Schweizer Volksmusik zwischen Brauchtum und

Deutschlandfunk
GESICHTER EUROPAS
Samstag, 11. Juni 2016 – 11.05 – 12.00 Uhr
Der Berg ruft –
Schweizer Volksmusik
zwischen Brauchtum und Experiment
Mit Reportagen von Stefanie Müller-Frank
Moderation: Simonetta Dibbern
Musikauswahl und Regie: Simonetta Dibbern
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- unkorrigiertes Exemplar –
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In der Alphornszene gibt es verschiedene Bewegungen: Eben das traditionelle
Alphorn, das wir hier pflegen im Eidgenössischen Jodlerverband. Es gibt Jazz,
mystische, spirituelle Stücke. Und das sind Sachen, die ganz sicher nicht fürs
Jodlerfest geeignet sind.
Der Präsident der Nordwestschweizer Alphornvereinigung erläutert die Spielregeln
für das traditionelle Wettblasen. Und ein Profimusiker holt die Mythen rund ums
Alphorn von den Bergen auf den Boden:
Das Alphorn, wie wir es heute kennen aus der Ricola-Werbung, ist eine neue
Erfindung. Und eine romantische. Wie das eigentlich im 19. Jahrhundert in ganz
Europa üblich war, dass man regionale Brauchtümer zu nationalen Traditionen
verromantisiert hat. Dass das jetzt spezifisch schweizerisch wäre, ist frei erfunden.
Oder geschickt gemacht.
Gesichter Europas: Der Berg ruft. Schweizer Volksmusik zwischen Brauchtum und
Experiment. Eine Sendung mit Reportagen von Stefanie Müller-Frank. Am Mikrophon
begrüßt Sie Simonetta Dibbern.
Mehr noch als Taschenmesser, Uhren und Schokolade ist das Alphorn ein Inbegriff
Schweizer Kultur und Tradition. Sein urtümlicher Klang der Soundtrack von grünen
Alpwiesen und schneebedeckten Bergen. Den Schweizer Söldnern in der Fremde
war das Alphornblasen deshalb angeblich verboten: Lösten die sanften,
durchdringenden Töne doch schweres Heimweh aus, was so manchen Eidgenossen
desertieren ließ. Wann und wo das imposante Instrument zum ersten Mal gespielt
wurde, ist nur durch Legenden belegt: Die einen erzählen, dass es Hirten zur
Verständigung von Berg zu Berg diente – andere, dass mit dem Alphorn die Kühe in
den Stall gelockt wurden. Noten dieser frühen Melodien existieren nicht.
Erst im 19. Jahrhundert, als die Schweiz nach einer nationalen Identität zu suchen
begann, wurde das Alphorn als Musikinstrument erfunden: Wohlklingende Hörner
wurden gebaut, Melodien komponiert, man unterrichtete die Bergler im
Alphornblasen – und hob so das Markenzeichen der Schweizer Volksmusik aus der
Taufe. Bis heute wird das Alphornblasen, wie auch das Jodeln und
Fahnenschwingen, vom Eidgenössischen Jodlerverband gefördert, gepflegt und
reglementiert. Denn der Jodlerverband gibt seinen Mitgliedern nicht nur vor, was
falsch tönt und was nicht – sondern auch, was überhaupt zum Schweizer Brauchtum
zählt.
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Ein Alphorn ist weit zu hören. Was in den Bergen einmal praktisch gewesen sein
mag, wird im Schweizer Mittelland heute eher als heikel empfunden: Damit sich
niemand von den Alphörnern gestört fühlt, findet das Expertisenblasen des
Nordwestschweizer Jodlerverbands also etwas außerhalb vom Ort statt. Wie
Alphornwettbewerbe generell. Ein Pfeil weist den Weg: Am Ende der
Einfamilienhaussiedlung beginnt das freie Feld, ein Stall, Schafe – und tatsächlich:
hinter dem Stall drei Alphornisten beim Einblasen, die langen Holzhörner vor sich auf
der Wiese ausgestreckt.
Wir sind hier auf dem Übungsplatz, jetzt müssen Sie noch nicht aufnehmen. (lacht)
Wir geben nur Rauchzeichen: Unser Trio heisst „I tre focosi“ – also: Die drei
Feurigen.
Das Trio ist gleich an der Reihe: Es tritt heute Nachmittag als erste Formation vor die
Jury, die Anspannung ist den drei Männern trotz ihrer Scherze anzumerken. Denn
nur wer bei den Unterverbandsfesten eine gute oder sehr gute Klassifizierung
erreicht, darf auch beim Eidgenössischen Jodlerfest antreten. Das Expertisenblasen
heute ist also quasi die Generalprobe.
Pünktlich auf die Minute begrüßt die Jury Teilnehmer und Publikum, auf dem Tisch
liegen Stift und Stoppuhr bereit. Der Zeitablauf ist genau getaktet: Alle sechs Minuten
startet ein Vortrag, eingeläutet durch ein Glöckchen. Die Jury bringt sich in Stellung.
Wer stoppt? (Zwischenfrage: Wie lange darf es sein?) Also mindestens für Alphorn
2.20 Minuten – und maximal 4 Minuten. Und sonst wird es mit dem Glöckchen
abgeläutet. Dann muss er fertigmachen. Und wenn nicht, gibt es Zusatzstrafpunkte.
