In Gedenken an Christian Gottfried Dierig

ZUM GEDENKEN AN
Christian Gottfried Dierig
S
einer Herkunft nach und geprägt von
den Wirrungen des Lebens hätte
Christian Gottfried Dierig vieles werden können. Ein autoritärer Patriarch wie viele
Unternehmenslenker seiner Generation. Ein
Volkstribun, der an der Spitze tausender Textilarbeiter wütend gegen den Strukturwandel in
der Textilindustrie und deren Niedergang
aufbegehrt. Genauso hätte er ein Intellektueller unter den Unternehmern werden können,
Bildung und Verstand hätten spielend gereicht,
um diese Rolle auszufüllen.
Christian Gottfried Dierig war nichts
davon. Er war gebürtiger Schlesier, seine Familie stammte aus Langenbielau. Sein Ururgroßvater Christian Gottlob Dierig hatte 1805 mit
dem Textilgeschäft begonnen. Damals war
Schlesien preußisch. Aus dieser preußischen
Traditionslinie leitete sich vieles ab, was Christian Gottfried Dierigs Charakter auszeichnete.
Wie sich der „Alte Fritz“ als erster Diener im
Staate verstand, so verstand sich Christian
Gottfried Dierig als erster Diener im Unternehmen. Einer seiner Lieblingssätze: „Das gehört
sich so.“ Was sich nicht gehörte, war ebenso
klar: Großtuerei, Neid, Zynismus, das Schielen
allein auf den eigenen Vorteil.
Geboren wurde Christian Gottfried
Dierig am 12. Oktober 1923 in Langenbielau.
Sein Vater Gottfried Dierig war, zusammen mit
seinem Onkel Dr. Wolfgang Dierig, gerade
dabei, das Unternehmen zu einer Aktiengesellschaft umzuwandeln und zum größten Baumwollkonzern Europas auszubauen. Christian
Gottfried Dierig hatte eine unbeschwerte Kindheit und Jugend. Er spielte mit Arbeiterkindern
am Bach, half bei der Heuernte, wurde schlesischer Jugendmeister im Skilanglauf und Zweiter bei der Deutschen Jugendmeisterschaft. Als
der Vater wissen wollte, mit welchen Skiern
sein Sohn das Rennen angetreten hatte, musste
der Sohn gestehen, dass er dafür 59 Mark vom
Sparbüchlein genommen hatte. Für den ersten
Platz hätte der Vater die neuen Skier ganz
bezahlt, für einen zweiten Platz spendierte er
dem Sohn nur die Hälfte, akkurat 29 Mark und
50 Pfennig.
Die Erbfolge hatte Christian Gottfried
Dierig eine eher untergeordnete Rolle im
Unternehmen zugedacht, aber seine beiden
älteren Brüder fielen im Zweiten Weltkrieg.
Christian Gottfried Dierig hätte als letzter
Überlebender seinen Abschied von der Wehrmacht nehmen können, aber der junge Artillerieleutnant blieb bei der Truppe und schlug sich
auf dem Rückzug zu Pferde von der Ostfront bis
zu den Amerikanern durch. Dort geriet er in
Gefangenschaft, wurde aber bald entlassen und
am 9. Juni 1945 von einem Army-Laster auf
den Augsburger Königsplatz gekippt. Alle
ZUM GEDENKEN AN
Christian Gottfried Dierig
Besitztümer der Familie im Osten waren verloren.
In Augsburg fand er Arbeit in den
Dierig-Fabriken, nicht in der Chefetage,
sondern als Hilfsschlosser mit 47 Reichspfennig
Stundenlohn. Am Wochenende übte er sich in
den zerbombten Fabriken im Steineklopfen und
dem Wegräumen von Schutt. Seine Frau
Marlies, eine Angehörige der Familie Martini,
lernte er in der direkten Nachkriegszeit kennen.
Wer ein Arrangement unter Augsburger Textilbaronen vermutet, ist auf dem Holzweg. Die
späteren Eheleute trafen sich 1946 zufällig auf
einer improvisierten Abiturfeier, auf der sich
die beiden eine halbe Flasche Wein und eine
Schachtel Zigaretten teilten.
1953 stieg Christian Gottfried Dierig in
den Vorstand des Unternehmens auf und
verstand sich dort als Organisator und Techniker – aber nie als Technokrat. So wurde aus
dem einst größten Textilunternehmen des
Kontinents wieder das größte Textilunternehmen Deutschlands mit bis zu 8.000 Mitarbeitern. Mit Mitteln der Organisation und Technik
versuchte Christian Gottfried Dierig, dem
Niedergang der deutschen Textilindustrie
entgegenzuwirken. Unter seiner Ägide investierte Dierig permanent in hochmoderne Ringund Rotorspinnereien, beschaffte und betrieb
die schnellsten Webautomaten und Druckma-
* 12.10.1923
in Langenbielau/Schlesien
† 05.06.2016
in Augsburg
schinen. All dies konnte den Strukturwandel
aber nicht dauerhaft aufhalten, der die heimische Textilindustrie in den 1980er und 1990er
Jahren zum Erliegen brachte.
