Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 11. Juni 2016 – 11.05 – 12.00 Uhr Der Berg ruft – Schweizer Volksmusik zwischen Brauchtum und Experiment Mit Reportagen von Stefanie Müller-Frank Moderation: Simonetta Dibbern Musikauswahl und Regie: Simonetta Dibbern Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – 1 In der Alphornszene gibt es verschiedene Bewegungen: Eben das traditionelle Alphorn, das wir hier pflegen im Eidgenössischen Jodlerverband. Es gibt Jazz, mystische, spirituelle Stücke. Und das sind Sachen, die ganz sicher nicht fürs Jodlerfest geeignet sind. Der Präsident der Nordwestschweizer Alphornvereinigung erläutert die Spielregeln für das traditionelle Wettblasen. Und ein Profimusiker holt die Mythen rund ums Alphorn von den Bergen auf den Boden: Das Alphorn, wie wir es heute kennen aus der Ricola-Werbung, ist eine neue Erfindung. Und eine romantische. Wie das eigentlich im 19. Jahrhundert in ganz Europa üblich war, dass man regionale Brauchtümer zu nationalen Traditionen verromantisiert hat. Dass das jetzt spezifisch schweizerisch wäre, ist frei erfunden. Oder geschickt gemacht. Gesichter Europas: Der Berg ruft. Schweizer Volksmusik zwischen Brauchtum und Experiment. Eine Sendung mit Reportagen von Stefanie Müller-Frank. Am Mikrophon begrüßt Sie Simonetta Dibbern. Mehr noch als Taschenmesser, Uhren und Schokolade ist das Alphorn ein Inbegriff Schweizer Kultur und Tradition. Sein urtümlicher Klang der Soundtrack von grünen Alpwiesen und schneebedeckten Bergen. Den Schweizer Söldnern in der Fremde war das Alphornblasen deshalb angeblich verboten: Lösten die sanften, durchdringenden Töne doch schweres Heimweh aus, was so manchen Eidgenossen desertieren ließ. Wann und wo das imposante Instrument zum ersten Mal gespielt wurde, ist nur durch Legenden belegt: Die einen erzählen, dass es Hirten zur Verständigung von Berg zu Berg diente – andere, dass mit dem Alphorn die Kühe in den Stall gelockt wurden. Noten dieser frühen Melodien existieren nicht. Erst im 19. Jahrhundert, als die Schweiz nach einer nationalen Identität zu suchen begann, wurde das Alphorn als Musikinstrument erfunden: Wohlklingende Hörner wurden gebaut, Melodien komponiert, man unterrichtete die Bergler im Alphornblasen – und hob so das Markenzeichen der Schweizer Volksmusik aus der Taufe. Bis heute wird das Alphornblasen, wie auch das Jodeln und Fahnenschwingen, vom Eidgenössischen Jodlerverband gefördert, gepflegt und reglementiert. Denn der Jodlerverband gibt seinen Mitgliedern nicht nur vor, was falsch tönt und was nicht – sondern auch, was überhaupt zum Schweizer Brauchtum zählt. 2 Ein Alphorn ist weit zu hören. Was in den Bergen einmal praktisch gewesen sein mag, wird im Schweizer Mittelland heute eher als heikel empfunden: Damit sich niemand von den Alphörnern gestört fühlt, findet das Expertisenblasen des Nordwestschweizer Jodlerverbands also etwas außerhalb vom Ort statt. Wie Alphornwettbewerbe generell. Ein Pfeil weist den Weg: Am Ende der Einfamilienhaussiedlung beginnt das freie Feld, ein Stall, Schafe – und tatsächlich: hinter dem Stall drei Alphornisten beim Einblasen, die langen Holzhörner vor sich auf der Wiese ausgestreckt. Wir sind hier auf dem Übungsplatz, jetzt müssen Sie noch nicht aufnehmen. (lacht) Wir geben nur Rauchzeichen: Unser Trio heisst „I tre focosi“ – also: Die drei Feurigen. Das Trio ist gleich an der Reihe: Es tritt heute Nachmittag als erste Formation vor die Jury, die Anspannung ist den drei Männern trotz ihrer Scherze anzumerken. Denn nur wer bei den Unterverbandsfesten eine gute oder sehr gute Klassifizierung erreicht, darf auch beim Eidgenössischen Jodlerfest antreten. Das Expertisenblasen heute ist also quasi die Generalprobe. Pünktlich auf die Minute begrüßt die Jury Teilnehmer und Publikum, auf dem Tisch liegen Stift und Stoppuhr bereit. Der Zeitablauf ist genau getaktet: Alle sechs Minuten startet ein Vortrag, eingeläutet durch ein Glöckchen. Die Jury bringt sich in Stellung. Wer stoppt? (Zwischenfrage: Wie lange darf es sein?) Also mindestens für Alphorn 2.20 Minuten – und maximal 4 Minuten. Und sonst wird es mit dem Glöckchen abgeläutet. Dann muss er fertigmachen. Und wenn nicht, gibt es Zusatzstrafpunkte. Außerdem ist Vorschrift: Keine Noten, keine Ventile, alle Alphörner müssen gleich gestimmt sein – und bei Jodlerfesten ist Tracht Pflicht. Ein Schirm ist nur bei starkem Regen erlaubt. Diese Regeln sind überall in der Schweiz gleich, ebenso wie die Kriterien für die Bewertung eines Vortrags. Die erfolgt in fünf Kategorien: Tonkultur, Blastechnik, Interpretation I und II, Musikalischer Ausdruck. Und damit das Niveau schweizweit einheitlich beurteilt wird, kommen die Jurymitglieder der einzelnen Unterverbände regelmäßig zu Schulungen zusammen, erklärt Thomas von Arx, Präsident der Nordwestschweizerischen Alphornvereinigung. 