Diskussion

Thema Flüchtlings­schüler/innen
KOLUMNE
Wann ist eine Flüchtlingspolitik human
und eine Integration erfolgreich?
Seit den schrecklichen Bildern von Flüchtlingslagern an EU-Außengrenzen und der folgenden spontanen
Öffnung der „Grenzbalken“ bestimmt die „Flüchtlingskrise“ wesentlich die mediale Berichterstattung und
den politischen Diskurs. Nun stellt sich die Frage, wie längerfristig der Umgang mit Flüchtlingen und die
damit verknüpfte Integration zu gestalten ist. Von o. Univ.-Prof. Dr. Josef Aff
ISTO CKPHOTO /MARTI N WIMM ER
E
s gibt ein breites Bündnis zwischen der CDU von Bundeskanzlerin Merkel, der deutschen (und teilweise österreichischen)
Sozialdemokratie, den Grünen und in Deutschland ergänzend der „Linken“, wichtiger NGOs im Spektrum zwischen Caritas,
Rotem Kreuz und Volkshilfe sowie der katholischen und evangelischen Kirche, die eine Deutungshoheit beanspruchen, wonach
eine Willkommenskultur die einzig der Menschlichkeit verpflichtete Strategie im Umgang mit Flüchtlingen darstellt. Nur diese, so
lautet die These, vermag europäische Werte wie Humanität und
Rechtsstaatlichkeit angemessen zu berücksichtigen.
Im Kern basiert die Willkommenskultur auf der Überzeugung,
dass quantitative Begrenzungen, etwa in Form von nationalen
Richtwerten, wie sie in Österreich kürzlich beschlossen wurden,
eine europäische Lösung behindern und daher alle Kraft aufgewendet werden sollte, alle EU-Länder, zumindest eine Allianz der
„Willigen“, zu motivieren, Kontingente von Flüchtlingen aufzunehmen. Nach der Vereinbarung mit der Türkei sollen in Zukunft
zumindest 72 000 syrische Flüchtlinge direkt von der Türkei in
diverse europäische Länder „transferiert“ werden – damit wird
für Flüchtlinge eine legale Option erschlossen, ohne Schlepper
in die EU zu kommen. Mit diesem Schritt wird die Hoffnung ver-
16 wissenplus 2–15/16
knüpft, dass dadurch der illegale Flüchtlingsstrom nach Europa
– zumindest über die Ägäis – wirksam begrenzt werden kann.
Bilder der Verzweiflung wie jene an der griechisch-mazedonischen
Grenze in Idomeni werden als Beleg angeführt, dass (nationale)
Begrenzungsstrategien zum Scheitern verurteilt sind und generell
der (humanistischen) Intention, aber auch dem Text der Genfer
Flüchtlingskonvention widersprechen. Die zentrale Zielvorstellung
und Utopie einer humanen und „solidarischen“ Flüchtlingspolitik
der Willkommenskultur wurde kürzlich in einem Beitrag vom österreichischen Schriftsteller Haslinger, der sich seit Jahrzehnten
im Feuilleton großer Tages- und Wochenzeitungen als Sprachrohr
„fortschrittlicher, links-liberaler Gesinnung“ positioniert, in der
Tageszeitung „Die Presse“ skizziert. Demnach sollten internationale Vereinbarungen getroffen werden, die die Aufnahme von Menschen in wohlhabende Länder gewährleistet, damit sie „daheim“
nicht verhungern. Die Toleranz und Diskurskultur Haslingers enden jedoch sehr rasch, wenn man Begrenzungsstrategien befürwortet, denn diesen Kritikern einer Willkommenskultur richtet
er aus, eine „schlichte Abwehrhaltung nationaler Dumpfbacken“
zu vertreten.
