SWR2 Musikstunde

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
"Ich spiele nicht nur Klavier ..."
Caroline Boissier-Butini und Maria
Szymanowska (1)
Von Ulla Zierau
Sendung:
Montag, 06. Juni 2016
Redaktion:
Ulla Zierau
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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SWR2 Musikstunde mit Ulla Zierau 06.06.2016
"Ich spiele nicht nur Klavier ..."
Komponistinnen (1)
Caroline Boissier-Butini und Maria Szymanowska
Signet
Zu einer neuen Woche begrüßt Sie Ulla Zierau – Und ich möchte Sie gleich um
etwas bitten. Zählen Sie mal - nur für sich - zehn Komponisten der vergangenen
Jahrhunderte auf. Das dürfte kein Problem sein, aber wenn ich Sie nun nach zehn
Komponistinnen frage, könnte es sein, dass Sie nach Clara Schumann und Fanny
Hensel ins Stocken geraten – das wird sich nach dieser Woche vermutlich ändern,
in der ich Ihnen zehn engagierte, talentierte, komponierende Frauen vorstellen
möchte, die alle etwas mehr konnten als nur Klavier spielen und das meist auch
ganz hervorragend. Wir hören interessante Musik, treffen auf spannende
Lebensläufe, harte Schicksale, Kämpfernaturen. Manches ist uns heute noch
vertraut, bei anderen Dingen, sagen wir, das darf doch nicht wahr sein. Herzlich
willkommen zur Musikstunde über Komponistinnen.
Titelmusik
Heute begegnen wir zwei Frauen, die in den 1780er Jahren geboren wurden,
deren Leben einige Parallelen aufweisen, aber dennoch sehr unterschiedlich
verlaufen sind. Die polnische Komponistin Maria Szymanowska, die als Konzertpianistin und Klavierlehrerin als geschiedene Frau und allein erziehende Mutter
ihren Lebensunterhalt verdienen musste und die wohlhabende Schweizerin,
Caroline Boissier-Butini, die mit ihrem Mann unbesorgt nach Paris und London
reisen konnte, um sich einen neuen Flügel zu kaufen und die zu ihren Lebzeiten
das Musikleben ihrer Heimatstadt Genf geprägt hat. Bitten wir sie beide ans
Klavier.
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Musik 1
Caroline Boissier-Butini:
Aus: Variations sur l’air „Dormez mes chers enfants“
Adalberto Maria Riva, hist. Klavier Braschoss-Liszt
Gallo CD 1406, 1’07
Maria Szymanowska: Anglaise Es-dur
Anna Gourari, Klavier
Live beim BR in München
M0014252Z00 BR, 0’36, zusammen: 1‘45
Anna Gourari spielte eine Anglaise von Maria Szymanowska und davor
Adalberto Maria Riva auf einem historischen Kalvier einen Ausschnitt aus
Variationen über das Lied „Dormez mes chers enfants“ von Caroline BoissierButini.
Caroline Butini wird am 2. Mai 1786 als Tochter einer großbürgerlichen Familie in
Genf geboren. Sie selbst behauptet, ihr Vater, ein Arzt, sei ihr wichtigster Mentor
gewesen. Der Großvater, ein passionierter Naturforscher, hält nicht viel von Musik,
diskutiert mit seiner Enkeltochter lieber über religiöse und philosophische Fragen
und unterrichtet sie in naturwissenschaftlichen Fächern. Gerne würde Caroline
Medizin studieren, aber das bleibt ihr damals als Frau in der Schweiz verwehrt.
Mit 20 notiert sie in ihr Tagebuch: „Ich habe ein Drittel meines Lebens der Musik
gewidmet“. Beim wem Butini als junges Mädchen Klavierunterricht nimmt, wissen
wir nicht. Vermutlich bringt sie sich das meiste selbst bei und das mit Erfolg. Schon
als 13-jährige wird sie als beste Pianistin Genfs bezeichnet. Der Vater sei von ihrem
Spiel zu Tränen gerührt gewesen.
Die dänische Schriftstellerin Friedericke Brun-Münter bemerkt: „Diese junge
liebenswürdige Person ist mit vierzehn Jahren (in Wirklichkeit 16) eine der stärksten
Klavierspielerinnen, und ihr Vortrag ist äußerst glänzend.“
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Musik 2:
Caroline Boissier-Butini:
Rondo aus der Klaviersonate Nr.1
Babette Dorn, Klavier
Gallo CD 1277, 4‘10
Das Rondo aus der ersten Klaviersonate von Caroline Boissier-Butini, gespielt von
Babette Dorn.