Außerdem ist Vorschrift: Keine Noten, keine Ventile, alle Alphörner müssen gleich
gestimmt sein – und bei Jodlerfesten ist Tracht Pflicht. Ein Schirm ist nur bei starkem
Regen erlaubt. Diese Regeln sind überall in der Schweiz gleich, ebenso wie die
Kriterien für die Bewertung eines Vortrags. Die erfolgt in fünf Kategorien: Tonkultur,
Blastechnik, Interpretation I und II, Musikalischer Ausdruck. Und damit das Niveau
schweizweit einheitlich beurteilt wird, kommen die Jurymitglieder der einzelnen
Unterverbände regelmäßig zu Schulungen zusammen, erklärt Thomas von Arx,
Präsident der Nordwestschweizerischen Alphornvereinigung.
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Es muss nicht gleich tönen. Aber die Bewertung vor allem, die sollte ja gleich sein.
Also bei einem Sportkampf wie beim Fußball: Also wenn das Tor in Dortmund größer
ist als in München – das wäre auch nicht wünschenswert.
Gegründet wurde der Eidgenössische Jodlerverband im Jahr 1910 und er steht
seither, so heißt es auf der Internetseite, im Dienste des Schweizer Brauchtums.
Insgesamt 21.000 Mitglieder hat der Verband – nicht nur Jodler, sondern auch
Alphornbläser und Fahnenschwinger. Allesamt Laienmusiker, die das ganze Jahr
über auf das Jodlerfest hin proben, um dort vor einer Jury ihr Können unter Beweis
zu stellen. Dieser Wettbewerbscharakter garantiert:
Dass da nicht irgendwo was geblasen wird. Und die Qualität schlussendlich. Wir
wollen ja nicht, dass das Alphorn in der Nordwestschweiz völlig anders daherkommt
als in der Zentralschweiz oder im Wallis. Und da braucht es Verbände – oder einen
Verband, der die Basis schafft. Und auch die Richtlinien dann.
Was schräg klingt, hat keine Chance vor der Jury: Untemperierte Naturtöne gelten in
den Ohren des Jodlerverbands als unrein. Jodeln ist harmonisch, hat der
Gemeindevorsteher zur Begrüßung verkündet, der Alltag biete schon genug
Dissonanzen.
Wir bewerten ja verschiedene Faktoren, zum Beispiel die Metrik, die Rhythmik. Und
mit einem mystischen Stück, da kann ich vielleicht träumen und mich entspannen,
Yoga betreiben. Aber ganz sicher nicht eine gute Klassierung erreichen. Man kann
es nicht bewerten. Das ist dann wirklich nur noch Gefühl, das ist nicht passend fürs
Jodlerfest.
Volksmusik und Volksmärchen galten lange als unmodern, kitschig, überholt. Erst mit
der Wiederentdeckung anderer globaler Kulturen begannen zunehmend auch
Künstler in Europa, sich für ihre kulturellen Wurzeln zu interessieren und neue
Formen der Heimatklänge zu entwickeln.
Auf literarischem Gebiet tut dies die Schweizer Journalistin und Autorin Silvia Tschui,
Jahrgang 1976. In ihrem gefeierten Debütroman „Jakobs Ross“ erzählt sie die
Geschichte der Magd Elsie, deren Leben ein einziges Unglück ist, außer in den
Momenten, wo sie in der Musik aufgehen kann, beim Singen oder beim Geigen. Die
Lieder und Melodien sind im Buch nicht zu hören – dennoch durchzieht Musik den
ganzen Roman: wegen der musikalischen Sprache. Es ist kein Schweizer Dialekt,
sondern eine neu erfundene Kunstsprache – gespickt mit Worten, die die Autorin
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ihren Grosseltern abgelauscht hat. Silvia Tschui wollte, dass es so klingt, als ob ein
um Ernsthaftigkeit bemühtes Schweizer Kind auf hochdeutsch erzählt.
Das Elsie bohneret gern, das Holz von den Parkettböden glänzt goldig, als ob es da
noch öppis Weiches gäbe hinter der schimmernden Oberfläche. Und wenn das Elsie
poliert, werden die glatten Bretter unter dem Streichlen vom Elsie tatsächlich warm
und fangen an, Geschichten zu verzellen, die wachsen durch den Lumpen duren bis
in ihren Bauch und steigen in ihr Herz, und sind sie erst an Lunge und Zunge vorbei,
sind die Geschichten wie von selbst zu Wörtern und Melodien geworden.
Im Studierzimmer vom Direktör mit dem Eichenboden singt sie vom Sterben und
davon, wie so ein Eichenast nach Saft schreit, wenn ein Strick um ihn geschlungen
wird, und Glieder nach Luft, wenn so ein Hals am säbigen Strick hängt. Öppendie
handlen die Lieder aber auch nur vom Wachsen, vom Regen oder davon, was die
Elstere Glänziges im Baum versteckt und warum in einem anderen Wald drum ein
Mann an einer Eiche verräblet.
Da geht oben an der Stege eine Tür auf. Das Herrschaftstöchterlein steht auf der
Balustrade. Nur im Nachtgwand mit einem seidigen Überwurf darüber. Bleich ist sie.
Sie sei nur herausgekommen, weil sie wissen well, wie das Lied weitergeh. So schön
singe auch im Chor vom Pangsionat keine, und so lang, wie die Magd da gesungen
heig, habe sie vergessen, dass sie ja Fieber heig und Müeh mit dem Schnaufen. Die
Magd soll die Bohnerbürste liggen lassen und in ihre Chammer kommen.
