Teil 2: Bibel – einfach überlesen?

Teil 2: Bibel – einfach überlesen?
Predigt: Gabi Müller-Büchi
Chile Grüze, 5. Juni 2016
Auf Spurensuche: Gerechtigkeit in der Bibel?
Fairtrade, Bio Knospe, Max Havelaar und Co. begegnen uns
bald auf Schritt und Tritt, jeder grössere Supermarkt profiliert
sich mit seinem Engagement für eine sozial gerechtere und
grünere Welt. Ist das einfach eine Trendwelle aus dem 21. Jh.
bei der die Chile Grüze mit dieser Serie jetzt auch noch aufspringt? Oder hat dieses ganz alte Buch – die Bibel – welches
wir als Fundament unserer Kirche haben, dazu schon was zu
sagen? Wir machen uns etwas auf Spurensuche in der Bibel.
Wo spricht sie über soziale Gerechtigkeit, über Fairness, über
Unterdrückung und Ausbeutung und über das Verhältnis von
Armut und Reichtum? Bei unserer Suche können wir die Lupe
wieder wegpacken. Es ist nämlich nicht so, dass Gerechtigkeit
in der Bibel ein Randthema wäre. Man muss nicht eine Handvoll Bibelverse mühsam zusammensuchen in den 66 Büchern,
welche die Bibelbibliothek führt. Es ist nicht so, dass es da nur
irgendwo tief vergraben im AT einen kleinen Abschnitt zu dieser Thematik gibt.
Vor etwa drei Jahren hat eine Initiative verschiedener Christen
dazu geführt, dass mal ganz konkret alle Bibelstellen markiert
wurden, die von Armut und Gerechtigkeit handeln. Resultat
dieser Arbeit ist die heute im Handel erhältliche Gerechtigkeitsbibel. Fact ist, dass in dieser Bibel 3150 Bibelverse hervorgehoben sind! In rund 3000 Versen spricht die Bibel also über
Gerechtigkeit, über Armut und Reichtum. Dabei geht es um
verschiedene Arten von Armut und Reichtum, beispielsweise
auch um „geistliche Armut“. In der überwiegenden Zahl der
Fälle, geht es aber tatsächlich um materielle Armut. 3000 Stellen sind recht viel, ungefähr jeder zehnte Vers in der Bibel
dreht sich also um Gerechtigkeit. Da können wir die Lupe definitiv beiseitelassen und vielleicht eher das Brillentuch hervorholen, um unsere Bibellesebrille zu reinigen. Ich habe mal gerechnet: Wenn wir also die 3000 Stellen predigen möchten
und für jede Sonntagspredigt 10 Verse reservieren, dann gäbe
das 300 Predigten. Bei 50 Gottesdiensten im Jahr würden wir
sage und schreibe 6 Jahre lang einzig über Gerechtigkeit, Armut und Reichtum predigen. Die 3000 Stellen werden wir
heute natürlich nicht in ihrer Fülle erfassen oder systematisch
diskutieren – aber in einem kleinen Streifzug durch die Bibel
etwas erahnen, wie wichtig unserem Gott Gerechtigkeit,
Barmherzigkeit und Grosszügigkeit sind.
Auf den ersten Seiten der Bibel stellt sich Gott als Schöpfer
diese Welt vor und er zeigt sich als einer, der es gut mit uns
Menschen meint. Die ersten Geschöpfe unserer Art werden in
ein Paradies gestellt, an einen Ort, wo sie versorgt sind, wo sie
von der Fülle und der Schönheit des Garten Edens geniessen
durften. Sie mussten sich aber auch nichts anhäufen. Sie waren nackt. In ihnen schlummerte noch das tiefe Vertrauen,
dass es genug für sie hat, auch wenn sie keine Hamsterkäufe
tätigten. Gier, Misstrauen, Ausbeutung und Unterdrückung
waren erst eine Folge des Sündenfalls und prägen daher auch
alle Kapitel, die nach 1. Mose 3 folgen. Um nochmals bei den
ersten beiden Kapitel der Bibel zu bleiben: Gott gibt da Einblick in seinen Plan, den er mit uns Menschen hat: „Da sprach
Gott: »Wir wollen Menschen schaffen nach unserem Bild, die
uns ähnlich sind. Sie sollen über die Fische im Meer, die Vögel
am Himmel, über alles Vieh, die wilden Tiere und über alle
Kriechtiere herrschen.“ (1.Mose 1,26) Der Mensch soll Gott
auf dieser Welt repräsentieren. Darin gründet unsere tiefste
Motivation, warum wir uns um die Gerechtigkeit auf dieser
Welt kümmern. Und diese identitätsstiftende Botschaft ruft
uns immer wieder zu: In jedem Mensch, dem ich je in meinem
Leben begegne werde oder von dem ich höre, spiegelt sich
ebenfalls das Bild meines Gottes. Ich glaube, Repräsentant
von Gott sein, bedeutet: Das was Gott wichtig ist, soll auch mir
wichtig sein. Wofür Gott sich einsetzt, dafür soll auch ich mich
einsetzen. Wie das Wesen Gottes ist, beschreibt zum Beispiel
Mose dem Volk Israel: „Der Herr, euer Gott, ist der Gott aller
Götter und der Herr aller Herren. Er ist der große Gott, mächtig und Ehrfurcht gebietend, unparteiisch und unbestechlich. Er verhilft Witwen und Waisen zu ihrem Recht. Er liebt
die Ausländer und gibt ihnen Nahrung und Kleidung.“ (5.Mose
10,17-18) Ein ähnliches Bild zeichnet der König David in seinen
Psalmgebeten (Ps 146,7-8).