Daher entwickelte Christian Gottfried
Dierig, inzwischen Mitglied des Aufsichtsrates,
mit seinem Sohn 1989 einen Rückzugsplan aus
der Inlandsfertigung. Seit 1997 konzentrieren
sich die Gesellschaften der Dierig Holding AG
auf den Textilhandel, das Bettwäschegeschäft
und das Immobilienmanagement. Christian
Gottfried Dierig blieb engagierter Unternehmer
und überzeugter Textiler. Auch im hohen Alter
fuhr er nicht in sein Büro, sondern immer nur
in „seine“ Fabrik.
Das Leben mit seinen vielen Rückschlägen hätte aus Christian Gottfried Dierig
einen harten und verbitterten Menschen
machen können. Christian Gottfried Dierig war
das Gegenteil davon.
ZUM GEDENKEN AN
Christian Gottfried Dierig
Der Zaungast
2004
Bilder von einer Reise nach Schlesien.
Eine Reise dorthin, wo alles anfing.
D
er 80jährige Gast ist ein Herr. Er ist
sympathisch und weltgewandt, zuvorkommend und doch ein klein wenig
egozentrisch, dabei leutselig und zugleich sehr vornehm. Sofort flirtet er mit den Stewardessen und
wird im Gegenzug gleich umsorgt und umhegt. Er
genießt es, genießt auch mit tiefen Zügen die erste
Marlboro nach dem anderthalbstündigen Eingepferchtsein in der Turboprop. Holzklasse. Landung
in Wroclaw, zu Deutsch Breslau.
Im Mai 2004 fliegt Christian Gottfried Dierig,
Zeitzeuge, gemeinsam mit mir, Hans Pöllmann,
Berufsschreiber, für dieses Buch nach Hause. Sein
schlesisches Zuhause – in dem er doch nur einen
Bruchteil seiner Lebenszeit zubrachte. Wir fliegen in
ein Land, in dem er sich daheim fühlt und doch ein
Gast ist.
Die Kindheit in den 20ern, ja, die war unbeschwert in Langenbielau. Dann, nach der Grundschule, aber kam der Bub bald in die ehemalige Kadettenanstalt Templin. Eine Eliteanstalt, was sonst.
Der Vater Gottfried Dierig hat gesagt „in Langenbielau bist du ein Dierig. Immer ein Dierig. Du stehst
hier unter Beobachtung. Du mußt hier weg, du
gehst hier weg.“ Was der Vater sagt, das zählt damals. Und es gilt noch heute. Vaters Urteil ist weise,
aber auch unerbittlich. Der Onkel Wolfgang, Doktor
der Chemie, zehn Jahre älter als der Vater, war anders. Leichtlebiger, leichtfüßiger vielleicht. Das
rechte Wort dafür will sich nicht finden lassen.
Dr. Wolfgang lebte mit seiner Familie im Jugendstilhaus, sein jüngerer Bruder Gottfried mit seiner Familie in einer Etagenwohnung. „Dr. Wolfgang
baute sein Haus 1903, in einer guten Zeit. Mein
Vater gründete Familie und Hausstand 1918, nach
dem Krieg. Da war kein Geld da“, sagt Herr Dierig.
Aber keiner der Brüder hat jemals die Lebensumstände des anderen geneidet oder auch nur kommentiert. Als mit der Hammersen-Übernahme
einer der Direktoren nach Osnabrück ging, wurde
nun auch für die Familie Gottfrieds ein standesgemäßes Wohnhaus frei.
Wenn Christian Gottfried Dierig vom Vater
spricht, hat das einen besonderen Klang. Den Onkel
nennt er „Dr. Wolfgang“. Doktor. Die Angestellten
der Fabrik reden in den 20er und 30er Jahren ihre
Chefs mit dem militärischen Dienstrang aus dem
Ersten Weltkrieg an und in der dritten Person: „Haben Herr Rittmeister schon gesehen . . .“ Die wenigen Polen, sie sind nicht in der Fabrik, sondern
Landarbeiter auf den Gütern, sagen „Gnädiger
Herr“. Wie soll es da demokratisch zugehen? Später,
ab 1933, macht die Deutsche Arbeitsfront (DAF) die
Belegschaft zur Gefolgschaft. Folgen heißt hinterherlaufen, folgen heißt gehorchen. Robert Ley, Führer der DAF, ja genau, dieser Ley, der die NaziOrdensburgen in Crössinsee, Vogelsang und Sonthofen errichten ließ, war Intimfeind der Dierigs und
wollte den Vater verhaften und ins KZ werfen lassen,
berichtet Herr Dierig. Aber Göring persönlich habe
D e r Za u n g a s t
Ich der Zaungast?
