Kaliyuga - Leif Inselmann

Leif Inselmann
Kaliyuga
Eine Slasher-Novelle
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In der Kapelle brannte Licht. Das war ungewöhnlich, so spät am Abend.
Bruder Johannes sah zu der Uhr, die ihm gegenüber an der Wand hing. Viertel
vor Zwölf. Dann richtete sich sein Blick wieder zum Fenster, durch das er die
Kapelle am Rande des Innenhofes beobachten konnte. Sonst war keinerlei Zeichen von Aktivität zu sehen, kein Wunder an diesem regnerischen Abend.
Irgendjemand hatte wohl noch einmal sein Zimmer verlassen, um die Gegenwart des Herrn zu suchen. Doch so spät? Irgendetwas stimmte da ganz sicher
nicht. Johannes ging im Geiste die anderen Leute durch, die infrage kamen. Nur
zehn Leute wohnten zurzeit hier im Kloster Seiwalt, auch wenn es eigentlich
wesentlich mehr beherbergen konnte. Doch viele mussten arbeiten und herkömmlichen Berufen nachgehen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Da
blieb leider nicht mehr allzu viel Zeit für den Glauben. Johannes stöhnte auf.
Nein, das war nicht wahr. Tatsache war, dass ihre kleine Religionsgemeinschaft
– die Schafe Jaldabaoths – immer weniger Mitglieder besaß. Diverse, vor allem
die jüngeren, verließen ihren Kreis, die älteren starben weg. Seit Jahrhunderten
schon hielt sich ihre Gemeinschaft, doch die sogenannte Moderne trieb sie nun
vor neue Herausforderungen. Viele bezeichneten sie als rückständig in ihrer
miesen Arroganz und ihrem heidnischen Konsumwahn. War dies der Grund,
weshalb Johannes noch um diese Uhrzeit wach war, anstatt längst zu schlafen?
Die Verzweiflung angesichts einer bösen, vom Teufel verführten Welt, die die
letzten Vertreter der Wahrheit immer mehr zurückdrängte?
Es klirrte.
Schlagartig waren Johannes‘ Augen wieder am Fenster, denn von dort draußen
war das Geräusch gekommen. Erst auf den zweiten Blick erkannte er, was zu
Bruch gegangen war. Eines der bunt bemalten Fenster der Kapelle war zerstört
worden.
Welch ein Schwein mochte das getan haben? In Johannes kochte unweigerlich
Wut hoch. Irgendwelche Jugendlichen von außerhalb vielleicht, die der kleinen
Glaubensgemeinschaft übel mitspielen wollten. Doch andererseits – das Kloster
lag Kilometer vom nächsten Ort entfernt, wieso sollten diese Schufte also den
langen Weg auf sich nehmen, zumal bei diesem Wetter?
Augenscheinlich blieb ihm nichts Anderes übrig, als nachzusehen. Vermutlich
war der Täter noch dort, man konnte ihn auf frischer Tat ertappen. Bruder Johannes stand auf und eilte zum Schrank an der linken Wand seines Zimmers.
Die weite, dunkle Jacke, die darin hing, warf er sich hastig über, dann zog er
sich Schuhe an. Wenige Augenblicke nur dauerte es, dann öffnete er die Zim2
mertür und verließ seine Unterkunft.
Eilig schritt er nun durch den langen, von tristen, grauen Wänden eingerahmten Gang, bis er die Treppe erreichte. Das Kloster war bereits alt, fast zweihundert Jahre, und die Architektur entsprechend. Zumindest aber existierte elektrisches Licht, welches Johannes nun schnell anschaltete, um nicht im Dunkeln zu
stolpern. Stets zwei Stufen auf einmal nehmend, brachte er die enge, marmorne Treppe hinter sich, welche in einem Gang nahe dem Ausgang zum Hof endete. Die schwere Eichentür war schnell erreicht. Die angestaute Wut entlud sich,
als Johannes den eisernen Riegel kraftvoll beiseiteschob. Dann endlich riss er
die Tür auf und trat auf den Hof.
Von der idyllischen Schönheit, die den Innenhof des Klosters ausmachte, war
bei Nacht und Regen nichts zu sehen. Laut prasselten Tropfen auf die von tausend Füßen geglätteten Steine des Untergrunds, die große Eiche in der Mitte
wiegte ihre schattenhaften Arme seicht im Wind. Und noch immer war Licht in
der Kapelle, der Marodeur mochte also noch da sein.
Schnellen Schrittes strebte Bruder Johannes auf sein Ziel zu. Die Kapelle, in ihrer Gestalt einer etwas kleineren Kirche entsprechend, verschmolz an der Rückseite mit der Außenmauer des Klosters. Vorne besaß sie ein kleines Türmchen
samt Glocke, darunter ein mit vielen kleinen Skulpturen verziertes Eingangsportal. Und die Tür stand offen!
Wutentbrannt trat Johannes hindurch in das überschaubare Kirchenschiff. Die
vom Regen nassen Haare interessierten ihn nicht, er hatte nur Augen für den
Raum vor ihm. Gleich einem Adler suchten seine Augen den Raum nach jedweder Person oder Bewegung ab, erkannten aber nach wenigen Augenblicken,
dass er allein war.
Dann erst, während Johannes zwischen den Reihen der Kirchenbänke hindurch
schritt, fiel ihm die ungeheure Blasphemie auf: Über dem Altar, gleich jeder anderen christlichen Kirche, hing ein hölzernes Abbild des am Kreuze leidenden
Jesus. Doch dem gemarterten Heiland fehlte der Kopf. Irgendjemand hatte mit
primitiver Zerstörungswut das Haupt Christi abgeschlagen, scharfkantig ragten
Holzsplitter aus dem verbliebenen Halsstumpf hervor.
Als könnte die Gotteslästerung nicht noch schlimmer werden, lag der abgetrennte Kopf mitten auf dem Altar, daneben brannten zwei Kerzen. Zu stark
erinnerte es an irgendeine satanische Zeremonie, als dass die Objekte zufällig
hätten deponiert sein können. Mit roter Farbe hatte man den Mund Jesu zu
einer grinsenden Fratze verunstaltet.
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„Wer…“ Der Rest des an ihn selbst gerichteten Satz blieb Johannes vor Wut im
Halse stecken.
Urplötzlich erklang ein schnalzendes Geräusch wie von einem losgelassenen
Mechanismus hinter Johannes, dann im nächsten Moment ein Klirren wie das,
das ihn aus seinem Zimmer gelockt hatte. Scherben fielen in einem regenbogenfarbenen Regen herab und zersprangen auf dem steinernen Boden. Ein weiteres Fenster war zerstört worden.
Schon war der schockierte Gläubige im Begriff sich umzudrehen, da erklang das
erste Geräusch erneut und ein Geschoss traf seinen linken Knöchel. Ein solcher
Schmerz explodierte an der getroffenen Stelle, wie er ihn nie zuvor verspürt
hatte. Als er seinen Blick nun nach unten wandte und das blutdurchtränkte Hosenbein erblickte, gab das Glied bereits nach und er fiel zu Boden. Grauenvoller
Schmerz brannte in der Verletzung, die irgendeine leise Schusswaffe gerissen
haben mochte.
Längst Tränen in den Augen, hob der gefallene Mann seinen Kopf und erblickte
die Beine einer Gestalt, die zielsicher auf ihn zukam. Darüber ein dunkler Körper, ein metallisches Glitzern in der rechten Hand. Es war die Klinge einer langen Waffe, deren Absicht offensichtlich war.
*
Ein Tumult draußen schreckte die im Bett liegende Esther Strohde auf. Leute
riefen, augenscheinlich von größtem Schrecken ergriffen. Es kam vom Innenhof
des Klosters, daran bestand kein Zweifel.
Lange Momente blieb Esther liegen und versuchte, wieder einzuschlafen – es
war nämlich noch früh, wie die Dunkelheit vor dem Fenster bewies. Doch sie
konnte sich nicht mehr entspannen. Zu groß war die Neugier, was da draußen
los war; es klang zweifellos ernst, als sei etwas Schreckliches passiert.
So kam es schließlich doch, dass sie neben ihr Bett griff und die kleine Lampe
dort anschaltete. Der Wecker zeigte 5:48 Uhr. Bei diesem handelte es sich so
ziemlich um die einzige moderne Technik in ihrem Zimmer. Man musste
schließlich rechtzeitig aufstehen, um alltäglich um sieben Uhr zur ersten Messe
zu erscheinen. Wenig später stand Esther auf und schlug die braunen Gardinen
zur Seite, um einen Blick auf den Hof zu erhaschen. Die meisten Schlafzimmer
des Klosters, so auch ihres, waren auf diesen ausgerichtet. Sofort erblickte sie
die Menschenschar vor der Kapelle. Joseph war da, auch Daniel, Heinrich und
Maria. Ersterer gestikulierte wild, als wolle er die anderen vom Betreten des
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Gebäudes abhalten. Maria Sauerbrunn, die im Kloster die Aufgabe der Köchin
innehatte, schien zu schluchzen. So kannte Esther sie nun wirklich nicht. Die
korpulente, energische Frau war sonst kaum einmal aus der Fassung zu bringen. Was, bei Gott, war da los? Nun noch neugieriger, begann Esther sich anzuziehen. Joseph würde es gar nicht mögen, wenn sie nur im Nachthemd nach
draußen kam. Da war er streng, wie auch in so einigen anderen Belangen. Seit
ihrem vierten Lebensjahr, als Esthers beide Eltern überraschend an einer
Krankheit verschieden, war Joseph Vogt der Vormund der jetzt Siebzehnjährigen. Für das Oberhaupt der religiösen Gemeinde war es eine Selbstverständlichkeit gewesen, damals ihr Taufpate zu werden. Da er nun hier im Kloster der
Vorsteher war, verbrachte auch Esther ihr Leben hier, seit sie ihren Schulabschluss gemacht hatte.
Als sie endlich auch ihre Schuhe angelegt hatte, verließ sie ihr Zimmer und hastete die Gänge und Treppen hinab zum Hof. Niemand wandte sich ihr zu, als sie
geräuschvoll die Tür nach draußen aufstieß, so betroffen waren die anderen
von dem, was auch immer dort gerade anlag.
Hektisch kam Esther näher, jetzt wurde man auf sie aufmerksam. „Was ist geschehen?“
Zunächst nur ein betretenes Schweigen, Maria unterdrückte ein erneutes
Schluchzen. „Esther“, sagte Joseph ruhig – auf jene gezwungen ruhige Art, die
ziemlich eindeutig verkündete, dass entgegen der eigentlichen Absicht der Äußerung etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Er kam langsam auf sie zu, die
Arme irgendwie kraftlos ausgebreitet.
„Was ist los?“, wiederholte sie ihre Frage. Er schloss seine Arme um sie in jener Weise, die zugleich behütend und besitzergreifend wirkte. „Es ist … wir
sprechen später. Du solltest am besten zurück auf dein Zimmer gehen, um…“
„Was ist los?“ Eigentlich lag es ihr fern, sich ihm zu widersetzen, doch was auch
immer hier geschah, ließ ihr keine Ruhe. Sie hatte ein Recht darauf, zu erfahren, was passiert war – da war sie überzeugt.
„Johannes“, sagte Joseph schließlich. „Er ist…“, er stockte, „…tot.“
„Ermordet“, fügte Daniel aus dem Hintergrund hinzu.
Zunächst konnte Esther kaum verarbeiten, was man ihr gerade gesagt hatte.
Tot? Das konnte doch wohl nicht sein.
„Wer…“
„Das wissen wir nicht“, erwiderte Joseph.
Daniel schluckte. „Er hat auch den Altar geschändet.“ Dafür erntete er einen
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kritischen Blick von Joseph, der dies wohl lieber nicht ausgesprochen gehört
hätte.
Esther spürte schon, wie Tränen in ihre Augen aufstiegen, versuchte sie aber zu
unterdrücken. Johannes hatte sie immer recht sympathisch und umgänglich
gefunden. „Wie ist er…“
„Mit irgendeiner Klinge. Man hat ihn…“
„Genug!“, fuhr Joseph dazwischen. „Wir müssen hier nicht noch das gottlose
Grauen ausschlachten, das man da angerichtet hat. Lieber sollten wir für seine
Seele beten und für die des Mörders…“
„…die sicher schon längst verloren ist“, fügte Heinrich hinzu, der bisher noch
nichts gesagt hatte. Der hagere alte Mann war bekannt für seine verbitterte
Einstellung zum Leben, die er alle um sich herum nur allzu gerne spüren ließ,
wenn er deren Gesellschaft nicht vermeiden konnte. Esther hatte vage Andeutungen gehört, dass in seiner Vergangenheit irgendetwas vorgefallen war, doch
niemand sprach darüber, weder er selbst noch Joseph noch einer der anderen.
Zunächst sprach niemand mehr – jeder missbilligte die schwarzmalerische Äußerung, innerlich waren sie aber sicher derselben Überzeugung.
„Der Teufel ist hier“, spuckte schließlich Maria aus. „Er will uns abbringen
vom…“ Die letzten Worte verschluckte ein erneutes Schluchzen.
Esther wusste nicht mehr, was sie diesbezüglich glauben sollte. Sie wollte gerne
wahrhaben, dass das bloß ein Mensch war, ein böser, sterblicher Mensch, einer
der Gottlosen von außerhalb. Doch wer, fragte sie sich, wäre dazu in der Lage?
Wer sollte sich hierhin auf den Weg machen, um einen Unschuldigen zu töten,
wenn nicht angeleitet vom Leibhaftigen persönlich?
Als ihr geschockter Geist schließlich doch die Tränen nicht mehr zurückhalten
konnte, drehte sie sich um und stapfte auf die noch immer offenstehende Tür
zu. Jetzt ging sie liebend gern auf ihr Zimmer und mied die Gesellschaft der anderen.
*
„Wir müssen die Polizei rufen“, forderte Maria. Heinrich, wie immer recht
mürrisch, stöhnte demonstrativ auf. „Und was bitte sollen die tun? Es wäre ja
wirklich mal etwas Neues, das tatsächlich ein Mörder ermittelt wird. Uns verachten die doch nur.“
Joseph war sich noch nicht ganz sicher, wie sie nun vorgehen sollten. Auch er
bezweifelte, dass der Staat den Täter würde ausfindig machen können. Der
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Mord schien ihm zu sonderbar: Keinem der anderen Klosterbewohner wollte er
die Tat zutrauen. Doch so weit ab von anderen Orten, wie sich ihre Einrichtung
befand, war es doch arg seltsam, dass jemand von außen dafür herkommen
sollte. Nur ein Verrückter konnte das getan haben.
„Doch, die Polizei sollten wir alarmieren“, entschied er schließlich. „Sonst machen wir uns auch schuldig, wenn wir das vertuschen.“ Dann wandte er sich
Daniel zu. „Lauf du zum Telefon und ruf an.“
Der Angesprochene nickte. „Mach ich.“ Sofort verließ er ihre kleine, schockierte
Gruppe vor dem Eingang der Kapelle.
„Oh Gott, oh Gott, oh Gott.“ Maria schien nach wie vor stark angeschlagen zu
sein. „Wenn ich mir nur vorstelle, wie er in der Kapelle… Das ist alles so
schrecklich. Wer tut so etwas?“
„Nur ein Gottloser“, erwiderte Heinrich. Joseph enthielt sich jeden Kommentars. Als Klostervorsteher musste er Sicherheit ausstrahlen, auch wenn er
sie selbst nicht besaß. Was, wenn doch jemand von Ihnen dafür verantwortlich
war? Jeder Mensch war empfänglich für die Sünde. Es war nicht leicht, den
Teufel immerzu erfolgreich abzuwehren. Wenn doch…
Daniel kam angelaufen. „Das Telefon ist tot. Ich kriege niemanden dran.“
Verflucht, dachte Joseph und rügte sich sogleich für dieses Wort in seinen Gedanken. Nur ein einziges Telefon existierte in ihrem Kloster und auch das wurde
nur in Notfällen benutzt. Hier sollte man sich schließlich ganz dem Glauben hingeben, zu viel Kontakt zur Außenwelt war da nur schädlich.
„Dann nimm das Auto“, befahl er nun, „und fahre zur nächsten Polizeistation.
Die müssen Kenntnis davon erhalten.“
Vor allem, dachte er, wenn der Mörder noch immer in der Nähe herumlief.
*
Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis zwei blaue Streifenwagen auf dem Platz
vor dem Kloster parkten. Kaum anderthalb Stunden hatte die Polizei gebraucht.
Wie Joseph erwartet hatte, sperrte man zunächst den Tatort ab. Alle Klosterbewohner wurden unterdessen vernommen. Die Polizisten, vier an der Zahl,
wollten wissen, ob sie in der Nacht etwas Verdächtiges gesehen oder gehört
hatten. Und natürlich, wo sie sich jeweils befunden hatten und ob das jemand
bezeugen könne. Fast alle waren sie auf ihren Zimmern gewesen, bezeugen
konnte das aber kaum jemand. Den Polizisten war mühelos anzumerken, dass
der Lebensstil der Schafe Jaldabaoths ihnen nur allzu fremd vorkam und sie
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nicht verstanden, was die Menschen hier taten.
Schließlich erschien auch die Spurensicherung. Einige Zeit war diese in der Kapelle zugange, um eventuelle Indizien zu sichern, die Aufschluss über den Täter
geben könnten. Schließlich entfernte man auch den Leichnam. Joseph protestierte noch, als man ihm erklärte, dieser würde nun zur gerichtsmedizinischen
Untersuchung gebracht werden. Eine solche Schändung des Leichnams widersprach eigentlich den Grundsätzen ihrer Religion. Doch die Beamten ließen
nicht mit sich reden, Johannes trug man also in einer weißen, sargähnlichen
Kiste davon.
*
Nachdem man ihm auf der Polizeistation unzählige Fragen gestellt hatte, durfte
Daniel endlich gehen. Jetzt wollte er endlich wieder nach Hause; das Verhör
war ihm unangenehm gewesen. Sehr gespannt war er darauf, ob die Ermittler,
die sofort nach seiner Ankunft aufgebrochen waren, etwas herausgefunden
hatten.
So startete er nun also das Auto und machte sich auf den Weg. Den Ort hatte
er bald hinter sich gelassen, bis zum Kloster lag nur noch kaum besiedeltes Gebiet vor ihm. Bloß eine Handvoll Dörfer lagen auf dem Weg. Mehr und mehr
wurde das Gelände bergig, die Straße führte kurvenreich nach oben. Nur noch
wenige Kilometer, wenn er sich recht erinnerte. Am Straßenrand sah er einmal
ein geparktes Auto stehen.