Der Auffassung, alle Menschen aufzunehmen, wenn sie
in Not sind, ist aus einer gesinnungsethischen und christlichen Haltung voll zuzustimmen, aus der Sicht einer
Verantwortungsethik, die fordert, (auch) die Folgen von
Handlungen zu berücksichtigen, ist jedoch zu widersprechen. Vielmehr stimme ich dem Historiker Winkler, dem
diesjährigen Träger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung, zu, wenn er betont, dass keine der westlichen
Demokratien in Europa, Nordamerika, Australien und Neuseeland
die Probleme der Länder, aus denen Menschen in Scharen flüchten, auf ihren Territorien lösen können. Wenn man bedenkt, dass
allein in Afrika die Bevölkerung jährlich um rund 30 Millionen
Menschen wächst und in vielen Staaten der Erde eine unheilvolle
Kombination aus
➽ korrupten Eliten und politisch autoritärer Willkürherrschaft,
➽ religiöser und ethischer Intoleranz sowie
➽ extremer sozialer Ungleichheit, vielfach
➽ ergänzt um die negativen Folgen des Klimawandels und/oder
ökologischer Ignoranz
Menschen wenig Lebens- und Beschäftigungsperspektiven eröffnen, dann werden die Grenzen einer reinen Gesinnungsethik mehr
als deutlich.
Realitätsferne?
In der aktuellen Diskussion über Flüchtlinge wird – gerade von
Vertreterinnen und Vertretern der Willkommenskultur – diese
Realität zu wenig berücksichtigt, vielmehr werden nicht einlösbare Hoffnungen geweckt. Die Flüchtlinge, die zu uns kommen,
bilden nur die Spitze eines Eisbergs globalen Elends. Es gibt Millionen von Menschen, die aus nachvollziehbaren Gründen mangelnder Lebensperspektiven und Ernährung in die „Arche Noah“ der
wohlhabenden europäischen Staaten flüchten (wollen). Viele von
diesen potentiellen Elendsflüchtlingen haben jedoch nicht die beträchtlichen Dollarbeträge wie die Flüchtlinge aus Afghanistan,
Syrien etc., die täglich mit Schlepperbooten in Lesbos oder an der
italienischen Küste stranden – deren Elend wird uns täglich in
Form beklemmender Bilder in die Wohnzimmer „transportiert“.
Das Elend der Millionen ohne finanzielle Ressourcen außerhalb
der Scheinwerfer und Kameras – denken wir nur an das Flüchtlingslager mit knapp einer halben Million Menschen in Dadaab in
Kenia oder an die politische und ethnische
Willkür im Süd-Sudan – berührt uns im
Vergleich dazu nur wenig.
Vor diesem Hintergrund ist es ehrlicher zu
sagen, dass in Zukunft in Europa und Österreich nur einer begrenzten Zahl von Schutzsuchenden Beschäftigungs- und Lebenspers-
pektive gegeben werden kann, oder, wie es Freimut Duve
bereits 1993 in einem Beitrag in der Wochenzeitung „Die
Zeit“ formulierte: „Keiner entkommt dem Begrenzungszwang“. Daher wird vom Autor – mit Zähneknirschen
mangels seriöser Alternativen – die Entscheidung der
Bundesregierung zur Begrenzung der Flüchtlingszahlen
unterstützt, weil die Qualität von (finanzierbaren) Integrationsmaßnahmen ganz wesentlich von der Zahl der zu Integrierenden (mit)bestimmt wird.
Differenzierte Diskussion
Ich trete dafür ein, die Diskussion über Asyl- und Flüchtlingsstatus differenzierter zu führen. Beim Recht auf Asyl geht es vor allem um politisch und/oder religiös und ethnisch verfolgte Individuen, nicht um einen kollektiven Anspruch, wie wir ihn bei den
Syrern praktizier(t)en. Für diese Zielgruppe der Asylwerber/innen
soll es keine zahlenmäßige Begrenzung geben. Da Asylberechtigte über einen sehr hohen Schutz mit vielen Ansprüchen verfügen,
weil sie Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern (fast) gleichgestellt
werden, kann dieses Recht nur selektiv – nach individueller Prüfung – vergeben werden. Flucht vor Krieg begründet, wie der
Historiker Baberowski betont, kein Asylrecht, sondern einen Aufenthaltsstatus, wie ihn Österreich und Deutschland den BalkanKriegsflüchtlingen in den 90er-Jahren gewährten. Das ist rechtlich etwas anderes. Wenn nämlich alle Menschen, die vor Krieg
flüchten – denken wir nur an die zahlreichen Kriege in Afrika
–, Asyl erhalten, wird das Asylrecht ad absurdum geführt. Davon
sind illegale und legale Einwanderer zu unterscheiden, die dem
Elend, der Korruption und politischen Willkür der kriminellen
Eliten ihrer Länder zu entkommen trachten.