Doch obwohl die Menschen solch ein Gottesbild vorgestellt
bekamen, obwohl es in der Gesetzgebung des Volkes Israels
sozial revolutionierende Punkte gab und obwohl sie in ihrer
Geschichte selbst Unterdrückung und Ausbeutung erlebten,
sah die Realität auch zu biblischen Zeiten oft unfair und ungerecht aus. So schickte Gott einige Propheten, von denen wir
im AT viel Textmaterial haben. Diese Propheten waren eine
Art Sprachrohre der Gerechtigkeit Gottes. Soziale Ungerechtigkeit war ein Dauerbrenner in ihren Predigten:
Jeremia: „So spricht der Herr: Sorgt für Recht und Gerechtigkeit! Rettet den, der beraubt wurde, aus der Hand des Mächtigen. Achtet darauf, dass den Waisen, Witwen und Fremden,
die sich in eurer Stadt aufhalten, keine Gewalt angetan wird.
Tötet keine unschuldigen Menschen an diesem Ort.“ (Jer 22,3)
Oder Jesaja: „Fasten, wie ich es liebe, sieht doch vielmehr so
aus: Lasst die zu Unrecht Gefangenen frei und gebt die los, die
ihr unterjocht habt. Lasst die Unterdrückten frei. Zerbrecht jedes Joch. Ich möchte, dass ihr euer Essen mit den Hungrigen
teilt und heimatlose Menschen gastfreundlich aufnehmt.
Wenn ihr einen Nackten seht, dann kleidet ihn ein. Verleugnet
euer eigenes Fleisch und Blut nicht. Wenn du so handelst,
wird dein Licht aufleuchten wie die Morgenröte.“ (Jes 58,6-8)
Da könnte man jetzt noch zig solche und ähnliche Aufforderungen aus der Literatur der Propheten anhängen. Gott setzte
mit der Geburt von Jesus Christus seiner Botschaft der Gerechtigkeit noch eins oben drauf. Jesus hat sich keinen Millimeter vom alttestamentlichen Engagement für Gerechtigkeit
entfernt. Er lebte ein intensives Interesse und eine tiefe Liebe,
gerade Schutzbedürftigen gegenüber vor. „Als Jesus Mensch
wurde, ist er bei den Armen ‚eingezogen‘. Er lebte, ass und
verkehrte mit den sozial Geächteten (Mt 9,13). Er erweckte
den Sohn der armen Witwe von den Toten (Lk 7,11ff) und begegnete der Sünderin, die ihn salbte, mit dem grössten Respekt (Lk 7,36ff). Er sprach in der Öffentlichkeit mit Frauen – etwas, was damals kein Mann machte, der etwas auf sich hielt,
aber Jesus widersetzte sich dem Sexismus seiner Zeit (Joh
4,27). Er widersetzte sich auch dem Rassismus seiner Kultur; in
einem seiner bekanntesten Gleichnisse ist der Held ein verhasster Samariter (Lk 10,26ff). Er zeigte ein besonderes Interesse an den Kindern, die ihm in den Augen seiner eigenen
Apostel nur seine Zeit stahlen (Lk 18,15)“1
Jesus Christus ist Gott, der Mensch wurde und er zeigt mit seinem Leben wie kein Zweiter, was Gottes Traum von Gerechtigkeit bedeutet. Einsatz für Gerechtigkeit, gerade auch soziale
Gerechtigkeit, ist nicht einfach eine politische Idee, kein neuzeitlicher Trend, sondern zutiefst das Anliegen unseres Gottes.