Auf einmal fuhr er um eine Kurve und sah plötzlich eine Gestalt auf der Fahrbahn stehen. Diese dachte anscheinend nicht einmal daran, zur Seite zu springen. Während Daniel erschrocken das Lenkrad herumriss, hob die Gestalt einen
Arm. Dann durchschlug ein Geschoss die Windschutzscheibe.
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„Wie gut kannten Sie Herrn Christian?“, fragte der Polizist.
Esther schwieg einen Moment und überlegte sich ihre Antwort. „Gut. Er lebte
hier mit uns.“
Beide hatten sich auf einer Bank am Innenhof des Klosters niedergelassen, gegenüber dem drohenden Eingang der Kapelle, mit der man von nun an so viel
Schreckliches verbinden würde.
„Sie leben auch hier? Permanent?“
Sie nickte.
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„Gehen Sie noch zur Schule?“
Diesmal schüttelte sie den Kopf. „Ich habe meinen Realschulabschluss gemacht.
Nach der zehnten Klasse dann habe ich das Internat verlassen.“ Weil Joseph es
nicht über die Schulpflicht hinaus finanzieren wollte. „Seitdem lebe ich hier im
Kloster mit den anderen.“
Ihr war fast, als würde der Polizist noch etwas sagen wollen, wie er sich gerade
unruhig über die Lippen leckte. Doch stattdessen kam zunächst nur ein betretenes Schweigen.
„Nun gut“, fand er schließlich den Faden wieder. „Hatte Johannes irgendwelche
Feinde? Konflikte in letzter Zeit?“
„Nicht dass ich wüsste. Er war immer sehr freundlich und…“
Sie horchte auf, als sie hörte, wie ein weiteres Auto auf dem unsichtbaren
Parkplatz hinter der Klostermauer zum Stehen kam. Bestimmt war es Daniel,
der endlich wiedergekommen war. Seit Joseph ihn losgeschickt hatte, um die
Polizei zu verständigen, war er noch nicht wieder aufgekreuzt. „Ja?“, fragte der
Polizist nun, wo sie mitten im Satz abgebrochen war.
„Er war beliebt hier. Oft habe ich mit ihm geredet, das hat er immer gern getan.“
Sie hörte Schritte, zugleich trat ein Mann durch das Tor in der Mauer des Gebäudekomplexes. Es war wohl der, der eben angekommen war – und ganz eindeutig nicht Daniel. Dieser Mann hier schien zwar ähnlich alt, wohl Ende zwanzig, hatte jedoch eine gänzlich andere Erscheinung. Er war schlank, anscheinend recht athletisch, auch wenn man dies durch seinen weiten, dunklen Mantel kaum genau erkennen konnte. Sein Gang schien Esther auf unbestimmte
Weise sehr souverän, nur allzu selbstsicher. Und er kam direkt auf die beiden
zu.
„Guten Tag“, grüßte der Polizist, der Esther gerade vernommen hatte. „Sie
sind…?“
„Kriminalkommissar Nicolas Nedo, Bundeskriminalamt. Ihnen ebenfalls einen
guten Tag.“ Um seine Zugehörigkeit zu unterstreichen, zog er eine entsprechende Ausweiskarte hervor und zeigte sie dem Beamten.
„Ich wusste, nicht, dass das BKA hier ermittelt“, erwiderte dieser erstaunt.
„Da Sie sich ja noch ganz am Anfang Ihrer Ermittlungen befinden, ist Nichtwissen nur allzu verständlich. Im Gegenteil, es sollte allen Menschen äußerste Sorge bereiten, wenn die Polizei in diesem Stadium bereits alles zu wissen vorgibt.
Und eben deshalb, weil Sie sich noch gar nicht eingehend damit haben beschäf9
tigen können, sollte es auch nicht allzu frustrierend für Sie sein, wenn ich den
Fall nun übernehme.“
„Dürfte ich fragen, wieso?“
Esther kam sich bereits etwas fehl am Platz vor zwischen den beiden Polizeibeamten, die gerade mit der Klärung ihrer Zuständigkeiten beschäftigt waren.
„Weil es sich hierbei mutmaßlich nicht um den ersten Mord dieser Art handelt“, erwiderte Nicolas Nedo. „Ich leite die bundesweiten Ermittlungen im Fall
dieses Serienmörders, der schon an mehreren Orten zugeschlagen hat.“
„Serienmörder?“, fragte Esther nun erschrocken. „Das heißt, er wird es wieder
tun?“ „Ohne Zweifel, wenn es mir nicht gelingt, ihn vorher zu stellen. Ich will
Sie nicht beunruhigen, junge Frau, doch ich fürchte, sonst wird er nicht eher
Ruhe geben, bis er alle Bewohner dieses Klosters exekutiert hat.“ Ohne weiter
auf ihr bestürztes Gesicht einzugehen, wandte er sich nun seinem Kollegen zu.
„Ich würde mich Ihnen sehr verbunden fühlen, wenn Sie nun ihre Kollegen zusammenrufen und anschließend das Gelände verlassen würden. Übermäßige
Polizeipräsenz nämlich schreckt ihn ab. Ich werde vornehmlich under cover arbeiten, um ihn zur Strecke zu bringen.“
„Sie arbeiten alleine?“
„Mein Team unterstützt mich von der Zentrale aus. Aber ich bin wohl der einzige, auf den es wirklich ankommt. Wenn Sie nun…“ Nicolas zuckte fordernd mit
den Schultern.
Der Polizist, anscheinend genervt von der autoritären Haltung des wesentlich
jüngeren BKA-Mannes, verdrehte kurz die Augen, dann machte er sich auf den
Weg zu seinen Kollegen. Der neu Angekommene wandte sich nun Esther zu.
„Und Sie sind?“
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Als erstes wollte Nicolas Nedo von Joseph, dass dieser ihm das Kloster zeigte. Er
müsse sämtliche Räumlichkeiten kennen, um ermessen zu können, wo der
Mörder sich verstecken oder jemanden in eine Falle locken konnte. Der Klostervorsteher kam dieser Aufgabe bereitwillig nach. Auch wenn der BKA-Beamte
ihm unsympathisch war – ein atheistischer Intellektueller -, so wollte er doch
noch wesentlich mehr, dass der Mörder gefunden wurde.
„Sie arbeiten also schon länger an diesem Fall?“, fragte Joseph, während sie
einen der langen Gänge des Klosters entlanggingen.
„Das kann man so sagen. Seit seinem dritten Mord liegt der Fall beim BKA, in
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meiner Abteilung nämlich. Ich fand es von Anfang an höchst interessant. Mein
Spezialgebiet ist das Profiling; ich versetze mich in den Täter hinein und erstelle
Persönlichkeitsprofile. Dieser hier hat glücklicherweise schon einmal ein Bekennerschreiben verfasst, aus dem wir einiges über ihn schließen konnten.“
„Hat er denn einen Namen?“
„Selbst wenn wir ihn wüssten, so wäre er irrelevant. Sicher haben Sie, so abgelegen und weltfremd Sie hier auch leben, schon einmal von Superhelden oder
Bösewichten in Filmen gehört, die eine Maske tragen. Hier ist die Sache die:
Nicht die Identität des Killers ist die Maske, sondern der normale Mensch dahinter. Der bürgerliche Name, das Gesicht - alles unwichtig. Er tötet nicht als
Mensch, sondern als Vertreter einer Grundeinstellung, einer Ideologie.“
„Und die wäre?“
„Er ist der Überzeugung, die Welt zu einer besseren zu machen, indem er
schädliche Elemente aus dieser entfernt.“
„Also bitte.“ Joseph schnaubte entrüstet. „Inwiefern soll Bruder Johannes bitteschön schädlich gewesen sein?“
„Er bekämpft weniger einzelne Individuen, als vielmehr Systeme, Ideologien.
Die Religion an sich ist sein größtes Ziel. Er verachtet sie aus tiefstem Herzen. In
seinen Augen ist Religion das größte Übel der Menschheit, das unbedingt aus
der Welt getilgt werden muss. Leute wie ihr, so ist er vermutlich überzeugt,
stellen eine Gefahr dar für Fortschritt, Aufklärung und natürlich Leib und Seele
der Menschen.“
„Leib und Seele? Das doch wohl krank.“
„Oh…“ Nicolas zuckte provokativ mit den Schultern. „Unabhängig von den
Schlussfolgerungen für das eigene Handeln, die man daraus zieht, ist eine solche Gefahr für Leib und Seele doch nicht von der Hand zu weisen. Er hat nicht
Unrecht mit dem Argument, so einige Übel der Menschheitsgeschichte seien
doch eindeutig der Religion entsprungen.“
„Ich verbitte mir solcherlei Unterstellungen!“ Langsam ging dieser Fremde in
ihrem eben noch unbedarften Gespräch zu weit. „Wir lehren ausschließlich
Frieden und Nächstenliebe wie unser Herr Jesus Christus.“
Nicolas blieb stehen, blickte Joseph an und hob dann die Hände, um an den
Fingern abzuzählen. „Kreuzzüge, Inquisition, Hexenverfolgung, der Völkermord
an den Katharern, die Hinrichtung Hunderttausender sogenannter Ketzer im
Laufe der Jahrhunderte, der Völkermord der katholischen Ustascha an den Serben, Beihilfe bei Massenmorden in Ruanda und Vietnam, die offensichtliche
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Unterstützung von Diktatoren wie beispielsweise Hitler und Franko…“ Er holte
kurz Luft. „Und, an oberster Spitze, die ultimative Reihe von Völkermorden der
Europäer an den amerikanischen Ureinwohnern, motiviert durch das Christentum. Ganz abgesehen von der Vernichtung ganzer Kulturen ein Massenmord,
der zahlenmäßig selbst den Holocaust in den Schatten stellt. Der übrigens“, er
hob belehrend einen Zeigefinger, „nur der Zenit eines Antisemitismus ist, der
jahrhundertelang vom Christentum kultiviert wurde. Hierbei habe ich mich erst
einmal nur auf die zahlreichste der verschiedenen Religionen beschränkt und
etwa den Islam komplett außer Acht gelassen. Aber über dessen Verbrechen
muss ich euch ja wohl kaum aufklären, schließlich ist es urchristliche Tradition,
Muslime mehr oder minder fundiert zu diffamieren und eindeutig minder fundiert abzuschlachten.“
„Das ist ja wohl…“ „Glauben Sie nicht, ich wolle ihre kleine Religionsgemeinschaft für die Verbrechen des gesamten Christentums verantwortlich machen.
Ihre Tradition in einer Reihe von Religionen, die allesamt blutig und menschenverachtend sind, muss ja nicht Ihr derzeitiges Verhalten und Denken bestimmen. Genauso wie ihre heiligen Schriften, die vor Aufrufen zu Massen- und
Völkermord geradezu triefen. Außerdem ziehen wir doch auch beide an einem
Strang, nicht wahr? Wir wollen den Mörder finden und zur Rechenschaft ziehen.“
„Ich beginne fast zu glauben, dass Sie sich ein wenig zu viel mit Ihrem Gesuchten identifizieren.“
„Als Profiler habe ich genau diese Aufgabe. Ich muss denken können wie er, um
ihn zu finden. Aber meine persönliche Abneigung gegen Religion hat nur am
Rande damit zu tun. Sie mögen vielleicht einer Weltanschauung angehören, die
ich aus gutem Grund verachte, doch sind Sie doch immer noch Menschen. Und
so ziemlich alle auf der Welt verbreiteten Weltanschauungen stimmen darin
überein, dass Menschenleben ein Wert sind, der zu bewahren ist. Im Grunde
meines Herzens bin ich Pazifist, obgleich ich erkannt habe, dass sich manche
Konflikte nicht durch Pazifismus lösen lassen.“
„Es liegt nicht unbedingt an uns Menschen, die Konflikte zu lösen. Vieles geschieht aus gutem Grund. Wir verstehen Gottes Plan nur nicht immer.“
„Oh, dass ich das vergaß.“ Nicolas lächelte kurz. „Dann erklären Sie mir bitte
einmal, welchem höheren Zweck der Zweite Weltkrieg diente.“
Joseph schluckte und setze zu einer Antwort an, brach dann jedoch wieder ab.
„Vielleicht wollte Gott das Kräfteverhältnis auf der Erde umkrempeln“, schlug
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Nicolas vor. „Europa hatte lange genug die Vorherrschaft besessen und nun
sollten einmal andere Länder dran sein, nämlich die USA und die Sowjetunion.
Ein wenig Abwechslung. Man kann nur hoffen, dass er schon im Voraus die Gefahr eines Atomkrieges bedacht und diesen entsprechend verhindert hat. Ich
möchte nichts von einem Gott hören, der Popcorn fressend zugesehen hat, wie
das russische Schiff mit den Raketen auf Kuba zuhielt, und sich gespannt gefragt hat, wie das wohl ausgehen würde.“
„Nichts geschieht, ohne dass er es will.“
„Dann ist wohl eher eine andere Erklärung angebracht. Vielleicht verursachte
Gott den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust, damit die Juden dann als Entschädigung endlich einen eigenen Staat bekamen. Das nämlich, so steht es explizit in der Bibel, ist die Voraussetzung für den Beginn der Apokalypse. Dann
hat er doch einen ganz schön seltsamen Humor, finden Sie nicht? Erst das ausgewählte Volk fast ausrotten, nur damit früher oder später der Weltuntergang
möglich wird? Was ist eigentlich mit unserem Mörder, der den armen Johannes
abgestochen hat? Ist der auch ein Werkzeug Gottes? Sicher, wenn man sich
einmal die Bibel ansieht. Da wimmelt es von willkürlich gebrachten Übeln.“
„Die da wären?“ Joseph war sich sicher, seinen Diskussionspartner nun in die
Ecke getrieben zu haben. Sicher würde er kein explizites Beispiel nennen können.
„Beispielsweise die Pest, die Gott über Jerusalem brachte. Und die Eroberung
durch Nebukadnezar. Beides, weil seine Schafe angeblich vom Glauben abgefallen waren. Am schönsten finde ich aber eine andere Anekdote. Sie kennen
doch sicher die Geschichte von Moses und den zehn Plagen?“
Nachdem Nicolas ihn einige Sekunden erwartungsvoll angesehen hatte, erkannte Joseph, dass es doch keine rhetorische Frage gewesen war. „Ja?“
„Meistens wird es ignoriert, aber wenn man die Szene in der Bibel nachliest,
dann fällt einem etwas Interessantes auf: Nach jeder der Plagen verhärtet Gott
das Gemüt des Pharaos, wodurch dieser die Israeliten immer noch nicht ziehen
lässt. Was folgern wir daraus? Die Plagen waren kein Druckmittel zur Erpressung, sondern eine perfide Methode, das ägyptische Volk so richtig in die Pfanne zu hauen.“
„Da…das werde ich einmal nachlesen müssen“, konnte Joseph nur erwidern.
„Doch was sind schon mythische Katastrophen gegen die derzeitige Realität?
Ihm genügt eine weltliche Waffe, um andere Menschen abzuschlachten. Und
da wird Gott euch auch nicht helfen. Ich bin der einzige, der zwischen euch und
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dem Killer steht. Und ihr habt Glück, dass ich zufälligerweise gerade hier bin
und nicht an einem der unzähligen anderen Krisenherde der Welt, von denen
viele noch wesentlich schrecklicher sind.“
„Soll ich mich jetzt bedanken?“
„Nicht nötig. Danken tut ihr ja schon genug, wenn auch nur dem, der euch die
ganze Scheiße eingebrockt hat. Beziehungsweise hätte, würde er existieren.
Und ich sehe es ohnehin als meine moralische Pflicht an, gegen die Übel der
Welt anzukämpfen. Zumindest ein wenig den Schaden einzudämmen, wo es
doch so viel Böses gibt, das ich nicht ändern kann.“
„Ihre Weltsicht erscheint mir pessimistisch.“
„Ach nein!“ Nicolas‘ Gesicht verzog sich in gespielter Überraschung. „Pessimismus ist der einzig logische Schluss, wenn man sich die Umtriebe unserer Spezies mal so ansieht. Mir scheint, es liegt in der Natur des Menschen, seinesgleichen und dem Rest der Welt zu schaden. Manchmal glaube ich wirklich, wir leben im Kaliyuga.“
„Im was?“
„Als Kaliyuga bezeichnet man im Hinduismus und Buddhismus das derzeitige
Weltzeitalter. Es ist geprägt von Einfalt, Korruption und Barbarei. Manchen
Überlieferungen zufolge dauert es dreitausend Jahre, angefangen zur Geburt
von Buddha Siddartha Gautama. Das war 563 vor Christus. Ein Zeitpunkt, der
ausgerechnet in die Zeit des Babylonischen Exils fällt, wo sich die kulturelle
Identität des Judentums endgültig herausbildete und somit die Wurzel für die
drei üblen abrahamitischen Religionen gepflanzt wurde. Ein seltsamer Zufall,
nicht wahr?“ Einen kurzen Moment schwieg er und ließ Joseph die seltsame
Behauptung verdauen. „Doch es ist nicht mehr als das. Ein Zufall. Weder gibt es
Götter, noch gibt es Schicksal oder irgendwelche esoterischen Weltzeitalter.
Das Kaliyuga ist nicht mehr als eine Metapher, die unsere derzeitige Welt wunderbar beschreibt. Wirklich wunderbar.“
Joseph antwortete nicht mehr. Es wäre sicher sinnlos, mit diesem Spinner zu
diskutieren. Stattdessen setzten sie schweigend ihren Weg durch das Kloster
fort.
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Seine Schritte tönten unangenehm laut, als Bruder Klemens die massive Treppe
ins Erdgeschoss hinunterstieg. Er hatte darauf verzichtet, das Licht einzuschalten, auch wenn er nicht gerade heimlich schlich. Das Mondlicht, das durch die
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hohen Fenster hereinfiel, genügte ihm. Die meisten anderen würden sich um
diese Zeit schon zu Bett begeben haben – kein Wunder, schließlich mussten alle
– mit Ausnahme des fremden Ermittlers, der sich überraschend hier einquartiert hatte – am nächsten Morgen früh zum gemeinsamen Gebet erscheinen.
