubens mit ins Spiel gebracht.
„Der Wille des einzig wirklichen Gottes läßt sich nicht aus allerlei Vorzeichen im irdischen oder himmlischen
Bereich zu jeder beliebigen Zeit ablesen oder sogar noch in seine Zielrichtung ablenken (namburbi).“ (114f.)
Selbst wenn man die Richtigkeit dieser Auslegung unterstellt, bleibt die Bedeutung der Einzigkeit Gottes in Jes
47 selbst ausgesprochen marginal bzw. hintergründig.
24
Der gleiche Befund zeigt sich etwa auch in Jes 43,10, wenn dort mittels der zutiefst polytheistischen
Vorstellung der Theogenese die Einzigkeit JHWHs als Gott ausgesagt wird.
4
formulierte Einsicht: „In this domain, as in so many others, the Old Testament faith is
expressed in categories of thought common to the entire ancient Near East.“25
Zwei divergierenden Ansprüche stehen sich gegenüber, die Marduk (Bel), sei es im Sinne
Nabonids oder im Sinn der Mardukpriesterschaft, und JHWH als Ankünder und Wirkmacht
hinter Kyros benennen. Sowohl bei Nabonid als auch in den dtjes Texten werden
Erwartungen formuliert, die durch die faktischen Ereignisse des Jahres 538 v. Chr. korrigiert
werden mußten. Nabonid wurde durch den vermeintlich zu seiner Hilfe herbeigeholten Kyros
entmachtet. Und die JHWH-Verehrer erlebten nach 538 v. Chr. weder ein zerstörtes Babylon
noch einen ohnmächtigen Marduk. Der Herrscher der neuen Weltmacht präsentierte sich
vielmehr als erster Diener der alten babylonischen Gottheit. So ließ sich noch die Niederlage
des neubabylonischen Reiches als eine Bestätigung der universalen Macht Marduks
verstehen. Die prophetische Verkündigung unter den Exilierten stand damit vor neuen
Herausforderungen, wollte sie nicht resignieren. Im Ergebnis erweisen sich diese
Infragestellungen der frühen dtjes Verkündigung26 als movens der Entstehung des
Prophetenbuches „Deuterojesaja“. Dabei wirkte sich die Aufnahme der kultischen Traditionen
von der Thronbesteigung JHWHs auf dem Zion und seiner Königsherrschaft besonders
gravierend aus. Sie prägen das Gesicht der mit Jes 40-52* vorliegende Prophetenschrift.27 Im
Medium prophetischer Ankündigung wird die Rückkehr des königlichen JHWH auf seinen
Thron in Jerusalem in Szene gesetzt. Somit rücken der König JHWH und sein königliches
Zion ins Zentrum, währenddessen Kyros nur noch eine Rolle unter anderen zukommt.28 Als
vermittelnde Repräsentanten der Gottesherrschaft dominieren nunmehr die antagonistischen
Frauengestalten Babel und Zion. Die Eroberung und Entmachtung Babylons steht dabei noch
bevor und wird von JHWH selbst und nicht von Kyros erwartet (Jes 42,13; 43,3f.; 43,14f.;
47*; 51,9ff.17ff. und 52,1ff., bes. 52,7-10).29 Mit einem mythisch gezeichneten, universalen
25
Albrektson, History , 97.
Die Mehrheit der Ausleger versteht darunter die mündliche Verkündigung des unbekannten Propheten
und/oder die dtjes Grundschrift in Jes 40-48* bzw. 40-52* - vgl. die Literatur in Anm. 27f. Ob wir vor 538 v.
Chr. überhaupt schriftliche dtjes Prophetenworte anzunehmen haben, ist mit Chr. Levin, Das Alte Testament,
München 2001, 85-90, bes. 87, erneut zu bedenken.
27
Die bei Hermission, Kratz und van Oorschot vorliegenden Gesamtthesen kennen in leicht variierendem
Umfang und Akzentsetzungen eine solche dtjes Buchausgabe – vgl. die kritische Übersicht bei H.Leene, Auf der
Suche nach einem redaktionskritischen Modell für Jesaja 40-55, ThLZ 121 (1996), 804-818.
28
J. van Oorschot, Von Babel zum Zion. eine literarkritische und redaktionsgeschichtliche Untersuchung,
BZAW 206, Berlin und New York 1993, 171f., und in vergleichbarer Richtung R.G. Kratz, Kyros im
Deuterojesaja-Buch. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zu Entstehung und Theologie von Jesaja 40-55,
FAT 1, Tübingen 1991, 170f.: „Dementsprechend richtet sich die Hoffnung (mit Kyros als Anfang, aber in der
Folge ohne irdischen Repräsentanten) zunächst auf die Thronbesteigung des göttlichen Weltenkönigs Jhwh in
Jerusalem“. (171)
29
Die aufgelisteten Worte gehören zur zionstheologischen Schicht des Buches – van Oorschot, Babel, 59ff.,
106ff., 128ff., 152ff. und 345.
26
5
Hoffnungsbild30 tritt die prophetische Schrift der offenen und unklaren Situation nach dem
Herrschaftsantritt des Kyros als „Knecht Marduks“ in Babylon entgegen. Die Hoffnung auf
den einen Gott, der planvoll31 in der Geschichte handelt, hat sich gewandelt.
II
Schuld, Geschichte und der eine Gott
Es soll nicht der letzte Wandel einer prophetischen Geschichtstheologie bleiben, die im
weiteren Verlauf der Entwicklung nicht nur durch die Geschehnisse bzw. durch
konkurrierende Ansprüche herausgefordert wird. Der spätdtjes Abschnitt, Jes 48,1-11*32, der
in diesem redaktionsgeschichtlichem Stadium als einziger auf Sprache und Motivik des
frühen Weissagungsbeweises zurückgreift, entwickelt die Ansätze des Ein-Gott-Glaubens an
den Geschichtslenker JHWH weiter, indem er sich der bleibenden Schuldverfallenheit Israels
stellt.