Ich bin hier zu Hause!
den Vater Gottfried Dierig gewarnt. Der konnte sich
über einen Parteieintritt und 100.000 Reichsmark
Aufnahmegebühr loskaufen.
Wir sind noch nicht angelangt in Langenbielau,
aber der Kamm des Eulengebirges kommt in Sicht.
Es sprudelt heraus aus dem Herrn Dierig auf der
einstündigen Autofahrt von Breslau nach Langenbielau, jetzt Bielawa. Dariusz Szczechowiak, der Fahrer, ist ein netter Kerl, spricht ausgezeichnet
Deutsch. Die heutige Textilfabrik, Bielbaw mit
Namen, hat ihren tüchtigsten Mitarbeiter abgestellt,
um den Herrn Dierig ein Wochenende lang zu
chauffieren. Bielbaw macht seit den 90ern Geschäfte mit Dierig, da kann es nicht schaden, freundlich zu sein.
Das Eulengebirge. Der Vater, ein Spartaner, der
seinen Kindern auf Wanderungen über die grünen
Mittelgebirgshöhen griechische Sagen erzählt, nicht
nur Ilias und Odyssee, sondern Kias und allerlei
anderes, für heutige Ohren unverdauliches Zeug.
Obwohl kriegsversehrt, ein Bein ist nach einer Verletzung kürzer zusammengewachsen, dazu hat
etwas, ein Splitter, ein Schuß, ein dröhnender Pferdehuf, das Stirnbein des Kavallerieoffiziers Gottfried
Dierig im Ersten Weltkrieg zerfetzt und durchlöchert, schont sich der Vater nicht und schlägt ein
strammes Marschtempo an. Dazu trägt er erbauliche Gedichte vor. Gottfried Dierig ist ein belesener
Mann, bibelfest. In seiner Freizeit legt er vier Bibeln
nebeneinander, die Hebräische, die Griechische, die
lateinische Vulgata, die Lutherbibel. Der Konzernherr hat ein besonderes Steckenpferd. Er durchsucht
das Buch der Bücher nach Übersetzungsfehlern.
Zeit müssen die Leute gehabt haben, Zeit! Aber ja,
sie haben Zeit gehabt. Und dafür keinen Fernseher,
kein Internet, keine hundert Zeitschriften, angefüllt
mit morgen vergessenen Nichtigkeiten.
Nichts, das ablenken könnte.
D e r Za u n g a s t
Das Geburtshaus. Nur ein
wenig Stuck. Und bewohnt
wurde nur die obere Etage.
Der Vater gründet die Familie
nach dem Ersten Weltkrieg.
Das Geld ist damals knapp.
Sogar für einen Dierig.
Trotz der ausgedehnten Bibelkenntnis. Kirchenchrist ist Gottfried Dierig keiner, wie die wenigsten aus der Familie. Die evangelische Kirche (sie
wird nur an hohen Festtagen besucht, dann aber
gleich in der Familienloge) ist dennoch gebaut auch
aus Mitteln von Fabrik und Familie. Die Dierigs sind
in Glaubensfragen tolerant. Das läßt sie später gut
nach Augsburg passen, wo seit dem Augsburger
Religionsfrieden die Toleranz zu Hause ist. Nicht
nur die evangelische Kirche kann in Langenbielau
auf Mittel der Familie bauen, zum Bau des katholischen Gotteshauses spendet man ebenfalls Geld.
Heute, im papsttreuen Polen, sind beide Kirchen
katholisch, berichtet Fahrer Dariusz. Der evangelische Friedhof ist weg, damit die Familiengräber.
Das Haus von Dr. Wolfgang,
heute ein Hotel. Die Anrichte
ist original. So massiv, daß sie
die Russen drinlassen mußten.
Herr Dierig verspürt Heimat. Er kommt nach
Hause. Wie früher, in den Ferien. Die Ferienwochen
daheim zählen in der Erinnerung hundertfach. Das
Haus wird nie durch den Haupteingang betreten.
Alle, bis auf den Vater und Dr. Wolfgang, gehen
durch die Hintertür direkt in die Küche. Sommers,
der Geruch von Heu, als Erntehelfer auf den zwei
familieneigenen Gütern, machen sich die Knechte
einen Spaß daraus, den Jugendlichen zu piesacken
und seine schwachen Arme auszutesten. Aber ein
Dierig läßt sich nicht mürbe machen, nicht in der
Schule, nicht in der Arbeit, nicht im Sport. Beim Skilanglauf trainiert Christian Gottfried seine Zähigkeit, wird schlesischer Jugendmeister und dann
Zweiter bei der Deutschen Jugendmeisterschaft. Der
Vater fragt: Mit welchen Skiern? Der Sohn hat sich
für den Wettkampf neue gekauft, vom Sparbüchlein
mit 60 Mark 59 davon heruntergenommen. Für den
ersten Platz hätte der Vater die neuen Skier ganz bezahlt, für einen zweiten Platz gibt es nur die Hälfte.