Während er nun auf dem Flur des Erdgeschosses ankam und sogleich die
nächste Treppe Richtung Keller ansteuerte, kehrten seine Gedanken wieder zu
Nicolas Nedo zurück. Klemens hatte den jungen Mann am vergangenen Tag
öfters gesehen, wenn auch nur kurz mit ihm gesprochen. Noch wusste er nicht,
wie er ihn einschätzen sollte. Nicolas wirkte geradezu besessen davon, jenen
Mörder zur Strecke zu bringen. Schließlich hatte er sich sogar dazu entschieden, ja gewissermaßen Josephs Einladung erzwungen, hier zu übernachten, da
es schon zu spät sei, um diese Uhrzeit noch eine andere Unterkunft in der Nähe
zu suchen. Und um den Feind stellen zu können, falls er in der Nacht zuschlug.
Ungewöhnlich für einen Polizeibeamten, in der Tat. Auch ansonsten wirkte er
wesentlich weniger formell, als man es von seiner Zunft erwarten durfte. Doch
verdächtigen, selbst jener bösartige Mörder zu sein, tat Klemens ihn nicht.
Wieso sollte er sich dann gerade so offensichtlich unkonventionell benehmen?
Zudem war Bruder Johannes bereits ermordet worden, bevor er eingetroffen
war.
Als er nun den Keller erreicht hatte, schaltete Klemens auch das Licht an. Es
war zwar nicht so, dass er etwas Verbotenes tat, doch keiner der anderen, am
wenigsten Joseph, sah es gerne, wenn er sich noch spät abends an den Weinvorräten im Vorratsraum bediente. Zwar würde er sich selbst nie als Alkoholiker bezeichnen, doch er genoss gern hin und wieder alleine einen Schluck. Bezüglich des Alkohols kannte ihr Orden keine besonderen Vorschriften – nur die
ganz allgemeine, dass Mäßigung eine gute Tugend war.
Langsam öffnete er nun die vor ihm liegende Tür und schaltete auch dort das
Licht ein. In gewohnter Manier schritt er zwischen den mit Konserven gefüllten
Regalen hinweg, vorbei an aufgeschichteten Getränkekisten. Es war ein recht
großer Raum, mit mehreren Verzweigungen und durch die Regale in der Mitte
abermals unterteilt. Früher hatte er vermutlich eine andere Funktion erfüllt –
oder es hatte mehr Bewohner im Kloster gegeben – heute aber war die Vorratskammer nur mäßig gefüllt. Der Wein lagerte weit hinten in einer Ecke auf
der linken Seite. Fast schon beiläufig beugte sich Klemens vor und schloss seine
Hand um den Hals einer der im Regal liegenden Flaschen. Da hörte er hinter
sich die Tür ins Schloss fallen.
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Ein wenig verwundert, denn unerwarteten Windzug gab es hier unten eigentlich nicht, wandte er sich um – zu spät, denn urplötzlich erlosch das Licht im
Vorratsraum. Kam es ihm nur so vor, oder hatte er eben ganz vage eine Gestalt
nahe dem Eingang stehen sehen, kurz bevor die Dunkelheit alles verschlang?
Lange Momente blieb Klemens zunächst auf der Stelle stehen, als ob das Licht
gleich wieder angehen würde. Tat es nicht. Die Weinflasche, um die sich seine
Finger jetzt geradezu krampfhaft gekrallt hatten, hob er aus ihrer Halterung
heraus, dann trat er vorsichtig einen Schritt vor. Mit der einen Hand das kostbare Gut umklammernd, tastete er sich mit der anderen vor, bis er das Regal in
der Mitte des Raumes berührte. An diesem entlang würde er sich ganz einfach
bis zum Ausgang hangeln können, wo Lichtschalter und Tür auf ihn warteten.
Tapp. Ein Schritt hallte durch die Finsternis. Das Geräusch war leise und innerhalb eines Wimpernschlages verklungen, doch hätte den im Dunkeln Gefangenen ein grässlicher Schrei nicht stärker verängstigen können. Mit schlagendem
Herzen lauschte er in die Dunkelheit, doch das Geräusch kehrte nicht wieder.
Wenn da tatsächlich noch eine Person sein sollte, dann stand sie genau wie er
gerade auf der Stelle und wartete. Lauerte, traf es vielleicht besser, denn längst
schrie Klemens‘ Unterbewusstsein ihm zu, dass das nur der Mörder seines Bruders Johannes sein konnte. Vergeblich versuchte er diese Stimme zu unterdrücken, doch den beunruhigenden Instinkt wurde er nicht los.
Letztlich gab es doch nur eine Möglichkeit für ihn: Zum Ausgang zu gehen. Weder seine Angst noch irgendeine Gefahr würden sich lösen, wenn er weiter hier
kauerte und die bedrohliche Stille in seine Ohren eindringen ließ. So tastete er
sich also weiter bis zur Ecke des Regals, setzte einen Fuß in den Gang, atmete
tief durch und trat nach vorne. Die vollkommene Orientierungslosigkeit verbot
es ihm, größere Schritte zu machen, wo er doch jeden Moment mit Knie oder
Kopf irgendwo gegen stoßen könnte. Tief atmend tippelte er also vor, setzte
beharrlich einen Fuß vor den anderen. Die Entfernung zur Tür konnte er schwer
abschätzen – hatte er erst ein bis zwei Meter zurückgelegt oder stieß er schon
bald mit der Nase gegen die Tür?
Ein ungewohnter Widerhall seiner Schritte ließ ihn schlagartig anhalten. War
das nur sein Echo gewesen? Oder hatten sich da noch zwei andere Füße bewegt, während er angsterfüllt dem Ausgang entgegen strebte? Und schon wieder stand er da und lauschte in die Dunkelheit. Da hörte er es. Ein Atmen. Irgendjemand atmete da, vermutlich nur wenige Schritte von ihm entfernt, ruhig
und gleichmäßig, ganz anders als sein eigenes Keuchen, das von der sich breit16
machenden Panik nur umso mehr verstärkt wurde. Kurz überlegte er, ob er
sprechen sollte. Aber was sollte das nützen? Wenn das dort eine ihm wohlgesinnte Person war, so hätte diese sich längst entsprechend bemerkbar gemacht
oder selbst den Ausgang gesucht. Wenn er also einfach Wer ist da? In die Dunkelheit fragte, so würde er höchstens einem mordlüsternen Verrückten seinen
Standpunkt verraten. Aber das war sicher nicht der Fall. Klemens versuchte sich
damit zu beruhigen, dass er sich das Atmen und die Schritte nur eingebildet
hatte. In der völligen Finsternis war er vordergründig auf sein Gehör angewiesen – kein Wunder, dass die Sinne ihm einen Streich spielten, wenn sie so
überbeansprucht wurden. Nun war es auch still. Kein Atmen mehr in der
Schwärze des dunklen Kellers.
Klemens schluckte. Jetzt würde er sich ein Herz fassen und einfach vorwärtsgehen bis zur Tür, er würde diesen verdammten Vorratsraum jetzt verlassen. Da
war niemand außer ihm mit seiner irrationalen Angst. Die Weinflasche, die er
bis jetzt unbewusst umklammert hatte, stellte er auf dem Boden ab. Es war ohnehin lächerlich, diese die ganze Zeit mit sich zu schleppen wie ein kleines Kind
sein Stofftier. Noch einmal tief durchatmen. Dann los.
Zögerlich trat er vorwärts, dann machte er schnell noch einen Schritt, dann
noch einen. Jeder Tritt brachte ihn näher an sein Ziel, schon wenig später rannte er fast. Dann knallte Klemens gegen die Tür, die er in seinen furchtsamen
Visionen noch endlos weit vor sich gesehen hatte. Wie süß war doch der
Schmerz der Klinke, die ihm in den Bauch drückte!
Erleichtert fuhr er mit der Hand über die Wand neben sich, ertastete endlich
den Lichtschalter. Heller Lampenschein durchbrach die Finsternis und erstarb
dann wieder, denn in seiner Panik hatte er den Schalter versehentlich schon
wieder ausgedrückt. Egal. Klemens drückte die Türklinke herunter, riss die Tür
auf und stolperte in den fahl erleuchteten Kellervorraum. Die Angst, die sich in
ihm aufgestaut hatte, ließ ihn gleich vorwärtsrennen, hektisch die Treppe hinauf, als würde ihn ein Monster packen, sollte er noch einmal zurückblicken.
**
Aus dem Keller hörte Heinrich hektische Schritte heraufeilen. Diesmal würde er
seinen heuchlerischen Mitbruder endlich auf frischer Tat ertappen und zur Rede stellen können. Lange schon regte ihn Klemens‘ schlecht verborgene Leidenschaft auf. Kaum zu glauben, dass gerade hier so hemmungslos den niederen
gelüsten des Fleisches gefrönt wurde. Gegenüber der Treppe stand Heinrich
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nun da und lauschte, wie die sündigen Füße hastig die Stufen erklommen. Im
nächsten Moment hatte Klemens das obere Ende erreicht, stolperte fast panisch in den Flur – und erstarrte, als er Heinrich vor sich sah. Einen Moment
blickten sich beide nur an, ihre Gesichter sagten mehr als alle Worte, Klemens
offensichtlich verängstigt, Heinrich indes in höchstem Maße vorwurfsvoll.
„Schon wieder“, startete der Ankläger mit kalter Stimme. „Wie oft muss…“
Schlagartig hielt er inne, als hinter Klemens Schulter ein bleiches Gesicht auftauchte. Als Heinrich, keinen Ton hervorbringend, schreckerfüllt Augen und
Mund öffnete, schien auch Klemens zu merken, dass etwas nicht stimmte. Ein
Arm hob sich in die Höhe, in den Fingern das Heft einer langen Waffe. Fast zeitgleich mit Heinrichs verspätetem Schrei fuhr die Klinge herab und das sichelartig gekrümmte Ende des Schwertes bohrte sich in Klemens‘ Schulter. Abrupt
wurde der Verletzte zurück gerissen und fiel die Treppe hinunter, wieder und
wieder schwer aufschlagend.
Unbewegt fixierte die weiße Maske, die Heinrich eben noch für ein Gesicht gehalten hatte, den Verbliebenen. Sie glich jenen alten griechischen Statuen, alterslos und mit leicht wehleidig geöffnetem Mund. Die Augen ließen sich in den
schwarzen Löchern kaum erahnen, wodurch das Antlitz nur umso kälter und
unmenschlicher wirkte, wie der leibhaftige Tod persönlich.
Jetzt endlich konnte Heinrich sich aus seiner Starre lösen. Angsterfüllt drehte er
sich um und rannte. Klemens sah er als verloren – selbst wenn er die Verletzung und den Sturz überlebt haben sollte, so stünde doch der Mörder zwischen
ihnen. Irgendetwas klirrte knapp neben ihm, als Heinrich um eine Ecke rannte –
ein Geschoss, das ihn verfehlt hatte? Schwer keuchend hastete er weiter, für
solche Spurte war sein alter Körper nicht mehr gemacht. Doch die Angst trieb
ihn weiter und tatsächlich, als er sich umdrehte, konnte er den Feind nicht
mehr hinter sich erkennen. Hatte er diesen abgehängt? Oder war der Geisteskranke zurückgeblieben, um sich Klemens‘ Ableben zu versichern? Egal. Jetzt
jedenfalls hieß es einfach Überleben.
Fast wäre Heinrich ausgerutscht, als er sich ruckartig zur nach oben führenden
Treppe wandte. Hörte er da etwa Schritte hinter sich? Den Blick zurück verbot
er sich, seine Augen konzentriert nach vorne gerichtet, um auch nicht zu stolpern auf den alten Stufen. Lange dauerte es nicht, dann war er im Flur mit den
Schlafzimmern angelangt.
Eine der vorderen Türen führte zu Josephs Zimmer. Jener wäre wohl der erste,
den man von der drohenden Gefahr in Kenntnis setzen musste. Panisch häm18
merte Heinrich mit der Faust dagegen, ruckelte am Türgriff, doch die Tür öffnete sich nicht. Mit nunmehr heiserer Stimme brüllte er den Namen des Klostervorstehers. Aber nichts, keine Antwort. Schlief dieser denn so tief? Oder spazierte auch er noch des Nachts woanders herum?
Ein Schatten, der plötzlich neben ihm auf den Boden fiel, warnte Heinrich vor.
Der Mörder! Steif wie eine jener Statuen, die sein künstliches Gesicht darstellte, stand er dort vor der Treppe, in der linken Hand sein blutiges Sichelschwert.
Dann ging er, nicht hastig, aber zielstrebig, auf sein nächstes Opfer zu.
Nun endlich ließ Heinrich ab von der verschlossenen Tür und lief weiter. Nur
wenige Schritte waren es bis zu seinem eigenen Zimmer. Wenn er es dorthin
schaffte, würde er womöglich in Sicherheit sein. Umso seltsamer war es, dass
der Killer keine Anstalten machte, ebenfalls in Laufschritt zu verfallen. Wie es
schien, hatte er keine Eile, ja vermutlich genoss er es sogar, sein Opfer so verzweifelt leiden zu sehen.
Endlich erreichte Heinrich die Tür und hielt stolpernd an. Während er unnötig
kraftvoll die Klinke nach unten riss, warf er über die Schulter einen Blick zurück.
Er erkannte, wie sein Feind einen Arm hob – an dessen Hand so etwas wie eine
Armbrust befestigt war! Überlaut in der nächtlichen Stille war der peitschenartige Laut der sich lösenden Sehne zu vernehmen, dann durchbohrte ein grässlicher Schmerz Heinrichs rechten Unterschenkel.
Halb fallend, halb stolpernd gelangte er durch die sich öffnende Tür. Mit einem
letzten Kraftaufwand, bei dem eine Explosion von Schmerz in seinem Bein zu
detonieren schien, drückte er die Tür zu und drehte den Schlüssel im Schloss
herum. Dann sackte er geschwächt zu Boden und blieb liegen, eine verlässliche
Barrikade zwischen sich und dem Peiniger. Ihm war, als könne er hinter der Tür
das durch die Maske verstärkte Atmen des Wahnsinnigen hören. Heinrichs dagegen war ein durch Schmerz und Anstrengung bedingtes Keuchen, doch er
war froh, dass er überhaupt noch atmete. Der Schatten, der unter der Tür zu
sehen war, verriet ihm, dass sein Feind direkt dahinter stand.
Jetzt, wo Entspannung einkehrte und der Adrenalinspiegel sank, verstärkten
sich die zuvor noch unterdrückten Schmerzen. Aber Heinrich hatte nicht die
Kraft etwas dagegen zu tun, also blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten.
Da vernahm er plötzlich ein kratzendes Geräusch. Etwas schabte über das Holz
der Tür, ritzte womöglich etwas hinein. Doch sich darüber noch Gedanken zu
machen, lag Heinrich fern. Längst trieb sein Bewusstsein ab in ferne Gefilde aus
Schmerz und Erschöpfung.
19
***
Ein energisches Klopfen riss ihn schließlich aus seinem Dämmerzustand.
„Sind sie da drin?“ Es war die Stimme des BKA-Ermittlers Nicolas Nedo. „Der
Flur ist sicher, Sie können aufmachen.“
Heinrich, der gerade erst sein Bewusstsein wiedererlangt hatte, blickte sich
verwirrt um. Noch immer lag er auf dem Boden, nur wenige Handbreit von der
abgeschlossenen Tür entfernt. Der teuflische Schmerz lenkte seine Aufmerksamkeit sogleich auf sein Bein, in dem ein längliches Geschoss steckte.
„Sind Sie verletzt?“, kam es durch die Tür. Heinrichs Antwort war nur ein
schmerzerfülltes Aufstöhnen, während er verzweifelt nach dem Schlüssel über
ihm langte.
„Machen Sie auf, dann kann ich Ihnen helfen. Es sei denn, Sie wollen dort drinnen weiter herum vegetieren.“ Endlich erwischten seine zitternden Finger den
Schlüssel und drehten ihn im Schloss herum. Kaum eine Sekunde dauerte es,
dann wurde auch schon die Klinke heruntergedrückt und Nedo trat ein. Soweit
es Heinrich aus seiner liegenden Lage erkennen konnte, trug er ein ausgeblichenes T-Shirt und eine vermutlich hektisch angezogene Hose, die Füße waren
barfuß. In der einen Hand hielt er eine Pistole, ein Halfter war jedoch nicht zu
erkennen. Wie es aussah, war er unerwartet aus dem Bett gerissen worden.
Mit emotionslosem Blick betrachtete der Ermittler die Wunde. „Sieht nicht
schön aus, aber wohl auch nicht lebensbedrohlich. Kommen Sie, das muss verbunden werden.“
Ohne den Verletzten um Erlaubnis zu fragen, beugte sich Nicolas Nedo herunter und zog ihn auf die Beine. Indem Heinrich einen Arm um dessen Schultern
legte, half der Ermittler ihm bis zum Bett. Erleichtert sank der Ältere auf den
weichen Untergrund.
„Der…Mörder?“
„Geflohen“, kam gleich die Antwort. „Als ich das Licht anschaltete, sah ich einen dunklen Schatten zur Treppe huschen. Unten habe ich ihn leider nicht wiederfinden können. Ich bezweifle, dass er es riskieren will, einem bewaffneten
Gegner gegenüberzutreten. Jetzt aber müssen wir uns um die Verletzung
kümmern. Warten Sie hier einen Moment.“
Hastig schritt Nedo zum Ausgang und verließ das Zimmer. Als er nun die Tür
weit aufgerissen hatte, erkannte Heinrich seine Befürchtung bestätigt. Das, was
er kurz vor seiner Ohnmacht gehört zu haben glaubte, mussten tatsächlich
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Kratzgeräusche gewesen sein, denn mehrere große, grobe Lettern waren von
außen in das Holz der Tür geritzt worden. Aus dieser Perspektive jedoch ließ
sich nicht erkennen, was genau dort geschrieben stand, nur einzelne Buchstaben konnte Heinrich identifizieren.
Wenige Momente später kehrte Nicolas zurück, in den Händen hielt er einen
kleinen Erste-Hilfe-Koffer. Geistesgegenwärtig öffnete er diesen auf dem Bett
und begann ihn nach passenden Verbänden zu durchwühlen.
„W-was … steht da?“, fragte Heinrich keuchend.
Auch Nicolas warf nun einen Blick zurück, obgleich er die Schrift längst bemerkt
haben musste. „Scheint Latein zu sein. SCIO TE QUID FECISSE.“
Nun wandte der Ermittler sich wieder dem Verletzten zu und griff nach dem
noch immer im Bein steckenden Pfeil. Da dieser das Fleisch gänzlich durchdrungen hatte, begann Nicolas, das Geschoss vorsichtig hindurch zu schieben.