Der Abschnitt selbst existierte nie als prophetischer Einzeltext, sondern gehörte schon primär
in einen größeren literarischen Zusammenhang.33 Darauf weist die parallele Adressierung in
48,1 und 48,12 sowie die komplexe Verwobenheit mit dem Kontext.34 Darüber hinaus wurde
schon seit langem auf die Bezüge zu Worten aus dem Ezechiel35- und Jeremiabuch36
aufmerksam gemacht. Dies gab immer wieder Anlaß die dtjes Verfasserschaft in Frage zu
stellen, wobei seit Bernhard Duhm meist der Versuch unternommen wurde, einen dtjes
Grundtext von sekundären Erweiterungen zu unterscheiden. Mittlerweile wurde jedoch
Aussagen zur Feindvernichtung, die im Zusammenhang mit Kyros gemacht werden, bleiben allgemein und
zielen nicht konkret auf Babylon – Jes 41,2f.; 41,25; 45,2f. Einzig 43,14 stellt hier eine gewisse Ausnahme dar.
Somit ergibt sich eine Lektüre, die in Kyros das Werkzeug auch bei der Beseitigung Babylons erkennt, vor allem
aus der Komposition des vorliegenden Buches und nicht aus den Einzellogien. Eine derartige Lesung war jedoch
erst seit Dareios I. und seiner Eroberung Babylons, dem kyros redivivus sozusagen, auch historisch plausibel.
30
JHWH tritt als Krieger (40,10; 52,10) und als Sieger im Chaoskampf auf (Jes 51,9f.)
31
Kratz, Kyros, 163 Anm. 587, und 172-174, deutet die neue Vorstellung einer „Heilsgeschichte nach Gottes
Plan“ (173) mehrfach an.
32
Die neueren Arbeiten von Hermisson, Kratz und van Oorschot sehen in diesem Abschnitt allesamt eine spätere
Ergänzung zum Dtjes-Buch.
33
So u.a. mit H.-J. Hermisson, Deuterojesaja, BKAT XI/9, Neukirchen-Vluyn 1992, 207f.
34
Dazu gehört die Aufnahme der „Jakob/Israel“ Anrede in V.1a, der Rekurs auf den sogenannten
Weissagungsbeweis mit seiner entsprechenden Terminologie in V.3aα, die Kenntnis der Götzenbilderschicht
(V.5b) sowie von Motiven der Ebed-Jahwe-Lieder (V.1bβ – vgl. 42,3b; V.8aβ – vgl. 50,5aα und V.8b – vgl.
49,1b.5aα). Im Detail finden sich weitere Bezugnahme, die eine subtile Kontextverknüpfung zeigen: 48,1 mit
48,12; 48,1 mit 47,8; 48,3 („plötzlich“) mit 47,11; ‫ ארק‬in 48,1.8 mit 47,1.5 und 48,12 – um nur einige zu nennen.
35
Ez 20,9.14.22 und 36,22.36 vgl. mit V.8 und 9-11 – so mit H.-Chr. Schmitt, Prophetie und Schultheologie,
ZAW 91 (1979), 54, und Hermisson, Deuterojesaja, 213 und 243-245.
36
Jer 4,2 vgl. mit Jes 48,1b sowie Jer 6,27-30 mit Jes 48,10 – dazu Hermisson, Deuterojesaja, 247f.
6
mehrfach nachgewiesen, daß die Reduktion von Jes 48,1-11 auf ein Heilswort, das
konsequent alle Elemente der Scheltrede (V.4.5b.7b.8-10) eliminiert, nur um den Preis einer
letztlichen Zerstörung des Textes erreichbar ist.37 Die kritischen Einsprüche gegen Israel
gehören konstitutiv zu seinem Grundbestand38, der demnach als einheitlich anzusehen ist und
einer späteren Fortschreibung innerhalb des Deuterojesajabuches zugehört.39
48,1
2
3
4
5
6
7
8
Hört dies, Haus Jakob,
die sich nennen mit dem Namen Israel und aus dem Leib40 Judas hervorgingen
die schwören beim Namen Jahwes und den Gott Israels preisen,
nicht in Wahrheit und nicht in Rechtschaffenheit.
Ja, nach der heiligen Stadt nennen sie sich und auf den Gott Israels stützen sie sich,
Jahwe Zebaoth ist sein Name.
Die früheren Dinge tat ich vormals kund,
und aus meinem Mund gingen sie hervor, daß ich sie hören ließ.
Plötzlich handelte ich, da trafen sie ein.
Weil ich wußte, daß du halsstarrig bist
und eiserne Sehne dein Nacken und deine Stirn ehern,
tat ich es dir kund vormals, bevor es eintraf, ließ ich es dich hören,
damit du nicht sagst: Mein Götze hat sie getan
und mein Schnitzbild und mein Gußbild hat sie angeordnet.
Du hörtest – sieh41 es alles!
Und ihr – tut ihr es nicht kund?
Ich lasse dich neue Dinge hören von jetzt an, verborgene, die du nicht kanntest.
Jetzt werden sie geschaffen und nicht vormals,
und vor dem Tag hast du sie nicht gehört,
damit du nicht sagt: Siehe, ich kannte sie.
Weder hast du gehört noch hast du erkannt noch ward dein Ohr vormals geöffnet,
denn ich wußte: du bist ganz und gar treulos,
37
Hermisson, Deuterojesaja, 209-211, und van Oorschot, Babel, 301-303.
Hermisson, Deuterojesaja, 211, erwägt eine sekundäre Ergänzung in V.5b und V.7b, van Oorschot, Babel,
303-305, in V.1bβ.2.7b und V.9f. Übereinstimmend wird V.11aα als Glosse angesprochen.
39
Hermisson, Deuterojesaja, 214f., ordnet ihn in seiner Naherwartungsschicht zu, Kratz, Kyros, 207, der EbedIsrael-Schicht, und van Oorschot, Babel, 305-306 und 308-311, in seinem stärker differenzierten
Redaktionsmodell der dritten Bearbeitungsschicht (R³) der beiden grundlegenden Buchausgaben. Leene, Modell,
816f., versteht Jes 48 im Horizont von Jes 42,1-9, als „eine spätere Zufügung in eine ältere Phase des Textes“
(815).
Hermisson, Deuterojesaja, 214 und 225f., relativiert mit einer These zur Leseabsicht des Redaktors die
redaktionsgeschichtliche und historische Einordnung des Abschnitts. Der Vf. nehme den Standort Dtjes’s ein,
obwohl er später schreibe, ohne daß „eine bestimmte zeitgeschichtliche Situation vor Augen steht, sondern das
nachexilische Israel grundsätzlich auf seine Lage vor Gott angesprochen wird.“ (214).