Akkurat 29 Mark und 50 Pfennig. Das prägt.
Dann kommt der Krieg. Die beiden Brüder
rücken ein und fallen, Christian Gottfried könnte
sich drücken. Er ist der letzte männliche Überlebende seiner Generation. Der Vater ist im ersten
Krieg schwer verwundet worden. Für solche Fälle
haben selbst die Nazis im totalen Krieg ein Gesetz,
das die Söhne von der Front heimholen kann. Aber
er bleibt. „Weil drücken, das tat man nicht.“ Vom
Krieg berichtet Christian Gottfried Dierig wenig,
jetzt nicht, als wir Langenbielau erreichen, später
nur das Übliche: Kameradschaft, russische Kälte,
Rückzug, der zur Flucht wird. Dazu Geschichten, in
denen hohe Tiere der Nazis von feldgrauen Frontschweinen hereingelegt werden. Für das andere, das
Grauen, gibt es keine Worte, die man sagen kann.
Obwohl: Der Krieg gibt Christian Gottfried für kurze
Zeit den Vater wieder. Ende 1943 die zweite Verwundung, eine schwere, die ihn ins Lazarett nach Langenbielau bringt. Der in Kindheit und Jugend oft
vermißte Vater kommt ans Krankenbett, die beiden
D e r Za u n g a s t
reden lange Zeit von Mann zu Mann. Dann holt sich
der Krieg fast die ganze Familie. Als die Russen
kommen, nehmen sich Vater, Mutter, Onkel, Tante,
Cousin und Cousine das Leben.
Jetzt aber das Ortsschild, Bielawa, just an der
Stelle, an der früher Langenbielau geschrieben
stand. Auf der Fahrt durch das ehemals längste Dorf
Deutschlands sagt Christian Gottfried ganz beiläufig
etwas Wunderbares: „Vor 20, nein bald schon 30 Jahren hatte ich einen Traum. Im Traum bin ich durch
Langenbielau gefahren und als ich bei der Post war,
bin ich aufgewacht. Ich habe mich so geärgert, weil
solche Träume niemals weitergehen. Dann bin ich
wieder eingeschlafen und im Schlaf bin ich den Rest
der Strecke bis zum Sommerhaus meines Großvaters weitergefahren.“
Wir schweigen eine Weile, dann planen wir den
Tag. Es ist Freitag, noch wird gearbeitet, daher zieht
es uns in die Fabrik. Der Generaldirektor empfängt
uns freundlich, wie gesagt, Dierig macht Geschäfte
mit Bielbaw. Der Generaldirektor residiert in einer
Chefetage im ersten Obergeschoß. Die Dierigs, der
Vater und Dr. Wolfgang, arbeiteten früher unten, im
Erdgeschoß. Dort beginnt der Rundgang. Im Büro
des Onkels hängt ein Waschbecken vor einer häßlich
blau gefliesten Wand. Christian Gottfried Dierig betritt das Büro seines Vaters. Zum ersten Mal seit
sehr, sehr langer Zeit. Der Panzerschrank, ein weiß
angepinseltes Monstrum, steht am alten Ort. „Mein
Gott, ist das Büro klein. Ich habe das viel größer in
Erinnerung.“ Die Fotos mißlingen. Ein Glück.
Christian Gottfried Dierig atmet schwer, aber nicht
die Marlboro ist schuld daran.
Auf in den Websaal! Dort findet er die Fassung
wieder, dort taucht er ein in sein Element, beobachtet fachmännisch die mit modernen Displays ausgestatteten Webstühle, lobt im lärmenden Durcheinander die hohe Schlagzahl der Maschinen und
Dierig macht Geschäfte
mit der polnischen Bielbaw.
Der Empfang des Direktors
ist freundlich.
Auf in den Websaal!
Der Weber Christian Gottfried
Dierig blickt, prüft, kontrolliert.
Er ist in seinem Element.
D e r Za u n g a s t
Herr Dierig sieht Verfall
nur ungern.
rümpft die Nase über staubige Fußböden. Er drillt
Fäden, überschlägt im Kopf die tägliche Produktion,
begutachtet die Raumaufteilung. Er kämpft mit sich.
Das Auge des Textilers sieht Verbesserungspotential.
Aber er sagt wenig dazu, denn: Es ist nicht mehr seines, es wird nie mehr seines sein. Und die Produktion in Deutschland ist verlagert, alles ist weg. Wie
lange das neue EU-Mitglied Polen wohl noch mit
den Löhnen in Fernost mithalten kann?