Heinrich biss vor Schmerz die Zähne zusammen, doch wenig später war es vorbei, der Pfeil entfernt.
Als Heinrich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, versuchte er sich an
seine alten Kenntnisse des Lateinischen zu erinnern. Er beherrschte die Sprache
in Grundzügen, diverse Gebete kannte er auswendig in beiden Sprachen. Scio
kam von scire, wissen, erinnerte er sich. Ich weiß. Te war du. Fecisse war wohl
abgeleitet von facere, tun, machen, handeln…
„Ich weiß, was du getan hast“, kam ihm da Nicolas Nedo zuvor. „In der Schule
war ich immer ganz gut in Latein. Was bedeutet das? Es ist eine Botschaft, das
dürfte offensichtlich sein. Explizit an Sie, wie mir scheint.“
Indes hatte er eine Mullbinde hervorgezogen und begann, diese fachmännisch
um Heinrichs verwundetes Bein zu wickeln.
„Was bitte soll ich getan haben?“
„Das müssen Sie doch wohl wissen. Ich bin nur Ermittler. Mein Job ist es, Dinge
herauszufinden, nicht, sie schon zu wissen.“
Einen kurzen Moment schwieg Heinrich. „Ich habe keine Ahnung, was er damit
meinen könnte.“
„Wirklich nicht?“ Von einem Moment auf den anderen war Nicolas Nedo kein
engagierter Nothelfer mehr, sondern eiskalter Ermittler. „Denken Sie scharf
nach. Haben Sie irgendwelche Feinde?“
„Einen augenscheinlich schon, aber den kenne ich nicht.“
„Haben Sie einmal jemandem etwas Schlimmes getan? Einen Menschen ermordet?“
21
„Nein!“
„Eine Frau vergewaltigt? Es mit einer verheirateten getrieben?“
„Was denken Sie sich… Ich bin ein Mann des Glaubens.“
„Stimmt, ich vergaß. Jemals Kinder missbraucht?“
„Unterstehen Sie sich!“
„Selber Kinder gezeugt und dann verstoßen? Ein Sohn vielleicht, den Sie in ein
Waisenhaus gaben, weil Sie ihn unehelich mit einer jüngeren Frau zeugten und
nicht der Gemeinde präsentieren konnten?“
„Keinesfalls.“ Die so direkten Unterstellungen machten ihn wütend. „Ich hatte
nie etwas…“
„Bedenken Sie“, fiel Nicolas ihm ins Wort, „dass ich vordergründig hier bin, um
diesen Serienmörder zu fassen, nicht um Sie für jahrzehntealte Untaten zu verurteilen. Sollten sich solche herausstellen, so kann ich natürlich nicht darüber
hinwegsehen, aber es gibt eindeutig andere Prioritäten. Ich muss verstehen,
wie dieser Mann tickt. Was ihn antreibt, wieso er gerade hier auftaucht. Das
hier“, er zeigte auf die verunstaltete Tür, „ist nicht ideologisch. Es ist persönlich. Er hat es wegen etwas ganz Speziellem auf Sie abgesehen. Wenn ich erfahre, was das ist, dann kann ich Sie besser schützen. Solange aber der Mörder
mehr weiß als ich, ist er im Vorteil. Wenn Sie mir also irgendetwas verheimlichen, denken Sie darüber nach, wem das eigentlich nützt.“
Inzwischen war die Beinwunde angemessen verbunden, Nicolas war wieder
aufgestanden. Er war bereits im Begriff, das Zimmer zu verlassen.
„Hören Sie“, sprach der Ermittler noch, während er sich zu dem Verletzten umdrehte. „Egal wie schmutzig ihr Geheimnis ist, sie sollten es mir offenbaren. Es
wäre Ihrer Gesundheit nur zuträglich. Wissen ist Macht, vergessen Sie das nie.“
***
„Dieser verdammte Bastard!“, hallte es durch den Flur bei den Schlafzimmern.
Begierig zu erfahren, was nun los war, schritt Joseph durch den Gang. Es war
zweifellos die Stimme von Nicolas Nedo gewesen, vermutlich aus seinem Zimmer heraus, dessen Tür auch offen stand. Was genau mochte geschehen sein,
das den zuvor immer so souveränen Ermittler derartig in Rage versetzte?
Als er bei der Tür angekommen war, sah Joseph den BKA-Beamten mit grimmigem Gesichtsausdruck die Taschen seines Mantels untersuchen. Nach wenigen
Sekunden aber richteten sich die wachen Augen des jungen Mannes auf seinen
unerwarteten Besucher. „Sollten Sie nicht gerade um die Seele des neusten
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Opfers beten oder den Lebenden Trost spenden?“
„Ihre offenkundige Abneigung gegen Religion schient zunehmend zur Masche
zu werden“, erwiderte Joseph kalt. „Was ist denn nun geschehen, was schlimmer ist als der Tod eines Menschen?“
„Es dürfte Ihnen kein Indiz dafür vorliegen, dass ich das aktuelle Vorkommnis
als schlimmer als den vorangegangenen Mord erachte. Meine Gereiztheit entspringt eher der Tatsache, dass ich den Diebstahl meines Smartphones nicht
erwartet habe.“
„Mmmoment.“ Joseph wusste kurz nicht, was er zuerst fragen sollte. „Ihr
Smartphone ist geraubt worden? Und was heißt hier nicht erwartet? Den Mord
haben Sie also kommen sehen, oder wie kann ich das verstehen?“
Nicolas verdrehte demonstrativ die Augen, als rede er mit einem Idioten. „Es ist
ein Serienmörder. Ein solcher schlägt per definitionem immer wieder zu. Dass
es geschehen würde, wenn ich ihn nicht bereits aufgehalten habe, wovon ich ja
wohl wüsste, war klar. Nur wann, wie und wo, das natürlich nicht. Aber soll ich
nun vor Überraschung die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und lautstark ausrufen: ‚Oh nein, er hat den Menschen an der Kellertreppe ermordet!
Und dabei habe ich gedacht, es würde im Schlafzimmer passieren!‘?“
„Ihr schlechter Sarkasmus widert mich an. Jemand wie Sie sollte doch wohl
eher realisieren, dass hier gerade ein Mensch getötet worden ist.“
„Erzählen Sie mir nichts davon, ich würde die Situation nicht ernst nehmen.
Immerhin bin ich nicht der von uns beiden, der davon überzeugt ist, Freund
Klemens würde nun in einem paradiesischen Jenseits weiterleben.“ Frustriert
warf er den dunklen Mantel auf das Bett und beugte sich hinunter, um unter
dieses zu blicken. „Dammich! Wie konnte ich nur so dämlich sein!“
Instinktiv hätte Joseph gerne erwidert, dass das wohl besonders schmerzen
musste, wo sein Gegenüber doch so viel auf seine Intelligenz hielt. Doch solcherlei Spott ziemte sich nicht für ihn, also verzichtete er auf eine Antwort.
Mit angespanntem Gesichtsausdruck kam der Ermittler wieder vom Boden
hoch. „Er muss hier eingedrungen sein, als ich den verletzten Heinrich verarztete. Normalerweise hätte ich natürlich sofort ein Team herbeigerufen, damit
man die Leiche beseitigt, Spuren sichert und so weiter. Aber das wusste unser
Mörder augenscheinlich klug zu unterbinden, indem er mir mein Handy entwendet hat. Das heißt aber auch, Sie können sich freuen, denn ich verschwinde
nun von hier. Ich muss meine Kollegen wohl persönlich herbei bestellen, zumal
ich mich ohnehin noch nach einer Unterkunft in der Nähe umsehen wollte. Ich
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lasse Sie also bis zur Fortsetzung der Ermittlungen in Ihrem Kloster allein, meinen Autoschlüssel hat man mir nämlich nicht gestohlen.“
Nach wie vor unübersehbar verärgert, zog Nicolas seinen Mantel über und
packte die wenigen anderen Sachen zusammen, die er mit sich gebracht hatte.
„Zu all dem wäre es übrigens nicht gekommen, wenn es an diesem Ort wenigstens ein funktionierendes Telefon geben würde. So manches Volk der Antike
hatte mehr Kultur als Euresgleichen.“Ohne den stumm bleibenden Joseph noch
einmal näher anzusehen, quetschte er sich an diesem vorbei durch die Tür und
schritt den Gang hinunter.
***
Kleine Regentropfen prasselten unregelmäßig gegen die Fenster des dunkelblauen Mercedes A-Klasse. Obwohl es kaum mehr als leichter Niesel war, verlieh er der Situation eine umso bedrückendere Atmosphäre.
Reglos in seinem Auto sitzend, blickte Nicolas Nedo durch die Windschutzscheibe hinaus. Finsternis umgab den stehenden Wagen, nur Schwärze war zu
seiner Rechten wie zu seiner Linken zu sehen. Doch die hellen Scheinwerfer
ließen die vor ihm liegende Fahrbahn deutlich aus der Nacht herausstechen,
ebenso den massiven Baumstamm, der quer darüber lag. Niemand würde diesen Weg beschreiten können, bis man das Hindernis aus dem Weg geräumt
hatte – wofür freilich ein größeres Fahrzeug notwendig sein dürfte.
Tja, das war’s dann mit der Verstärkung, die ich den Klosterbewohnern versprochen habe, dachte Nicolas und ein bitteres Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
So viel zu dem Thema. Das Kloster war hiermit abgeschnitten von der Welt,
keine Hilfe würde in absehbarer Zeit zu erwarten sein. Sie würden sich wohl
allein mit dem Killer auseinandersetzen müssen. Eine kleine Gruppe Menschen,
zusammen mit einem Psychopathen isoliert an einem einsamen Ort – die perfekte Szenerie für einen Horrorfilm. Nicolas mochte Horrorfilme eigentlich. Sein
eigener hatte hiermit soeben begonnen.
***
„Der leibhaftige Tod ist in euer Kloster gekommen. Ihr könnt weiter um himmlische Rettung beten oder mir helfen, ihn aufzuhalten.“
Skeptisch blickte Esther zu dem von erstaunlichem Pathos ergriffenen Ermittler,
der sich vor ihr und den anderen aufgebaut hatte. Es war offenkundig, dass die
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übrigen Klosterbewohner seinen Äußerungen ähnlich kritisch gegenüberstanden, auch wenn die Situation – da hatte er schon Recht – in der Tat ernst war.
„Ich sah es als meine Pflicht an, Sie möglichst bald über die veränderte Situation aufzuklären“, fuhr Nicolas Nedo fort. „Genau deshalb sind Sie alle hier.“
Ach nein. Es hatte auch niemand erwartet, er würde die ganze Belegschaft zum
Essen oder für lustige Gruppenspiele in den Speiseraum einbestellen.
Alle waren sie anwesend: Neben Esther und natürlich Joseph auch Heinrich, das
verletzte Bein auf einem Stuhl liegend, des Weiteren Maria, der Küchengehilfe
Markus sowie Jonathan und Judith. Sieben insgesamt – drei fehlten, wie Esther
gerade wieder schmerzlich bewusst wurde. Johannes und Klemens waren tot,
ermordet von dem gottlosen Verrückten, der ihr einst so sicheres Zuhause
heimsuchte. Und Daniel war noch immer nicht zurückgekommen. Niemand
sprach darüber, doch Esther war sich sicher, dass auch die anderen in ihrem
tiefsten Herzen den Verdacht hatten, dass der Verschwundene ebenfalls vom
Mörder erwischt worden war. Nicolas räusperte sich kurz. „Wir sind gänzlich
von der Außenwelt abgeschnitten. Dass das einzige hiesige Telefon tot ist,
mutmaßlich bewusst von unserem Feind sabotiert, war sicher bereits allen bekannt. Ebenso dürfte es sich herumgesprochen haben, dass mein eigenes Mobiltelefon entwendet worden ist. Den Weg, der von hier aus zurück in die Zivilisation führt“ – Esther gefiel gar nicht, wie er diesen aus seiner Sicht offenkundigen Gegensatz betonte – „hat man verbarrikadiert. Ein dicker Baumstamm
liegt über der Straße; mutmaßlich ist er mit einer Axt oder einer vergleichbaren
Klinge gefällt worden.“
„Dem Schwert des Verrückten?“, unterbrach ihn Jonathan fragend.
„Nicht auszuschließen. Wobei es sich, wenn ich dem Augenzeugenbericht des
letzten Opfers glaube“, Nicolas sah zu Heinrich, „streng genommen nicht um
ein Schwert, sondern um eine Harpe handelt. Ein Schwert ist üblicherweise gerade, ein Säbel über die ganze Länge gebogen und nur einseitig scharf. Diese
Waffe aber ist gerade bis kurz vor der Spitze, wo sie sich sichelförmig verbiegt.
Bekannt – oder vielmehr unbekannt, wenn man es genau nimmt - ist dieser
Waffentyp aus der griechischen Mythologie. Mit einer Harpe kastrierte der Titan Kronos seinen Vater Uranos, später wurde er wiederum von seinem Sohn
Zeus – von dem dürften selbst Monotheisten wie Sie schon gehört haben – mit
ebendieser zerhackt. Auch der Held Perseus verwendete eine Harpe, um damit
Medusa zu töten. Das aber alles nur am Rande, denn ich denke, dass es einem
Opfer ziemlich egal sein dürfte, ob es von einem Schwert oder einer Harpe ge25
richtet wird.“
„Und eine Armbrust besitzt er“, fügte Heinrich hinzu.
„Das alles zeigt uns eines: Unser Feind ist ein Profi, bestens ausgerüstet und
organisiert. Und, was ihn noch gefährlicher macht, nicht gebunden durch die
etablierten moralischen Prinzipien beziehungsweise den Instinkt, der sich Gewissen nennt. Deshalb sollten Sie alle ihn niemals unterschätzen.“ Er legte eine
kurze Kunstpause ein. „Fakt ist, dass er sich in diesem Kloster oder in der Nähe
befindet. Dies lässt zwei Möglichkeiten zu: Zum einen könnte er ein Meister
darin sein, sich zu verstecken, beziehungsweise sich außerhalb des Gebäudes
verkrochen haben. Die zweite Möglichkeit, zu der ich eher tendieren würde, ist
die, dass es sich um einen von uns handelt.“
Unvermeidlich ging ein Raunen durch die Versammelten. Esther konnte nicht
verhindern, dass ihr Blick über die Menschen schweifte, denen sie immer bedingungslos vertraut hatte, und sie sich fragte, ob einer von diesen zu solchen
Untaten fähig war.
„Doch das heißt nicht, ich würde jeden von Ihnen verdächtigen. Der liebe Heinrich etwa hatte sich in seinem Zimmer eingeschlossen, als ich die verdächtige
Gestalt des Feindes auf dem Flur erspähte.“
„Und war verwundet“, fügte der Genannte hinzu. „Bei einem Psychopathen wie
dem, mit dem wir es zu tun haben, kann man ohne Weiteres davon ausgehen,
dass er sich auch selbst verwunden würde, wenn es seinen Zielen dienlich wäre, etwa um den Verdacht auf andere zu lenken. Des Weiteren können wir wohl
die drei Damen ausschließen.“ Er bedachte nacheinander Esther, Maria und
Judith mit eindeutigen Blicken. „Denn der Täter hatte eine erkennbar männliche Statur. Ich gehe hierbei einmal davon aus, dass keiner von Ihnen sich unter
der Kleidung einen Muskelanzug anziehen würde, um den Betrachter zu täuschen.“ Der letzte Satz hatte wohl witzig sein sollen, doch niemand lachte. Dafür war die Situation zu ernst.
Nun aber erhob sich Joseph plötzlich. „Ich missbillige es zutiefst, dass Sie versuchen, Unfrieden zwischen uns zu säen. Jedem meiner Glaubensgenossen bringe
ich mein vollstes Vertrauen entgegen.“
„Wenn diese These berechtigt ist, dann wäre wohl der wahrscheinlichste
Schluss daraus, dass Sie es sind, geehrter Herr Klostervorsteher.“
„Oder Sie, Herr Kommissar.“
„Aus Ihrer Sicht ein berechtigter Einwand. Ich weiß jedoch, dass ich es nicht
bin, also war es aus meiner Sicht nur logisch, diese Möglichkeit von Anfang an
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auszuschließen.“
„Aber überhaupt, sagten Sie nicht, es habe schon andere Morde dieses Täters
gegeben? Wie kann es dann einer von uns gewesen sein?“
„Womöglich hatte er bei seinen ersten Morden noch Furcht, von den seinen
enttarnt zu werden, bis der Übermut ihn schließlich zurücktrieb. Oder er hat
erst geübt und sein Vorgehen perfektioniert, bevor er sich sein ursprüngliches
Ziel vornimmt. Wir müssen es auf jeden Fall in Betracht ziehen, obgleich noch
die Möglichkeit verbleibt, es sei ein Fremder, der sich unerkannt innerhalb oder
außerhalb dieser Mauern verbirgt. Oder aber die Morde hier und woanders
hängen gar nicht zusammen und meinem Team ist bei der Zuordnung ein Irrtum unterlaufen. Wie dem auch sei, wichtig ist, wie wir nun vorgehen. Infolge
dieser Besprechung werde ich mit jedem von Ihnen noch einmal gesondert
sprechen, um die vergangenen Morde zu rekonstruieren. Ich muss wissen, wer
wann wo war und ob die potenziell Verdächtigen Alibis haben. Den übrigen
empfehle ich für die nächste Zeit folgendes: Sich allein im Kloster zu bewegen,
insbesondere abends und nachts, ist unklug. Noch unkluger ist es, nachts alleine verdächtigen Geräuschen zu folgen. Und die Spitze der Leichtsinnigkeit dürfte sein, den jeweiligen Partner dann mit den Worten ‚Ich bin gleich zurück‘ stehenzulassen. Für die Nächte empfehle ich, Türen und Fenster verschlossen zu
halten und die Zimmer nicht zu verlassen. Gibt es noch Fragen?“
Niemand antwortete.
***
„Großer Gott, bitte errette uns vor diesem Unheil...“
Still ihre Gebete flüsternd saß Esther auf einer der Kirchenbänke. Sie war gänzlich allein in der Kapelle, die anderen hielten sich andernorts im Gebäudekomplex auf. Trotz der Äußerungen, die Kommissar Nicolas Nedo vor wenigen
Stunden getätigt hatte, fühlte sie sich – zumindest bei Tag – noch recht sicher,
auch wenn sie sich alleine bewegte. Überhaupt hatte sie die ständige Anwesenheit der anderen auf die Dauer nicht mehr ausgehalten. Bei allem gemeinschaftlichen Leben, ein wenig Freiraum war ihr ein Bedürfnis.