Bitte stören! – Zum Zweiten!
Auf meiner Spurensuche fiel mir auf: Die Bibel ist nicht genussfeindlich, aber klar gegen Masslosigkeit. Die Bibel ist nicht
gleichmacherisch, aber klar gegen Hochmut und Überheblichkeit. Die Bibel ist nicht per se gegen Reichtum, aber klar gegen
Reichtum, der auf Kosten anderer basiert. Die Bibel ist auch
nicht grundsätzlich gegen Besitz, aber klar gegen Habgier, die
jegliche Grosszügigkeit verhindert.
Wenn es da also 3000 Stellen gibt, die von Gerechtigkeit reden, stellt sich mir schon die Frage, warum mir das oft nicht
mehr ins Auge fällt. Kann es sein, dass ich manchmal eine unsichtbare „Wohlstandsbrille“ trage, die es mir ermöglicht, die
doch sehr deutliche Botschaft ab und an zu überlesen?
Ich habe heut nochmals das „Bitte-Stören-Schild“ von letzter
Woche mitgebracht. Wir wurden am vergangenen Sonntag in
der Predigt herausgefordert, während der „Fairnünftig leben –
Serie“ offen für Störungen zu sein. Ganz besonders fairnünftig
kann es sein, wenn wir das „Bitte-Stören-Schild“ auch an unsere Bibel hängen. Ich stelle uns heute mal die spezielle Frage:
„Was erwartest du von der Bibel, wenn du in ihr liest?“ Suchst
du in ihr Ermutigung, Erbauung, Hoffnung und Verheissungen?
Das ist gut so, aber auch zu wenig, wenn es alles ist. Die Bibel
will uns ermutigen und stärken. Aber wir lesen definitiv nicht
mehr die ganz Bibel, wenn sie uns nicht auch korrigieren und
stören darf. Jemand, der beim Kurs von StopArmut mitgearbeitet hatte, schrieb: „Wir müssen lernen, die Bibel auch gegen uns zu lesen.“ Dieser Satz ist mir hängen geblieben und
fordert mich heraus. Wenn wir nur mal bei Jesus und seinen
Aussagen bleiben, dann gibt es da schon recht viel Störendes.
Hier einfach ein paar Ausschnitte aus dem Lukasevangelium:
„Doch wehe euch, ihr Reichen! Ihr habt euer Glück schon auf
Erden genossen. Wehe euch, ihr Satten! Ihr werdet Hunger
leiden. Wehe euch, die ihr jetzt sorglos lacht! Ihr werdet trauern und weinen.“ (6,24-25)
„Eure Schüsseln und Becher sind voll. Gebt das, was darin ist,
den Armen, dann seid ihr auch vor Gott rein!“ (11,41)
„Zu einem Essen solltest du nicht deine Freunde, Geschwister,
Verwandten oder die reichen Nachbarn einladen. Sie werden
dir danken und dich wieder einladen. Dann hast du deine Belohnung schon gehabt. Bitte lieber die Armen, Verkrüppelten,
Gelähmten und Blinden an deinen Tisch. Dann wirst du glücklich sein, denn du hast Menschen geholfen, die sich dir nicht
erkenntlich zeigen können.“ (14,12-13)
Klar, die Worte Jesu sind aus dem Zusammenhang gerissen.
Aber sie haben auch noch viel Piksendes und Störendes, wenn
wir sie eingebettet in ihren Kontext lesen. Natürlich ist es gut
und richtig, darüber zu diskutieren, wie die Worte Jesu im Einzelnen genau zu verstehen sind und was seine Botschaft damit
an uns heute ist. Es tut jedoch gut, wenn wir dies mal mit der
Bereitschaft tun, die „Bibel auch gegen uns selbst zu lesen“
und nicht gleich von vornherein alles wieder ausbalancieren.