Die Besichtigungstour geht weiter. „Den größten Produktivitätsfortschritt hat die Spinnerei gemacht. In den 50er Jahren sagte man, mehr als
30 Meter pro Minute an den Strecken würde die
Baumwolle nicht mitmachen. Und heute ist man bei
800!“ Dierig überschreit den Lärm: „Das Hauptproblem in meiner aktiven Zeit als Techniker in der
Spinnerei war, daß die Arbeiterinnen so schwer
heben mußten, pro Schicht mehr als zwei Tonnen
Kreuzspulen und Kardenkannen. Ich hatte damals
die Idee, sie mit einer kleinen Mechanik zu unterstützen, und prompt stieg die Produktivität um
20 Prozent.“ Spielend leicht erklimmt er die Treppen eines mehrstöckigen Glaspalastes, früher das
Hauptgebäude der Spinnerei. „Merken Sie, wie hier
ein anderes Klima herrscht? In der Weberei brauchen Sie eine etwas höhere Luftfeuchte als in der
Spinnerei.“ Er ist Profi. Als Techniker hat er in
seiner Vorstandszeit über 100.000 Quadratmeter
Fabrikflächen errichten lassen und hat in Maschinen investiert. Als Vertriebler hat er mit Versandhandelskunden verhandelt. Als Produzent hat er
exaltierte Grafiker besänftigt und mit Webern über
Fadenbrüche philosophiert. Er ist ein Profi, der auch
einem Laien die komplexen Zusammenhänge der
Textilproduktion verstehbar machen kann. Und:
Christian Gottfried Dierig ist auf der Höhe der Zeit.
Denn das Aufsichtsratsmandat bei der Dierig
Holding AG nimmt er durchaus aktiv wahr. In Augsburg ist er oft in der Fabrik.
Aber Augsburg ist jetzt fern, jetzt wollen wir
über Langenbielau reden. Das, was Christian
Gottfried Dierig „die Fabrik hier“ nennt, ist ein riesenhaftes Konglomerat an Backsteinbauten. Zwei,
drei, vier, fünf, sechs Geschosse hoch. Mit Übergängen, mit Gassen und Fahrstraßen dazwischen, alles
angeordnet nach einem geheimnisvollen Plan. Hier
das Kraftwerk, überragt vom 110 Meter hohen
Schornstein, dort die eigene Tischlerwerkstatt. Da
drüben die Feuerwehrgasse. Ja, natürlich hatte man
eine Feuerwehr. Textilfasern bringen eine hohe
Brandlast mit sich, die vielen beweglichen Teile, die
heißlaufen können, und in der Ausrüstung riesenhafte Wäschekochbehältnisse und Trockner und
allerlei geheimnisvolle Chemie. Das ist eine brandgefährliche Mixtur. Dort stand die Schmiede, oder
besser, eine kleine Metallfabrik, in der Ersatzteile für
die Maschinen hergestellt wurden. Und hier die
Pferdeställe. Im Postkutschenzeitalter, das weit bis
ins 20. Jahrhundert reichte, waren die Rösser un-
D e r Za u n g a s t
verzichtbar zum Transport von Ballen, Rohgewebe,
Fertigware. Und von Menschen. Von Friedrich
Dierig jun. geht die Mär, daß er nie in ein Auto
gestiegen ist. Gelebt hat er bis 1931.
Neben der Fabrik liegt das firmeneigene Gut,
aber das will Christian Gottfried Dierig nicht anschauen. Herr Dierig hat den schlechten Zustand
schon bei früheren Besuchen gesehen, aus der
Ferne sieht alles nach wie vor verfallen aus. Verfall
sieht Herr Dierig nicht gern.
Dafür freut er sich, wenn sich andere, Polen, der
Hinterlassenschaften der Dierigs annehmen. Zum
Beispiel das Haus des Großvaters Friedrich, direkt
vor der Fabrik gelegen. Daneben liegt das Haus des
Großonkels Phillip, des „Pferdefreunds“, der mit
seiner Rennpferdezucht wenig Glück hatte und
umso mehr Geld dafür ausgab. Ein Pole hat die beiden Häuser mit einem neuen Gebäudetrakt verbunden, will daraus ein Hotel bauen. Die Arbeiten
ziehen sich bereits eine Weile hin, weiß Christian
Gottfried Dierig. Morgen wollen wir die Häuser genauer ansehen. Dazu ist es heute zu spät.