40
Da weder die Deutung des masoretischen Textes (“von den Wassern“) noch die Versiones einen
befriedigenden Sinn ergeben, ist mit einer Vielzahl von Auslegern zu konjizieren: ‫ע מּמוּ‬P‫ י‬- vgl. ausführlich
Hermission, Deuterojesaja, 202.
41
Mit Hermission, Deuterojesaja, Deuterojesaja, 204, sind die zahlreichen Veränderungsvorschlage des
masoretischen Textes als unnötig abzuweisen.
38
7
und „Abtrünniger von Mutterleib“ wirst du genannt.
9
10
11
Um meines Namens willen halte ich meinen Zorn hin.
Und um meines Ruhmes willen verschone ich dich, dich nicht zu vertilgen.
Siehe, ich habe dich geschmolzen, doch nicht zu Silber,
habe dich geprüft im Schmelzofen des Elends.
Um meinetwillen, um meinetwillen handle ich,
- denn wie wird er entweiht und meine Ehre gebe ich keinem anderen.
Die klare Struktur mit Einleitung (V.1-2) und einem dreigliedrigen Hauptteil42 hebt die
Schwerpunkte und das inhaltliche Gefälle des Abschnitts deutlich hervor. Ein umfänglicher
Einleitungsteil kennzeichnet zunächst die Adressaten, wobei schon dabei der kritische
Unterton anklingt.43 Die Charakterisierung Israels nimmt einen erheblichen Raum ein und
stellt, wie wir sehen werden, den Anlaß dar, um erneut auf JHWH als den Herrn der
Weltgeschicke zu sprechen zu kommen.
Wem gilt das prophetische Wort? Mit dem Verweis auf das „Haus Jakob“ und den „Namen
Israel“ wird die Tradition der Erzväter bemüht, wie wir sie aus der Grundschicht des DtjesBuches kennen, die wiederum auf die jahwistische Ursprungserzählung Judas mit ihren
Vätergestalten zurückgreift. Expliziert wird die ehrenvolle Verankerung der Adressaten durch
deren Schwur beim Namen Jahwes. Im Hintergrund steht die mit Dtn 6,13; 10,20 und Jer 4,2
sowie Zeph 1,544 zum Bekenntnis erhobene Bezugnahme auf JHWH als dem Garanten des
Schwurs.45 Israel soll bei ihm schwören und „nicht anderen Göttern nachgehen“ (Dtn 6,14).
Auf diese Weise lobt es den Gott Israels (V.1aβ). Genau das geschieht, ausweislich des
Prophetenwortes, allerdings „nicht in Wahrheit und Gerechtigkeit“. Somit tut sich eine Kluft
zwischen göttlichem Handeln und menschlicher Reaktion auf. JHWH kommt seinem Volk
mit „Gerechtigkeit“ und d.h. mit seinem Heil entgegen, wie die vorgegebenen Prophetenworte
nicht müde werden zu betonen.46 Das Volk selbst jedoch verweigert eine entsprechende
Antwort .‫ה ק ד צ@ב‬Hier deutet sich erstmalig das Grundproblem unseres Abschnitts an:
Der in der Geschichte für sein Volk handelnde Gott trifft auf ein sich verweigerndes Volk.
42
I – Weissagung und Tun des „Früheren“ V.3-6a; II – Weissagung und Tun des „Neuen“ V.6b-8; III –
Zielstellung im „Neuen“ V.9-11.
43
Innerhalb des direkten Kontextes unterstreicht die vergleichbare Anrede Babels in 47,8 diesen Ton. Zugleich
findet sich die Konstruktion eines pluralischen Aufmerksamkeitsrufes mit der deiktischen Partikel ‫ ת אז‬häufig
als Einleitung einer Streit- oder Scheltrede (Am 8,4; Hos 5,1; Mi 3,9; Jer 5,21; Jl 1,2; und Hi 34,16).
44
Damit tritt der Schwur deuteronomistisch annähernd gleichrangig neben den Dienst für und die Furcht vor
JHWH – vgl. insgesamt I.Kottsieper, Art. ‫ב שׁ‬p‫ע‬, ThWAT VII, 974-1000, bes. 980f.
45
Die dtjes Grundschrift erwartet ein derartiges Bekenntnis nach Jes 45,23 perspektivisch von allen
Erdbewohnern.
46
Vgl. Jes 45,8; 45,23 und respondierend 45,24a.25; 46,12f. und in Variation zum Thema auch in späteren
Texten: 51,6.8; 54,14.17; 56,1; 58,2; 59,9.14.16f.; 60,17; 61,10f.; 63,1; 64,5.
8
Die göttliche Stiftung von ‫הקדצ‬stößt ins Leere, weil sie nicht auf Vertrauen trifft. Der
rechtfertigende, Gerechtigkeit verleihende Gott findet damit keine Aufnahme, kein Vertrauen.
Gerät JHWH damit an die Grenzen des von ihm Gestaltbaren? Wird damit die Souveränität
Gottes in Frage gestellt?
Ein Nachfahre unseres prophetischen Ergänzers versucht den Zwiespalt durch eine ethische
Ermahnung mit anschließendem Umkehrruf zu schließen: „Wahrt Recht und schafft
Gerechtigkeit (‫)הקדצ‬, denn meine Rettung naht zu kommen und meine Gerechtigkeit (‫)הקדצ‬
sich zu enthüllen.“ (Jes 56,1) Die Israeliten sollen tun, was Gott geben wird. So kann man
etwas zugespitzt die Doppelaussage fassen. Und berücksichtigt man noch die logische
Struktur, so wird gesagt: Weil Gott seine Gerechtigkeit sichtbar werden lassen wird, sollen die
Israeliten sich gemeinschaftstreu verhalten. Die ethische Mahnung dient demnach der
Ausrichtung der Adressaten auf Gottes Erscheinen bzw. auf das Erscheinen der Gerechtigkeit
Gottes. Wir haben es im Grunde mit einer adventlichen Struktur zu tun. Der Mensch wird zur
Vorbereitung auf Gottes Kommen gerufen, in dem er in seinem Tun bereits die praesentia dei
antizipiert. Das zugesagte Gottesverhältnis steuert damit das gegenwärtige Zusammenleben
im Gottesvolk. Teilt der Verfasser unseres Abschnitts einen derartigen ethischen Optimismus,
wie er hier eingebettet in eine Heilsbotschaft zu hören ist?47
Die explikativ angeschlossene48 Verknüpfung der Adressaten mit der „heiligen Stadt“
Jerusalem (Jes 52,1) und ihrem Gott, auf den sie sich „stützen“, bezieht nun die
königszeitliche Tempeltheologie mitsamt ihrer zionstheologischen Fortführung aus Jes 4052* ebenfalls mit ein. Folgt man dem Duktus von V.1 her, so gerät auch dieses nach außen
hochgehaltene Bekenntnis ins Zwielicht. Im Buch folgt damit auf Kapitel 47 mit 48,1ff. „der
Babel-Kritik eine Israel-Kritik“49. Nachdem die große prophetische Abrechnung mit der
Hybris Babels vorgenommen wurde, beginnt der prophetische Verfasser den Abschluß der
Teilkomposition Jes 40-48 ausgerechnet mit dem Blick auf das beharrlich vertrauenslose
Gottesvolk.