Und dann muess das Elsie weitersingen, alle Lieder, wo sie kennt, und das Elsie hat
das Gefühl, aus ihren Rippli lösten sich lauter Schneeflocken, wo in den
Morgensonnenstrahlen verglitzern. Und dem Elsie wird es derbei derart warm, dass
sie sicher ist, sie heig ihrer Lebtag bis itzt gefroren und ständig nur draußen stehen
müssen.
Unter Schweizer Profimusikern war die eigene Volksmusik lange geradezu tabu. Das
lag vor allem daran, dass sie von der Politik vereinnahmt worden war: Schweizer
Ländlermusik diente im Krieg der geistigen Landesverteidigung, dann wurde sie zur
Musik der rechtskonservativen Eidgenossen, die eine heile Schweiz mit Kuh,
Alpwiese und Geranienkästen vorm Bauernhaus propagierten. Über Jahrzehnte
klang diese Volksmusik gleich, wurde immer vorhersehbarer und harmloser – nicht
zuletzt wegen der engen Vorgaben des Eidgenössischen Jodlerverbands.
Doch Ende des 20. Jahrhunderts wurden die alten Traditionen aus der
volkstümlichen Schublade geholt, die verkrusteten Strukturen aufgebrochen und zu
neuem Leben erweckt. Eine ganze Generation von Schweizer Musikern entdeckte
das Volksmusikerbe für sich neu und setzte sich dabei über die Folklore einfach
hinweg. Hielt sich nicht mehr an die Regeln des Jodlerverbands und experimentierte
frei mit Klängen aus Feld und Stall.
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Der Probenkeller von Balthasar Streiff gleicht einer ethnologischen Sammlung:
Muscheln, Knochen, Tierhörner in allen Größen und Krümmungen. Hauptsache, sie
haben ein Loch zum Reinblasen.
An der Decke hängen Charlie, Martha, Jenn, Urseli und so weiter – die Hörner von
Tieren. Ich baue die Hörner selbst. Ich schneide sie zurecht, die Grifflöcher mache
ich selbst und dann probiere ich sie aus. Dann muss man schauen, ob es was
Gescheites, Brauchbares draus gibt.
Vor einer Jury des Jodlerverbands würde der Basler Musiker wohl disqualifiziert –
nach all den Hörnern, die er verändert und weiterentwickelt hat.
Das ist reine Folklore, das hat mit Musik, mit musikalischem Interesse überhaupt
nichts zu tun. Auch der temperierte Jodel nicht. Auf der einen Seite hat man ja diese
Sachen protegiert und gefördert, und auf der anderen Seite hat man – dadurch, dass
man so viel ausgeschlossen hat – ganz viel Ursprünglichkeit gerade eben zerstört.
Gerade dieses Urtümliche reizt Balthasar Streiff – jene archaischen Klänge, die nicht
so harmonisch daherkommen wie der Heimatkitsch aus Standortmarketing und
Musikantenstadl. Was ihm zu starr war, hat er einfach übersprungen. Vielleicht ist
ihm das leichter gefallen, weil er ursprünglich von der Bildenden Kunst kommt, nicht
von der Musik.
Das Alphorn hat mit einem Hirten nichts zu tun, sondern das sind alles
Agglomerationsalphornisten, die das Instrument blasen. Einer von hundert ist
vielleicht noch jemand, der oben auf der Alpe sitzt und das Instrument spielt.
Abgesehen davon, dass man heute das Handy hat, um zu kommunizieren. Das ist
eigentlich alles ein romantischer Blick.
Die tatsächlichen Ursprünge des Alphorns sind dagegen bis heute unbekannt: Wo
und wann es erfunden wurde, wozu es genutzt wurde und wie es einmal klang.
Geschnitzt wurde das Alphorn damals vermutlich aus einer Tanne oder Fichte, die
am Hang wächst und unten, kurz vor der Wurzel, gebogen ist. So musste man den
Stamm nur abschneiden, einmal durchtrennen, aushöhlen und wieder
zusammenbauen.
Balthasar Streiff packt zwei, drei unterschiedliche Hörner mit möglichst hohem
Schalldruck ein. Der 55-Jährige will einige Orte in der Basler Innenstadt aufsuchen,
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die besondere akustische Effekte erzeugen. Auch mit Musikstudenten geht er gerne
auf die Suche nach solchen Soundspots, um ihr Gehör für den Raum zu schulen.
Das ist ja super, weil das hat jetzt nicht mehr funktioniert, seit sie die Bretter hier
hingestellt haben. Und jetzt, wenn man hier herumgeht und klatscht, dann hört man
hier jetzt plötzlich in diesem Meter: Ganz kurz hinter dem Klatschen hat es diese
Frequenz.
Balthasar Streiff steht auf einer Aussichtsterasse am Rhein und geht klatschend im
Kreis, sein Blick ist konzentriert und doch nach innen gerichtet. Zwei Hundehalter
laufen vorbei, schauen ihm kurz befremdet zu und gehen weiter. Der Musiker lässt
sich nicht ablenken, klatscht weiter, bis er exakt den Ort gefunden hat, wo die Treppe
zu singen beginnt.
Ich habe ja diese Soundspots zusammen mit Studenten der Hochschule gesucht
oder ausprobiert. Sowohl bei der Produktion als auch bei der Rezeption ist der Ort
fast zentimetergenau wichtig, dass das stimmt. Wenn man da vor dieser Treppe
steht, dann singt das nach jedem Klatschen.
Musiker sind stark davon abhängig, wie Räume und Orte klingen. Erst recht
Alphornbläser, die meist draußen spielen.