Wir fahren weiter die Biele entlang, einen munteren Gebirgsbach, in der früher die Gassenkinder
(und manchmal die unbeaufsichtigten Mädchen
und Buben aus dem Hause Dierig) spielten. Es geht
bergan. Die Weiblein früher haben sich arg geplagt,
den Leiterwagen den Anstieg hinaufzuziehen. Einmal, da half der ältere Bruder von Christian
Gottfried Dierig einer solchen Frau und schob den
Wagen an. Dafür erhielt er, unerkannt geblieben,
fünf Pfennig. Und steckte das Geld gern ein. Woraufhin sich die Langenbielauer die Mäuler zerrissen:
Jetzt nehmen die reichen Leute den Armen das Geld
weg. Aber der Vater sah es gelassen. Verdient ist verdient.
Kilometer um Kilometer fahren wir weiter bergan. Langenbielau – wirklich das längste Dorf
Deutschlands. Endlich tröpfelt die Bebauung aus,
der Anstieg zum Eulengebirge wird steiler. Das
letzte Haus auf der rechten Seite ist das Sommer-
Dafür gefällt es ihm, wenn die
heutigen Eigentümer die Bausubstanz wieder herrichten.
Das Haus des Großvaters
Friedrich Dierig jun. wird zu
einem Hotel umgebaut. Die
Hoteldichte von Langenbielau
ist beeindruckend.
haus des Großvaters, gegenüber war das Erholungsheim für Lungenkranke, das von Minna Dierig
errichtet wurde. Übrig sind nur noch die Grundmauern. Dahinter wird die Straße zum Gebirgsweg.
Wir wenden. Das Haus des Großvaters ist ein imponierend großer Fachwerkkasten, ein Schlößchen,
überragt von einem Wetterhahn, auf dem dankenswerterweise 1894 steht, das erleichtert die Datierung. Wir schauen durch den Gartenzaun, in einiger
Entfernung sitzen Leute im Garten und heben die
Köpfe. Es sieht privat aus und wir wollen nicht
stören, fotografieren nicht, sondern fahren gleich
ein paar Kilometer weiter westlich zum Jugendstilhaus von Dr. Wolfgang, das seit zwei Jahren ein
Hotel ist und in dem wir untergebracht sind. Es ist
komisch, wie viele Hotels Bielawa braucht, räsoniert
Herr Dierig. Messen, touristische Attraktionen,
Sportstätten – all das, was Übernachtungsgäste an-
D e r Za u n g a s t
Konzernchef Gottfried Dierig
privat. Ausspannen in den
schattigen Lauben im Garten
seines Bruders Dr. Wolfgang.
Der sammelt derweil an geheimen Plätzen den Waldmeister
für die Maibowle.
zieht, hat die Stadt nie gehabt und hat es bis heute
nicht. Die Textilfabriken allein sind bestimmt nicht
so stark, um die Hotels auszulasten. Der Kaufmann
in Herrn Dierig stellt im Kopf Wirtschaftlichkeitsberechnungen an. Aber er ist Textiler und kein
Gastronom. Die werden schon wissen, wie sie rechnen müssen, sagt er achselzuckend.
Das Haus von Dr. Wolfgang. Jugendstil. Nicht
das historisierende Zeug, das einem die Immobilienmakler hierzulande als Jugendstil verkaufen,
sondern Jugendstil. Echter. 1903. Die Bäume, die Dr.
Wolfgang hat pflanzen lassen, sind alt und mächtig
geworden. Dafür fehlt die alte Linde. Eine Bank ging
um die alte Linde, sagt Herr Dierig, und im Mai ging
Dr. Wolfgang in den Wald, Waldmeister sammeln,
um eine Maibowle anzusetzen. Die wurde dann auf
der Lindenbank ausgetrunken.
Maibowle. Man stelle sich vor: Der Vater
Gottfried, der Bruder Dr. Wolfgang Dierig, dazu die
Vettern Mittelstaedt, Hillmer und Bamberg. Sie
organisieren dort unten in der Fabrik, die nur an
manchen Stellen durch das Laub der Bäume blitzt,
an sechs Tagen in der Woche die Arbeit von Abertausenden Menschen. Gottfried Dierig ist der Chef
der Reichsgruppe Industrie (also des wichtigsten Industrieverbandes seiner Zeit). Boten bringen Korrespondenz aus aller Herren Länder. Wieder mal ruft
Göring an, der Vierjahresplan drängt. Und die
Herren? Sitzen draußen mit ihren Familien im Park
und trinken in trauter Runde Maibowle. Sobald wirtschaftliche Macht privat wird, wird sie dann trivial?
Was hätte denn mein Vater trinken sollen, fragt Herr
Dierig. Was hätte er essen sollen? Wie hätte er sein
sollen?
