Aktuelle Hinweise für Bewerberinnen und Bewerber II. Kohorte des Graduiertenkollegs 1919 Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage: Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln Seit dem Herbst 2013 widmet sich das Essener Graduiertenkolleg „Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage: Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln“ der zentralen Frage, wie Menschen aller Epochen und in verschiedenen Teilen der Welt aktiv mit der Herausforderung umgegangen sind, die die Ungewissheit der Zukunft für sie darstellte. Ausgangspunkt unserer Überlegungen war das in den Sozial- und Geisteswissenschaften verbreitete Postulat, die westliche Moderne habe ein prinzipiell neuartiges Verhältnis zur Kontingenz entwickelt, das sich von den Haltungen in „traditionalen Gesellschaften“ – den älteren bzw. außereuropäischen Zivilisationen – fundamental unterscheide. Das Essener Graduiertenkolleg ist keineswegs angetreten, die Differenz zwischen der westlichen Moderne und anderen Gesellschaften unangemessen anthropologisierend in Abrede zu stellen. Die Frage ist stattdessen, worin Unterschiede zwischen und innerhalb von verschiedenen Gesellschaften bestehen, und ob der Umgang mit Kontingenz die entscheidende Grenzmarkierung bildet, als die sie aktuell im Modernediskurs erscheint. Dass wir nicht wissen können, was die Zukunft bringen wird, gehört zu den Universalien menschlicher Existenz. Die Ideen, die sich Menschen von der Zukunft machen und in der Vergangenheit gemacht haben, gehören zu den klassischen Untersuchungsfeldern der Geisteswissenschaften. So sind innerweltliche Utopien und Jenseitsvorstellungen für alle Epochen und Weltregionen intensiv erforscht worden. Dass sich Menschen einer als unsicher geltenden, oder auch als sicher geglaubten Zukunft aktiv handelnd zuwenden, gehört dagegen eher zu den Selbstbeschreibungen der Moderne, als zu den eingehend untersuchten historischen Problemen. Genau dieses Narrativ, dass sich die westliche Moderne in ihrem Verhältnis zur Kontingenz von allen anderen Gesellschaften grundlegend unterscheide, wird von uns hinterfragt. Das Neuartige unseres Zugangs liegt darin, die Untersuchung von den Zukunftsvorstellungen auf die Ebene der aktiven Haltungen zu verlagern, die die Akteure zur Zukunft einnehmen, und auf die Handlungsoptionen, die diese aktiven Haltungen ermöglichen. Kulturvergleichend und epochenübergreifend wird die Pluralität gesellschaftlicher Möglichkeitshorizonte herausgearbeitet. Wir konzentrieren uns dazu auf die Untersuchung von Situationen oder Konstellationen, in denen Kontingenz die Akteure in einer Weise herausfordert, die in der Perspektive der Betroffenen geeignet ist, die Existenz von größeren sozialen Gruppen oder der gesamten Gesellschaft zu verändern. Die Promotionsvorhaben behandeln – entsprechend den Forschungsschwerpunkten am Historischen Institut in Essen – die Kulturen der griechisch-römischen Antike, des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europas sowie die globalisierte Welt seit dem 18. Jahrhundert. Das Graduiertenkolleg bietet den Kollegiatinnen und Kollegiaten durch seine theoretisch innovative Ausrichtung sowie die epochen- und kulturübergreifende Konzeption eine gleichermaßen methodisch wie theoretisch anspruchsvollen Kontext für ihre Forschung. Das Studienprogramm und die strukturierte Betreuung stellen eine gelungene Hinführung auf relevante Themen und Forschungsdesiderate ebenso sicher wie die wissenschaftliche Weiterqualifizierung und Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt. Die Arbeiten, die in der ersten Bewilligungsphase