Das Alphorn ist ja mit der Idee des Echos verbunden – und in der Tat ist es auch,
wenn man mit dem Alphorn draußen spielt, ist es eben sehr wichtig, wie man den
Standort wählt. Weil, wenn man irgendwo spielt, tönt wie eine Kartontrompete, also
das tönt überhaupt nicht. Also, wenn man auf dem Berg oben steht und spielt, da
kommt nichts zurück. Der Ton fällt gleich nach dem Becher auf den Boden und weg
ist er. Also furztrocken, wie in einem Studio. Oftmals. Und da muss man eben ein
Gefühl dafür bekommen, wo könnte eine gute Resonanz entstehen.
Balthasar Streiff steigt ein paar Stufen zum Rhein hinunter und läuft Richtung
Brücke. Unter der Brücke sitzen mehrere Jugendliche, kiffen und kichern. Von der
Altstadt her nähert sich ein Ausflugsdampfer. Der Musiker legt das Horn an.
Wenn man draußen spielt, erzählt er, ist der Klang von so vielem abhängig: Wind,
Wärme, Tageszeit, Luftfeuchtigkeit. Und all die vermeintlichen Störgeräusche in der
Stadt könne man auch kompositorisch nehmen.
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Dann kommt dazu, das ist auch noch interessant: (lacht) Auf Meereshöhe tönt das
natürlich alles viel besser. Je höher man geht, desto schlechter tönt das im Grunde
genommen. Die Luft wird dünner, es ist viel schwieriger zu spielen. Die Alpen sind
eigentlich nicht so ein geschickter Ort, um Alphorn zu spielen. Je tiefer man ist, desto
mehr Sound hat man.
Als der Ausflugsdampfer unter der Brücke hindurchfährt, lässt der Musiker nochmal
drei Töne erklingen. Und tatsächlich: Der Dampfer antwortet mit seinem Schiffshorn.
Die beiden Musiker von „Stimmhorn“ waren die erfolgreichsten, aber nicht die
einzigen, die vor rund 20 Jahren begannen, die Traditionen aufzubrechen. Zum
einen kamen neue Impulse aus der Volksmusikszene selbst: von jungen Musikern,
denen die traditionellen Ländlermuster zu langweilig geworden waren. Zum anderen
gab es viele Komponisten und Jazzmusiker, die sich auf der Suche nach frischen
Klängen überall auf dem Globus getummelt hatten und nun zurückkehrten, zu ihrem
eigenen musikalischen Erbe.
Die sogenannte „Neue Schweizer Volksmusik“ ist jedoch kein einheitlicher Stil. In
den letzten zwei Jahrzehnten wurde viel ausprobiert, altes Material ausgegraben und
mit nicht-volksmusikspezifischen Instrumenten kombiniert. Längst ist auch eine neue
Generation junger Musiker herangewachsen, die sich ohne Berührungsängste an die
Volksmusik wagt. An der Hochschule in Luzern kann man Volksmusik seit ein paar
Jahren sogar studieren.
Mittwoch früh halb neun an der Hochschule Luzern. Die Proberäume sind schon fast
alle besetzt, junge Menschen mit Instrumentenkoffern strömen die Treppen hoch.
Die Uni Luzern ist die einzige Hochschule in der gesamten Schweiz, an der man
Volksmusik als Schwerpunkt studieren kann. Gleich beginnt die Probe der
Hochschulband: Streicher, zwei Hackbretter, eine Handorgel, also die typischen
Schweizer Volksmusikinstrumente – und dazu noch eine E-Gitarre, nicht so typisch.
Die Studenten tragen auch keine Tracht, sondern Schlabberpullis und Turnschuhe.
Was aber nicht bedeutet, dass sie nachlässig spielen würden.
Nach der Bandprobe folgt ein Workshop, bei dem Tänze und Lieder ohne Noten,
also nur nach Gehör gespielt werden müssen. Der junge Mann mit der E-Gitarre
wechselt noch schnell das Instrument und holt eine Toggenburger Halszither aus
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dem Kasten. Ein historisches Instrument, erzählt er beim Stimmen, das ein
Geigenbauer mit den heutigen technischen Kenntnissen nachgebaut hat.
Das habe ich erst seit ungefähr einem Monat. Das habe ich ausgeliehen, weil ich
nicht wollte, wenn immer die ganzen Volksmusiker, wenn sie mit der Geige kommen
oder mit dem Hackbrett – und ich komme mit der E-Gitarre, dann bin ich der
Außenseiter. Darum habe ich etwas gesucht, das gleich laut ist wie eine Geige, aber
ein Saiteninstrument, das der Gitarre ähnlich ist.
Manuel ist 27, stammt aus Liechtenstein und studiert eigentlich Jazzgitarre. Erst hier
an der Hochschule in Luzern ist er überhaupt mit Schweizer Volksmusik in
Berührung gekommen. Trotzdem wirkt er mit der Halszither im Arm genauso
entspannt wie mit der E-Gitarre.
Ich finds einfach sehr schöne Melodien, die sehr fröhlich sind meistens. Und
vielleicht genau, weil sie so einfach sind, aber dann gibt es so die Details, dass man
sie sich so gut merken kann und sie einem bekannt vorkommen.
Der tägliche Wechsel vom Jazz zur Volksmusik und zurück ist für ihn mehr eine
technische Herausforderung als eine ideologische. Schwierig für ihn sind vor allem
Phrasierung und Artikulation, erzählt Manuel, weil die in der Volksmusik so anders
gehandhabt werden als im Jazz. Also spielt er viel in Volksmusikensembles mit. Für
ihn steht beides selbstverständlich nebeneinander, auch wenn nicht alle seiner
Mitstudenten aus der Jazzklasse das nachvollziehen können.