Liest man in Carolines Tagebüchern, die sie ein Leben lang führt, war sie mit ihrer
musikalischen Erziehung nicht immer eins. „Verfluchte Musik, der ich die
schönsten Jahre meiner Jugend gewidmet habe. (…) Sie hat mich mit Wucht in
eine Welt geworfen, die ich hasse. Ich mag sie so wenig, dass ich gar nicht mehr
musizieren würde, wäre da nicht meine Vernunft, die mir zu unterhalten gebietet,
was ich mit so großer Mühe erlernt habe.“, schreibt sie mit Anfang 20 und fügt
hinzu; „sollte ich eines Tages ein Kind erziehen müssen, wird dieses keine Musik
lernen“.
Was bewegt Caroline Boissier- Butini zu solchen Äußerungen? Ein Aufbegehren,
war sie mit ihrem Leben unzufrieden, hätte sie die Musik gerne professioneller
betrieben oder etwa überhaupt nicht? Ihre Tochter unterrichtet sie später im
Klavierspiel und schreibt ihr eine Sonatine als Übungsstück.
Musik 3
Caroline Boissier-Butini:
Sonatine Nr.1 dediée à Melle Valérie Boissier
Edoardo Torbianelli, Klavier
Gallo CD 1418, 1’10
Edoardo Torbianelli auf einem Broadwood-pianoforte, ein ähnliches Instrument
hat Caroline Boissier-Butini selbst besessen. Das war die Sonatine Nr.1 dediée à
Melle Valérie Boissier von der Mutter für die Tochter komponiert.
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Als junges Mädchen und heranwachsende Frau tritt Caroline in Genfer Salons
und privaten Konzerten auf. Ein bisschen wird sie als Wunderkind gehandelt, aber
im Unterschied zu den Mozarts oder Clara Wieck geht es nicht um Kommerz,
sondern allein um die Kunst. Musik als Plaisir.
In einem Artikel der Allgemeinen Musikalischen Zeitung über das Genfer
Musikleben wird Caroline Butini erwähnt. Ihre Werke werden kritisiert, die meisten
ihrer Stücke seien „leer an Gedanken und Gefühl“, allein ein Divertissement wird
hervorgehoben.
Gelobt hingegen wird ihr Klavierspiel: eine „bey Frauen gewiss seltene, nur durch
beharrlichen Fleiß erreichbare Energie und Präzision“.
Möchte Caroline Pianistin werden?
Aus dem erträumten Medizinstudium wird nichts, aus einer Solistenkarriere auch
nicht, das schickt sich nicht für eine Tochter aus gut-bürgerlichem Hause. Was
bleibt, ist die Ehe. Mit 22 Jahren wird Caroline von ihren Eltern verheiratet, anders
kann man es nicht sagen. Sie suchen ohne Zutun der Tochter einen geeigneten
Mann heraus, damals nicht unüblich.
Der Sohn der Bankiersfamilie Boissier soll es sein, Auguste, zwei Jahre älter als
Caroline. Kontakt knüpfen die Familien über das gemeinsame Musizieren.
Auguste Boissier spielt Geige, gar nicht schlecht, abends sitzt er in der Société de
musique in Genf am Pult der zweiten Geigen.
Die Musik verbindet die beiden, von Liebe ist zunächst keine Spur. Und dann funkt
es doch ein wenig. Caroline schätzt Augustes Offenheit, seinen Optimismus und
vor allem seine Toleranz. Er hat überhaupt nichts dagegen, dass sich seine
talentierte Frau als Musikern und Komponistin weiterbildet. So gesehen dann
doch ein optimaler Partner.
Den Sommer verbringt das junge Ehepaar im Waadlandt. Das Leben auf dem
Land ist kurzweilig, gegenseitige Einladungen, Sommerfeste, Hausmusik. Caroline
notiert: „Nach dem Tee begab man sich auf mein Zimmer, wo ich Italienisches
und Französisch sang, bevor ich mich kräftig ins Pedal legte und ein paar Stücke
aus meiner Feder spielte, die ihre Wirkung nicht verfehlten.“
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Als junge Ehefrau komponiert Caroline Boissier-Butini weiter, außerdem tritt sie in
privaten und halb-öffentlichen Konzerten der Société de musique de Genève
auf, manchmal vor 500 Zuschauern, immer unentgeltlich. Und sie spielt
leidenschaftlich gern Orgel. Am liebsten würde sie an der Genfer Kathedrale
Titularorganistin werden, gesteht sei ihren Eltern und schreibt gleich ein Stück für
Orgel.