seit dem Herbst 2013 im Rahmen des GRK 1919 entstanden sind, bestätigen das hohe Anregungspotential der forschungsleitenden Frage nach dem aktiven Umgang mit Kontingenz in verschiedenen Epochen und Weltregionen. Die Forschungsansätze, die vor allem auf die diversen Praktiken im Umgang mit dem Ungewissen zielen, haben sich ebenfalls als tragfähig erwiesen. Entsprechend wird an den grundlegenden Handlungsdimensionen „Vorsorge“, „Voraussicht“ und „Vorhersage“ festgehalten. Die empirischen Arbeiten im Graduiertenkolleg haben sich dabei auf die Schadensabwehr und die Chancennutzung konzentriert, die sich in vielen Kontexten als zusammenhängende, aufeinander verweisende („bipolare“) Problemlagen herausstellten. Gleichzeitig wurden eine Reihe von Erkenntnissen gewonnen, auf deren Basis Fragestellung und Methode des Gesamtvorhabens ständig weiter entwickelt wurden. Wie erwähnt wiesen die Forschungen der ersten Bewilligungsphase einen Schwerpunkt auf Fragen der Prävention auf, also in der Abwehr kontingenter Schäden, die aus der Perspektive der Akteure von „außen“ kamen, die auf exogene Umwelteinflüsse (insb. Naturkatastrophen) zurückzuführen waren. Daneben spielten aber auch Fragen der menschengemachten Kontingenz eine Rolle. In den Kolleg-internen Diskussionen und in Gesprächen mit zahlreichen Gästen, die auf unsere Einladung nach Essen gekommen sind, hat sich eine kleine Zahl von Handlungsfeldern herausgeschält, auf denen durch menschliches Handeln ausgelöste Kontingenz in einem besonderen Maße zur Herausforderung wird. Als besonders virulente „Kontingenzgeneratoren“ sind kriegerische Konflikte, ökonomisches Handeln, auf Entdeckung und neue Erfahrung zielende Mobilität und (wissenschaftliche) Erkenntnissuche zu nennen. Die Arbeiten der Kollegiatinnen und Kollegiaten sollen sich künftig auf diese Felder „menschengemachter“ Kontingenz konzentrieren. Sie sind zum einen als Herausforderungen anzusehen, die aus dem Zusammenleben von Menschen resultieren, zum anderen aber auch als aktive Erweiterung von Möglichkeitsspielräumen. Dagegen wollen wir künftig darauf verzichten, den reaktiven Umgang mit exogenen Bedrohungen zu behandeln, da diese Thematiken vielfach erforscht worden sind. Von besonderem Interesse sind bipolare Problemlagen, in denen sich Akteure als Gestaltende und als Erleidende erleben können. Solchen Strukturen ist eine besondere Dynamik inhärent: Krieg führen und Frieden suchen, in neue Geschäftsfelder investieren und das Bewährte vervollkommnen, Gehen und Bleiben, Erkenntnisse suchen und die Folgen einhegen. In diesen Fällen schafft menschliches Handeln erst Kontingenz, die Folgehandeln herausfordert. Diese Perspektivierung hat den Vorteil, dass sie dem praxeologischen Ansatz des Graduiertenkollegs besonders adäquat erscheint: Es geht um Formen des Streitens, des Wirtschaftens, des Reisens, des Forschens, und ihre sowohl kontingenzgenerierenden als auch kontingenzbewältigenden Seiten. Bei den „Kontigenzgeneratoren“ handelt es sich um gegenständliche und zugleich analytische Kategorien, die Möglichkeiten zur Reflexion der Vielfältigkeit von Zukunftshandeln in transepochaler und transregionaler Perspektive eröffnen. Um es zuzuspitzen: Künftig sollen verstärkt Strategien und Handlungsweisen untersucht werden, die Kontingenzen nicht lediglich als Problem bewältigen, sondern aktiv, vielleicht auch bewusst, Kontingenzen generieren. In dieser Perspektive lässt sich die Suche nach Kontingenz nachgerade als Vorsorgehandeln deuten, indem sie Handlungsspielräume erweitert und die Möglichkeitshorizonte vervielfacht.
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