Der sich anschließende Rückblick auf die Logik der bisherigen Verkündigung mit V.3-6a
liegt nun nahe. Im Modus der Vergangenheit und konfrontiert mit dem Wissen Gottes (V.4a)
kommt der prophetische Verfasser auf die übernommene dtjes Geschichtstheologie zu
47
Der gegenüber Jes 56,1-8 teilweise in christlicher Auslegung begegnende Vorwurf, hier werde eine
Werkgerechtigkeit vertreten (u.a. Duhm HAT, Jesaja4, 1922, 419), verfehlt die Ermahnung, die eine
grundlegende Heilszusage voraussetzt.
48
Zur Diskussion um die Partikel ‫ י@כּ‬vgl. Hermisson, Deuterojesaja, 221f.
49
Hermisson, Deuterojesaja, 223.
9
sprechen. Prophetische Ankündigung ging den Geschehnissen voraus, so daß sie – und hier
meldet sich die gegenüber der bisherigen Rede neue Einsicht – nicht für fremde Götter,
sprich: Götzen reklamiert werden konnten. Und: Der die Taten ansagte, schuf ihnen dann
auch „plötzlich“ Wirklichkeit, ganz so plötzlich wie Unheil und Verwüstung über Babylon
kam (47,11). Die prophetischen Ansagen erreichten das Ohr der Adressaten. Sie sahen all dies
(48,6aα), ohne daß sie darüber zu Zeugen des einzigen Gottes wurden (V.6aβ). So lautet der
ernüchternde Rückblick, der mit seiner Anspielung auf Jes 47,11 und auf das, was es für die
Angesprochenen nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen gab. Letzteres setzt
naheliegenderweise sowohl die Zeit des Kyros als auch die (erst unter Dareios erfolgende)
Eroberung Babylons im Zusammenhang der Niederschlagung der Aufstände 522/521 v. Chr.
voraus.50
Was kann und soll nun angesichts dieser Situation an „Neuem“ folgen? Auf diese Frage läuft
der Abschnitt in V.6b-8 und 9-11 zu. Er beantwortet sie nun erstaunlicherweise nicht, indem
er inhaltliche Aussagen zu Gottes neuem Handeln macht.51 Ganz offensichtlich setzt der Text
eine entsprechende Kenntnis voraus, wie sie für den Leser des Buches durch 42,9 und 43,19
möglich ist. Dementsprechend erwartet unser Abschnitt (immer noch) die heilvolle Befreiung
der Gola und ihren wundervollen Zug durch die Wüste. Der Einzug des Kyros in Babylon 538
v. Chr. nebst den folgenden Ereignissen und auch die Vertrauenslosigkeit Israels geben
keinen Anlaß zu einer inhaltlichen Neubestimmung. Weder in den Verfasserkreisen noch
unter den Adressaten scheint die Orientierung an einer Heilsbotschaft strittig.52
50
Auch nach Hermisson, Deuterojesaja, 235, liegen „die Anfangserfolge des Kyros“, „auch die Eroberung
Babylons“ schon in der Vergangenheit. Trotzdem neutralisiert er die Bedeutung dieses geschichtlichen
Horizontes, wenn er „plötzlich“ im Sinn eines theologischen Allgemeinplatzes versteht: Die Ankündigung
göttlicher Machttaten „ändert ja nichts daran, daß ihre geschichtliche Realisierung für den Menschen
überraschend kommt.“ (226) oder: „Sie ereignet sich >>plötzlich<<, weil für den Menschen ein Jahwehandeln
immer überraschend kommt“. (228) Wenn er für eine grundsätzlich-zeitunabhängige Deutung darauf verweist,
daß der Redaktor „den Standort Dtjes’s bezieht“ (226), wenn er die ihm vorliegende prophetische Überlieferung
aufnehme, so gilt dies für alle Bestandteile des Dtjes-Buches, die redaktionsgeschichtlich jünger als die
Grundschrift sind. Die Aufnahme etwa eines Kyroswortes allein steht dabei jedoch nicht als Indiz für eine
überzeitliche Intention. Vielmehr löst die Nennung des ehemaligen persischen Herrschers die Suche nach dem
gegenwärtigen kyros redivivus aus, der sich etwa in der Person eines Dareios I. mühelos finden ließe.
51
Eine knappe Übersicht zu Deutungsversuchen gibt Hermisson, Deuterojesaja, 234f.
52
Duhm, Das Buch Jesaja, beklagt mit Blick auf diese inhaltliche Übereinstimmung der früheren und jetzigen
Ansagen eine Unlogik im Text: „Jahve hat seine Weissagungen längst gegeben, um zu verhüten, dass Israel
seine Thaten >>seinem Götzenbild<< zuschreibe, und er hat sie nicht früher gegeben, damit Israel nicht sagen
könne, es habe schon alles gewusst.“ (323) Hermisson, Deuterojesaja, 234, hält dem entgegen, daß es sich um
verschiedene Weissagungen handle, frühere Gerichtsankündigungen und neue Heilsansagen. Damit ist das
Problem jedoch nicht wirklich beseitigt, da Duhm insofern Recht zu geben ist, daß bereits in 43,16-21 das Neue
entsprechend der Logik des Weissagungsbeweises angesagt wurde und es nun in 48,1-11 als „verborgen“ (48,6b)
vorgestellt wird.