Musik 4
Caroline Boissier-Butini:
Orgelstück
Nicoletta Paraschivescu, Orgel
Gallo CD 1277, 5’20
Nicoletta Paraschivescu mit Thema und Variationen über ein patriotisches
Schweizer Volkslied von Caroline Boissier-Butini, die gerne Organistin geworden
wäre.
Zusammen mit ihrem Mann reist Caroline 1818 nach Paris, nicht wegen der
neusten Mode. Nein, Caroline will sich einen neuen Flügel kaufen und sie will in
das Theater- und Musikleben eintauchen.
Nach einer Aufführung von Mozarts Figaro schreibt sie in ihr Tagebuch:
„Die Musik von Mozart ist ein Genuss. Die Ouvertüre begann wie eine zarte Wolke
und wurde mit äußerster Geschwindigkeit gespielt. Das Zusammenspiel war
vollkommen, wie von einem einzigen Instrument, das Crescendo begann im
Pianissimo, steigerte sich schrittweise zum Fortissimo, wie ein prächtiges Gewitter.
Jede Note wurde mit Lebendigkeit und Akkuratesse wiedergegeben, (…) Das ist
Musik, das ist Begeisterung! Nie zuvor habe ich empfunden, wie ich gestern
empfand. (…) Man hatte den Eindruck, dass Mozarts Geist all diese Musiker
belebte und ihr Zusammenspiel leitete“.
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Musik 5
Wolfgang Amadeus Mozart:
Figaro Ouvertüre
SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg / Sylvain Cambreling
M0006744 001, 4‘18
Das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter der Leitung von
Sylvain Cambreling mit der Figaro-Ouvertüre von Mozart.
Die Boissiers besuchen in Paris Theater und Oper. Caroline tritt in den
einschlägigen Salons als Pianistin auf. Beeindruckt ist sie von der Begegnung mit
der gleichaltrigen Marie Bigot.
Die Beiden spielen sich gegenseitig vor und Caroline meint: „Sie erfühlt die Musik,
sie deklamiert sie, sie musiziert jeden Takt mit Ausdruck, sie verleiht jeder Note
Leben, sie spielt mit Zartgefühl, nicht mit Kraft“. Caroline ist davon überzeugt: „ich
würde gewinnen, wenn ich sie in verschiedener Hinsicht nachahmte“.
Selbstkritisch denkt sie über ihr Spiel nach, hört sich immer wieder andere
Pianisten an und kommt zu der Erkenntnis: „Ich bin eine stärkere Clavierspielerin
als die Pariserinnen und Pariser. Meine Finger sind präziser, schneller und brillanter.
Es würde mir bei öffentlichen Auftritten aber an Selbstsicherheit fehlen und die
Nervosität würde dreiviertel meines Könnens zu Nichte machen.“
Caroline stellt gleich mehrere Anforderungen an sich, sie müsse improvisieren,
präludieren, variieren lernen, gedruckte Musik der besten Meister spielen. „Ich
muss einen Stil entwickeln, eine eigene Spielweise. Ich finde, dass man sich hier
mehr der augenblicklichen Eingebung überlässt, und dass man davon mehr hat
als in Genf“.
Mit anderen Worten, Caroline möchte sich perfektionieren und mehr
Individualität erlangen. Wir erinnern uns, ursprünglich sind die Boissiers nach Paris
gereist, um einen Flügel zu kaufen, doch Caroline findet kein passendes
Instrument. Über 100 Klaviere probiert sie aus, ohne Erfolg. Einmal bemängelt sie
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den Klang, dann die trägen Tasten. Selbst ein Klavier aus dem Hause Pleyel, das
ihr vom renommierten Klavierbauer als Leihgabe ins Hotel geschickt wird,
bezeichnet sie als „Klimperkiste“.
Also geht die Reise weiter nach London, auf der Suche nach einem perfekten
Flügel.
Bei der Überquerung des Ärmelkanals leidet Caroline Höllenqualen. „Ein etwas
stärkerer Windstoß und wir werden sinken (…) ich verwünsche die Stunde, in der
ich den Plan zu dieser verdammten Londonreise gefasst habe.“, jammert sie.