3 Es muss nicht gleich tönen. Aber die Bewertung vor allem, die sollte ja gleich sein. Also bei einem Sportkampf wie beim Fußball: Also wenn das Tor in Dortmund größer ist als in München – das wäre auch nicht wünschenswert. Gegründet wurde der Eidgenössische Jodlerverband im Jahr 1910 und er steht seither, so heißt es auf der Internetseite, im Dienste des Schweizer Brauchtums. Insgesamt 21.000 Mitglieder hat der Verband – nicht nur Jodler, sondern auch Alphornbläser und Fahnenschwinger. Allesamt Laienmusiker, die das ganze Jahr über auf das Jodlerfest hin proben, um dort vor einer Jury ihr Können unter Beweis zu stellen. Dieser Wettbewerbscharakter garantiert: Dass da nicht irgendwo was geblasen wird. Und die Qualität schlussendlich. Wir wollen ja nicht, dass das Alphorn in der Nordwestschweiz völlig anders daherkommt als in der Zentralschweiz oder im Wallis. Und da braucht es Verbände – oder einen Verband, der die Basis schafft. Und auch die Richtlinien dann. Was schräg klingt, hat keine Chance vor der Jury: Untemperierte Naturtöne gelten in den Ohren des Jodlerverbands als unrein. Jodeln ist harmonisch, hat der Gemeindevorsteher zur Begrüßung verkündet, der Alltag biete schon genug Dissonanzen. Wir bewerten ja verschiedene Faktoren, zum Beispiel die Metrik, die Rhythmik. Und mit einem mystischen Stück, da kann ich vielleicht träumen und mich entspannen, Yoga betreiben. Aber ganz sicher nicht eine gute Klassierung erreichen. Man kann es nicht bewerten. Das ist dann wirklich nur noch Gefühl, das ist nicht passend fürs Jodlerfest. Volksmusik und Volksmärchen galten lange als unmodern, kitschig, überholt. Erst mit der Wiederentdeckung anderer globaler Kulturen begannen zunehmend auch Künstler in Europa, sich für ihre kulturellen Wurzeln zu interessieren und neue Formen der Heimatklänge zu entwickeln. Auf literarischem Gebiet tut dies die Schweizer Journalistin und Autorin Silvia Tschui, Jahrgang 1976. In ihrem gefeierten Debütroman „Jakobs Ross“ erzählt sie die Geschichte der Magd Elsie, deren Leben ein einziges Unglück ist, außer in den Momenten, wo sie in der Musik aufgehen kann, beim Singen oder beim Geigen. Die Lieder und Melodien sind im Buch nicht zu hören – dennoch durchzieht Musik den ganzen Roman: wegen der musikalischen Sprache. Es ist kein Schweizer Dialekt, sondern eine neu erfundene Kunstsprache – gespickt mit Worten, die die Autorin 4 ihren Grosseltern abgelauscht hat. Silvia Tschui wollte, dass es so klingt, als ob ein um Ernsthaftigkeit bemühtes Schweizer Kind auf hochdeutsch erzählt. Das Elsie bohneret gern, das Holz von den Parkettböden glänzt goldig, als ob es da noch öppis Weiches gäbe hinter der schimmernden Oberfläche. Und wenn das Elsie poliert, werden die glatten Bretter unter dem Streichlen vom Elsie tatsächlich warm und fangen an, Geschichten zu verzellen, die wachsen durch den Lumpen duren bis in ihren Bauch und steigen in ihr Herz, und sind sie erst an Lunge und Zunge vorbei, sind die Geschichten wie von selbst zu Wörtern und Melodien geworden. Im Studierzimmer vom Direktör mit dem Eichenboden singt sie vom Sterben und davon, wie so ein Eichenast nach Saft schreit, wenn ein Strick um ihn geschlungen wird, und Glieder nach Luft, wenn so ein Hals am säbigen Strick hängt. Öppendie handlen die Lieder aber auch nur vom Wachsen, vom Regen oder davon, was die Elstere Glänziges im Baum versteckt und warum in einem anderen Wald drum ein Mann an einer Eiche verräblet. Da geht oben an der Stege eine Tür auf. Das Herrschaftstöchterlein steht auf der Balustrade. Nur im Nachtgwand mit einem seidigen Überwurf darüber. Bleich ist sie. Sie sei nur herausgekommen, weil sie wissen well, wie das Lied weitergeh. So schön singe auch im Chor vom Pangsionat keine, und so lang, wie die Magd da gesungen heig, habe sie vergessen, dass sie ja Fieber heig und Müeh mit dem Schnaufen. Die Magd soll die Bohnerbürste liggen lassen und in ihre Chammer kommen. Und dann muess das Elsie weitersingen, alle Lieder, wo sie kennt, und das Elsie hat das Gefühl, aus ihren Rippli lösten sich lauter Schneeflocken, wo in den Morgensonnenstrahlen verglitzern. Und dem Elsie wird es derbei derart warm, dass sie sicher ist, sie heig ihrer Lebtag bis itzt gefroren und ständig nur draußen stehen müssen. Unter Schweizer Profimusikern