Dieser Widerspruch löst sich nur auf, wenn man die neue und klare Unterscheidung zweier Phasen göttlichen
Handelns ernst nimmt. Der Einschnitt trennt Verkündigung und Erfahrungsbereich der primären dtjes Prophetie
10
Umstritten und somit einer Aussage wert ist jedoch die Art und Weise des göttlichen
Handelns. An diesem Punkt widerspricht Jes 48 klar der früheren Vorgehensweise, die sich in
den Bahnen des Weissagungsbeweises bewegte. Nunmehr verabschiedet der göttliche
Geschichtslenkers sich von der gewohnten Weise prophetischer Ankündigung. Der parallele
Aufbau von V.3-6a und V.6b-8 unterstreicht diese Abkehr.53 Galt in der bisherigen Phase
„Ich tat es dir vormals kund,
bevor es eintraf, ließ ich es dich hören,
damit du nicht sagst: Mein Götze hat sie getan“ (V.5),
so heißt es nun
„Jetzt werden sie geschaffen und nicht vormals,
und vor dem Tag hast du sie nicht gehört,
damit du nicht sagt: Siehe, ich kannte sie.“ (V.7).
Ganz offensichtlich zieht der Verfasser die Konsequenz aus der Wirkungslosigkeit des
Weissagungsbeweises. Nach Jes 43,8-13 bestand dessen Aufgabe darin, aus einem „blinde(n)
Volk“ und aus „Tauben“ (V.8) Zeugen für JHWH zu machen (V.10). Das gewandelte
Gottesvolk sollte ihn als den einzigen Gott vertrauensvoll anerkennen und darin zugleich
seinen Heilswillen erkennen (V.11f.).54 Eben dieses Vertrauen auf die universale
Geschichtsmacht JHWHs hat sich nicht eingestellt. Knapp aber drastisch wurde dies bereits in
der Vorstellung des Gottesvolkes vermerkt. Mit Verweis auf das, was Gott erkannt hat
(V.4.8), bringt es der erste und zweite Hauptteil zum Ausdruck. Die Verse greifen dabei auf
geprägte Sprache aus dem deuteronomisch-deuteronomistischen sowie aus dem prophetischen
Bereich (Ezechiel- und Jeremiabuch) zurück. Unbelehrbar widerständig, den Schein-Göttern
und dem Selbst-Ruhm verfallen – so kennt JHWH das Gottesvolk. Unser Abschnitt formuliert
dabei eine grundlegende ekklesiologische55 bzw. anthropologische Einsicht. Biographisch
formuliert es V.8: „von Mutterleib Abtrünniger“. Untrennbar gehört der Hang zum Bruch56
mit JHWH zum Gottesvolk. Und im Rückblick auf die jüngste Phase der dtjes
von derjenigen der jetzigen Leser. Die damaligen Erwartungen gegenüber Kyros gehören der Vergangenheit an
und haben weder nachhaltiges Gottvertrauen hervorgebracht, noch haben sie sich ungebrochen in den
geschichtlichen Abläufen wiederfinden lassen. Die neue Heilsbotschaft kann zwar an sie anknüpfen, muß dies
aber in einer veränderten geschichtlichen Situation und unter den Bedingungen einer gewandelten Sicht auf die
Adressaten. Heilsansage damals und heute unterscheiden sich damit gravierend – auch wenn es sich weiterhin
um Heil für ein Israel unter dem Exilsgeschick handelt.
53
Hermisson, Deuterojesaja, 209, skizziert die parallelen Elemente.
54
Zur Zielrichtung der auf die Adressaten selbst angelegten Gerichtsreden vgl. ausführlicher van Oorschot,
Babel, 33-38.
55
Der Begriff steht für die Dimension der Rede von Gottes Volk – vgl. P. D. Hanson, Das berufene Volk.
Entstehen und Wachsen der Gemeinde in der Bibel, Neukirchen-Vluyn 1993.
56
Vgl. R. Knierim, Artikel ‫עש`פ‬, THAT II, 488-495, bes. 493.
11
Heilsverkündigung konstatiert der prophetische Verfasser von Jes 48,1ff. an einer auch
kompositionell wichtigen Stelle des Buches57 die Machtlosigkeit der argumentativen
Geschichtstheologie seiner Vorgänger. Der prophetischen Zukunftsansage und -deutung
mißlang die innere Erschließung der Menschen für den geschichtsmächtigen Gott und seine
Taten. Der Optimismus der dtjes Grundschicht weicht einer ekklesiologischen und
anthropologischen Skepsis, die ihre Parallele im spät-dtr Prophetenbild hat.58 Prophetie
erreicht weder als theologisch argumentatives noch als mahnendes Medium die
Tiefenstrukturen des Menschen. Sie vermag ihn nicht nachhaltig zu verändern. Diese Einsicht
hält der Prophet fest, in dem er in V.3-6a und V.6b-8 zwei Phasen der Wirksamkeit Gottes
einander gegenüberstellt. Damit wird das Gottesvolk auf seine Neigung zur Selbst- und
Gottesverfehlung festgelegt – oder wie Hermisson es mit Blick auf den Weissagungsbeweis
formuliert: „Weil sie das >>Frühere<< nicht hören wollten, darum können sie das „Neue“
nicht hören, denn es kann ihnen nicht verkündigt werden.“59
Die neue Aufgabe der Prophetie besteht zunächst darin diese Spannung zwischen
Selbstanspruch und prophetisch gedeuteter Wirklichkeit, zwischen Fremdbild und Selbstbild
des Gottesvolkes offenzulegen. Die Textstruktur markiert dies kunstvoll durch die Inklusion
der Aussagen mit ‫ארק‬, die mit V.1 („sich nennen mit dem Namen Israel“) und V.8
(„>>Abtrünniger von Mutterleib<< wirst du genannt“) das Ganze umschließen. Wir werden
im weiteren zu fragen haben, ob aus der Sicht des Verfassers eine Auflösung dieser
Grundspannung möglich ist.
Zunächst bleibt jedoch mit Blick den dritten Abschnitt des Hauptteils in V.9-11 die theologische Konsequenz zu besehen. Das Wissen um den Menschen steuert nicht nur die
Heilszueignung, sondern führt auch zu einer anderen Begründung des göttlichen Heilswillens.