Viele kennen das auch nicht und haben sicher Vorurteile. Ich denke auch, viele
belächeln das ein bisschen vor allem wegen der Harmonie, die ja traditionellerweise
sehr einfach ist. Und im Jazz ist es ja eigentlich anders. Und darum finden die das
meistens ein wenig langweilig von der Harmonie her.
Früher waren in Luzern das Konservatorium, die Akademie für Kirchenmusik und die
Jazzschule getrennt. Heute ist alles unter einem Dach vereint. Und seit knapp zehn
Jahren kann man an der Hochschule auch die Schweizer Traditionsinstrumente
Hackbrett und Schwyzerörgeli studieren, vorher gab es für sie schweizweit keine
akademische Ausbildung.
Geleitet wird das Volksmusikensemble von Markus Flückiger, selbst begnadeter
Schwyzerörgelispieler, wie die Handorgel hier genannt wird, und einer der Pioniere
aus den Neunzigern. Erst mit seiner Band „pareglisch“, dann mit den „Hujässlern“
mischte er die Volksmusikszene kräftig auf, brach Tabus und stieß auf viel
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Widerstand. Zwanzig Jahre später haben es die jungen Musiker aber auch nicht
einfacher, glaubt Flückiger.
Es ist vor allem schwieriger für sie heute, weil wir sind sofort aufgefallen. Wir
mussten eigentlich nicht viel anders machen als die Traditionsmusiker – und schon
fiel man extrem auf, es gab zu reden, man war im Gespräch. Und heute erwartet
man eigentlich schon fast etwas Neues von den Jungen. Es ist viel schwieriger so,
sich zu behaupten.
Gerade, weil es viel selbstverständlicher geworden ist, die Volksmusik mit Jazz, Folk
oder Rock zu mischen und die Stücke auf anderen Instrumenten zu spielen.
Trotzdem, erzählt Markus Flückiger, nimmt die Hochschule nur Studenten an, die
einen volksmusikalischen Hintergrund mitbringen – also schon viel Volksmusik
gemacht haben. Ins Ensemble werden dann aber auch Studenten aus dem Jazz
eingeladen – wie Manuel mit seiner E-Gitarre.
Dass der Transfer auch in die andere Richtung bestens funktioniert, zeigt Christoph
Pfändler, einer der ersten Absolventen der Neuen Volksmusikklasse. Der junge
Musiker hat zwar seit seiner Kindheit Hackbrett gespielt – allerdings vor allem Metal.
Um Gottes willen keine Volksmusik.
Ich komme mehr aus dem Metal/ Rock/ Pop, aus dem Bereich. Und ich habe mich
dann wegen der Hochschule in die Volksmusik hineingearbeitet mit dem Hackbrett.
Was ja ein traditionelles Schweizer Volksmusikinstrument ist. Aber ich habe mich da
wirklich von außen rangetastet und irgendwann gemerkt: Ja, es gibt auch coole
Volksmusik.
In seiner Jugend war die nämlich verpönt in seinem Freundeskreis, erzählt der 23Jährige St. Galler unbefangen. Er gibt sich auch äußerlich ironisch-düster mit
Lederjacke und Patronengurt, zusammen mit dem hölzernen, filigran verzierten
Hackbrett ein echter Stilbruch. Wie seine Musik: Metal und Hackbrett – das klinge in
etwa so, schrieb eine Regionalzeitung, als würde man Spaghetti mit
Schokoladensauce servieren.
Ich habe wirklich jahrelang gesagt: Ja, das ist scheiße. Und dann irgendwann
gesagt: Das ist das Kerngeschäft, die Volksmusik. Also musst du dich auch damit
auseinandersetzen.
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Also hat sich Christoph Pfändler ins traditionelle Hackbrettspiel reingekniet und
gleichzeitig seine Metalkapelle gegründet. Für ihn ist das kein Widerspruch.
Finanziert hat die Band ihre erste CD via Crowdfunding im Internet, getauft wurde sie
konsequenterweise auf den Titel „Fuckbrett“. Die meisten Songs auf dem Album hat
Pfändler selbst komponiert, dazu kommen Coverversionen berühmter Metalklassiker
wie „Ace of Spades“ von Mötorhead. In der klassischen Volksmusikbesetzung: Cello,
Kontrabass, Klavier – und eben: Hackbrett.
Das Frölein Sophie zeigt dem Elsie, wie man die Fidle unter das Kinn klemmt, wie
man sie stimmt und die Töne truckt. Wie der Bogen geharzt sein will und dass am
sächsi z’Abig die Chilenglocken läuten und man diese Saite nach der hellen Glocke
stimmen muess. Weil sie das Elsie nicht an den Flügel lassen könnte, wenn sie weg
sei. Da hätt der Vater sicher keine Freud. Aber die Fidle, die stehe sowieso nur
umen, obwohl es eigentlich eine richtig guete Fidle sei, eine Jakob Stainer, und der
seig also berühmt für seine Fidlen.
An dem Abig, endlich in ihrer Chammmer, nimmt das Elsie ein Flanelllümpli und fährt
jeder Maserung nach. Goldgelb glimmt das Instrument, wie das Bernsteinkreuz, wo
dem Frölein Sophie manchmal auf dem Dekolltee hängt, und ocker, wie wenn der
Jakob, der Rosschnecht, den Falben frisch gestrieglet hat. Aber am meisten, findet
das Elsie, hat die Fidle genau die braunrot-goldige Farbe von den Augen vom Elsie
seiner Muetter. Bevor sie angefangen hat, Bluet zu husten und ihr ein Schleier über
die Augen gewachsen ist und sie ganz den Geist aufgegeben hat und das Elsie ins
Herrenhaus gekommen ist.