war die eigene Volksmusik lange geradezu tabu. Das lag vor allem daran, dass sie von der Politik vereinnahmt worden war: Schweizer Ländlermusik diente im Krieg der geistigen Landesverteidigung, dann wurde sie zur Musik der rechtskonservativen Eidgenossen, die eine heile Schweiz mit Kuh, Alpwiese und Geranienkästen vorm Bauernhaus propagierten. Über Jahrzehnte klang diese Volksmusik gleich, wurde immer vorhersehbarer und harmloser – nicht zuletzt wegen der engen Vorgaben des Eidgenössischen Jodlerverbands. Doch Ende des 20. Jahrhunderts wurden die alten Traditionen aus der volkstümlichen Schublade geholt, die verkrusteten Strukturen aufgebrochen und zu neuem Leben erweckt. Eine ganze Generation von Schweizer Musikern entdeckte das Volksmusikerbe für sich neu und setzte sich dabei über die Folklore einfach hinweg. Hielt sich nicht mehr an die Regeln des Jodlerverbands und experimentierte frei mit Klängen aus Feld und Stall. 5 Der Probenkeller von Balthasar Streiff gleicht einer ethnologischen Sammlung: Muscheln, Knochen, Tierhörner in allen Größen und Krümmungen. Hauptsache, sie haben ein Loch zum Reinblasen. An der Decke hängen Charlie, Martha, Jenn, Urseli und so weiter – die Hörner von Tieren. Ich baue die Hörner selbst. Ich schneide sie zurecht, die Grifflöcher mache ich selbst und dann probiere ich sie aus. Dann muss man schauen, ob es was Gescheites, Brauchbares draus gibt. Vor einer Jury des Jodlerverbands würde der Basler Musiker wohl disqualifiziert – nach all den Hörnern, die er verändert und weiterentwickelt hat. Das ist reine Folklore, das hat mit Musik, mit musikalischem Interesse überhaupt nichts zu tun. Auch der temperierte Jodel nicht. Auf der einen Seite hat man ja diese Sachen protegiert und gefördert, und auf der anderen Seite hat man – dadurch, dass man so viel ausgeschlossen hat – ganz viel Ursprünglichkeit gerade eben zerstört. Gerade dieses Urtümliche reizt Balthasar Streiff – jene archaischen Klänge, die nicht so harmonisch daherkommen wie der Heimatkitsch aus Standortmarketing und Musikantenstadl. Was ihm zu starr war, hat er einfach übersprungen. Vielleicht ist ihm das leichter gefallen, weil er ursprünglich von der Bildenden Kunst kommt, nicht von der Musik. Das Alphorn hat mit einem Hirten nichts zu tun, sondern das sind alles Agglomerationsalphornisten, die das Instrument blasen. Einer von hundert ist vielleicht noch jemand, der oben auf der Alpe sitzt und das Instrument spielt. Abgesehen davon, dass man heute das Handy hat, um zu kommunizieren. Das ist eigentlich alles ein romantischer Blick. Die tatsächlichen Ursprünge des Alphorns sind dagegen bis heute unbekannt: Wo und wann es erfunden wurde, wozu es genutzt wurde und wie es einmal klang. Geschnitzt wurde das Alphorn damals vermutlich aus einer Tanne oder Fichte, die am Hang wächst und unten, kurz vor der Wurzel, gebogen ist. So musste man den Stamm nur abschneiden, einmal durchtrennen, aushöhlen und wieder zusammenbauen. Balthasar Streiff packt zwei, drei unterschiedliche Hörner mit möglichst hohem Schalldruck ein. Der 55-Jährige will einige Orte in der Basler Innenstadt aufsuchen, 6 die besondere akustische Effekte erzeugen. Auch mit Musikstudenten geht er gerne auf die Suche nach solchen Soundspots, um ihr Gehör für den Raum zu schulen. Das ist ja super, weil das hat jetzt nicht mehr funktioniert, seit sie die Bretter hier hingestellt haben. Und jetzt, wenn man hier herumgeht und klatscht, dann hört man hier jetzt plötzlich in diesem Meter: Ganz kurz hinter dem Klatschen hat es diese Frequenz. Balthasar Streiff steht auf einer Aussichtsterasse am Rhein und geht klatschend im Kreis, sein Blick ist konzentriert und doch nach innen gerichtet. Zwei Hundehalter laufen vorbei, schauen ihm kurz befremdet zu und gehen weiter. Der Musiker lässt sich nicht ablenken, klatscht weiter, bis er exakt den Ort gefunden hat, wo die Treppe zu singen beginnt. Ich habe ja diese Soundspots zusammen mit Studenten der Hochschule gesucht oder ausprobiert. Sowohl bei der Produktion als auch bei der Rezeption ist der Ort fast zentimetergenau wichtig, dass das stimmt. Wenn man da vor dieser Treppe steht, dann singt das nach jedem Klatschen. Musiker sind stark davon abhängig, wie Räume und Orte klingen. Erst recht Alphornbläser, die meist draußen spielen. Das Alphorn ist ja mit der Idee des Echos verbunden – und in der Tat ist es auch, wenn man mit dem Alphorn draußen spielt, ist es eben sehr wichtig, wie man den Standort wählt. Weil, wenn man irgendwo spielt, tönt wie eine Kartontrompete, also das tönt überhaupt