Dann endlich wieder festen Boden unter den Füßen und Carolines Erleichterung:
„Es regnet, wir sind durchnässt, aber wir leben, und alles erscheint uns delightfull.“
In London gehen der Kulturmarathon und die Klaviersuche weiter:
Und siehe da, innerhalb von drei Tagen findet Caroline einen sechs Oktaven
großen Broadwood. Das Instrument ist leider verschollen, aber wir wissen, wie
dieser Broadwood in etwa geklungen haben mag. Beethoven hat ein solches
Instrument besessen, das steht heute im Nationalmuseum Budapest. Und die
folgende Aufnahme ist auch auf einem Broadwood-Flügel entstanden.
Musik 6
Caroline Boissier-Butini:
Caprice sur l’air d’une ballade écossaise
Edoardo Torbianelli, Klavier
Gallo CD 1418, 3’28
Caroline Boissier-Butinis Caprice sur l’air d’une ballade écossaise. Edoardo
Torbianelli spielte einen Ausschnitt auf einem Broadwood-Flügel, solch einen
Flügel haben die Boissiers in London gekauft.
Was hat Caroline Butini mit Anfang 20 gesagt, „sollte ich eines Tages ein Kind
erziehen müssen, wird dieses keine Musik lernen“. Ein paar Jahre später hat sie
zwei Kinder, Edmond und die drei Jahre jüngere Valérie.
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Interessant ist, dass der Sohn Edmond eine klassische Ausbildung erhält mit
Studium und Bildungsreise nach Italien, während die Tochter zu Haus bleibt. Sie
wird von Privatlehrern unterrichtet und was das Musizieren angeht, hat die Mutter
klare Vorstellungen. „Es gilt ihr schönes musikalisches Talent zu kultivieren, es wird
sie glücklich machen und ihren Ehemann und ihre Freunde erfreuen. Es wird (…)
ihre Freizeit verschönern, aber es wäre schädlich, sie zu oft vor Publikum spielen
zu lassen und würde ihr den Ruf einer oberflächlichen und gesellschaftssüchtigen
Tochter bescheren.“
Keine öffentlichen Konzerte, Musizieren nur mit Dilettanten oder befreundeten
Künstlern. Aber immerhin nimmt sie Klavierstunden bei Franz Liszt. Der junge
Virtuose unterrichtet die Tochter Valérie, da schaut die Mutter sicher über die
Schulter. Ab und an spielt Caroline auch Werke von Liszt, ebenso von Scarlatti,
Händel, Bach, Haydn, Mozart, auch Zeitgenössisches von Beethoven, Field,
Weber, Meyerbeer, Berlioz. Und sie komponiert gefällige Bravourstücke,
Romanzen, Variationen, Kammermusik für drei bis fünf Instrumente,
Klavierkonzerte.
Leben muss sie von ihrer Musik nicht. Einer Konkurrenz muss sie sich nicht stellen.
Auf Einnahmen ist sie nicht angewiesen und so spielt sie auch nur in Konzerten,
die für das Publikum gratis sind.
Gerne hätte sie ihre Werke in einem Pariser Verlag veröffentlicht, nicht des
Geldes, sondern des Renommees und der Bekanntheit wegen, doch dazu
kommt es nicht. Lange bleibt Boissier-Butinis Leben und Werk im Verborgenen.
Seit einigen Jahren wird es erforscht. Es gibt eine Dissertation über sie und das
Genfer Musikleben und beim Schweizer Lable Gallo sind einige Werke
eingespielt, auch das Klavierkonzert Nr.6 „La Suisse“. Den Namen wählt die
Komponistin selbst, weil sie sich von Schweizer Volksweisen inspirieren ließ, im
zweiten Satz sind wir mit einem Kuhreigen mitten auf der Alm.
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Musik 7
Caroline Boissier-Butini
Klavierkonzert Nr.6, 2. Satz;
Eva-Maria Zimmermann, Regula Küffer /Berner Kammerorchester / Matthias Kuhn
Gallo CD 1277, ca. 4‘00
Das Andantino aus dem Klavierkonzert Nr.6 mit obligater Flöte „La Suisse“ von
Caroline Boissier-Butini mit Eva-Maria Zimmermann, Regula Küffer und dem Berner
Kammerorchester unter der Leitung von Matthias Kuhn.