Er wird nun ganz in Gott selbst verankert und somit in umfassender Weise bedingungslos.
Nicht nur seine Verursachung liegt abseits menschlicher Einwirkung60 sondern auch seine
Durchführung und die benannte Zielstellung. Gottes Handeln wird von Israel und seiner
57
Unabhängig von der redaktionsgeschichtlichen Auswertung der Beobachtungen wird seit langem der relative
Einschnitt nach Kap. 48 zusammen mit den zahlreichen Eigenheiten der Buchteile Jes 40-48 und 49-52 vermerkt
– vgl. U. Berges, Das Buch jesaja. Komposition und Endgestalt, HBS 16, Freiburg u.a. 1998, 15-24 und 325333.
58
Die Umkehrpredigt der Propheten führt zu keiner durchgreifenden Änderung auf Seiten Israels. Der Gehorsam
gegenüber der Tora stellt sich nicht ein. An einigen Stellen wird daraus die Konsequenz gezogen, nun die
Verankerung der Tora im „Herz“ der Menschen von Gott selbst zu erwarten. Er werde sie in ihr Herz schreiben
bzw. ihr Herz entsprechend wandeln (Jer 31,31-34; Ez 11,19f.; 36,26f.) – dazu Chr. Levin, Die Verheißung des
neuen Bundes in ihrem theologiegeschichtlichen Zusammenhang ausgelegt, FRLANT 137, Göttingen 1985.
59
Hermisson, Deuterojesaja, 240.
60
Diese Form von Unbedingtheit findet sich schon in der dtjes Grundschrift – vgl. etwa die Heilsworte in Jes
41,8-13; 14-16; 43,1-7* u.ö.
12
Reaktion unabhängig. Der Herr der Geschichte läßt sich auch durch die Widerständigkeit und
Selbstverweigerung des Gottesvolkes nicht einschränken. Das monotheistische Gottesbild
entwickelt sich, konfrontiert mit der Einsicht in die radikale Schuldverfallenheit Israels, zu
einer konsequent theozentrischen Heils- und Geschichtstheologie. JHWHs Heil wird nicht nur
grundlos zugesprochen. Der Zuspruch wird vielmehr trotz Widerspruch aufrechterhalten.
Die doppelte Aussagenreihe in V.9 und 11 läßt dabei zwei große Traditionen anklingen, die
dem Leser bekannt sein dürften. Mit dem Stichwort ‫( דוֹוב כ‬V.11b) wird auf die vorexilische
Tempeltheologie Judas sowie deren priester(schrift)liche Reformulierung unter den
Bedingungen des Exilsgeschicks61 und mit der Rede vom ‫ש‬P‫ ם‬Gottes auf die dtr.
Namenstheologie angespielt.62 Erneut belegt der Abschnitt damit seinen weiten Horizont, in
dem er nicht allein die frühe dtjes Prophetie fortschreibt, sondern sie mit Impulsen anderer
Überlieferungskreise denkend und verkündigend verknüpft. Inhaltlich geben die Schlußverse
nun den Grund für das „jetzt“ bevorstehende Heilshandeln an. Er liegt nach beiden Aussagen
allein in Gott. JHWH hält an sich selbst und d.h. seiner universalen (42,10.12) und
konkurrenzlosen Herrschaft (42,8) fest. JHWH beharrt auf sich wider alle Beharrlichkeit von
Gottesvolk und Mensch. Deshalb wird er Israel nicht „ausrotten“, sondern sich langmütig63
erweisen. Die Vernichtung bleibt aus, weil Gott seine Ehre nun selbst schützt. Erneutes und
angesichts des schuldverfallenen Israel immer erneut nötiges Richten würde den Gott dieses
Volkes bleibend dem Verdacht aussetzen, ohnmächtig zu sein. Die kultische Sprache der
Sachparallelen aus dem Ez-Buch formuliert entsprechend: Sein Name würde vor den Augen
der Völker „entweiht“ (Ez 20,9.14.22; 36,22). Der Herr der Geschichte handelt nun
unabhängig von den Taten Israels, um dies zu vermeiden.64 In Ps 115 findet sich dieser
Gedanke in der einleitenden Aufforderung der Beter an Gott gerichtet:
61
Zur königszeitlichen Ausprägung vgl. H. Spieckermann, Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen,
FRLANT 148, Göttingen 1989, 165-179 und 220-225, sowie zur Wiederaufnahme der Rede in
priesterschriftlichem Kontext T.N.D. Mettinger, The Dethronement of Sabaoth. Studies in Shem and Kabod
Theologies, CB.OT 18, Lund 1982.
62
Die Belege zu den Wendungen „um meinetwillen“ oder „um meines/deines Namens willen“ führen in das
Umfeld dtn oder dtr Abschnitte – vgl. die Zusammenstellung bei Hermisson, Deuterojesaja, 242f., mit weiterer
Literatur. Unserem Text kommen besonders die Parallelen in Ez 20,9.14.22 und 36,22 nahe.
63
Zum vergleichsweise jungen traditionsgeschichtlichen Umfeld des Motivs von der Langmut Gottes vgl. die
Stellen bei Hermisson, Deuterojesaja, 244f. Wenn dort mit Jer 15,15 ein Vers aus den Konfessionen Jeremias als
ältester Beleg angeführt wird, müßte eine spätvorexilische Ansetzung dieser Rede angesichts der Diskussion um
die zeitliche Einordnung der Konfessionen erneut besehen werden – vgl. K.-F. Pohlmann, Die Ferne Gottes.
Studien zum Jeremiabuch. Beiträge zu den >>Konfessionen<< im Jeremiabuch und ein Versuch zur Frage nach
den Anfängen der Jeremiatradition, BZAW 179, Berlin und New York 1989.
64
In ähnlicher Weise reagiert der Abschluß der Fluterzählung auf die bleibende Verderbtheit der Menschheit –
vgl. die theologische Deutung der Flutgeschichte in Gen 8,20-22, einem Abschnitt, den Chr. Levin, Der Jahwist,
FRLANT 157, Göttingen 1993, 103-109, mit der opinio communis dem Jahwisten zuordnet, während R. G.
13
„Nicht uns, JHWH, nicht uns, sondern deinem Namen gib Ehre!