Kleine Tränen liefen ihr über die Wangen, wann immer sie ihren Kopf hob und
die farbige Polizeiabsperrung erblickte, die den Teil der Kapelle umrahmte, an
dem der arme Johannes ermordet worden war. Und darüber, wie um sie zu
verhöhnen, die enthauptete Figur des Heilands. Wo der Kopf abgeblieben war,
wusste sie nicht. Vermutlich würde er in den nächsten Tagen wieder angeklebt
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werden – oder man musste sich eine neue Christusfigur suchen.
„Gütiger Jesus Christus, behüte uns vor…“
„An ihrer Stelle würde ich mein Vertrauen nicht in Jesus setzen“, unterbrach sie
überraschend eine Stimme von hinten, was Esther erschrocken zusammenzucken ließ. Als sie sich geschockt ob der so ungewohnt lauten Worte umdrehte,
erkannte sie Nicolas, wie dieser mit lässigem Gang in ihre Richtung geschritten
kam.
„Erfolgsträchtiger dürfte in dieser Situation wohl Jahwe sein“, führte der Ermittler seinen Gedanken zu Ende. „Im Gegensatz zu ersterem hilft er seinen
Anhängern nämlich tatsächlich, sobald es ans Eingemachte geht – wenn man
den Mythen Glauben schenkt, versteht sich. Gab es da nicht die Geschichte im
Alten Testament, wo er dem belagerten Jerusalem einen Engel zur Hilfe schickt,
der 185.00 Männer im Lager der Assyrer erschlägt? Buch Jesaja, wenn ich mich
recht erinnere.“
Dem nur allzu provokativen Kommentar zum Trotze wollte Esther freundlich
bleiben. „Sie kennen sich gut mit der Bibel aus.“
„Habe sie gänzlich gelesen, von vorne bis hinten, manche Passagen mehrmals.
Über weite Strecken zwar langweilig, aber nichtsdestotrotz ein hochinteressantes Buch. Da ist für jeden etwas dabei. Kennen Sie das 2. Buch der Makkabäer?
Die Szene mit den sieben Brüdern, die zu Tode gefoltert werden, kann man ohne Weiteres als einen der ersten Splatter-Texte der Weltgeschichte beschreiben, Jahrtausende vor Saw und ähnlichen Filmen.“
„Ich gestehe, dieses Buch habe ich nicht gelesen.“
„Nicht schlimm, schließlich wird es nicht einmal von allen Kirchen als kanonisch
anerkannt.“ Er setzte sich in die Bankreihe vor ihr und drehte sich halb zu ihr
hinüber. „Und man muss ja auch nicht alles wörtlich nehmen.“
Esther nickte nur.
„Glauben Sie daran, dass die Erde in sechs Tagen geschaffen wurde und die
Evolution Unsinn ist?“
Kurz dachte sie nach, um ihre Antwort möglichst gut zu wählen. „Sie sagten es
doch schon – man muss es nicht wortwörtlich sehen. Die Schöpfungsgeschichte
ist so geschrieben, dass die Menschen vor vielen tausend Jahren sie verstehen
konnten. Und wenn von den sechs Tagen absieht, ist es doch auch das, was die
Wissenschaft lehrt. Erst die Erde, dann die Tiere im Wasser, dann die an Land
und schließlich der Mensch.“
„Nur dass das Licht schon lange vor der Sonne entsteht.“
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„Wer sagt denn, dass dieses Licht am Anfang nicht das war, was ihr Urknall
nennt? Und überhaupt, ist die Urknalltheorie nicht auch einfach ein Eingeständnis, dass da etwas Unerklärliches am Werk ist?“
Nicolas lächelte süffisant und nickte. „Zweifellos. Und genau das ist der Unterschied zwischen uns. Die Wissenschaft gibt zu, dass sie den Ursprung der Welt
nicht letztgültig erklären kann. Ihr dagegen erkennt diese Grenze der Erkenntnis und setzt kurzerhand euren Gott dahin und sagt, der sei schon immer da
gewesen, um euer Unwissen nicht eingestehen zu müssen. Wissen mag besser
sein als Unwissen, aber ehrliches Unwissen zweifellos besser als Lügen.“
Kurz zögerte Esther, dann nahm sie das Thema an einem früheren Punkt wieder
auf: „Ebenso doch die Evolution. Woher will man denn wissen, dass die Evolution nicht Gottes Weg ist, das Leben auf der Welt zu gestalten? Wieso heißt es
entweder oder?“
„Weil die Evolution auch ohne Gott funktioniert. Er würde rein theoretisch in
das System hineinpassen, aber er ist überflüssig. Und überflüssige Prämissen
sind bei wissenschaftlichen Theorien prinzipiell zu verwerfen.“
„Aber man sehe sich so etwas wie die menschliche Zivilisation an. Kein anderes
Tier besitzt das, wie konnte die Kultur denn so plötzlich aus dem Nichts heraus
entstehen?“
„Zuerst einmal besitzen so manche Insekten – etwa Bienen und Ameisen –
zweifellos etwas, das man als Kultur bezeichnen kann, wenn auch natürlich auf
einem niedrigeren technologischen Niveau. Und außerdem sind alle Unterschiede zwischen Menschen und Tieren gradueller, nicht aber prinzipieller Natur.“
„Sie wollen doch wohl nicht sagen, dass es keine grundlegenden Unterschiede
gibt. Die menschliche Sprache zum Beispiel, so etwas gibt es nicht im Tierreich.“
„Schimpansen können die Zeichensprache erlernen und dadurch problemlos
mit Menschen kommunizieren. Intellektuell sind sie ohne Zweifel zu Sprache in
der Lage, nur die Konstruktion der Organe steht dem entgegen. Ganz ähnlich ist
es mit Delfinen – deren Kommunikation kann man auch ohne weiteres als
Sprache bezeichnen. Ich frage mich, weshalb ihr Religiösen immer auf der Einzigartigkeit des menschlichen Geistes beharrt. Schließlich gibt es in der Bibel
doch diverse andere Wesen, die vergleichbar intelligent sind. Die Schlange im
Garten Eden zum Beispiel.“
„Die war eine Erscheinungsform des Teufels, das ist doch bekannt.“ „Bekannt
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ja, aber falsch. Die Figur des Teufels, wie sie das Christentum lehrt, hat sich erst
Jahrhunderte nach der Aufzeichnung der Genesis entwickelt. Tatsächlich lässt
sich die Schlange eher auf andere mythologische Archetypen zurückführen.
Wussten Sie, dass fast jede Mythologie die Verbindung von Schlange und Baum
kennt? Bei den Wikingern waren es die Welteiche Yggdrasil und der Drache
Nidhöggr, bei den Griechen Ladon und der Baum der Hesperiden, die Sumerer
hatten den Schlangengott Ningišzida mit seinem Lebensbaum und so weiter.“
„Wenn Sie das so sagen, dann klingt es doch wie ein Beweis für die Richtigkeit
der Bibel.“
„Wenn überhaupt, wäre es ein Beweis für irgendeine Verbindung von Schlange
und Baum. Wieso sollte es ausgerechnet die Bibel bestätigen, wo diese doch
nur ein Plagiat diverser anderer Mythen ist? Ich würde es eher als Indiz für die
Richtigkeit der sumerischen Mythologie ansehen, denn die war so ziemlich die
erste. Also los, lasset uns zu Enlil und Enki beten!“
„Das ist lächerlich.“
„Wieso ist Enlil lächerlicher als Jahwe? Da gibt es keinen wirklichen Unterschied, außer dass die Allmacht eures Gottes schon allein an logische Grenzen
stößt, von den physikalischen ganz zu schweigen. Wussten Sie eigentlich, dass
Jahwe alles andere als der einzige Gott ist, wenn man die Bibel wörtlich
nimmt?“
„Das ist doch absurd“, ereiferte sich Esther. „Das erste Gebot heißt doch
schon…“
„Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
Wie an folgenden Stellen immer wieder betont wird, geht es um das Verbot,
andere Götter zu verehren; nicht darum, dass es keine gibt. Das Alte Testament
ist monolatrisch, nicht monotheistisch. Übrigens war Jahwe in früherer Zeit sogar verheiratet, war Ihnen das bekannt, Fräulein Strohde?“
„War es nicht“, erwiderte Esther mit nur allzu kritischem Gesichtsausdruck.
„Ihr Name war Aschera, eine kanaanitische Fruchtbarkeitsgöttin. Lange Zeit
wurde sie mit Jahwe zusammen im Tempel von Jerusalem verehrt, bis man sie
schließlich hinauswarf und ihn zum einzigen Gott erklärte. Erstaunlich, nicht
wahr?“
„Das denken Sie sich doch nur aus.“
„Das wäre ein Paradoxon, denn mein positives Eigenbild begründet sich eben
darauf, objektiv zu sein und jegliche Lügen und Selbstbetrug abzulehnen. Sie
für meinen ideologischen Standpunkt zu nutzen, würde ebendiesen widerlegen
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und mein Ego somit zerschmettern. Ich würde wohl der Verzweiflung anheimfallen, in eine schreckliche Sinnkrise stürzen.“ Er lehnte den Kopf zurück und
blickte sehnsüchtig auf zur beschädigten Jesusfigur. „Wie einfach wäre doch
das Leben, wenn ich zu solcher Stupidität fähig wäre, mir einfach ein so absurdes, aber eindeutiges Weltbild anzueignen wie eures. Sicherlich wäre ich glücklicher, jegliche philosophischen Probleme wären mir fremd. Mein Leben wäre
wohl durchaus schöner, befände ich mich nur auf einem niedrigeren geistigen
Niveau. Vielleicht sollte ich mich einer Lobotomie unterziehen lassen.“
„Sie sind arrogant.“ Und widern mich an, fügte Esther in Gedanken hinzu,
sprach es aber aus Höflichkeit nicht aus.
„Arroganz ist ein relatives Wort. Ich zweifle nicht daran, dass diese Beurteilung
aus Ihrer Perspektive der Wahrheit entspricht. Aus meiner Perspektive ist eben
Gesagtes nur eine möglichst realistische Einschätzung meiner Selbst auf Basis
allgemein zu beobachtender gesellschaftlicher Phänomene.“
„Bei all Ihrem Wissen ist Ihnen doch sicher bekannt, dass Hochmut eine Todsünde ist.“
„Ist es denn kein Hochmut, sich selbst im Besitz der einzig absoluten Wahrheit
zu wähnen, ohne diese begründen oder hinterfragen zu müssen und alle anderen als minderwertig abzustempeln, weil sie wegen ihrer falschen Ansichten eh
in der Hölle landen? Wenn das nur eine so grässliche Vorstellung wäre! Die Hölle würde ich dem Himmel in jedem Falle vorziehen, wo es dort doch die wesentlich spannendere Gesellschaft gäbe. Wie gerne würde ich mit Nietzsche
diskutieren, Freud und Darwin persönlich treffen! Was könnte mir da der Himmel schon bieten außer freudlosen Moralaposteln, die weder geistreichen Diskurs noch wahre Lust zu würdigen wissen? Und wäre ein Aufenthalt dort bis in
alle Ewigkeit nicht auch nach einer gewissen Zeit eine Qual? Selbst das Paradies
könnte mich wohl kaum auf Jahrhunderte beglücken, ein ewig gleiches Leben
ohne Abwechslung.“
Er atmete einmal durch und schwieg einen Moment. Währenddessen durchstreiften seine Augen aufmerksam die Kapelle, als interessiere ihn jedes Detail
des heiligen Raumes. „Wissen Sie, an welches Tier ihr Gläubigen mich erinnert?“
Esther war das überhebliche Getue leid. „Lassen Sie mich raten: Schafe?“
„Naheliegend, aber falsch. Es ist der Axolotl. Kennen Sie den?“
Sie schüttelte verneinend den Kopf.
„Der Axolotl ist eine Art aus der Familie der Querzahnmolche und im mexikani31
schen Xochimilco-See beheimatet. Berühmt ist er dafür, dass er nie wirklich
erwachsen wird, sondern sein ganzes Leben im Larvenstadium verbringt. Mit
Flossenschwanz und lustigen rosa Außenkiemen schwimmt er dort im See herum, frisst kleine Fische und verbringt so seine Jahre. Genetisch hätte er das Potenzial, Lungen und kräftige Beine zu entwickeln wie andere Amphibien auch,
um damit das Wasser zu verlassen und das Land zu erkunden. Doch da es für
seine Vorfahren einst ganz gemütlich war, dort im Wasser zu verbleiben, hat er
die Gene, die diese Metamorphose in Gang setzen würden, verloren. Das vererbt er immer weiter, sodass seit Generationen kein Axolotl die Möglichkeit
hatte zu erfahren, wie es denn über der Oberfläche des Sees aussieht. Genau
so seid ihr Gläubigen. Eure Vorfahren haben einst der Vernunft entsagt, als es
einen Selektionsvorteil darstellte, weil die Menschheit noch primitiv war. Aber
sie gaben ihr Wertesystem immer weiter, sodass ihr gar nicht wissen könnt,
welch faszinierende Weiten der Geist bieten könnte, wenn man ihn bloß befreite. Und auch jetzt noch, wo der See droht auszutrocknen, bleiben die Axolotl
im Wasser, weil ihre Gene ihnen keine andere Möglichkeit lassen, obwohl das
Potenzial zur Metamorphose in ihnen angelegt ist. Doch injiziert man einem
von ihnen künstlich das Schilddrüsenhormon Thyroxin, so wird die Verwandlung in Gang gesetzt: Außenkiemen und Fischschwanz bilden sich zurück, es
wächst eine Lunge, der Molch kann ein tatsächlich amphibisches Leben führen.
In unserer Parabel können wir das Thyroxin ohne Weiteres mit Bildung gleichsetzen, mit modernen Erkenntnissen der Wissenschaft, die, um es mit den
Worten von Kant zu sagen, den Ausgang ermöglichen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit.“
Lange Momente musste Esther diese groteske Metapher verdauen, während
sie mit nicht unbeträchtlichem inneren Zorn nach einer Erwiderung suchte.
„Aber … man verlässt die Liebe Gottes. Wie schon bei der Vertreibung aus dem
Garten Eden, als Schmerz und Tod über die Menschheit kamen.“
„Und was hat man von der hochgelobten Liebe Gottes? Geistige Stagnation wie
in ebendieser Geschichte vom Paradies, wo die Menschen kaum mehr waren
als stumpfsinnige Tiere, bevor sie vom ach so bösen Baum der Erkenntnis aßen.
Und unendlich viele Regeln und Beschränkungen! Du kannst der größte Wohltäter sein, aber einmal von der Lust überwältigt außerehelichen Geschlechtsverkehr gehabt, schon geht’s in die Hölle. Aber was rede ich – da hätte man ja
noch die Chance gehabt, sich anders zu entscheiden. Bist du aber homosexuell,
dann ist die Hölle gewiss, egal wie du lebst, wie du dich entscheidest, Gott hat
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dich von Geburt an erschaffen um dich eines Tages runter in die ewigen Qualen
zu werfen. Was bitte ist diese Liebe Gottes? Wird er euch etwa während des
Lebens beschützen, vor diesem hier herumlaufenden Psychopathen etwa?“
„Niemand entgeht seiner Gerechtigkeit.“
„Du sagst also, Gott wird eingreifen und den Mörder in die Schranken weisen?
Wohl eher unwahrscheinlich, hat er doch in der Vergangenheit so gut wie nie
gemacht. Was ist mit Hitler? Zig Millionen mussten sterben, ehe der Spuk ein
Ende hatte. Oder meinst du, Gott selbst hätte des Führers Hand geführt, als er
am Ende die Waffe gegen sich selbst richtete? Wo doch Selbstmord eine so unchristliche Sünde ist? Dann wäre Gott ganz groß in Sachen Doppelmoral. Die
Alternative ist, dass er überhaupt nicht eingegriffen hat. Dann wäre er schlicht
Misanthrop. Die Menschheit geht dem Herrn im Himmel doch an seinem heiligen Arsch vorbei. Keinen Finger hat er gerührt, als sein sogenanntes auserwähltes Volk in die Konzentrationslager deportiert wurde. Was sagst du dazu?“
„Der Tod ist doch nicht das Ende. Die Menschen, die so gestorben sind… Sie
kommen doch in den Himmel. Gott sorgt schon für sie, ihr Schicksal ist gar nicht
so schlimm.“
„Damit ließe sich jeder Mord rechtfertigen. Besser heute als morgen ins Paradies, nicht wahr? Übrigens ein Argument, das für den eben als Beispiel genannten Holocaust nicht gilt. Die Nazis pflegten schließlich, ihre Opfer nach dem
Vergasen zu verbrennen. Und wenn ein Körper verbrannt ist, dann kann die
Seele nach allgemeiner christlicher Auffassung nicht zum Himmel fahren, geschweige denn der Mensch am jüngsten Tage auferstehen. In einem solchen
Fall wäre jeder Mord, den Gott nicht verhindert, auch tatsächlich ein Drama.
Der Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung in Abermillionen Fällen bleibt
also bestehen. Freuen wir uns nur, dass unser Mörder hier es nicht so mit dem
Verbrennen hat, verwendet er doch lieber Eis als Waffe.“
„Wie können Sie das bloß mit so viel Humor sehen? Haben Sie denn selbst gar
keine Angst?“
„Angst? Nein. Angemessenen Respekt im Angesicht einer konkreten Gefahr,
ohne Zweifel. Das ist ein Mensch mit einer Harpe und einer Armbrust, kein
kosmisches Grauen, das wie eine unkontrollierbare Naturkatastrophe über uns
hereinbricht. Mörder wie ihn gab und gibt es viele; da ist er noch nicht einmal
der Schlimmste. Schon einmal von Henry Howard Holmes gehört? Zu Beginn
der 1890er Jahre erbaute er in Chicago ein Hotel mit allerlei lustiger Ausstattung, Falltüren, Gaskammer, Säurebad und Folterkammer inklusive. Unzählige
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Leute brachte er dort auf verschiedenste Art und Weise um, manchen Schätzungen zufolge über zweihundert. Oder Ed Gein, der berühmte Leichenschänder und Kannibale. Als die Polizei sein Haus durchsuchte, fand sie unter anderem Masken aus Menschenhaut und ein menschliches Herz in einer Bratpfanne. Ein lustiger Fakt übrigens, dass der liebe Ed in einem äußerst christlichen
Elternhaus aufwuchs. Ebenfalls aus den USA stammt ein ähnlich unheimliches
Vorkommnis: Zwei Soldaten, also ausgebildete Kämpfer, wurden in einem Indianerreservat ermordet. Man schlug ihnen die Schädel ein und schnitt die Leber
aus dem Leib – bis jetzt ist der Mörder nicht gefasst worden. Und, mein persönlicher Favorit, in der ebenfalls amerikanischen Stadt Harling soll ein Mörder
umgehen, der es auf ebensolche Psychopathen abgesehen hat und ihnen die
Köpfe mit einem Messer oder Bumerang abschneidet. Ob ich also vor diesem
Mörder hier bei uns Angst habe? Nein, das habe ich nicht, gibt es doch so viel
wesentlich Schlimmeres in der Welt.“
„Gibt es irgendetwas, wovor Sie Angst haben?“ Zu Esthers Überraschung
folgte kein sofortiges Nein, sondern erst einmal ein betretenes Schweigen.