nicht. Also, wenn man auf dem Berg oben steht und spielt, da kommt nichts zurück. Der Ton fällt gleich nach dem Becher auf den Boden und weg ist er. Also furztrocken, wie in einem Studio. Oftmals. Und da muss man eben ein Gefühl dafür bekommen, wo könnte eine gute Resonanz entstehen. Balthasar Streiff steigt ein paar Stufen zum Rhein hinunter und läuft Richtung Brücke. Unter der Brücke sitzen mehrere Jugendliche, kiffen und kichern. Von der Altstadt her nähert sich ein Ausflugsdampfer. Der Musiker legt das Horn an. Wenn man draußen spielt, erzählt er, ist der Klang von so vielem abhängig: Wind, Wärme, Tageszeit, Luftfeuchtigkeit. Und all die vermeintlichen Störgeräusche in der Stadt könne man auch kompositorisch nehmen. 7 Dann kommt dazu, das ist auch noch interessant: (lacht) Auf Meereshöhe tönt das natürlich alles viel besser. Je höher man geht, desto schlechter tönt das im Grunde genommen. Die Luft wird dünner, es ist viel schwieriger zu spielen. Die Alpen sind eigentlich nicht so ein geschickter Ort, um Alphorn zu spielen. Je tiefer man ist, desto mehr Sound hat man. Als der Ausflugsdampfer unter der Brücke hindurchfährt, lässt der Musiker nochmal drei Töne erklingen. Und tatsächlich: Der Dampfer antwortet mit seinem Schiffshorn. Die beiden Musiker von „Stimmhorn“ waren die erfolgreichsten, aber nicht die einzigen, die vor rund 20 Jahren begannen, die Traditionen aufzubrechen. Zum einen kamen neue Impulse aus der Volksmusikszene selbst: von jungen Musikern, denen die traditionellen Ländlermuster zu langweilig geworden waren. Zum anderen gab es viele Komponisten und Jazzmusiker, die sich auf der Suche nach frischen Klängen überall auf dem Globus getummelt hatten und nun zurückkehrten, zu ihrem eigenen musikalischen Erbe. Die sogenannte „Neue Schweizer Volksmusik“ ist jedoch kein einheitlicher Stil. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde viel ausprobiert, altes Material ausgegraben und mit nicht-volksmusikspezifischen Instrumenten kombiniert. Längst ist auch eine neue Generation junger Musiker herangewachsen, die sich ohne Berührungsängste an die Volksmusik wagt. An der Hochschule in Luzern kann man Volksmusik seit ein paar Jahren sogar studieren. Mittwoch früh halb neun an der Hochschule Luzern. Die Proberäume sind schon fast alle besetzt, junge Menschen mit Instrumentenkoffern strömen die Treppen hoch. Die Uni Luzern ist die einzige Hochschule in der gesamten Schweiz, an der man Volksmusik als Schwerpunkt studieren kann. Gleich beginnt die Probe der Hochschulband: Streicher, zwei Hackbretter, eine Handorgel, also die typischen Schweizer Volksmusikinstrumente – und dazu noch eine E-Gitarre, nicht so typisch. Die Studenten tragen auch keine Tracht, sondern Schlabberpullis und Turnschuhe. Was aber nicht bedeutet, dass sie nachlässig spielen würden. Nach der Bandprobe folgt ein Workshop, bei dem Tänze und Lieder ohne Noten, also nur nach Gehör gespielt werden müssen. Der junge Mann mit der E-Gitarre wechselt noch schnell das Instrument und holt eine Toggenburger Halszither aus 8 dem Kasten. Ein historisches Instrument, erzählt er beim Stimmen, das ein Geigenbauer mit den heutigen technischen Kenntnissen nachgebaut hat. Das habe ich erst seit ungefähr einem Monat. Das habe ich ausgeliehen, weil ich nicht wollte, wenn immer die ganzen Volksmusiker, wenn sie mit der Geige kommen oder mit dem Hackbrett – und ich komme mit der E-Gitarre, dann bin ich der Außenseiter. Darum habe ich etwas gesucht, das gleich laut ist wie eine Geige, aber ein Saiteninstrument, das der Gitarre ähnlich ist. Manuel ist 27, stammt aus Liechtenstein und studiert eigentlich Jazzgitarre. Erst hier an der Hochschule in Luzern ist er überhaupt mit Schweizer Volksmusik in Berührung gekommen. Trotzdem wirkt er mit der Halszither im Arm genauso entspannt wie mit der E-Gitarre. Ich finds einfach sehr schöne Melodien, die sehr fröhlich sind meistens. Und vielleicht genau, weil sie so einfach sind, aber dann gibt es so die Details, dass man sie sich so gut merken kann und sie einem bekannt vorkommen. Der tägliche Wechsel vom Jazz zur Volksmusik und zurück ist für ihn mehr eine technische Herausforderung als eine ideologische. Schwierig für ihn sind vor allem Phrasierung und Artikulation, erzählt Manuel, weil die in der Volksmusik so anders gehandhabt werden als im Jazz. Also spielt er viel in Volksmusikensembles mit. Für ihn steht beides selbstverständlich nebeneinander, auch wenn nicht alle seiner Mitstudenten aus der Jazzklasse das nachvollziehen können. Viele kennen das auch nicht und haben sicher Vorurteile. Ich