Den Schritt in die Professionalität hat Caroline Boissier-Butini nicht gewagt, nicht
gewollt, nicht gesucht. Die Polin Maria Szymanowska, geborene Wolowska war
hingegen eine der ersten professionellen Pianistinnen Europas, drei Jahre jünger
als Caroline Boissier-Butini, 1789 in Warschau geboren, 30 Jahre vor Clara
Schumann.
Sie stammt aus einer großbürgerlichen, jüdischen Familie, weltoffen, intellektuell.
In ihrem Elternhaus verkehren Künstler, Komponisten aus ganz Europa, Ferdinand
Paër, Franz Xaver Mozart, die Geiger Pierre Rode und Karol Lipiński, der Pianist
August Klengel. Oft wird musiziert, am Klavier, Kammermusik oder gesungen, die
Kinder mitten drin.
Das Talent der Tochter sticht bald hervor. Maria will Pianistin werden. Mit Anfang
zwanzig reist sie mit zwei Geschwistern für ein halbes Jahr nach Paris. Der Direktor
des Pariser Konservatoriums Luigi Cherubini besucht eines ihrer Konzerte und
widmet ihr seine C-dur Fantasie. Alles sieht viel versprechend aus.
Doch wieder zurück in Warschau, heiratet Maria den Gutsbesitzer Jozef
Szymanowski, der macht ihr einen dicken Strich durch ihre Karriere. Jozef hält gar
nichts von ihren Auftritten, untersagt sie und stellt ganz andere Anforderungen an
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seine Ehefrau. Bittere Zeiten für Maria bis sie sich nach zehn Jahren Ehe zur
Scheidung durchringt. Mutig, unkonventionell, ein Wagnis.
Fortan steht Maria Szymanowska auf eigenen Beinen. Sie kümmert sich wieder
um ihre Pianistenkarriere. Kein leichter Schritt für eine Mutter von drei Kindern.
Rückhalt findet sie bei den Familien ihrer Geschwister, die sie und ihre drei Kinder
moralisch und finanziell unterstützen. Ihre ersten Konzerte gibt sie in Russland.
(2’00)
Musik 8
Maria Szymanowska:
3 Mazurken
Anna Gourari, Klavier
Live beim BR in München
M0014252Z00 BR, 2‘30
Anna Gourari mit drei Mazurken von Maria Szymanowska.
Als geschiedene Frau und allein erziehende Mutter von drei Kindern nimmt Maria
ihre Konzertkarriere wieder auf, spielt in Russland, wird in Sankt Petersburg
Hofpianistin des Zaren und plant zusammen mit ihrer Schwester und einem ihrer
Brüder eine Konzerttournee durch Europa: Paris, London, mehrere Städte in
Italien, Maria kommt bis nach Neapel. Allein sechs Monate verbringt sie in
Deutschland, konzertiert in Leipzig, Weimar und Dresden.
Eines der eindrücklichsten Ereignisse auf ihrer Reise ist die Begegnung mit Johann
Wolfgang von Goethe in Marienbad. Goethe fühlt sich von der um 40 Jahre
jüngeren Frau sichtlich angezogen und begeistert sich durch sie für Musik. An
seine Schwiegertochter Ottilie berichtet er:
„Madame Szymanowska, ein weiblicher Hummel mit der leichten polnischen
Facilität, hat mir diese letzten Tage höchst erfreulich gemacht; hinter der
polnischen Liebenswürdigkeit stand das größte Talent.“
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In Weimar begegnen sich die beiden wieder. Zufall? Szymanowska besucht
Goethe angeblich über mehrere Tage nachmittags und abends und Gothe lädt
gleich mehrere Gäste zu diesen Hauskonzerten ein.
Man erzählt, dass zur selben Zeit auch der junge Mendelssohn im Hause Goethe
vorbeischaut, immerhin ist eine Aussage Mendelssohns über die polnische
Pianistin überliefert, wenn auch keine schmeichelhafte: „Die Szymanowska wird
über Hummel gesetzt. Man hat ihr hübsches Gesicht mit ihrem nicht hübschen
Spiel verwechselt“.