In dieser Woche rückte bei mir vor allem ein sehr bekanntes
Jesus-Wort in den Vordergrund. Es stammt aus der Bergpredigt von Jesus und steht mitten in einem Abschnitt, wo Jesus
übers Schätzesammeln und Sich-Sorgen-Machen spricht:
„Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, dann wird euch das alles zufallen.“ „Es soll euch
zuerst um Gottes Reich und Gottes Gerechtigkeit gehen,
dann wird euch das Übrige alles dazugegeben.“ (Mt 6,33
LUT/NGÜ) Mir ist gar nicht mehr so bewusst gewesen, dass es
hier ja explizit auch um die Gerechtigkeit geht, um Gottes
Plan, diese Welt wiederherzustellen, seinen Schalom /Frieden
aufzurichten. Hier scheint mir nebst dem Reich Gottes und der
Gerechtigkeit vor allem das Wort „zuerst“ von grosser Bedeutung. Es geht entscheidend um unsere Prioritätenordnung. Ist
es zuerst wichtig, dass meine Hobbies, mein Haus, meine Karriere oder meine Wünsche erfüllt sind und Raum haben oder
täte es meiner Prioritätenordnung wieder mal gut, wenn ein
paar Plätze getauscht würden? Es heisst ja hier nicht: nur, einzig, ausschliesslich. Aber es heisst: zuerst! „Es soll euch zuerst
um Gottes Reich und Gottes Gerechtigkeit gehen, dann wird
euch das Übrige alles dazugegeben.“ Eine Verheissung und
Ermutigung steckt ja im Übrigen auch noch drin. Wir alle sind
dazu berufen, an Gottes Wiederherstellungsplan mitzuwirken.
Wir alle haben eine göttliche Berufung zur Gerechtigkeit! Wie
wir konkret diese Berufung ausleben, hat bestimmt auch viel
mit unseren Begabungen und unserer Persönlichkeit zu tun,
dazu aber dann mehr in weiteren Teilen dieser Serie.
Wir haben es mit Gott zu tun!
In der Bibel hat Gott also durch seine Sprachrohre, seien dies
die Propheten, die Apostel oder Jesus selbst immer wieder
zum Mitwirken an der Gerechtigkeit aufgerufen. Gott hat aber
nicht nur geredet. Er hat sich richtiggehend mit den Armen
identifiziert (Spr 19,7). Mit der Biographie von Jesus wird diese
Identifikation sehr deutlich. Jesus wurde in einem Futtertrog
geboren. Er lebte unter den Armen und Randsiedlern der Gesellschaft, viele Reiche und Angesehene fühlten sich eher abgestossen von ihm. Am Ende seines Lebens ritt er auf einem
geliehenen Esel nach Jerusalem, um dort in einem geliehenen
Raum Passah zu feiern und als er starb legte man ihn in ein geliehenes Grab. Bei der Kreuzigung losten die Soldaten um seinen einzigen wertvollen Besitz, sein Untergewand. Jesus hat
sich auch mit denjenigen identifiziert, denen Gerechtigkeit
verweigert wird. Sein Prozess wurde nicht öffentlich angekündigt, fand mitten in der Nacht statt, er hatte keine faire Verteidigung und wurde geschlagen. Jesus wurde schliesslich grausam gefoltert und hingerichtet. In diesen Punkten identifiziert
sich Jesus mit den Millionen Namenlosen, die im Laufe der
Weltgeschichte zu Unrecht inhaftiert, enteignet, gefoltert und
getötet worden sind.2
Kurz bevor Jesus zum letzten Mal mit seinen Freunden Passa
feierte und das Abendmahl einsetzte, welches auch wir im Anschluss feiern werden, beschreibt Jesus seine Identifikation
mit den Armen, Geringen und Unbedeutenden in seiner Endzeitrede: „Ich versichere euch: Was ihr für einen der Geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr
für mich getan!“ (Mt25,40) Persönlich motiviert mich diese
Zusage von Jesu schon sehr lange in meinem Leben und berührt immer wieder neu. Die grosse Liebe, die mir von Jesus
entgegenkommt, gerade auch am Abendmahlstisch, bewegt.
Wenn ich Brot und Traubensaft vor mir sehe und Jesus durch
diese Symbole sagen höre: Ich habe es für dich getan, damit
du frei und heil bist, dann trifft eine wunderbare göttliche
Liebe mein Herz. Und auf diese Liebe möchte ich antworten.
Wie schön, wenn gerade durch unseren Umgang mit den
Schwachen und Armen dieser Gesellschaft möglich wird, Jesus
zu begegnen.
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Zur Vertiefung und Weiterführung
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www.just-people.net
Bibelstellen zu Armut und Reichtum lesen (Ausdruck oder
Download)
Filmabend mit Diskussion: 7. Juni; 19:30 Uhr, Bistro Riläx
1+2 Keller, Timothy: Warum Gerechtigkeit? Gottes Grosszügigkeit, soziales Handeln und was ich tun kann. Buchtipp