„Clowns“, gab Nicolas schließlich zu. „Ich leide unter Coulrophobie, der krankhaften Angst vor Clowns.“
Jetzt war es Esther, die leicht amüsiert war. Er, der so locker über die grauenhaftesten Gewaltverbrechen sprach, fürchtete sich vor fröhlichen Zirkusfiguren,
die Luftballons formten und komische Späße trieben.
„Mir ist sehr wohl bewusst, wie irrational das ist“, fuhr der Ermittler fort, als er
ihr verwundertes Gesicht sah. „Deshalb ist es ja eine Phobie – die sind niemals
rational. Aber um Ihnen diese Belustigung auszutreiben, kann ich ja noch einmal ein paar Geschichten erzählen. So gab es zum Beispiel vor gar nicht allzu
langer Zeit eine Serie von Todesfällen hier in Deutschland, manche davon augenscheinlich Selbstmorde. Aber alle berichteten sie kurz vor ihrem Tod, sie
würden von einem bösartigen Clown verfolgt. Es gab keine Beziehung zwischen
ihnen und auch sonst nichts, was dies erklären könnte. Oder, etwas weniger
mysteriös, der berühmte Serienmörder John Wayne Gacy. Er trat auf Straßenfesten als Clown auf und unterhielt Kinder, in seiner Freizeit vergewaltigte und
tötete er junge Männer. Sein Vorgehen war dabei…“
„Herr Nedo?“, wurde der Ermittler plötzlich unterbrochen.
Nicolas wie auch Esther wandten sich zum Eingang, wo gerade Heinrich in die
Kapelle getreten war.
„Was gibt es?“, fragte ersterer freundlich, als seien all die Horrorgeschichten
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von eben vergessen.
„Ich würde gerne mit Ihnen sprechen. Alleine am besten.“
„Sehr gerne.“ Nicolas stand auf und sah noch einmal kurz zu Esther. „Die Pflicht
ruft. Und denken Sie daran, falls Sie irgendwo ein wenig Thyroxin auftreiben
können…“
Den Satz ließ er unvollendet und erwartete nicht einmal mehr eine Antwort,
stattdessen folgte er dem anderen Mann nach draußen.
***
„Es ist so“, begann Heinrich, „dass ich gelogen habe, als ich sagte, ich wüsste
nicht, was mit der Drohung gemeint war.“
„Wieso überrascht mich das jetzt nicht?“, erwiderte Nicolas, während sie über
den Innenhof des Klosters schlenderten.
„Vermutlich, weil sie keinem von uns hier über den Weg trauen.“
„Ich traue prinzipiell niemandem, sonst könnte ich diesen Job nicht machen.
Nun, was haben Sie mir zu erzählen?“
Sein Gegenüber deutete mit den Augen auf das Tor in der Klostermauer. „Besprechen wir es lieber dort, wo wir ungestört sind.“
Nicolas änderte sofort
entsprechend seine Gehrichtung. „Kein Wunder, dass Sie nicht wollen, dass jemand ihre geheimen Sünden erfährt. Das respektiere ich.“
Nun schwiegen sie einige Zeit, bis sie das Tor durchquert hatten und auf der
Straße neben dem kleinen Parkplatz angelangten.
„Ich lebte nicht immer so zurückgezogen von den anderen Menschen“, startete
Heinrich seinen Bericht, verharrte danach aber einen kurzen Moment schweigsam, als wisse er nicht, wie er fortfahren sollte.
„Ja?“, fragte Nicolas.
„Nun gut. Ich war noch jung, keine dreißig Jahre alt. Aber ich hatte als Pfarrer
schon die Aufsicht über eine kleine Gemeinde. Die Leute mochten mich, alles
war großartig. 1981 kam es dann zu einem Ereignis, das mein Leben verändern
sollte, mir fortan alle Unbeschwertheit nehmen. Ein junges Mädchen lebte da
in meinem Dorf, Emilia Scharnbecker. Sechzehn Jahre war sie alt, wenn ich
mich recht erinnerte. Da fing es an mit ihren Anfällen. Andauernd verlor sie das
Bewusstsein, machte widernatürliche Bewegungen, sprach fremdartige, mir
nicht bekannte Worte. Als es mehr und mehr zur Qual wurde, baten die Eltern
mich, einen Exorzismus vorzunehmen.“ Er stockte.
„Hatte man die Epilepsie ausgeschlossen?“
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„Ja, nein, ich weiß nicht. Jedenfalls sagten die Eltern – und auch sie selbst – das
sei die letzte Hoffnung. Man habe alles andere probiert, aber es wurde immer
schlimmer. Vermutlich sagten sie mir irgendetwas von psychiatrischen Diagnosen, ich weiß es nicht mehr. Ich fragte Emilia, was sie davon halte. Ihre Antwort
war nur, es solle aufhören, sobald wie möglich, egal wie oder durch wen. So
beschloss ich also, das Ritual tatsächlich vorzunehmen. Vielleicht würde es ja
helfen, und sei es nur, weil sie daran glaubte. Zuvor hatte ich schon viel darüber gelesen, ich wusste in Grundzügen, was zu tun war.“
„Bei der Katholischen Kirche muss für einen Exorzismus immer erst die Erlaubnis eines Bischofs eingeholt werden. Gilt bei Ihrer Religionsgemeinschaft nicht
ähnliches?“ „Die Eltern wollten, dass es so schnell wie möglich geschieht und
nicht irgendeine höhere Instanz die einzige Hoffnung auf Heilung verhindert,
also führten wir es im Verborgenen durch. Jedenfalls versuchte ich bestmöglich, diesen Exorzismus durchzuführen und, was immer dem Mädchen diese
Anfälle bescherte, auszutreiben.“
„Und sie ist letztendlich daran gestorben, nicht wahr?“
Heinrich nickte schwermütig. „Erst schien überhaupt nichts zu passieren. Dann,
nach etwa einer halben Stunde, wurde sie wütend, als würden ihr die Worte
starke Schmerzen zufügen. Ich führte das Ritual weiter durch in der Hoffnung,
den Kampf bald zu gewinnen. Schließlich aber kam es zu einem ihrer Anfälle,
diesmal stärker als jemals zuvor. Sie … sie…“ Es war dem alten Mann anzusehen, dass die Erinnerung, die er sicher für lange Zeit verdrängt hatte, ihn
schwer mitnahm. „Sie hyperventilierte, irgendwann bekam sie augenscheinlich
keine Luft mehr. Und starb daran.“
Nicolas machte ein betroffenes Gesicht. „Wie ging es weiter?“ „Die Polizei kam
und rekonstruierte den Fall. Auch wenn so mancher es wohl gerne gesehen
hätte, wurde ich nicht angeklagt. Man ging davon aus, dass der letzte Anfall
nicht direkt von mir verursacht war, höchstens durch den Stress, also ein trauriger Unfall. Trotzdem konnte ich meiner Gemeinde nicht mehr in die Augen
sehen, also verließ ich das Dorf und lebte fortan hier im Kloster.“
„Wer kann von dem Fall wissen?“
„Die Eltern von Emilia natürlich. Nun ja, eigentlich jeder aus dem Dorf und jeder, der das zufällig mitverfolgt hat. Es kam auch einmal in der Zeitung, wurde
aber zu meiner Verwunderung kein richtiger Skandal. Die Frage ist also mehr,
wer einen Grund hat, das jetzt gegen mich zu verwenden.“
„Die Eltern?“
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„Sie warfen es mir damals nicht vor. Sie glaubten, dass der Dämon oder Teufel
sie getötet hat, nicht ich.“
„Wäre auch nicht sehr wahrscheinlich, schließlich müssten die Eltern jetzt
schon uralt sein. Hatte Emilia Geschwister?“
„Einen kleinen Bruder, glaube ich. Von dem habe ich seit Ewigkeiten nichts
mehr gehört, wie auch von allen anderen Mitgliedern meiner damaligen Gemeinde.“
„Jener kleine Bruder hätte theoretisch ein Motiv. Aber er müsste wissen, dass
Sie jetzt hier leben. Und wieso hätte er nicht schon lange zuvor zugeschlagen?
Wieso bringt er auch die anderen hier um? Zu viele Fragen – die Theorie wäre
folglich reine Mutmaßung.“
„Was, wenn der Hinweis auf meine Vergangenheit nur eine Ablenkung sein soll
und ich gar nicht das zentrale Ziel bin?“
„Möglich. Daran habe ich auch schon gedacht. Dann müsste jemand aber viel
über die Klosterbewohner recherchiert, also recht unnötigen Aufwand betrieben haben. Wenn ich eine falsche Fährte legen wollte, dann wohl eine, die eindeutiger ist, also explizit auf eine bestimmte Person hindeutet. Außer natürlich,
der Mörder wusste von der Geschichte damals ohnehin schon, unabhängig von
seinen Mordplänen, und hat es nur spontan genutzt, weil er es geeignet fand.“
Nicolas schüttelte entnervt den Kopf. „Zu viele unbekannte Variablen. Denken
Sie nach, wer noch davon wissen und ein Motiv haben könnte, welche Schlüsse
sich irgendwie ziehen lassen, und informieren sie mich rechtzeitig.“
Ohne Heinrich noch zu einer Antwort kommen zu lassen, drehte er sich nun um
und schritt wieder zurück Richtung Klostertor.
***
Das Geräusch des Wasserhahns erfüllte die Küche, während Maria mit der
Bürste über einen der dreckigen Teller fuhr. Wenige Momente dauerte es,
dann legte sie das nasse, schaumbedeckte Geschirr auf die Ablage neben sich
und griff nach dem nächsten Stück.
Gerade war das gemeinsame Abendessen vorbei; der Abwasch musste getätigt
werden. Bei den ganzen Klosterbewohnern waren es so einige Teller, doch in
der täglichen Routine hatte sie sich längst daran gewöhnt. Im Gegenteil, immer
wieder überwältigte Trauer sie, wenn sie daran dachte, dass sie drei Leute weniger waren als noch vor Beginn der schrecklichen Ereignisse. Der Ermittler Nicolas war dem Essen ferngeblieben, was sie erst überrascht, insgeheim aber
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auch erleichtert hatte. Maria konnte den jungen Mann mit seiner intellektuellen, überheblichen Art nicht ausstehen. Er sie und Ihresgleichen augenscheinlich auch nicht, wo er doch lieber das Ferne suchte.
Schritte tönten hinter ihrem Rücken. Im ersten Moment bekam Maria, seit dem
ersten Mord ein Nervenbündel, einen Schreck, doch es war nur Markus, der ihr
die nächste Ladung Geschirr brachte und neben der Spüle abstellte. Sie hatte
bereits mit dem Abwaschen angefangen, während er noch den Tisch abdeckte.
„Nur noch eine Fuhre“, sagte der Neunzehnjährige hastig, ohne sie wirklich anzusehen. „Bin gleich zurück.“
Im nächsten Moment schon war er wieder auf dem Weg zum Speisesaal, um
den Rest der Teller und Gläser zu holen. Maria indes widmete sich wieder dem
Abwasch.
Sie hoffte so sehr, dieser Albtraum möge bald vorbei sein. Wann endlich
schnappte jemand diesen Unmenschen, der all das anrichtete? Immer wieder
versuchte Marias Geist sich auszumalen, wie der Verrückte mit seiner bleichen
Maske und den tödlichen Waffen in irgendeiner dunklen Ecke kauerte und darauf wartete, erneut zuzuschlagen. Wo bloß mochte er sich verstecken, dass
ihn noch keiner gefunden hatte, obwohl sie doch andauernd das Gebäude
durchsuchten? Immer, wenn diese Gedanken in ihr Bewusstsein drangen, stahl
sich ungewollt auch das Gespenst des Zweifels dazwischen, jenes Misstrauen,
vielleicht entspräche die Wirklichkeit doch der anderen Möglichkeit. Was,
wenn sich einer von ihnen hinter der weißen, antik wirkenden Maske verbarg?
Maria wollte sich dieses Misstrauen verbitten, das doch nur einen Keil zwischen
die Mitglieder ihrer Gemeinschaft trieb, doch sie konnte nicht verhindern, dass
sie sich fragte, wem sie es am ehesten zutrauen würde. Heinrich, ganz klar, wäre immer ihre Antwort gewesen. Der verbitterte alte Mann verbarg etwas, da
war sie sich sicher, er war nicht ganz, was er zu sein schien, und auf eine gewisse Art unheimlich noch dazu. Doch gerade dieser war nun der, der es auf keinen Fall sein konnte, wo er sich doch verwundet in seinem Zimmer befand,
während der Mörder vor seiner Türe stand, bis er von Nicolas vertrieben wurde. Wer sonst kam in Frage? Esther niemals, sie war zu klein und eine Frau,
noch dazu viel zu gut, als dass man solches Grauen mit ihr verbinden könnte.
Judith ebenso, unmöglich würden ihr Körper und ihre Persönlichkeit zu der
mordenden Gestalt passen, die hier des Nachts umging. Jonathan? Sie wollte es
einfach nicht glauben. Joseph etwa? Nein, wer sonst stand so für ihre Werte
und ihre Gemeinschaft ein, dass er sich jedem Zweifel entzog? Doch nicht etwa
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Markus?
Markus. Schlagartig senkten sich Marias Augen auf die mit schaumigem Wasser
gefüllte Spüle vor ihr. Ein Glas schwamm darin, außerdem einige Gabeln und
Messer, den letzten Teller hielt sie in der Hand. Hätte ihr Küchengehilfe nicht
den Rest des Geschirrs bringen, damit längst zurück sein müssen? Wie lange
dauerte es nun, seit er eben bei ihr aufgetaucht war? Zu lange, das wusste sie,
auch wenn sie die tatsächliche Zeitspanne nicht ermessen konnte. „Markus?“, rief sie fragend durch die Küche.
Keine Antwort. Gegenüber quietschte die Tür, die den Raum vom Speisesaal
trennte. Sonst Stille.
„Markus?“ Diesmal lauter, aber wieder keine Antwort. Sich beunruhigt umsehend, trocknete Maria sich eilig die Hände am Geschirrhandtuch ab.
Bestimmt ist er nur von irgendwem aufgehalten worden, versuchte sie sich zu
beruhigen. Mit irgendjemandem in ein Gespräch vertieft, die Teller wahrscheinlich noch in der Hand…
Doch wieder war da dieses Gespenst Furcht, das immerzu flüsterte: Was, wenn
es der Killer ist, dem er in die Arme gelaufen ist? Was, wenn er nun in seinem
eigenen Blut daliegt und vergeblich auf Rettung wartet? Wenn seine Eingeweide schon im ganzen Raum…
Mit einem energischen Kopfschütteln vertrieb sie den Gedanken – vorerst –
und schritt Richtung Tür. Er sitzt dort im Speisesaal und redet, lacht, neben ihm
Esther oder Jonathan…
Die schreckliche Stille im Hintergrund, die diese Hoffnung immer unwahrscheinlicher erscheinen ließ, schrie sie in Gedanken nieder, machte einen
Schritt nach dem anderen auf den Ausgang zu, wo ihr unweigerlich die Wahrheit enthüllt werden würde…
Ihre Finger zitterten, als sie die kalte Tür berührten und langsam aufdrückten.
Sie sah im größer werdenden Türspalt rechts den Saal, alles sauber, wie sie ihn
hinterlassen hatten, keine Blut, kein Leichnam…
Den ganzen Mut zusammennehmend, stieß Maria die Tür nun vollständig auf.
Einen Sekundenbruchteil konnte sie eine sich auf sie zu bewegende Gestalt erkennen, dann prallten sie zusammen. Der Mann, der unerwartet in sie hineingerannt war, riss sie zu Boden, ungelenk landete Maria auf den glatten Küchenkacheln, der andere Körper auf ihr.
Dann erkannte sie das Gesicht vor ihr – und schrie. Markus Kopf war es, der
über ihrer Brust lag, schwer und ohne Spannung wie ein nasser Sack. Blutige
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Rinnsale benetzten sein zuvor noch schönes Antlitz und da, wo seine Augen
gewesen waren, ragten die Enden zweier Armbrustbolzen hervor.
Panisch versuchte Maria, unter ihm hervorzukommen, gleichzeitig rückwärts zu
robben und den toten Körper von sich zu schieben. Doch gerade hob sie ihren
Oberkörper ein wenig, Markus Leichnam rutschte zur Seite, da erkannte sie die
dunkle Gestalt, die reglos wie eine Statue in der Tür stand. Die Maske, die aussah wie eine griechische Skulptur, mit einem so entrückten, vielleicht leidenden
Gesichtsausdruck, konnte – das fühlte Maria zumindest – nicht im Geringsten
verbergen, welch sadistische Befriedigung das Gesicht darunter zur Schau stellen musste. In der einen Hand des Mannes eine dunkle, gebogene Klinge, die
genauso die Sense des Schnitters persönlich sein konnte, am Unterarm der anderen montiert eine Armbrust von seltsamer Form.
In Panik versuchte Maria zu entkommen; ihre schweißnassen Hände glitten auf
dem Boden aus, während sie sich rückwärts ziehen wollte. Der tödliche Besucher indes stand nur da, dann machte er langsam einen Schritt nach vorne.