Wie sie dann den Bogen ansetzt, gibt es einen eisigen Ton, und die Welt gefriert. Vor
Schreck lässt das Elsie fast den Bogen gheien. Aber wie der Ton verklingt, fehlt ihr
schon öppis, und so streicht sie einen zweiten, sonnigen, dermit der erste, wohin der
auch verklungen ist, dort nicht so muetterseelenallein umenschwingt. Und dann
schickt sie einen ganzen Regenbogen hinterher und lacht, wie die Töne miteinander
forthüpfen, bis hoch in die Chammer vom Frölein Furrer. Der säbeln sie einen Riss
in die Kruste, sie löst sich den Haarchnopf und bindet sich ein Seidentuech um den
Hals. Und dann geht sie, vom Elsie ihren Tönen umflatteret, ganz allein ins
Wirtshaus. Und redet dort sogar mit einem Mann!
Volksmusik war in der Schweiz lange Zeit vor allem Tanzmusik, gespielt von
fahrenden Musikanten oder Kurkapellen. Die klassische Besetzung: zwei Streicher,
Trompete oder ein anderes Blechinstrument, Klarinette und Bass oder Bassetthorn.
Doch mit der Erfindung des Akkordeons war es Ende des 19. Jahrhunderts vorbei
mit den großen Ensembles: eine Ziehharmonika und selbst ihre kleine Schwester,
die Handorgel oder Schwyzerörgeli, wie man in der Schweiz sagt, konnten zwei
Geigen ersetzen. Das war billiger – und auch lauter.
So richtig populär wurde die Ländlermusik dann allerdings erst in den Zwanziger
Jahren – und zwar vor allem in den Städten. Durch Schallplatten, später durch das
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Radio. Zunehmend wurde sie dann von der Unterhaltungsindustrie kommerzialisiert
und von rechten Kreisen auf heimatliche Lobgesänge reduziert. Bis dann, noch
einmal vierzig, fünfzig Jahre später, die Ländlermusik und die Ländlermusiker wieder
zurückkehrten aufs Land – zum Beispiel in den Engadin.
Mit bauchigen Instrumentenkoffern, Rucksäcken, Rollkoffern stehen die fünf Musiker
von „Ils Fränzlis da Tschlin“ unter der großen Uhr in der Zürcher Bahnhofshalle:
Domenic Janett: Klarinette – sein Bruder Curdín: Kontrabass – dessen Töchter:
Madlaina: Bratsche und Cristina: Cello – sowie deren Kusine und die Tochter von
Domenic, Anna Staschia: Geige. Die „Fränzlis da Tschlin“ sind ein
Familienunternehmen, zu ihren Konzerten, erklärt Domenic Janett, fahren sie nicht
mit dem Tourbus, sondern mit dem Zug. Curdin Janett schnalt seinen Kontrabass im
Vorraum neben der Tür fest.
Der Heimatort der Musikerfamilie ist Tschlin im Unterengadin, heute aber leben die
meisten von ihnen über die ganze Schweiz verteilt. Als die Töchter klein waren,
spielten ihre Väter ungefähr die Art Ländlermusik, wie sie von den vierziger bis in die
achtziger Jahre überall in der Schweiz populär war – und auch überall ähnlich klang.
Bis sie im Jahr 1983 für eine Schallplatte die sogenannte „Fränzlimusik“ ausgruben:
altes Engadiner Liedgut aus dem 19. Jahrhundert, das sie zwar ganz nett, aber doch
ziemlich altmodisch fanden. Die Tochter Madlaina erinnert sich:
Dass sie damals dachten, das ist für eine Schallplatte. Das ist altmodische Musik und
wir sind schon viel weiter. Und das war dann sofort ein Selbstläufer, dieser neue
Sound. Oder: dieser altneue Sound – ohne Akkordeon. Der schlug vor allem in der
Kulturszene, die sich eben vom handorgellastigen Ländler abgrenzte, ein. Und seit
mehr als dreißig Jahren gibt es also die „Fränzlis“.
Der Name „Ils Fränzlis da Tschlin“ ist dabei durchaus als Verbeugung vor dem wohl
bekanntesten Musiker aus dem Engadin zu verstehen, dessen Liedgut sie bis heute
zu ihren Stücken inspiriert.
Der Fränzli, der Franz-Josef Waser, das muss in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts in Südbünden – also im Unter- und Oberengadin – DER Musikant
gewesen sein. Der war so berühmt und stilprägend, dass sich dann eben viele
Musiken im und ums Engadin Fränzlimusik nannten. Also das war wie ein Stil. Und
dieser Franz-Josef, der war blind und muss sehr gut Geige gespielt haben. Er war
ursprünglich ein Jenischer, der mit seinen Brüdern, die alle übrigens auch Franz-
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Xaver, Franz-Anton etc. hießen, ist der von Dorf zu Dorf gezogen und hat
aufgespielt.
Auch die neuen „Fränzlis“ sind viel für Konzerte unterwegs – in der gesamten
Schweiz, nicht nur im Engadin. Heute geht es zu einem Konzert nach Ilanz in der
Surselva.
Die fünf Musiker packen, ohne ein Wort zu verlieren, ihr Picknick aus. Offenbar sind
sie recht gut aufeinander eingespielt – oder bereits damit aufgewachsen.