Wie viele Menschen Österreich und die EU jenseits der politisch
Verfolgten – aus demographischen oder humanitären Aspekten
– aufnimmt, wird wesentlich von den realen Bildungs- und Beschäftigungsoptionen sowie der Akzeptanz der Bevölkerung in
den Aufnahmeländern bestimmt. Es ist arrogant und im Sinne
der Verantwortungsethik geradezu fahrlässig, diese politischen
Rahmenbedingungen zu ignorieren, vor allem, wenn mögliche
Folgen ein weiteres Anwachsen rechtspopulistischer Bewegungen,
ein (mögliches) Zerbrechen der EU oder ein politisch motiviertes
Ignorieren bzw. Kleinreden der Angriffe auf die Pressefreiheit bzw.
generell der wachsend autoritären Politik Erdogan in der Türkei sind. Es wäre notwendig,
in einem europäischen Einwanderungsrecht
den Unterschied zwischen Asyl und (Armuts-)
Migration transparent zu machen, ebenso legale Wege der Einwanderung zu erschließen
Gerade an BMHS gibt
es viele Schüler/innen aus
den Balkanstaaten, die
teilweise zu den Leistungs­
stärksten in den
Klassen zählen.
wissenplus 2–15/16 17
Thema Flüchtlings­schüler/innen
– bei gleichzeitig wirksamer Bekämpfung illegaler Einwanderung.
Lösungen für Krisenländer
Es wäre notwendig,
in einem europäischen
Einwanderungsrecht den
Unterschied zwischen Asyl
und (Armuts-)Migration
transparent zu machen.
Die Losung „Begrenzung“ ist eine notwendige, aber bei weitem keine ausreichende Antwort auf die
wachsenden Flüchtlingsströme nach Europa. Vielmehr gilt es,
die Ursachen vor Ort zu bekämpfen, indem – wie in Syrien –
eine Beendigung der Kriege angestrebt wird. Ganz oben auf der
politischen Agenda der EU sollte die Implementierung eines
umfassenden „Marshallplans für Afrika“ stehen, der neben angemessenen finanziellen Ressourcen umfassende Bildungs- und
(ökonomische) Entwicklungsprojekte umfasst. Ebenso müssten
die reichen Länder selbstkritisch ihre Anteile an der Unterentwicklung anerkennen – der Bogen reicht von ungerechten Handelsbeziehungen, einer Förderung korrupter Eliten, um günstig
Bodenschätze vor Ort auszubeuten, bis zu einer Veränderung des
eigenen Lebensstils der Verschwendung. Ein solches „kontinentales Entwicklungsprojekt“ bedarf einer längerfristig angelegten
Finanzierung wie beispielsweise einer Finanztransaktionssteuer
oder einer weitgehenden Beendigung der legalen Steuerhinterziehungspraxis zahlreicher transnationaler Konzerne sowie struktureller Maßnahmen wie einer Regulierung der Schattenbanken.
Diese Ausführungen verdeutlichen, dass die Frage „Was ist eine
humane Flüchtlingspolitik?“ sehr komplex ist und niemand DIE
Wahrheit – auch nicht die Befürworter einer Willkommenskultur – beanspruchen kann, vielmehr geht es um die Suche nach
(vorläufigen) Wahrheiten.
Ähnlich komplex ist die Beantwortung der Frage, wann eine
erfolgreiche Integration von Menschen mit Migrationshintergrund
vorliegt, wobei bei näherer Betrachtung bereits das Wort Migration
ein facettenreiches begriffliches Aquarell darstellt. Während sich
die Integration der großen Zahl von Flüchtlingen aus Ungarn und
später aus der Tschechoslowakei nach dem Scheitern des Prager
Frühlings als weitgehend problemlos erwies, weil diese Flüchtlinge (weitgehend) die politischen Zielvorstellungen und Werte der
Aufklärung teilten und in der großen Mehrheit über eine solide
Bildungsgrundlage verfügten, stellte die Integration der zahlreichen Flüchtlinge als Folge der Kriege am Balkan zwar eine große
Herausforderung dar, weil diese Flüchtlinge über teilweise geringe
Bildungsgrundlagen verfügten, ebenso über wenig Erfahrung im
Umgang mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Trotzdem gestaltete sich die Integration in Summe erfolgreich. Gerade an BMHS
gibt es viele Schüler/innen aus den Balkanstaaten, die teilweise zu
den Leistungsstärksten in den Klassen zählen. Ähnliches gilt für
die zahlenmäßig ebenfalls hohe (legale) Migration aus den ehemaligen Ländern Osteuropas im Spektrum zwischen Bulgarien, Rumänien und der Slowakei. So zählen zum Beispiel viele Studierende
aus Bulgarien zu den Erfolgreichsten an der WU.