denke auch, viele belächeln das ein bisschen vor allem wegen der Harmonie, die ja traditionellerweise sehr einfach ist. Und im Jazz ist es ja eigentlich anders. Und darum finden die das meistens ein wenig langweilig von der Harmonie her. Früher waren in Luzern das Konservatorium, die Akademie für Kirchenmusik und die Jazzschule getrennt. Heute ist alles unter einem Dach vereint. Und seit knapp zehn Jahren kann man an der Hochschule auch die Schweizer Traditionsinstrumente Hackbrett und Schwyzerörgeli studieren, vorher gab es für sie schweizweit keine akademische Ausbildung. Geleitet wird das Volksmusikensemble von Markus Flückiger, selbst begnadeter Schwyzerörgelispieler, wie die Handorgel hier genannt wird, und einer der Pioniere aus den Neunzigern. Erst mit seiner Band „pareglisch“, dann mit den „Hujässlern“ mischte er die Volksmusikszene kräftig auf, brach Tabus und stieß auf viel 9 Widerstand. Zwanzig Jahre später haben es die jungen Musiker aber auch nicht einfacher, glaubt Flückiger. Es ist vor allem schwieriger für sie heute, weil wir sind sofort aufgefallen. Wir mussten eigentlich nicht viel anders machen als die Traditionsmusiker – und schon fiel man extrem auf, es gab zu reden, man war im Gespräch. Und heute erwartet man eigentlich schon fast etwas Neues von den Jungen. Es ist viel schwieriger so, sich zu behaupten. Gerade, weil es viel selbstverständlicher geworden ist, die Volksmusik mit Jazz, Folk oder Rock zu mischen und die Stücke auf anderen Instrumenten zu spielen. Trotzdem, erzählt Markus Flückiger, nimmt die Hochschule nur Studenten an, die einen volksmusikalischen Hintergrund mitbringen – also schon viel Volksmusik gemacht haben. Ins Ensemble werden dann aber auch Studenten aus dem Jazz eingeladen – wie Manuel mit seiner E-Gitarre. Dass der Transfer auch in die andere Richtung bestens funktioniert, zeigt Christoph Pfändler, einer der ersten Absolventen der Neuen Volksmusikklasse. Der junge Musiker hat zwar seit seiner Kindheit Hackbrett gespielt – allerdings vor allem Metal. Um Gottes willen keine Volksmusik. Ich komme mehr aus dem Metal/ Rock/ Pop, aus dem Bereich. Und ich habe mich dann wegen der Hochschule in die Volksmusik hineingearbeitet mit dem Hackbrett. Was ja ein traditionelles Schweizer Volksmusikinstrument ist. Aber ich habe mich da wirklich von außen rangetastet und irgendwann gemerkt: Ja, es gibt auch coole Volksmusik. In seiner Jugend war die nämlich verpönt in seinem Freundeskreis, erzählt der 23Jährige St. Galler unbefangen. Er gibt sich auch äußerlich ironisch-düster mit Lederjacke und Patronengurt, zusammen mit dem hölzernen, filigran verzierten Hackbrett ein echter Stilbruch. Wie seine Musik: Metal und Hackbrett – das klinge in etwa so, schrieb eine Regionalzeitung, als würde man Spaghetti mit Schokoladensauce servieren. Ich habe wirklich jahrelang gesagt: Ja, das ist scheiße. Und dann irgendwann gesagt: Das ist das Kerngeschäft, die Volksmusik. Also musst du dich auch damit auseinandersetzen. 10 Also hat sich Christoph Pfändler ins traditionelle Hackbrettspiel reingekniet und gleichzeitig seine Metalkapelle gegründet. Für ihn ist das kein Widerspruch. Finanziert hat die Band ihre erste CD via Crowdfunding im Internet, getauft wurde sie konsequenterweise auf den Titel „Fuckbrett“. Die meisten Songs auf dem Album hat Pfändler selbst komponiert, dazu kommen Coverversionen berühmter Metalklassiker wie „Ace of Spades“ von Mötorhead. In der klassischen Volksmusikbesetzung: Cello, Kontrabass, Klavier – und eben: Hackbrett. Das Frölein Sophie zeigt dem Elsie, wie man die Fidle unter das Kinn klemmt, wie man sie stimmt und die Töne truckt. Wie der Bogen geharzt sein will und dass am sächsi z’Abig die Chilenglocken läuten und man diese Saite nach der hellen Glocke stimmen muess. Weil sie das Elsie nicht an den Flügel lassen könnte, wenn sie weg sei. Da hätt der Vater sicher keine Freud. Aber die Fidle, die stehe sowieso nur umen, obwohl es eigentlich eine richtig guete Fidle sei, eine Jakob Stainer, und der seig also berühmt für seine Fidlen. An dem Abig, endlich in ihrer Chammmer, nimmt das Elsie ein Flanelllümpli und fährt jeder Maserung nach. Goldgelb glimmt das Instrument, wie das Bernsteinkreuz, wo dem Frölein Sophie manchmal auf dem Dekolltee hängt, und ocker, wie wenn der Jakob, der Rosschnecht, den Falben frisch gestrieglet hat. Aber am meisten, findet das Elsie, hat die Fidle genau die braunrot-goldige Farbe von den Augen vom Elsie seiner Muetter. Bevor sie angefangen hat, Bluet zu husten und ihr ein Schleier über die Augen gewachsen ist