Warum sollen die Völker sagen: >>Wo ist denn ihr Gott?<<“ (V.1a.2)
Mit dieser Konsequenz verbindet Jes 48,1ff. zugleich das Scheitern einer göttlichen Erziehung
qua Gerichtshandeln. In V.10 wird dies ausdrücklich festgehalten. Die mehrdeutige
Formulierung ‫ ףסכב אלו‬erhält ihre Eindeutigkeit durch den Kontext sowie durch den
traditionsgeschichtlichen Hintergrund: Die Läuterung führte „nicht zu Silber“, blieb also
erfolglos.65 So knapp die Aussage ist, so weitreichend ihre Konsequenz. Zukünftiges Richten
Gottes scheint damit ausgeschlossen und zwar gerade weil es permanent einen Anlaß für die
Bestrafung und Erziehung Israels gibt. Denn diese Art der Pädagogik erwies sich als
untauglich. Aus der Geschichte zog man weder in der akuten Situation noch im Nachhinein
tragfähige Lehren. Die Parallele in Jer 6,30 schließt daraus, daß Israel verworfen sei.
Hermisson erwägt, ob mit dem nachfolgenden ‫ רחב‬in V.10b eine doppeldeutige Anspielung
„prüfen/erwählen“ vorliege, so daß auch ein positiver Nebenton mitschwinge.66 Unterstützend
läßt sich dazu die anhaltende Heilsverkündigung im Dtjes-Buch ins Feld führen67.
Läßt sich ein solch aufhellender Nebenton auch für den Gesamthorizont des Abschnitts
wahrscheinlich machen? Liefern die Kontextbezüge dazu plausible Argumente? Inwieweit
sind etwa Aussagen des Jer- und Ez-Buches einzutragen, wenn es um das Israel- oder
Menschenbild des Abschnitts geht? In der Sache steht damit infrage, ob es für diese Schicht
der prophetischen Verkündigung die Erwartung einer Besserung Israels bzw. einer
Neuschöpfung des Gottesvolkes gibt. Vor allem in letzterem Sinn wird von verschiedenen
Auslegern immer wieder argumentiert, etwa unter Eintrag von Vorstellungen aus Ez 36. Eine
„Reinigung und Wandlung Israels als göttliche(r) Tat“ sei „letzten Endes auch hier
vorausgesetzt“.68
Umgekehrt läßt sich unter Verweis auf den dtjes Kontext argumentieren. So spielt der
Abschnitt, wie bereits dargestellt69, mehrfach auf die Ebed-Jahwe-Lieder an. Der somit
kollektiv verstandene Knecht aus Jes 42,1-4, 49,1-6 und 50,4-9 erscheint als eine Art
Kratz, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments, UTB 2157, Göttingen 2000, 261f. zu den
nachjahwistischen und nachpriesterlichen Zusätzen rechnet.
65
V.11 wiederholt unverändert V.9. Auch weiterhin gilt alternativlos, daß Gott sich gezwungen sieht,
ausschließlich auf sein Eigeninteresse zu achten und gerade deshalb Heil für sein Volk zu schaffen. Zugleich
finden sich im Motiv- und Traditionsumfeld zahlreiche Belege, die entsprechend von einer gescheiterten
Läuterung sprechen – vgl. Jes 1,22; Ez 22,17-22 (Ez 24,11f.); Jer 6,29f.) – ausführlich dazu Hermisson,
Deuterojesaja, 245-248.
66
Hermisson, Deuterojesaja, 248f.
67
Vgl. etwa Jes 41,9 und 49,7.
68
Hermisson, Deuterojesaja, 243 – vgl. auch ebd. 236 und 253.
69
S.o. Anm. 34.
14
Gegenfigur zu dem von Ursprung her verderbten Israel. Wie ist dieses Gegenüber zu
verstehen? Der Einzeltext selbst und auch die Komposition des vorliegenden Buches beläßt
an dieser Stelle einen großen Interpretationsspielraum. Soll man mit Kratz70 die Aussagen in
Jes 48,1-11 faktisch so weit hinter sich lassen, daß Israel „durch Einhaltung der Gebote
gemehrt (48,17-19), zum Verkündigen bereit (48,20) und als „Ebed Jhwh“ vollständig im
Land versammelt (49,1-13) hervorgeht.“? Damit blieben die Einsichten zur radikalen
Schuldverfallenheit Episode, wären jedenfalls in der Grundsätzlichkeit, mit der sie formuliert
sind, nicht aufgenommen.71 Historisierend könnte man hier eine andere Gruppe innerhalb
Israels am Werk sehen, die mit ihrer Dominanz die Hoffnung auf einen grundlegenden
Neuanfang verbindet.72 Allerdings entsteht schon nach Jes 48,17-19 zwar eine zukünftige
Option neuen Gehorsams, deren faktische Realisierung nach den Erfahrungen in
Vergangenheit und Gegenwart jedoch eher fragwürdig bleiben.73 Daß der stärker
pessimistische Grundton auch für diesen und weitere Abschnitte in Jes 56-66 gilt, darauf
weist schon die klar theozentrische Ausrichtung hin. JHWH wird in 48,17 zum Lehrer, so wie
es in 48,1-11* allein JHWH ist, der gegen sein Volk Heil bewirkt. Die theologische
Vermittlung zwischen den beiden Israelbildern, die uns in 48,1ff. und in den Ebed-Texten
begegnen, erfolgt theozentrisch. Beide Gestaltgebungen werden durch die Rede von der
Herrschaft Gottes gerahmt, die gerade in den späteren Schichten des Dtjes-Buches
zunehmend der Konsequenzen des Ein-Gott-Glaubens ansichtig wird. So ergibt sich
zusammenfassend erneut die Frage: Wie erscheint JHWH als Herr der Geschichte?
III
Gott und Mensch - an Grenzen
Fokussieren wir abschließend den in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlichen Abschnitt in Jes
48, so gelingt eine Momentaufnahme in der Selbstverständigung des noch jungen Ein-GottGlaubens, der sich seiner selbst bewußt wird. In einer geschichtlich unanschaulichen Weise
70
Kratz, Kyros, 116
Hermisson, Deuterojesaja, 253, versucht den grundsätzlichen Charakter der Aussagen dadurch zu bewahren,
daß er in ihnen von einem „Israel aller Zeiten“ gesprochen sieht. Ein Reden vom Standort Dtjes’s her sei hier
verknüpft mit einer Anrede der Zeitgenossen, die 539 v. Chr. bereits erlebt haben und doch neu auf das Heil
warten sollen.