Herausforderung für dritte Generation
Um vieles größer ist die Herausforderung, moslemische Schüler/innen, deren Eltern häufig auch in den Herkunftsländern wie beispielsweise in der Türkei zur Unterschicht zählen und nur über ele-
18 wissenplus 2–15/16
mentare Bildungsgrundlagen sowie über
ein sehr traditionelles Verständnis vom
Islam verfügen, zu integrieren. Wenn
Jugendliche der zweiten oder dritten Generation dieser Zielgruppe beispielsweise
in der 2. Klasse Handelsschule – nach neun bis zehn Jahren „Beschulung“ – Aufsätze in Deutsch verfassen, wo man nur mit viel
Interpretationsakrobatik erahnen kann, was die Schüler/innen
gemeint haben (könnten) – ganz abgesehen von der Rechtschreibung –, dann ist etwas „schiefgegangen“, jedenfalls kann dann
nicht von erfolgreicher Integration gesprochen werden. Vor allem
dann nicht, wenn deren „mentale Software“, vor allem der männlichen moslemischen Schüler, teilweise archaische Denkmuster widerspiegelt, beispielsweise wenn sie kein Problem mit der Aussage
haben, dass Männer Frauen schlagen dürfen.
Vor diesem Hintergrund bildet die Integration der in den letzten
Monaten nach Österreich gekommenen rund 100 000 Flüchtlinge
und Migrantinnen/Migranten in den nächsten Jahren eine Herkulesaufgabe – wenn man bedenkt, dass im Jahr 2015 Flüchtlinge
aus Afghanistan die größte Gruppe darstellten. Innerhalb dieser
Gruppe dominieren mit weit mehr als fünfzig Prozent männliche moslemische Jugendliche, die mehrheitlich über eine geringe
Schulbildung verfügen, teilweise handelt es sich um Analphabeten.
Dazu kommt vielfach ein Gesellschafts- und Religionsverständnis, das als restaurativ (Stichwort „Keine Trennung von Kirche
und Staat“) und archaisch („frei von Gedanken der Aufklärung“)
zu bewerten ist – daher werden verpflichtende Deutschkurse,
Werte-Schulungen, Bildungs- und Beschäftigungsprogramme etc.
ausdrücklich befürwortet. All das wird (sehr) viel Geld kosten.
Wenn man bedenkt, dass dem Bildungsministerium (nur) rund
24 Millionen Euro für „Beschulungsmaßnahmen“ zur Verfügung
gestellt werden – und diese nur für 2015 befristet –, dann rückt
die Zielvorstellung einer erfolgreichen Integration in weite Ferne.
Langer Atem
Jedenfalls erfordert eine erfolgreiche Integration einen langen
Atem und erhebliche finanzielle Ressourcen, gleichermaßen
Unterstützungsmaßnahmen wie auch Forderungen an jugendliche Asylantinnen/Asylanten und Migrantinnen/Migranten,
also klare Spielregeln, wonach beispielsweise ein systematisches
Schulschwänzen und/oder die prioritäre Arbeitshaltung einer
„Null-Bock-Mentalität“ mit allen negativen Konsequenzen für den
Erwerb fundierter Deutsch-Kenntnisse bzw. ein verachtender Umgang mit Mitschülerinnen und Mitschülern oder ein Islam-Unterricht, in dem antidemokratische Werte gelehrt werden, wirksam
zu ahnden sind – dafür benötigen die Direktorinnen/Direktoren
und Lehrer/innen neue Interventionsinstrumente.
Selbst dann ist eine erfolgreiche Integration nicht sicher, sehr
wohl kann jedoch durch ein umfassendes „Maßnahmenpaket“ die
Wahrscheinlichkeit einer gelungenen Integration signifikant erhöht werden – und damit die Hoffnungen vieler Migrantinnen
und Migranten nach Lebens- und Beschäftigungsperspektiven, also
nach einem geglückten Leben.