Es ist schon klar, dass es sehr familiär geprägt ist. Schon lange. Aber immer offen für
Adoptivkinder. (lacht) Was gut ist am Familiending, dass vieles so selbstverständlich
ist. Und dass man das schon als Kind lernt. Da müssen wir vieles nicht
ausdiskutieren, weil wir es schon kennen. Aber wenn jetzt jemand kommt und wir
verstehen uns musikalisch – und er kommt damit klar, dass er in einen Clan kommt,
dann ist das überhaupt kein Problem.
Im Kino von Ilanz werden die Instrumente ausgepackt, gestimmt und ein paar Takte
angespielt. Es wird mehr gelacht als geredet – und wenn, dann wieder diese
spezielle Fränzlimischung aus Schweizerdeutsch, Rätoromanisch und
Familiencodes.
Es wirkt nicht so, aber tatsächlich ist es noch nicht lange her, dass die „Fränzlis“
dringend einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin für das Cornet brauchten – aber
niemand aus der jüngeren Generation spielte Cornet. Was also tun?
Man kann es schlicht nicht planen. Als der Duri am Cornet aufgehört hat, da ist
schon Krisenstimmung ausgebrochen. Da mussten wir uns schon überlegen: Was
macht eigentlich die Fränzlis aus? Weil es ist ja zum grossen Teil die Besetzung.
Und da müssten wir jetzt einen anderen Trompeter suchen. Da haben wir diskutiert:
Vielleicht ist es ja nicht nur die Besetzung, sondern auch die Person, die Art, wie sie
musiziert.
Die Lösung war so naheliegend wie genial: Man versuchte es mit einem Cello statt
einem Cornet – also mit Madlainas Schwester Cristina. Zuerst war das Publikum bei
Konzerten kritisch, dann beklagte man sich, dass auf den CD-Aufnahmen das Cello
fehle. Da wussten die „Fränzlis“, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatten
– und nahmen einfach eine neue CD auf. So ist die jüngere Generation mit drei
Frauen jetzt zum ersten Mal in der Mehrzahl. Vielleicht also doch eine gute
Nachwuchsplanung der Väter? Curdin Janett erinnert sich noch gut, wie er Madlaina,
die erste Tochter gefragt hat. Damals ging sie noch zur Schule.
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Ja, könntest Du Dir vorstellen, bei den Fränzlis mitzuspielen? Da hat sie gesagt: Ja
spinnst Du? Und dann habe ich einfach nichts gesagt und mal gewartet und dann
nochmal gesagt: Ich habe das schon ernst gemeint. Und dann wieder gewartet und
nochmal gefragt. Und irgendwann hat sie ja gesagt. Und hat angefangen.
Und dann spielt das Elsie: das Meer hinter Floränz, wie weit es ist und wie man nicht
weiß, wo das Meer aufhört und der Himmel anfängt und man drum denken kann,
man stünde nur eine Fuessbreite vom Himmel entfernt. Sie wird dabei immer größer,
das Elsie, zuerst füllt sie die Eingangshalle aus, bis zuoberst, und dann breitet sie
sich aus, das Knie hat schon keinen Platz mehr und wächst zum Frölein Sophie in
die Chammer hinein und truckt sie an ihren Spiegel und nimmt ihr den Schnauf. Und
dann spielt das Elsie: wenn man einen Fuess ins Wasser setzte, müesst man flügen
können, in die große Bläue davon.
Das Elsie spielt: Wie die Wellen an den Strand schwappen. Wie man in ein Boot
steigt und weiß, dass das Große, das Wunderbare, wo doch in jedem Leben einmal
passieren sollte, wo doch einfach passieren muess, wie soll man das auch sonst
aushalten, das Leben, dass das eben genau dort auf einen wartet, ennet dem blauen
Meer und ennet dem Boot.
Das Elsie spielt, dass das Meer halt eben auch vereisen und keine Wellen mehr
schlagen kann und dass man dann, setzt man seinen Fuess darauf, nicht in eine
endlose Bläue fliegt, sondern einfach bös ausrutscht und stürzt.
Es ist ein Glück, sind die Köchin und die Küchenmeitli auf dem Markt: Wie das Elsie
nämlich mit einem scharfen Ton abbricht und auf ihre normale Größe
zusammenschnurrt, da bersten und zerreißen und platzen die gerade noch so vollen
Herzen, das buttrige vom Frölein Sophie hinterlässt einen fettigen Fleck in ihrer
Chammer.
Zur Schweizer Volksmusik gehört natürlich auch das Jodeln. In seiner ursprünglichen
Form ist Jodeln ein wortloses Singen, eine vokale Technik, die es erlaubt, über weite
Entfernungen zu kommunizieren, über Berge und Täler hinweg. Meist sind vor allem
verkitschte Versionen solcher Jodler zu hören, Lieder im Dirndl gesungen, in denen
die Heimat gepriesen und nur in den Zwischenstücken noch wortlos gejodelt wird,
liegt daran, dass der Eidgenössische Jodlerverband eben diese Art zu jodeln
gefördert hat – und alle anderen Varianten oder regionalen Ausprägungen von
seinen Wettbewerben ausgeschlossen waren.
Nun gibt es in jeder Volksmusik regionale Ausprägungen, und in der Schweiz umso
mehr, weil die Bergler oft weit voneinander entfernt leben. So gibt es Regionen und
Bergtäler, in denen sich recht urtümliche Jodeltraditionen erhalten haben. Im
Muotathal in der Innerschweiz zum Beispiel wird noch ein wildes, an die Älpler
erinnerndes Jodeln gepflegt. Wie beim Alphorn werden dafür Natur- und Obertöne
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erzeugt – weshalb es für unsere, an die temperierte Stimmung gewöhnten Ohren,
erstmal ziemlich schräg klingt.