und sie ganz den Geist aufgegeben hat und das Elsie ins Herrenhaus gekommen ist. Wie sie dann den Bogen ansetzt, gibt es einen eisigen Ton, und die Welt gefriert. Vor Schreck lässt das Elsie fast den Bogen gheien. Aber wie der Ton verklingt, fehlt ihr schon öppis, und so streicht sie einen zweiten, sonnigen, dermit der erste, wohin der auch verklungen ist, dort nicht so muetterseelenallein umenschwingt. Und dann schickt sie einen ganzen Regenbogen hinterher und lacht, wie die Töne miteinander forthüpfen, bis hoch in die Chammer vom Frölein Furrer. Der säbeln sie einen Riss in die Kruste, sie löst sich den Haarchnopf und bindet sich ein Seidentuech um den Hals. Und dann geht sie, vom Elsie ihren Tönen umflatteret, ganz allein ins Wirtshaus. Und redet dort sogar mit einem Mann! Volksmusik war in der Schweiz lange Zeit vor allem Tanzmusik, gespielt von fahrenden Musikanten oder Kurkapellen. Die klassische Besetzung: zwei Streicher, Trompete oder ein anderes Blechinstrument, Klarinette und Bass oder Bassetthorn. Doch mit der Erfindung des Akkordeons war es Ende des 19. Jahrhunderts vorbei mit den großen Ensembles: eine Ziehharmonika und selbst ihre kleine Schwester, die Handorgel oder Schwyzerörgeli, wie man in der Schweiz sagt, konnten zwei Geigen ersetzen. Das war billiger – und auch lauter. So richtig populär wurde die Ländlermusik dann allerdings erst in den Zwanziger Jahren – und zwar vor allem in den Städten. Durch Schallplatten, später durch das 11 Radio. Zunehmend wurde sie dann von der Unterhaltungsindustrie kommerzialisiert und von rechten Kreisen auf heimatliche Lobgesänge reduziert. Bis dann, noch einmal vierzig, fünfzig Jahre später, die Ländlermusik und die Ländlermusiker wieder zurückkehrten aufs Land – zum Beispiel in den Engadin. Mit bauchigen Instrumentenkoffern, Rucksäcken, Rollkoffern stehen die fünf Musiker von „Ils Fränzlis da Tschlin“ unter der großen Uhr in der Zürcher Bahnhofshalle: Domenic Janett: Klarinette – sein Bruder Curdín: Kontrabass – dessen Töchter: Madlaina: Bratsche und Cristina: Cello – sowie deren Kusine und die Tochter von Domenic, Anna Staschia: Geige. Die „Fränzlis da Tschlin“ sind ein Familienunternehmen, zu ihren Konzerten, erklärt Domenic Janett, fahren sie nicht mit dem Tourbus, sondern mit dem Zug. Curdin Janett schnalt seinen Kontrabass im Vorraum neben der Tür fest. Der Heimatort der Musikerfamilie ist Tschlin im Unterengadin, heute aber leben die meisten von ihnen über die ganze Schweiz verteilt. Als die Töchter klein waren, spielten ihre Väter ungefähr die Art Ländlermusik, wie sie von den vierziger bis in die achtziger Jahre überall in der Schweiz populär war – und auch überall ähnlich klang. Bis sie im Jahr 1983 für eine Schallplatte die sogenannte „Fränzlimusik“ ausgruben: altes Engadiner Liedgut aus dem 19. Jahrhundert, das sie zwar ganz nett, aber doch ziemlich altmodisch fanden. Die Tochter Madlaina erinnert sich: Dass sie damals dachten, das ist für eine Schallplatte. Das ist altmodische Musik und wir sind schon viel weiter. Und das war dann sofort ein Selbstläufer, dieser neue Sound. Oder: dieser altneue Sound – ohne Akkordeon. Der schlug vor allem in der Kulturszene, die sich eben vom handorgellastigen Ländler abgrenzte, ein. Und seit mehr als dreißig Jahren gibt es also die „Fränzlis“. Der Name „Ils Fränzlis da Tschlin“ ist dabei durchaus als Verbeugung vor dem wohl bekanntesten Musiker aus dem Engadin zu verstehen, dessen Liedgut sie bis heute zu ihren Stücken inspiriert. Der Fränzli, der Franz-Josef Waser, das muss in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Südbünden – also im Unter- und Oberengadin – DER Musikant gewesen sein. Der war so berühmt und stilprägend, dass sich dann eben viele Musiken im und ums Engadin Fränzlimusik nannten. Also das war wie ein Stil. Und dieser Franz-Josef, der war blind und muss sehr gut Geige gespielt haben. Er war ursprünglich ein Jenischer, der mit seinen Brüdern, die alle übrigens auch Franz- 12 Xaver, Franz-Anton etc. hießen, ist der von Dorf zu Dorf gezogen und hat aufgespielt. Auch die neuen „Fränzlis“ sind viel für Konzerte unterwegs – in der gesamten Schweiz, nicht nur im Engadin. Heute geht es zu einem Konzert nach Ilanz in der Surselva. Die fünf Musiker packen, ohne ein Wort zu verlieren, ihr Picknick aus. Offenbar sind sie recht gut aufeinander eingespielt – oder bereits damit aufgewachsen. Es ist schon klar, dass es sehr familiär geprägt ist. Schon lange. Aber immer offen für Adoptivkinder. (lacht) Was gut ist am Familiending, dass vieles so selbstverständlich ist. Und