Irgendwie gelang es Maria nun, sich von dem auf ihr liegenden Leichnam zu
befreien, panisch und ungelenk rappelte sie sich auf. Instinktiv rannte sie los,
irgendwie geradeaus, ohne zu wissen wohin. Da spürte sie einen Stoß und ihre
schreckgeweiteten Augen sahen, ohne zu verstehen, die Pfeilspitze, die urplötzlich aus ihrer Brust ragte. Laut wie ein Peitschenknall hallte die erneut losgelassene Sehne der Repetierarmbrust und ein zweites Projektil bohrte sich von hinten durch ihren Körper. Jetzt stolperte sie, landete auf Händen und Knien, wie
durch einen Nebelschleier drang der grässliche Schmerz zu ihr.
Sie spürte kaum, wie eine Hand ihre Haare packte und sie in eine aufrechte Haltung zog. Kalter Stahl, gerundet wie eine Sichel, legte sich um ihren Hals.
„Diese Nacht endet es.“
Sie erkannte die Stimme.
Dann durchschnitt die Sichelklinge ihren Hals, ließ dem hervor sprudelnden
Blut freien Lauf, und jede Wahrnehmung endete.
*****
„Hast du den Ermittler gesehen?“, fragte Joseph, als er Heinrich auf dem Flur
begegnete.
„Er ist…“, der andere Mann zögerte kurz, „…im Speisesaal. Isst noch etwas.“
Kein Wunder, dass Nicolas Nedo noch Hunger hatte, wo er doch der gemeinsamen Mahlzeit ferngeblieben war. Es wunderte Joseph aber schon, dass der
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Fremde sich hier aufführte wie Zuhause und sich einfach selbst bediente, wie
es schien.
„Okay.“ Er nickte. „Bis später dann.“
Noch mehr verwunderte den Klostervorsteher allerdings der Blick, den Heinrich
ihm jetzt gerade, vermutlich unbewusst, zuwarf. Irgendwas stimmte da nicht.
Entfernte sich der Ältere nicht gerade etwas zu schnell, warf einen Blick zu viel
zurück? Abermals spürte Joseph, welch Paranoia sich aller Menschen hier bemächtigte. Wer vertraute noch einander, wer konnte noch hinter einer etwas
seltsamen Geste nicht gleich etwas Verdächtiges vermuten? Sein Blick folgte
Heinrich den Gang hinunter, beobachtete abschätzend den nur allzu zielstrebigen Schritt. Ja, etwas war anders als sonst. Meinte Heinrich, ihn, Joseph, als
den Mörder identifiziert zu haben? Oder, allen bisherigen Indizien zum Trotze,
war er womöglich doch an den Verbrechen Schuld oder beteiligt und fürchtete
aufzufliegen?
Während die Gedanken noch in seinem Kopf herumflogen, machte sich Joseph
auf den Weg. Es war nicht weit von seinem derzeitigen Punkt bis zum Speisesaal, schließlich lag jener recht zentral im Erdgeschoss. Hinter den Fenstern
oben an der schmucklosen Wand hatte sich bereits Dunkelheit breitgemacht,
die Nacht war hereingebrochen. War es nun wieder Zeit für einen Mord?
Die alte Tür knarrte ungewohnt laut in dem sonst geräuschlosen Gang, als Joseph sie aufdrückte. Es offenbarte sich der fast leere Speisesaal, ein hoher
Raum mit mehreren langen Tischen, gemacht für noch mehr Leute, als derzeitig
hier wohnten. Einsam recht in der Mitte saß Nicolas Nedo an einem Platz, es
wirkte fast wie ein altes Stillleben. Vor sich hatte er einen Teller mit Fleisch und
genoss gerade seine Mahlzeit, doch als Joseph hereintrat, hob sich der Kopf
aufmerksam und ein dezentes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
„Ahh, Sie sind es“, sprach Nicolas. „Setzen Sie sich doch einen Moment zu mir.“
Er schob beiläufig noch eine Gabel mit Fleisch in den Mund. „Ich ging davon
aus, dass Sie mit mir sprechen wollten?“
Joseph schloss die Tür hinter sich und nickte. „Ja, in der Tat.“
Mit dem Fuß schob Nicolas unter dem Tisch den gegenüberliegenden Stuhl zurück. Gemächlich setzte sich der Klostervorsteher, der sich plötzlich mehr wie
ein Gast in seiner eigenen Heimstatt vorkam.
„Etwas zu trinken?“, fragte Nicolas, als wolle er den Eindruck, er sei der Gastgeber, noch verstärken. Er selbst indes hatte ein Glas Wein vor sich stehen –
Wein? Vermutlich hatte Maria ihm gezeigt, wo er die Getränke fand.„Nein dan41
ke“, erwiderte Joseph kalt. „Ich möchte ein ernstes Gespräch mit Ihnen führen.“
„Ja, Herr Lehrer?“
„Spielen Sie bitte nicht den Scherzbold, Herr Kommissar.“
„Das ist nun einmal meine Natur. Wenn jemand mit solch übertriebener Ernsthaftigkeit an mich herantritt, sich geradezu als Autorität aufführt, wo ich doch
die Exekutive dieses Staates vertrete, da kann ich nun einmal nicht anders, als
mit Sarkasmus zu reagieren. Manche Leute können damit nicht um, doch ebenso gehört es zu meinen Eigenschaften, dass mir das gänzlich egal ist.“
Joseph wollte auf diese arrogante Erwiderung nicht eingehen. „Ich würde gerne
mit Ihnen über Ihre Ermittlungen reden. Bis jetzt scheint es nicht so, als hätten
Sie irgendwelche Fortschritte gemacht. Wie lange, meinen Sie, soll dieser Zustand nun so weitergehen? Mich würde wirklich interessieren, was Sie genau
als nächstes zu tun gedenken. Ob Sie überhaupt irgendeinen Plan haben, was
Sie tun wollen.“
Mit geradezu übertriebener Präzision legte Nicolas die Gabel, von der er gerade
einen Bissen genommen hatte, auf dem Teller ab, waagerecht als wolle er damit signalisieren, er sei fertig. „Glauben Sie mir, ich habe so viele Pläne, dass ich
sämtliche kalten Betonwände dieses Klosters damit tapezieren könnte. Aber
keiner von diesen sieht vor, mich vor einem Zivilisten – noch dazu einem dringend Tatverdächtigen – für mein Vorgehen rechtfertigen zu müssen.“
„Tatverdächtigen?“
„Kein vernünftiger – pardon, erwachsener – Mensch kann abstreiten, dass Sie
das sind. Allzu viele Personen kommen schließlich nicht in Frage. Dieses nette
Kloster ist ein geschlossenes System, die anwesenden Menschen begrenzt, genau wie bei Cluedo. Kennen Sie Cluedo? Ein wirklich nettes Brettspiel. Ist Dr.
Schwarz im Musikzimmer von von Oberst von Gatow mit dem Heizungsrohr
ermordet worden? Oder war es doch Frau Weiß mit dem Kerzenleuchter?“
„Ich halte ihre lächerlichen Vergleiche für ziemlich unangebracht.“
„Ja, das sind sie wohl.“ Nicolas lächelte kurz und nahm noch einen Bissen seiner
Mahlzeit zu sich. „Schließlich sind uns die Tatwaffen längst bekannt, nämlich
Armbrust und Harpe. Es ist mehr wie in einem klassischen Slasher-Film, nur
dass die Opfer hier keine stupiden amerikanischen Teenager sind. Mögen Sie
Horrorfilme?“
„Mit solcherlei Schund gebe ich mich nun wirklich nicht ab.“
„Ohh, das ist aber schade. Sie könnten womöglich noch Gefallen daran finden,
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wo diese Filme doch stets unterschwellig eine absolut reaktionäre Moral vermitteln. Wer Drogen nimmt oder Unzucht treibt, wird abgeschlachtet. Am Ende
bleibt nur ein Mädchen übrig, welches clean und/oder noch Jungfrau ist. Nur
dieses überwindet schließlich den Täter. Was aber meist nicht viel bringt, denn
der ist ja unsterblich. Wenn man ihm nicht gerade den Kopf abschlägt, so gibt
es eine Fortsetzung. Und selbst wenn doch, ist immerhin ein Remake drin.“
„Sie wollen partout nicht über den Ernst der Lage reden, nicht wahr?“
„Ich betreibe Smalltalk, mehr nicht. Wenn Sie sich jemals mit normalen Menschen abgeben wollten, sollten Sie das auch lernen.“
*****
So schnell, wie es sein verletztes Bein zuließ, humpelte Heinrich die Treppe zu
den Schlafzimmern empor. Jetzt lag es womöglich an ihm, das Schlimmste zu
verhindern. Die Situation im Speisesaal durfte nicht eskalieren, bevor er bereit
war.
Keuchend drückte er schließlich die Tür seines Zimmers auf und trat ein, dann
schloss er sie eilig hinter sich. Sein Blick richtete sich sogleich auf die schlichte
Kommode auf der anderen Seite des Bettes. Die Beinwunde rebellierte brennend gegen die vielen Schritte, aber Heinrich unterdrückte den Schmerz. Das
durfte ihn jetzt nicht kümmern, schließlich hing mehr als nur sein eigenes Wohl
von seiner Geistesgegenwart ab. So riss er nun die unterste Schublade auf und
wühlte sich durch die alten Hosen, die ihm mittlerweile viel zu weit waren. Irgendwo dort musste es doch… Da. Erleichtert umschlossen seine Finger das
kalte Metall der Waffe, die dort seit nunmehr so vielen Jahren ungenutzt versteckt lag. Fast schon ehrfurchtsvoll hob er den schlichten Revolver in die Höhe,
um dann mit seinem Ärmel den Staub davon abzuwischen. Jetzt fehlte nur noch
die Munition.
Lange schon hatte er den Gegenstand nicht mehr angerührt. Dafür waren die
Emotionen, die ihn dann stets überkamen, zu stark. Die Pistole war noch nie
abgefeuert worden, zumindest nicht von ihm. Doch sie war Symbol der Furcht
und der Schuld, den beiden bedrängenden Emotionen, die ihn so viele Jahre
geknechtet hatten – und teilweise noch immer taten. Mit Schaudern dachte er
daran zurück, wie es gewesen war, damals, kurz nach dem fehlgeschlagenen
Exorzismus. Furcht und Schuld, nur daraus hatte sein Leben bestanden. So einige Drohbriefe hatten ihn erreicht, in denen man ihn einen Mörder nannte. Und
mehr noch glaubte er selbst in allen Gesichtern den Vorwurf und den Hass zu
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sehen. Die Menschen verachteten ihn für das, was er mit besten Absichten getan hatte. Schließlich hatte er sich von einer zwielichtigen Gestalt den Revolver
gekauft, weil er sich sonst nie wieder sicher fühlen konnte. Schließlich gab es so
einige, die ihn am liebsten tot gesehen hätten. Aber auch das half schließlich
nichts, denn es war nicht die Angst vor Gewalt, die ihm so zusetzte, sondern
vielmehr die Blicke und unterschwelligen Worte, die man ihm stets zuzuwerfen
schien. Das Dorf hatte er schließlich verlassen, den Revolver aber zusammen
mit den bösen Erinnerungen mitgenommen. Oft schon hatte er ihn eigentlich
entsorgen wollen, sich aber nie ganz dazu durchgerungen. Was, wenn ihn die
Vergangenheit doch noch einholte? Genau das war jetzt womöglich geschehen.
Vielleicht konnte er jetzt endlich einen Teil der Schuld von damals wiedergutmachen und selbst seinen Frieden finden. Eine nach der anderen steckte er
Patronen in die sechs Kammern des Magazins, dann ließ er es geräuschvoll zuschnappen. Nachdem er die Pistole unauffällig in seinem Hosenbund verborgen
hatte, erhob sich Heinrich wieder, wobei erneut ein stechender Schmerz seinen
Unterschenkel durchfuhr. Hoffentlich würde er nicht zu spät kommen.
*****
„Also“, sprach Nicolas. „Sie wollten über meine Ermittlungen reden?“
„Wenn man das, was Sie hier betreiben, überhaupt als Ermittlungen bezeichnen kann“, erwiderte Joseph kritisch. „Gerade scheinen Sie mir nur allzu entspannt.“
„Permanente Anspannung dürfte wohl auch kaum zielführend sein. Davon abgesehen ist die Leber wirklich ausgesprochen schmackhaft.“
Instinktiv nickte Joseph kurz, dann wurde ihm schlagartig die Bedeutung der
Worte bewusst und er starrte auf das halb verzehrte Stück Fleisch auf dem Teller seines Gegenübers. „Leber?“
„Ja, in der Tat, sehr delikat, wenn sie richtig gebraten ist.“
„Mir war nicht bekannt, dass wir Leber unter unseren Vorräten hatten.“
„Mir auch nicht.“
Joseph schluckte, dann machte er einen letzten Versuch, die sich abzeichnende
Wahrheit zu widerlegen: „Sie bringen sich Ihre Mahlzeiten doch wohl kaum
selbst mit, wenn Sie hier so plötzlich auftauchen?“
Nicolas lehnte sich zurück. „Jetzt haben Sie mich aber in eine ganz schöne Bredouille gebracht. Wie erläutere ich, dass ich Ihren lieben Küchengesellen Markus ermordet, ausgeweidet und sein schmackhaftestes Organ gebraten habe,
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um es zu verzehren, ohne dass es sarkastisch klingt?“
Den nächsten Moment sagte Joseph nichts, da sich seine Gedanken mehr und
mehr überschlugen.
„Also.“ Nicolas blieb gänzlich ruhig. „Da ohnehin keiner der Bewohner dieses
Klosters den nächsten Sonnenaufgang erblicken wird, kann ich mich Ihnen ja
auch gleich jetzt offenbaren.“
„Sie sind kein BKA-Ermittler.“
„Nein, ich verfüge nur über einen gefälschten Dienstausweis und ein souveränes Auftreten. Wissen Sie, ich habe es wirklich genossen zu sehen, wie ihr alle
immer mehr in Paranoia und Misstrauen versinkt. Sonderlich schwer war es
wirklich nicht. In der ersten Nacht einbrechen und das Telefon lahmlegen, danach den lieben Bruder Johannes in der Kirche richten, gemeinsam mit seinem
hässlichen Heiland. Am nächsten Tag hier auftauchen, die Polizei wegschicken
und der Spaß kann beginnen. Dann war nur noch die Straße zu blockieren, damit keiner herein oder hinaus kommt.“
„Und jetzt sitzen Sie hier seelenruhig und…“ Als Josephs Augen wieder der
Mahlzeit gewahr wurden, konnte er nur schwer seinen Mageninhalt bei sich
behalten. „Sie haben wirklich…“
„Wie gesagt, äußerst delikat, obgleich ich leider keinen guten Chianti dazu auftreiben konnte, um einmal einen berühmten Mann zu zitieren. Tatsächlich war
es mein erster Fall von Kannibalismus, das habe ich zuvor noch nie gemacht. Ich
war einfach interessiert, wie es denn so schmeckt. Oh, sehen Sie mich nicht so
angewidert an. Heißt es nicht schon in der Bibel: „Kommt, versammelt euch zu
dem großen Mahl Gottes und esst das Fleisch der Könige und der Hauptleute
und das Fleisch der Starken und der Pferde und derer, die darauf sitzen, und das
Fleisch aller Freien und Sklaven, der Kleinen und der Großen!“?“
„Das ist wohl … kaum wörtlich gemeint.“
„Ach, und das wissen ausgerechnet Sie zu beurteilen? Haben Sie die Bibel eigentlich einmal gelesen? Ich habe es, von Genesis 1 bis Offenbarung 22. Gegen
die Perversitäten, die dort geschildert werden, bin ich harmlos wie ein Waldorfschüler.“
Abermals blieb Joseph ihm eine Antwort schuldig. Er konnte seinen Blick nicht
abwenden von der grausigen Mahlzeit und dem so unscheinbaren, so bösartigen Gesicht darüber. Ihm war vollkommen bewusst, dass er dem Psychopathen
gegenüber saß, der mindestens drei, vermutlich mehr seiner engsten Bekannten ermordet hatte. Doch sein Gehirn verweigerte ihm den Dienst, einen Aus45
weg aufzuzeigen aus dieser zu unwirklichen Situation.
Nicolas indes schien seine Gedanken gelesen zu haben. „Ich kann mir nur zu gut
denken, wie sie sich fühlen. Was habe ich wohl als nächstes vor? Wie werde ich
Sie letztendlich töten? Sie wissen, dass meine Enttarnung nicht zu meinem
Überraschen geschah. Dass ich alles sorgsam geplant habe, dass keiner von uns
beiden jetzt hier sitzen würde, wenn ich es nicht genau so gewollt hätte.“
Fieberhaft versuchte Joseph sich darauf zu konzentrieren, wie er lebend aus
dieser Situation entkommen konnte.
„Sie wissen, dass Sie mich niemals überwinden können“, fuhr Nicolas fort.
„Denn ich bin Ihnen einen, nein mehrere Schritte voraus, von Anfang an gewesen. Wie wollen Sie es mit jemandem aufnehmen, der Ihnen geistig so weit
überlegen ist? Wie wird es wohl ablaufen? Wird Sie meine längst genau justierte Armbrust aus einer dunklen Ecke dieses Raumes erschießen, sobald ich sie
mit einem dünnen, um meinen Finger gewickelten Band betätige? Werde ich
Sie einfach unter dem Tisch erschießen?“ Wie zur Bestätigung, wie naiv solche
Annahmen doch wären, hob er gut sichtbar beide Hände in die Höhe. „Oder
wird das Tatwerkzeug doch diese Gabel hier sein, die eben noch das Fleisch Ihres toten Freundes penetriert hat?“
Abermals schluckte Joseph, mittlerweile schwitzte er unangenehm am ganzen
Körper. „Wieso bloß tun Sie das?“
„Tue ich was? Sie hier psychisch quälen oder das Morden ganz allgemein? Sie
müssen schon präziser werden.“
„Wieso wollen Sie uns umbringen?“
„Sie sitzen nach wie vor dem Irrglauben auf, es ginge mir um Sie und Ihresgleichen als Personen. Ebenso wenig geht es mir um die Befriedigung eines abartigen Triebes, auch wenn ich meine Taten mitunter schon ein wenig genieße.