Die fünf Männer sind unter das Scheunendach geflüchtet, um sich vor dem Regen zu
schützen. Über dem Muotathal hängt dichter Nebel, ein Wasserfall schießt von der
mächtigen Bergkette ins Tal hinab. Er ist nur zu hören, so dicht ist der Nebel. Ein
Hahn plustert sich auf und streckt seinen Hals dem Regen entgegen.
Proben kann man es nicht nennen, was die fünf Männer an diesem Abend im
Muotathal zusammenkommen lässt. Geselliges Beisammensein trifft es vermutlich
besser, schließlich haben sie alle einen langen Tag im Stall und auf der Weide hinter
sich. Sie jodeln auch nicht, sondern juuzen. Benny Betschart grinst.
Wir sind mit dem aufgewachsen. Für uns war es kleine Buben schon normal, dass
man gejuuzt hat. Später hat man dann vielleicht bemerkt, dass es nicht jedermanns
Sache ist, wenn man Samstag abend nach 12 noch ein Jüüzli auf der Straße
gemacht hat. Das war dann nicht so toll für viele, die wollten lieber schlafen und das
nicht hören.
Juuzen lässt sich mehrstimmig und alleine. Am besten aber spontan, draußen in der
Natur, wo die Berge mit einem Echo antworten. Und beim Kühe- oder Ziegenmelken,
findet Christian Gwerder – aber nur, solange der Vater nicht da ist.
Wenn ich alleine bin, zum Beispiel auf der Alp. Wenn man in der freien Natur ist,
juuzt man einfach, wenn man es einem danach zumute ist. Und wenn man denkt,
das hört sonst niemand außer das Vieh. Spontan macht man es gerne in der freien
Natur.
Daniel Schmidig singt dagegen am liebsten, wenn er auf dem Traktor sitzt.
Also am meisten juuze ich eigentlich – was nicht so typisch ist – auf einer Maschine.
Da ärgert man niemanden. Der Motor macht dann fast eine Stimme, wenn man das
Gas auf die Bassstimme runtertourt.
Jeder Juuz – oder Jüüzli, wie sie hier im Muotathal sagen – ist nach einem ähnlichen
Schema aufgebaut. Und jede Familie singt die Jüüzli ein wenig anders. Noten gibt es
keine, zu juuzen lernt man nur übers Zuhören und Mitsingen. Wenn gewaschen wird
zum Beispiel oder gemolken. Ein spezielles Abwasch- oder Melkjüüzli gibt es aber
nicht.
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Was es gibt, und das ist wirklich eine archaische Form zu juuzen: Das sind diese
„Kuhreien“. Das sind Lockrufe, auch „Löckler“ genannt. Die brauchte man früher sehr
viel, wenn man am Abend die Kühe in den Stall treiben will. Da hat es auch so Teile
wie bei den Jüüzli, aber einfach noch ein wenig wilder und nicht so in einem Schema.
Das ist etwas richtig Freies, kommt aus der Brust heraus und ist voller Kraft. Das ist
etwas Wunderschönes. Und die Kühe kennen das. Die heben dann den Kopf..
Die Verbindung von Mensch zu Tier ist dann wie enger. Man ist eine Einheit, wenn
man zum Beispiel eine Ziege oder eine Kuh milcht oder sie holen geht und in den
Stall geht. Man fühlt sich verbunden mit der Natur. Und das Vieh hört es auch gerne.
Sie bewegen die Ohren, sie haben ein schönes Ohrenspiel. Man merkt, dass es
ihnen auch gefällt.
Die fünf Männer flüchten sich vor dem Regen in die Waschküche, wo schon Kaffee,
Bier und Schnaps bereit stehen. Ob ihre Art des Naturjodels auch vor einer Jury des
Eidgenössischen Jodlerverbands bestehen könnte – das haben sich die Bergler noch
nie gefragt. Für ein Jodlerfest haben sie im Sommer eh keine Zeit, da sind die
meisten von ihnen mit dem Vieh auf der Alp.
Also wir juuzen ja nicht, dass der Jodlerverband zufrieden ist oder dann ins Schema
passen. Wir juuzen so, wie es uns überliefert worden ist. Und drum lässt es mich
eigentlich auch kalt, ob wir in ihren Augen das Richtige machen. Aber für uns
Muotathaler stimmt das so. Seit jeher.
Und bereitet es ihm auch keine Sorge, dass diese recht außergewöhnliche und rein
mündliche Tradition des Naturjodelns mal verloren gehen könnte, wenn niemand
mehr das Brauchtum pflegt? Der Bergler aus dem Muotathal reagiert gelassen.
Also nein, eigentlich nicht. Wenn es niemanden mehr interessiert, es ist dann ja egal,
ob sie verloren geht. Dann hat der Jodlerverband gewonnen.
Der Berg ruft. Das waren Gesichter Europas an diesem Samstag: Schweizer
Volksmusik zwischen Brauchtum und Experiment. Eine Sendung mit Reportagen von
Stefanie Müller-Frank. Die Literaturpassagen entnahmen wir dem Roman „Jakobs
Ross“ von Silvia Tschui, gelesen wurden sie von Angela Metzler.
Ton und Technik: Daniel Dietmann und Christoph Schumacher.
Im Namen des gesamten Teams verabschiedet sich am Mikrophon Simonetta
Dibbern.
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