dass man das schon als Kind lernt. Da müssen wir vieles nicht ausdiskutieren, weil wir es schon kennen. Aber wenn jetzt jemand kommt und wir verstehen uns musikalisch – und er kommt damit klar, dass er in einen Clan kommt, dann ist das überhaupt kein Problem. Im Kino von Ilanz werden die Instrumente ausgepackt, gestimmt und ein paar Takte angespielt. Es wird mehr gelacht als geredet – und wenn, dann wieder diese spezielle Fränzlimischung aus Schweizerdeutsch, Rätoromanisch und Familiencodes. Es wirkt nicht so, aber tatsächlich ist es noch nicht lange her, dass die „Fränzlis“ dringend einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin für das Cornet brauchten – aber niemand aus der jüngeren Generation spielte Cornet. Was also tun? Man kann es schlicht nicht planen. Als der Duri am Cornet aufgehört hat, da ist schon Krisenstimmung ausgebrochen. Da mussten wir uns schon überlegen: Was macht eigentlich die Fränzlis aus? Weil es ist ja zum grossen Teil die Besetzung. Und da müssten wir jetzt einen anderen Trompeter suchen. Da haben wir diskutiert: Vielleicht ist es ja nicht nur die Besetzung, sondern auch die Person, die Art, wie sie musiziert. Die Lösung war so naheliegend wie genial: Man versuchte es mit einem Cello statt einem Cornet – also mit Madlainas Schwester Cristina. Zuerst war das Publikum bei Konzerten kritisch, dann beklagte man sich, dass auf den CD-Aufnahmen das Cello fehle. Da wussten die „Fränzlis“, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatten – und nahmen einfach eine neue CD auf. So ist die jüngere Generation mit drei Frauen jetzt zum ersten Mal in der Mehrzahl. Vielleicht also doch eine gute Nachwuchsplanung der Väter? Curdin Janett erinnert sich noch gut, wie er Madlaina, die erste Tochter gefragt hat. Damals ging sie noch zur Schule. 13 Ja, könntest Du Dir vorstellen, bei den Fränzlis mitzuspielen? Da hat sie gesagt: Ja spinnst Du? Und dann habe ich einfach nichts gesagt und mal gewartet und dann nochmal gesagt: Ich habe das schon ernst gemeint. Und dann wieder gewartet und nochmal gefragt. Und irgendwann hat sie ja gesagt. Und hat angefangen. Und dann spielt das Elsie: das Meer hinter Floränz, wie weit es ist und wie man nicht weiß, wo das Meer aufhört und der Himmel anfängt und man drum denken kann, man stünde nur eine Fuessbreite vom Himmel entfernt. Sie wird dabei immer größer, das Elsie, zuerst füllt sie die Eingangshalle aus, bis zuoberst, und dann breitet sie sich aus, das Knie hat schon keinen Platz mehr und wächst zum Frölein Sophie in die Chammer hinein und truckt sie an ihren Spiegel und nimmt ihr den Schnauf. Und dann spielt das Elsie: wenn man einen Fuess ins Wasser setzte, müesst man flügen können, in die große Bläue davon. Das Elsie spielt: Wie die Wellen an den Strand schwappen. Wie man in ein Boot steigt und weiß, dass das Große, das Wunderbare, wo doch in jedem Leben einmal passieren sollte, wo doch einfach passieren muess, wie soll man das auch sonst aushalten, das Leben, dass das eben genau dort auf einen wartet, ennet dem blauen Meer und ennet dem Boot. Das Elsie spielt, dass das Meer halt eben auch vereisen und keine Wellen mehr schlagen kann und dass man dann, setzt man seinen Fuess darauf, nicht in eine endlose Bläue fliegt, sondern einfach bös ausrutscht und stürzt. Es ist ein Glück, sind die Köchin und die Küchenmeitli auf dem Markt: Wie das Elsie nämlich mit einem scharfen Ton abbricht und auf ihre normale Größe zusammenschnurrt, da bersten und zerreißen und platzen die gerade noch so vollen Herzen, das buttrige vom Frölein Sophie hinterlässt einen fettigen Fleck in ihrer Chammer. Zur Schweizer Volksmusik gehört natürlich auch das Jodeln. In seiner ursprünglichen Form ist Jodeln ein wortloses Singen, eine vokale Technik, die es erlaubt, über weite Entfernungen zu kommunizieren, über Berge und Täler hinweg. Meist sind vor allem verkitschte Versionen solcher Jodler zu hören, Lieder im Dirndl gesungen, in denen die Heimat gepriesen und nur in den Zwischenstücken noch wortlos gejodelt wird, liegt daran, dass der Eidgenössische Jodlerverband eben diese Art zu jodeln gefördert hat – und alle anderen Varianten oder regionalen Ausprägungen von seinen Wettbewerben ausgeschlossen waren. Nun gibt es in jeder Volksmusik regionale Ausprägungen, und in der Schweiz umso mehr, weil die Bergler oft weit voneinander entfernt leben. So gibt es Regionen und Bergtäler, in denen sich recht urtümliche Jodeltraditionen erhalten haben. Im Muotathal in der Innerschweiz zum Beispiel wird noch ein wildes, an die Älpler erinnerndes Jodeln