Ob Mendelssohn das gesagt hat oder nicht, ob er Szymanowska überhaupt
kennengelernt hat, wer weiß. Den Vergleich mit Hummel nehmen allerdings auch
andere übel. Ein-, zweimal spielt Szymanowska bei den Weimarer Hofkonzerten
und da meint ein Kritiker, es gäbe auch „unbefangene Beurtheiler, die zwar gern
das ausgezeichnete Talent und die nicht gemeine mechanische Geschicklichkeit
der Madame Szymanowska anerkennen, aber doch darüber das Verdienst
anderer Künstler nicht vergessen, die, wie z. B. unser Hummel, in Sicherheit,
Rundung, ja selbst in Nettigkeit und Eleganz höher stehen“, so ein Kritiker über
Szymanowska bei einem Weimarer Hofkonzert.
Goethe bleibt unbeirrt und widmet der Pianistin ein Gedicht: „Aussöhnung“ mit
den Zeilen:
„Da schwebt hervor Musik mit Engelsschwingen, Verflicht zu Millionen Tön um
Töne, Des Menschen Wesen durch und durch zu dringen, Zu überfüllen ihn mit
ew’ger Schöne.“
Schreibt Goethe im Dichtertaumel für Maria Szymanowska.
Eine Goethe Vertonung von Szymanowska habe ich leider nicht gefunden, aber
dafür einen Shakespeare: Desdemonas Lied von der Weide. (2’50)
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Musik 9
Maria Szymanowska:
Lied von der Weide
Rosemarie Bühler-Fey, Mezzosopran
Joachim Draheim, Klavier
M0011640 023, 4‘46
„Lied von der Weide“, eine Romanze von Maria Szymanowska. Rosemarie BühlerFey und Joachim Draheim.
Egal wo sie hinkommt, Paris, London, Mailand, Venedig, Rom, das Publikum ist
begeistert. Aber allein von ihren Auftritten kann Maria Szymanowska nicht leben,
in Paris und London unterrichtet sie regelmäßig. Nach sechs Jahren
internationaler Konzerttätigkeit lässt sie sich in Sankt Petersburg nieder, wo sie in
den russischen Salons verkehrt. Sie gibt Privatstunden, unterrichtet an einer Schule
für adlige Eleven und sie komponiert, das bemerkt auch Robert Schumann:
"Wir haben sie häufig gehört, diese Virtuosin - auch 'weiblicher Field' genannt.
Und - nach diesen Etüden zu urteilen - mit gutem Grund. Solange wir Frauen
loben, wenn sie Etüden spielen, sollten wir dies umso mehr tun, wenn sie sie auch
noch komponieren. Dem Charakter und Erfindung nach, bieten diese die
außergewöhnlichste Qualität, die wir je bei einem weiblichen Komponisten
angetroffen haben." So Robert Schumann.
Maria Szymanowska schreibt Lieder, aber vor Mazurken allem Klaviermusik,
Etüden, Präludien, Tänze, Fantasien, Menuette, und Nocturnes. Mal sind ihre
Stücke virtuos-brillant, mal volkstümlich, mal lyrisch-romantisch. All die
musikalischen Ausdrucksformen, Virtuosität und Technik beherrscht sie im
wahrsten Sinne spielerisch, denn sie komponiert die Stücke für ihre eigenen
Konzerte.
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Und eines hat die Musikforschung inzwischen auch erkannt. Szymanowskas
poetische Klaviersprache hat ihren um 21 Jahre jüngeren Landsmann Frédéric
Chopin beeinflusst. Er hat ihre Werke gekannt und sich von ihnen inspirieren
lassen. Immerhin komponiert Szymanowska rund zwanzig Jahre vor Chopin erste
Mazurken und Nocturnes.
Sie selbst hat sich in erster Linie als polnische Komponistin gesehen. Pianistin und
Lehrerin war sie, um sich und ihre Kinder ernähren zu können.
Noch zu ihren Lebzeiten hat der Musikverlag Breitkopf & Härtel ihre
Kompositionen in sechs Bänden herausgegeben.
Mit nur 42 Jahren stirbt Maria Szymanowska an den Folgen der Cholera, am 25.
Juli 1831 in Sankt Petersburg.
Christine Harnisch spielt hier noch ein zauberhaftes Nocturne von ihr, „Le
murmure“, das Murmeln und wir hören uns morgen wieder, wenn Sie mögen, 9.05
zur SWR2 Musikstunde, dann über Johanna Kinkel und Emilie Mayer –
Bis dahin ade Ihre Ulla Zierau
Musik 10
Maria Szymanowska:
Le murmure, Nocturne As-dur
Christine Harnisch, Klavier
M0021163 005, Aurophon AU031473, 2‘30