72
Diese Interpretation ließe sich mit einer entsprechend kollektiven Ebed-Deutung schon der ursprünglichen
Ebed-Jahwe-Lieder verbinden, die der Kontext selbst naheliegt und die expressis verbis Jes 49,3 vornimmt. In
der Forschung wurde sie u.a. von Wellhausen, Budde, Robinson, Kaiser, Baltzer, Melugin, Michel und van
Oorschot vertreten.
73
Hermission, Deuterojesaja, 294-296, erwägt die Zugehörigkeit von Jes 48,17-19 zu einer gegenüber 48,1-11*
späteren, stärker dtr beeinflußten Schicht.
71
15
ist dabei von der Wirksamkeit des Geschichtsherrn JHWH die Rede. Wenn er im „Jetzt“ des
Augenblicks plötzlich spricht und zugleich Wirklichkeit setzt (48,6b.7a), so fallen in diesem
schöpferischen Tun Reden und Handeln zusammen. In dem nun monotheistischen Rahmen
eines gebrochen-mythischen Denkens74 entsteht damit eine Analogie zu altorientalischen
Vorstellungen vom schöpferischen Gotteswort.75 Die Rede von Gott wird dabei an eine
Grenze geführt, herausgefordert durch Grenzerfahrungen des Volkes und der Menschen
Gottes. Denn nur in dieser Kontrapunktik läßt sich die Vorstellung JHWHs deus creator et
iustificans (48,9.11) verstehen. Auf die Welt der Menschen einwirkend, entkoppelt er sich
doch von ihr. Die Verweigerung Israels, die als bleibende Neigung zur Sünde festgehalten
wird, provoziert die unbedingte Heilsansage des alleinwirksamen Gottes. Dabei bezieht sich
die Unbedingtheit nicht mehr allein auf die Verursachung des heilvollen Handelns. Sie
schließt auch die (ausbleibende) Folgewirkung mit ein. JHWH wird zu einem auf sich selbst
bezogenen Gott. Auf diese Weise beharrt der alleinige Akteur auf seiner Freiheit auch
gegenüber der re-actio des Gottesvolkes. Das menschliche Agieren auf dem Feld der
Geschichte wird damit zumindest soteriologisch belanglos. Der Mensch erwies sich letztlich
als restistent gegenüber allen Aufklärungs- und Erziehungsversuchen. Die Geschichte eignet
sich letztlich nicht als Lernfeld. Diese Skepsis bleibt selbst dann erhalten, wenn Gott sich
offenbarungstheologisch selbst als Lehrer bereit findet (48,17.18f.). Die Menschen in Gestalt
des Gottesvolkes verbleiben geneigt zur Sünde, so daß weder ihre Gesinnung noch ihr Tun
Grundlage heil- und damit lebensvoller Wirkung sein kann. Die Schuldverfallenheit der
Menschen treibt die Rede von Gott zu einer Grenzaussage: Um seiner selbst willen ist Gott
Herr der Geschichte und Schöpfer des Heils.
Die Möglichkeiten des Mißbrauchs liegen auf der Hand. So droht damit das menschliche Tun
und Lassen gleich-gültig zu werden, wird ihm doch Heil zugesprochen, ohne zur Antwort
herausgefordert zu werden – eine soteriologisch legitimierte Verantwortungslosigkeit.
Tendenziell droht diese theozentrische Geschichtstheologie jeder Ethik den Boden zu
entziehen. Zur Veranschaulichung mag ein Blick auf spätere apokalyptische Konzeptionen
dienen, die im Antagonismus von gegenwärtigem Äon und zukünftiger Herrschaft Gottes die
jetzige Geschichte dem Bösen preisgegeben sehen. Allein eine Minderheit von Frommen
bleibt auf das Gute und den Gotteswillen ansprechbar.
74
Zur Kennzeichnung dieser Eigenart biblischen Denkens vgl. schon F. Gogarten, Die Verkündigung Jesu
Christi. Grundlagen und Aufgabe, Heidelberg 1948, 447-453, und O. Kaiser, Der Mythos als Grenzaussage, in:
J. Jeremias (Hg.), Gerechtigkeit und Leben im hellenistischen Zeitalter, BZAW 296, Berlin und New York 2001,
87-116.
75
Zur älteren Diskussion der Bezüge vgl. W. H. Schmidt, Artikel ‫רבד‬, ThWAT II, Sp. 127f. und 132f.
16
Tendenziell gefährdet diese Geschichtstheologie die Verbindung zwischen Soteriologie und
Weltgestaltung. Gerade die dominante Beanspruchung der Geschichte durch Gott kann den
Weltbezug Gottes fragwürdig machen. Der geschichtsmächtige Gott bleibt mit seinem
Heilswillen allein und innergöttlich auf sich bezogen.76 Wenn diese theo-logische
Konzentration nicht durch eine erneute Einbeziehung des Menschen in die Geschichte Gottes
mit sich selbst entfaltet wird, verfehlt die Geschichtstheologie am Ende ihr Ziel, das in der
Geschichte existierende Gottesvolk mit dem Heil zu erreichen. Will man dementsprechend
Gottesgeschichte und Weltgeschichte nicht bleibend voneinander ablösen, kann Jes 48,1-11*
mit seiner Gestalt einer Geschichtstheologie als konsequenter Soteriologie logisch nur in
ihrem Gegenüber zur bleibenden Schuldverhaftuing des Gottesvolkes und soteriologisch nur
als eine Gestalt der Stellvertretung verstanden werden. Der Schöpfer und Geschichtsherr
bleibt der Gerechtigkeit schaffende gerade auch im Widerstreit mit der Ungerechtigkeit des
Gottesvolkes und seiner Menschen. Er schafft damit selbst, was er fordert – in der Erwartung,
so mag man, unseren Abschnitt überschreitend hinzusetzen, daß seine Gerechtigkeit den
Ungerechten zurecht bringt.
76
Th. Krüger, Geschichtskonzepte im Ezechielbuch, BZAW 180, Berlin und New York 1989, 468, sprich mit
Blick auf die Ezechielstellen von der „>>Selbstbezüglichkeit<< Jahwes“.
17