gepflegt. Wie beim Alphorn werden dafür Natur- und Obertöne 14 erzeugt – weshalb es für unsere, an die temperierte Stimmung gewöhnten Ohren, erstmal ziemlich schräg klingt. Die fünf Männer sind unter das Scheunendach geflüchtet, um sich vor dem Regen zu schützen. Über dem Muotathal hängt dichter Nebel, ein Wasserfall schießt von der mächtigen Bergkette ins Tal hinab. Er ist nur zu hören, so dicht ist der Nebel. Ein Hahn plustert sich auf und streckt seinen Hals dem Regen entgegen. Proben kann man es nicht nennen, was die fünf Männer an diesem Abend im Muotathal zusammenkommen lässt. Geselliges Beisammensein trifft es vermutlich besser, schließlich haben sie alle einen langen Tag im Stall und auf der Weide hinter sich. Sie jodeln auch nicht, sondern juuzen. Benny Betschart grinst. Wir sind mit dem aufgewachsen. Für uns war es kleine Buben schon normal, dass man gejuuzt hat. Später hat man dann vielleicht bemerkt, dass es nicht jedermanns Sache ist, wenn man Samstag abend nach 12 noch ein Jüüzli auf der Straße gemacht hat. Das war dann nicht so toll für viele, die wollten lieber schlafen und das nicht hören. Juuzen lässt sich mehrstimmig und alleine. Am besten aber spontan, draußen in der Natur, wo die Berge mit einem Echo antworten. Und beim Kühe- oder Ziegenmelken, findet Christian Gwerder – aber nur, solange der Vater nicht da ist. Wenn ich alleine bin, zum Beispiel auf der Alp. Wenn man in der freien Natur ist, juuzt man einfach, wenn man es einem danach zumute ist. Und wenn man denkt, das hört sonst niemand außer das Vieh. Spontan macht man es gerne in der freien Natur. Daniel Schmidig singt dagegen am liebsten, wenn er auf dem Traktor sitzt. Also am meisten juuze ich eigentlich – was nicht so typisch ist – auf einer Maschine. Da ärgert man niemanden. Der Motor macht dann fast eine Stimme, wenn man das Gas auf die Bassstimme runtertourt. Jeder Juuz – oder Jüüzli, wie sie hier im Muotathal sagen – ist nach einem ähnlichen Schema aufgebaut. Und jede Familie singt die Jüüzli ein wenig anders. Noten gibt es keine, zu juuzen lernt man nur übers Zuhören und Mitsingen. Wenn gewaschen wird zum Beispiel oder gemolken. Ein spezielles Abwasch- oder Melkjüüzli gibt es aber nicht. 15 Was es gibt, und das ist wirklich eine archaische Form zu juuzen: Das sind diese „Kuhreien“. Das sind Lockrufe, auch „Löckler“ genannt. Die brauchte man früher sehr viel, wenn man am Abend die Kühe in den Stall treiben will. Da hat es auch so Teile wie bei den Jüüzli, aber einfach noch ein wenig wilder und nicht so in einem Schema. Das ist etwas richtig Freies, kommt aus der Brust heraus und ist voller Kraft. Das ist etwas Wunderschönes. Und die Kühe kennen das. Die heben dann den Kopf.. Die Verbindung von Mensch zu Tier ist dann wie enger. Man ist eine Einheit, wenn man zum Beispiel eine Ziege oder eine Kuh milcht oder sie holen geht und in den Stall geht. Man fühlt sich verbunden mit der Natur. Und das Vieh hört es auch gerne. Sie bewegen die Ohren, sie haben ein schönes Ohrenspiel. Man merkt, dass es ihnen auch gefällt. Die fünf Männer flüchten sich vor dem Regen in die Waschküche, wo schon Kaffee, Bier und Schnaps bereit stehen. Ob ihre Art des Naturjodels auch vor einer Jury des Eidgenössischen Jodlerverbands bestehen könnte – das haben sich die Bergler noch nie gefragt. Für ein Jodlerfest haben sie im Sommer eh keine Zeit, da sind die meisten von ihnen mit dem Vieh auf der Alp. Also wir juuzen ja nicht, dass der Jodlerverband zufrieden ist oder dann ins Schema passen. Wir juuzen so, wie es uns überliefert worden ist. Und drum lässt es mich eigentlich auch kalt, ob wir in ihren Augen das Richtige machen. Aber für uns Muotathaler stimmt das so. Seit jeher. Und bereitet es ihm auch keine Sorge, dass diese recht außergewöhnliche und rein mündliche Tradition des Naturjodelns mal verloren gehen könnte, wenn niemand mehr das Brauchtum pflegt? Der Bergler aus dem Muotathal reagiert gelassen. Also nein, eigentlich nicht. Wenn es niemanden mehr interessiert, es ist dann ja egal, ob sie verloren geht. Dann hat der Jodlerverband gewonnen. Der Berg ruft. Das waren Gesichter Europas an diesem Samstag: Schweizer Volksmusik zwischen Brauchtum und Experiment. Eine Sendung mit Reportagen von Stefanie Müller-Frank. Die Literaturpassagen entnahmen wir dem Roman „Jakobs Ross“ von Silvia Tschui, gelesen wurden sie von Angela Metzler. Ton und Technik: Daniel Dietmann und Christoph Schumacher. Im Namen des gesamten Teams verabschiedet sich am Mikrophon Simonetta Dibbern. ....... 16
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