Am anderen Tag wollen wir die Häuser von
Philipp und Friedrich Dierig jun. ansehen. Der
Hotelumbau, die zwei schönen Häuser vor der häßlichen Fabrik, wie der Pole früher sagte. Schon vor
zwei Jahren, als Herr Dierig das letzte Mal hier war,
wurde renoviert. Zwei Jahre lang renovieren? Nicht,
daß man zwischenzeitlich faul gewesen wäre! Die
beiden Stadthäuser muten von außen recht stattlich
an. Von innen sind sie atemberaubende gründerzeitliche Pracht. Stuck. Terazzoböden. Der Portikus
figurengeschmückt. Der Festsaal mehrgeschossig,
holzgetäfelt. Das Glück der beiden Häuser: Sie standen nie leer, waren lange Zeit Parteizentrale der
polnischen KP (sogar Kommunisten wissen architektonische Schönheit zu schätzen) oder Kinderheim. So muß vieles zwar umgebaut und renoviert
werden, aber die Häuser sind in der Substanz heil
geblieben und die Polen sind faszinierend gute Restauratoren, arbeiten akribisch an der Bewahrung
der Substanz.
Wie oft wurde das Land von Kriegen zerschmissen, in Kriegen, an denen die Deutschen in schöner
Regelmäßigkeit beteiligt und nicht unschuldig
waren?
Im Haus des Großvaters arbeiten und leben
D e r Za u n g a s t
17 Dienstboten. In den Festsaal passen 80 Leute.
Rauschende Feste, dekadente Bälle, Belle Epoque?
Endlich mal Champagner, oder wieder bloß Waldmeisterbowle? Eher letzteres. Familienfeste werden
groß gefeiert, Hochzeiten am größten, dann Kindstaufen, die Konfirmation weniger. Sie ist ein Initialisierungsritus, man gilt nun nicht mehr als Kind.
Selbstverständlich hat der Tod seinen Platz im Leben.
Beerdigt wird grundsätzlich erst ab 14 Uhr, dann
kann standesgemäß Frack getragen werden. Dr.
Wolfgang übrigens kommt zu Beerdigungen ins
Haus seines Bruders Gottfried und wirft sich erst
dort in den Frack. Dann, auf dem Heimweg, nimmt
er dort noch einen Schlummertrunk.
Der Onkel ist beliebt bei den Kindern. Steckt
ihnen Geld zu für Schokolade, die es im Elternhaus
nicht gibt.
Die Fabrik ist jetzt besucht und begutachtet, die
Häuser von Onkeln und Großvater sind es auch.
Nun will sich Christian Gottfried Dierig den Orten
der eigenen Kindheit zuwenden. Das Geburtshaus
an der Dierigstraße ist schnell von außen angeschaut, ein Wohnhaus, kaum Schmuck an der Fassade, nur das Obergeschoß ist ein wenig verziert.
Dann die ehemalige Direktorenvilla auf dem Butterberg, einer kleinen Erhebung als Ausläufer des
Eulengebirges, das spätere Zuhause. Das Gelände
ist umzäunt, der neue Besitzer hat keine Lust auf
neugierige Blicke. Ein Kongreßzentrum soll es werden, oder noch mal ein Hotel. Der 80jährige geht die
Aufstiege rund um den eingezäunten Butterberg
hoch wie ein Junger, blickt hinunter ins Tal wie er
früher als Kind hinuntergeblickt hat. Dariusz, der
Führer, hofft auf ein Loch im Zaun, einen Hintereingang. Christian Gottfried Dierig sagt, er hat
schon viele Hintereingänge genutzt zum Rein- und
Rauskommen in seinem Leben. Herr Dierig lacht
dazu schelmisch. Das Deutsch von Dariusz ist nicht
gut genug, um die symbolische Anspielung zu verstehen und er sucht weiter nach einem Loch im
Zaun. Vergebens. Herrn Dierig ist jetzt anzumer-
Christian Gottfried Dierig im
Festsaal des Hauses seines
Großvaters. Dieses Motiv gibt
es in diesem Buch zweimal.
Hier ist er allein. 77 Jahre eher
ist er der Kleinste, umringt von
seiner Familie. Das andere Bild
finden Sie auf der Seite 73. Das
Zurückblättern lohnt sich.
ken, daß er froh ist, daß Dariusz keinen Durchschlupf findet. So kann er es vermeiden, seinem ehemaligen Wohnhaus zu nahe zu kommen, womöglich als alter Mann in seinem Kinderzimmer zu stehen. Er berichtet von dem zweiten Besuch mit gleich
einer Busladung voll Mitgliedern der Familie, und
dem Schock der Frauen darüber, das Haus zu sehen.
Damals, berichtet er, seien die Frauen weinend vor
ihrem früheren Wohnhaus gestanden. Polen seien
gekommen und hätten die Weinenden tröstend in
den Arm gehalten, hätten mitgeweint. Völkerverständigung ohne Worte.
Und jetzt, ob ihm das Herz nicht blutet?
Ausgeblutet, sagt er.
Schnell lenkt er das Thema wieder auf die
Frauen. Herr Dierig redet sonst wenig von den
Frauen. Die Mutter, Offizierstochter aus einem Dorf
in der Nähe von Ulm. Der Vater war im Ersten Weltkrieg dort einquartiert. Geheiratet wurde im letzten
Kriegsjahr. Die Mutter ist eine Nachfahrin der
Philippine Welser. Also Patrizierblut, wenngleich
die Familie nicht reich war. Und es gibt mütterlicherseits Beziehungen nach Augsburg.
Abrupt macht Herr Dierig kehrt. Weinen um
den Verlust, Weinerlichkeiten, damit hat er nichts zu
tun. Er gönnt den Polen den Besitz, sofern sie ihn
nicht verwahrlosen lassen. Er freut sich über jedes
neu gebaute Haus, über schmucke Vorgärten. Nun
bricht er auf ins Dorf, läuft heiter den alten Weg zur
D e r Za u n g a s t
Weitblick über Langenbielau
auf die Flanken des Eulengebirges. Vom Turm, den dereinst der Onkel Dr. Wolfgang
gestiftet hat.
Volksschule hinab, in die er vier Jahre lang gegangen
ist. Es ist ein weiter Weg für einen Sechsjährigen, es
ist ein weiter Weg für einen 80jährigen. Er geht ihn
schnell und schnauft nicht. Laufen haben wir damals gelernt, sagt er.
Am Nachmittag erklimmen wir einen größeren
Hügel. Es gibt einen Aussichtsturm. Dr. Wolfgang
hat ihn gestiftet, Herr Dierig kennt den Turm noch
aus seiner Kindheit. Nur die alten Holzsprossen
wurden zwischenzeitlich ersetzt durch Trittgitter.
Langenbielau breitet sich unter uns aus, die Fabrik,
die alten Arbeitersiedlungen, die neuen Plattenbausiedlungen. Man kann bis Peterswaldau sehen und
Reichenbach. Nicht nur die Fabrik hat uns gehört,
hier waren die Weiden, hier die Koppeln, hier das
Gut, sagt Herr Dierig. Er sagt es ohne Bitternis. Die
Natur ist intakt, es gibt sogar Muffelwild, also Wildschafe. Zusammen mit einem adeligen Großgrund-
besitzer aus der Gegend waren es die Dierigs, welche die ersten Tiere ausgesetzt haben.
Dann fahren wir mit dem Auto, suchen einen
Gutshof der Dierigs außerhalb. In Langenbielau
kennt Christian Gottfried Dierig sich gut aus, für
den Weg ins vielleicht 20 Kilometer entfernte Gut
brauchen wir eine Straßenkarte. Wir verfahren uns
trotzdem, weil wir zwei, dreimal am Gutshof vorbeifahren. Es ist eine pittoreske Ruine, nicht mehr
wiederzuerkennen. Dann geht es weiter zu einem
zweiten Gut, ein paar Kilometer entfernt. Hier ist es
genauso, alles verfallen.
Das Ruinöse drückt die Stimmung. Es wird
Abend, wir wollen ins Hotel zurückkehren. Aber
plötzlich hellt sich die Stimmung wieder auf. Zwischen Peterswaldau und Langenbielau ist nämlich
eine Bachbrücke. Eine mit Kuppe. Herr Dierig erinnert sich, daß er als Kind den Chauffeur immer
D e r Za u n g a s t
gebeten hat, dort richtig Gas zu geben, „wegen dem
flauen Gefühl im Magen“. Der Fahrer Dariusz ist ein
netter Kerl. Er erzählt, daß er für seine Tochter hier
auch immer schnell fahren muß. Er hat also den
Wink kapiert und wir brettern mit 110 Sachen über
die Brücke, hui!
Am anderen Tage ist Abreise, vor dem Rückflug
steht noch ein wenig Breslau auf dem Programm.
Der Vater fuhr, als er Chef der Reichsgruppe Industrie war, oft mit dem Wagen nach Breslau und von
dort weiter mit dem Zug nach Berlin. Christian Gottfried Dierig darf als Kind mal nach Breslau ins Kindertheater, Peterchens Mondfahrt. Breslau ist trotzdem weit, das Leben kreist um Langenbielau.
Man fühlt sich wohl in der Provinz.
Bevor wir nach Breslau aufbrechen, will
Christian Gottfried Dierig noch das Sommerhaus
der Eltern sehen. In den Sommermonaten lebte
man in einem norwegischen Holzhaus, ein paar
hundert Meter über dem Ortsrand und doch versteckt in den Wäldern des Eulengebirges. Herr
Dierig weiß von seinen letzten Besuchen, daß nichts
mehr davon übrig ist, bis auf den Zaun. Wieder ein
Zaun. Durch ihn sind die Bäume hindurchgewachsen, die Natur holt sich das Menschenwerk zurück.
Wir müssen los, sagt er. Ja, wir müssen.