Nein, mein Ziel sind nicht Individuen, Menschen, Rassen, Volksgruppen, was
auch immer sie denken. Mir geht es um Meme. Kennen Sie Richard Dawkins?“
„Sollte ich?“
„Richard Dawkins ist einer der führenden Evolutionsbiologen der Welt, ehemaliger Professor in Oxford, Autor religionskritischer Bücher, Vizepräsident der
British Humanist Association, kurz einer der wichtigsten Intellektuellen unserer
Zeit. Er prägte den Begriff des Mems, eine Art kulturelles Äquivalent zu den
Genen. Ein Mem ist eine meist ziemlich kleine Einheit kulturellen Gedankenguts, die sich mit mehr oder minder großem Erfolg in der Gesellschaft verbreitet und mit allen anderen Memen den Mempool bildet. Letztendlich verhalten
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sich Meme ganz ähnlich wie Gene, sie sind denselben Regeln von Selektion,
Mutation und Rekombination unterworfen, obgleich sie sich natürlich wesentlich schneller und nicht nur durch Fortpflanzung verbreiten können. Religionen
etwa sind sehr große, komplexe, weit verbreitete Memplexe. Den Glauben an
Gott als solchen könnte man als ein einzelnes, sehr weit verbreitetes Mem ansehen, einzelne Mythen sind es ebenso, selbst auf Internetphänomene wie etwa die lächerliche Ice Bucket Challenge trifft der Begriff zu. Natürlich gehört
auch Dawkins zu jenen noch immer an die etablierten moralischen Werte fest
geketteten Gutmenschen, sodass er das, was ich tue, sicher mit größtem Abscheu betrachten würde – was die faktische Richtigkeit seiner Theorien aber
nicht beeinflusst. Was ich sagen will: Ich betrachte Ihresgleichen weniger als
Individuen, sondern vielmehr als Träger unzähliger Meme, von denen recht viele eindeutig schädlich für den allgemeinen Mempool sind. Stellen Sie sich die
Menschheit vor wie eine Nutztierrasse. Wenn in einer Population ein Virus ausgebrochen ist und sich verbreitet, so muss eventuell eine Notkeulung angeordnet werden, sprich eine Beseitigung der infizierten Individuen, um die Weiterverbreitung des Erregers zu verhindern. Religion ist ein solcher Erreger und
noch dazu einer der schlimmsten, weil sie so grässliche Verbrechen hervorruft
wie etwa den oft totgeschwiegenen Völkermord an den Katharern und weil sie
sich so effizient verbreitet und selbst am Leben erhält. Verstehen Sie nun, was
ich meine?“ „Sie sind wahnsinnig.“
„Ein polemisches Totschlagargument ohne jeglichen argumentativen Wert.
Aber das will ich Ihnen verzeihen, schließlich ist es ja bald vorbei mit Ihnen.“
„Wenn Sie sich da nicht täuschen. Hochmut kommt vor dem Fall.“
Urplötzlich stand Nicolas von seinem Stuhl auf und beugte sich vor, sodass sein
Gesicht nur noch ein kleines Stück von dem Josephs entfernt war. „Wie konnten Sie auch nur einen Moment in Betracht ziehen, ich hätte mich in diese Situation begeben, wenn ich nicht genau wüsste, wie sie enden wird? Wenn ich
eines meide, dann sind das Situationen, die ich nicht unter Kontrolle habe. Diese hier gehört ganz bestimmt nicht dazu.“
Joseph hörte kaum zu, denn etwas anderes hatte seinen Blick gefesselt: Die
mattschwarze Pistole, bis vor kurzem noch eine scheinbare Dienstwaffe, die
dort so verführerisch nah in einem Holster an Nicolas‘ Gürtel hing.
Sein Gegenüber jedoch schien dem Blick zu folgen, ein überhebliches Lächeln
machte sich auf seinem Gesicht breit. „Darum geht es Ihnen. Oh, dass ich daran
nicht gedacht hatte.“
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Bedächtig setzte er sich wieder. Dann, zu Josephs Überraschung, zog er die
Waffe hervor, legte sie vor sich auf den Tisch und schob sie langsam bis zu dessen Mitte. Jetzt lag sie genauso weit von Joseph entfernt wie von ihm selbst.
„Was sind Sie nur für ein Mensch?“, fragte der verunsicherte Joseph voller Verachtung. Wenn er nur schnell genug…
„Ein Mensch?“ Nicolas schmunzelte. „Ich bin kein Vertreter der Menschheit. Ich
bin ihre Karikatur, ihre Perversion. Und tun Sie nicht so, als wäre mein Verhalten nicht nur allzu repräsentativ für unsere Spezies. Seit wir auf Erden wandeln,
schlagen wir uns die Köpfe ein, wir führen Kriege, zerstören die Natur, entzweien uns aufgrund nichtiger Unterschiede. In dem Wort Homo sapiens – der
„weise Mensch“ – konnte ich noch nie etwas anderes als Ironie sehen. Homo
destructivus wäre besser, der zerstörerische Mensch. Homo stultus, der dumme
Mensch. Oder, noch besser, weil es uns am besten beschreibt, Homo superbus,
der überhebliche Mensch. Denken und Töten, sind das nicht die grundlegenden
Eigenheiten der Menschheit? Ich bilde da keine Ausnahme, aber ich bin einer
von nur einer Handvoll, die beide verbinden können.“
„Sie widern mich an, Sie sind eine Beleidigung für unsere Rasse.“
„Nie wollte ich etwas anderes sein, denn nichts anderes verdient die Menschheit.“
„Wie können Sie mit so einer pessimistischen Welteinstellung leben?“
„Pessimistisch? Ein Pessimist würde sich verkriechen und die Welt als schlecht
hinnehmen. Ich bin Idealist, denn ich versuche sie zum Besseren zu ändern.“
„Und diese Menschen hier sind schlecht? So schlecht, dass sie ausgelöscht
werden müssen? Und Sie? Sind Sie denn besser als…“
Das Geräusch der plötzlich aufgestoßenen Tür fuhr ihm ins Wort.
Nicolas zuckte zurück.
Joseph sprang auf und packte die auf dem Tisch liegende Pistole, während sein
Gegenüber sich samt Stuhl nach hinten fallen ließ.
Schüsse knallten, wie Kanonenschläge in dem weiten Raum wieder hallend.
Dumpf spürte Joseph die Treffer in seiner Brust, die Wucht schleuderte ihn
nach hinten, sofort verlor er das Gleichgewicht. Er spürte noch, wie die Waffe
seinen Fingern entglitt, als sein Körper auf dem Boden auftraf.
Im Liegen erhaschte er einen Blick auf Nicolas, ungelenk und mit schockiertem
Gesicht auf dem umgefallenen Stuhl liegend, auf das Blut, dass sich gerade auf
dem Boden vor Josephs eigenem Körper ausbreitete – und auf Heinrich, der mit
rauchender Waffe in der Tür stand.
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Als er noch den Mund öffnete, einen warnenden Schrei auszustoßen, hauchte
er damit seinen letzten Atem aus.
******
„Gut … dass Sie rechtzeitig gekommen sind“, stotterte Nicolas.
Heinrich war noch immer erstarrt von der Plötzlichkeit der Ereignisse, den Revolver hielt er verkrampft in der Hand. „Ich hatte gehofft…“
„Einen anderen Ausweg zu finden?“ Der Ermittler klang wieder ein wenig sicherer, während er sich stöhnend aufrichtete. „Das wünschen wir uns alle. Aber in
solchen Fällen… Er hatte mich überrascht, sich so schnell meine Pistole geschnappt, dass ich… Es tut mir wirklich leid. Dazu hätte es nicht kommen müssen.“ Noch am ganzen Körper zitternd, nickte Heinrich. „Es hätte mir gleich klar
sein müssen, als ich die Botschaft an meiner Tür fand. Nur er wusste von dem …
Ereignis damals.“
„Das sagten Sie bereits eben. Sie hatten es ihm ja gebeichtet, als Sie hierher
zogen.“ Wütend schüttelte Nicolas den Kopf. „Ich hätte verdammt nochmal
vorsichtiger sein müssen! Dieses Risiko einzugehen, nur um das Geständnis zu
erlangen … weil ich sonst vielleicht nichts in der Hand gehabt hätte, um ihn
ganz sicher einzusperren…“
„Hat er denn…“
Nicolas nickte und blickte zu dem auf dem Boden liegenden Leichnam, um den
sich mittlerweile eine Blutlache ausbreitete. „Er hat gestanden. Hat mir alles
erzählt, all das wirre Zeug.“
„Was bringt jemanden wie ihn dazu, all das…“
„Solche Verrückten kann man nicht verstehen. Auf einmal packt sie der Drang,
alles und jeden umzubringen; seien es nun frustrierte Jugendliche, die einen
Amoklauf in ihrer Schule veranstalten; seien es liebende Familienväter, die
plötzlich Frau und Kinder abschlachten, sei es euer Bruder Joseph.“ Er richtete
seinen Blick auf die Waffe in Heinrichs Händen. „Das ist ein Beweisstück. Ich
müsste es jetzt leider in Gewahrsam nehmen.“
Der Angesprochene nickte, den Revolver noch immer festhaltend.
Nicolas kam unterdessen auf ihn zu. „Normalerweise würde ich Ihnen sagen,
Sie bekommen es sobald wie möglich zurück. Nun weiß ich nicht, ob die Waffe
legal erworben ist und Sie sie überhaupt führen dürfen… Jedenfalls, ich werde
mich bemühen.“
Der Ermittler griff bestimmt, aber nicht gerade aggressiv nach dem Revolver
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und löste ihn aus Heinrichs nachgebenden Händen.
„Und wissen Sie“, sagte er mit versöhnlichem Ton. „Sie werden sich keine langen Schuldgefühle deshalb machen müssen.“
Bevor Heinrich reagieren konnte, schlug der andere ihm den Pistolenknauf gegen den Schädel und die Welt versank in Dunkelheit.
*******
Esther kam gerade mit Jonathan aus Richtung der Kapelle ins Gebäude, als sie
den Schrei hörte. Schlagartig stoppten beide.
„Judith“, sagte Jonathan nur – die Stimme war unverwechselbar gewesen. „Das
schien mir von dort hinten zu kommen.“
„Ja.“ Esthers Blick folgte dem Finger des anderen, der in Richtung von Speisesaal und Küche zeigte. „Wir sollten nachsehen.“
Einen Moment noch trat Jonathan unsicher auf der Stelle herum, dann nickte
er und ging voraus. Wenn dort jemand Hilfe brauchte, dann durften sie sich
dem wohl kaum verschließen.
Damit war die kurze Phase des Friedens auch schon beendet. Eben noch hatten
die beiden im Innenhof gesessen und geredet. Esther tat es gut, ihre Gefühle
einem anderen anzuvertrauen, sich einmal auszusprechen über den Schrecken,
der mittlerweile allgegenwärtig geworden war. Und Jonathan war ein guter Gesprächspartner, wie er immer geduldig zuhörte und ihr mit seiner ruhigen
Stimme Mut machte. Obwohl er fünf Jahre älter war als sie, waren Esther und
er seit Beginn ihrer gemeinsamen Zeit hier recht gute Freunde – und jetzt
brauchten sie das mehr denn je.
Halb laufend brachten sie die kurze Strecke hinter sich und erreichten die offenstehende Tür des Speisesaals. Ein kurzer Moment der Erleichterung ergriff
Esther, als sie Judith aufrecht und augenscheinlich unverletzt am Eingang des
Raumes stehen sah – doch dieses Gefühl wandelte sich sogleich in Entsetzen
um. Wie die, deren panischer Schrei sie so plötzlich hergeführt hatte, konnten
die beiden Neuankömmlinge zunächst nichts anderes tun, als erstarrt da zu
stehen und das Grauen im Raum vor ihnen anzustarren. Am liebsten wollte
Esther ihren Blick von der grausigen Szenerie abwenden, doch es war ihr einfach nicht möglich. Drei Leichen waren es, kopfüber von der Decke hängend:
Maria, Markus und Joseph. Das Licht wirkte umso unnatürlicher, da man die
Deckenlampen herausgerissen und ihre Kabel um die Füße der Toten geknotet
hatte, sodass die Glühbirnen schief im Raum hingen, grotesk die Wände an50
strahlten und das eigentliche Grauen halb im Schatten ließen.
In diesem Moment glaubte Esther zu spüren, wie ihr gesamtes Leben zusammenbrach. Der Ort, der ihr Zuhause gewesen war, hatte sich in ein Schlachthaus verwandelt und mit Joseph, dessen Brust von getrocknetem Blut befleckt
war, war auch noch das letzte bisschen Familie, das sie noch gehabt hatte, aus
ihrem Leben getreten. Sicher, der strenge Mann hatte seine Fehler gehabt –
aber immerhin hatte er sie stets versorgt und ihrer Existenz Sicherheit gegeben.
Und Markus, mit dem sie sich auch immer gut verstanden hatte, baumelte nun
mit glasigen Augen von der Decke, während aus einer tiefen Wunde in seinem
Unterleib die Gedärme heraushingen. Marias Kopf schien Esther geradezu anzustarren mit vor Entsetzen geweiteten Augen – von einem Tablett auf dem
Tisch knapp unter ihrem enthaupteten Körper, das Gesicht von Blut bedeckt
und, noch schrecklicher, die Haare mitsamt der Kopfhaut entfernt, dass nur rotes Fleisch oberhalb ihrer Stirn zu sehen war.
„Du musst das nicht sehen“, versuchte Jonathan sie zu beruhigen und legte einen Arm um ihren Körper, während er sie behutsam umdrehte und aus der Tür
geleitete. Halb wollte Esther ihm danken, halb ihm die Sinnlosigkeit der Aktion
entgegen schreien, wo sich das grässliche Bild doch niemals aus ihrem Bewusstsein lösen würde – letztendlich brachte sie überhaupt keinen Ton heraus,
abgesehen von einem leisen Schluchzen.
Inzwischen schien auch Judith ihre Handlungsfähigkeit wiedererlangt zu haben,
auf unsicheren Beinen folgte sie den beiden. Esther sank indes an der Wand zu
Boden, gerade weit genug entfernt, dass sie das Grauen nicht mehr ansehen
musste. Jetzt erst bemerkte sie, dass ihr die Tränen schon bis zum Mund gelaufen waren.
„Al…le tot“, stammelte Judith.
Esther schniefte kurz. „W…was ist mit Heinrich?“
„Noch nicht gesehen“, erwiderte Jonathan mit einem winzigen Schimmer von
Hoffnung in den Augen. „Wir und Heinrich müssten jetzt die einzigen sein – alle
anderen sind tot. Moment, und Nicolas, wenn wir uns auf den verlassen können. Vielleicht sind sie aber auch schon beide… Wartet hier, ich werde nachsehen, ob Heinrich in seinem Zimmer…“
„Nein!“ Esther klammerte sich kraftlos an seinem Bein fest. „Wir bleiben zusammen.“
Der Zurechtgewiesene nickte kurz, dann beugte er sich hinunter, um ihr auf die
Beine zu helfen. Schwerfällig ließ Esther ihn gewähren.
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„Gehen wir“, stieß Judith hervor.
Unsicher in alle Richtungen blickend, ob nicht der Mörder gleich hervorspringen könnte, machten sie sich auf den Weg. Es kam Esther wie ein Todesmarsch
vor, als sie sich so durch das ausgestorbene Gebäude bewegten, im Lichte fahler Lampen, während vor den Fenstern längst die Nacht jede Helligkeit verschluckt hatte. Ein Teil ihres Geistes flüsterte ihr unentwegt zu, dass es zu Ende
war, dass sie alles verloren und ohnehin keine Chance hatte, dass sie ebenso
gut auch gleich aufgeben und auf ihr Ende warten konnte. Doch da war auch
etwas in ihr, das diese Stimme zu unterdrücken versuchte. Nicht alles hatte sie
verloren. Jonathan und Judith waren noch da, um ihretwillen musste sie stark
sein, anstatt sie mit sich in den Untergang zu reißen. Noch war sie nicht ganz
alleine.
Die Treppe ins Obergeschoss kam ihr endlos vor, die Stufen riesig und viel zu
hoch. Es war die tiefe Resignation, die sie ohne Widerwillen die Anstrengung
ertragen ließ. Gerade als sie dachte, es würde nie mehr enden, erreichten sie
den Flur im Obergeschoss. Es waren nur noch ein paar Schritte bis zur Tür von
Heinrichs Schlafzimmer – er hatte den Weg geschafft, als er von dem Mörder
verfolgt wurde, also konnte es nun kein nicht zu bewältigender Aufwand sein.
Jonathan klopfte, klopfte noch einmal – eine Antwort blieb aus. Schließlich
drückte er vorsichtig die Türklinke hinunter. Nur das Knarren der hölzernen Tür
durchbrach die sonst überall herrschende Stille. Dann schließlich traten sie ein.
Esther war geradezu verwundert, wie wenig Emotionen der Anblick des Toten
in ihr hervorrief. Hatte der Anblick der Leichen unten nun jedes Gefühl in ihr
abgetötet? So zumindest schien es ihr, als ihre Augen des in seinem Bett liegenden Heinrichs gewahr wurden. Arme wie Beine hatte man ihm an die Bettpfosten gebunden, dass er wehrlos auf dem Rücken fixiert war. Das totenbleiche Gesicht, noch immer mit aufgerissenen Augen, war von zahlreichen blutigen Schnitten entstellt. Noch verstörender aber war die Kopfbedeckung – der
Wahnsinnige hatte dem Toten wie eine Perücke einen Schopf langer, dunkler
Haare aufgesetzt, darunter waren dünne Rinnsale hervor gelaufenen, bereits
geronnenen Blutes zu erkennen. Es bestand kein Zweifel, woher der fremde
Skalp gekommen war.
„O mein Gott“, hauchte Judith. Esther registrierte indes ein verstörendes Detail:
Der Kopf des alten Mannes hing unnatürlich schief, anscheinend locker, als hätte der Kopf keinerlei Spannung mehr – man musste ihm das Genick gebrochen
haben, womöglich gar den ganzen Kopf einmal herumgedreht.
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„Was…“, stammelte Esther, vom Grauen fast überwältigt, „…soll das bedeuten?“
„Perverses Schwein“, zischte Judith schluchzend. Jonathan indes hielt den Blick
starr auf das Bild des Schreckens gerichtet. „Das kommt mir bekannt vor.“ Die
anderen sahen ihn fragend an. „Wie er da liegt, angebunden, mit gebrochenem
Hals … und diesen … grässlichen Haaren. Das ist aus so einem alten Film. Der
Exorzist, ja genau. Er hat ihn genauso hergerichtet wie … das Mädchen in dem
Film.“ Da richtete sich hinter dem Bett die dunkle Gestalt des Mörders auf.
„Macht er nicht eine wundervolle Regan MacNeil?“, tönte eine dunkle, fast
schon verzerrte Stimme unter der weißen Maske hervor. „Ich denke, ich sollte
Gestalter von Kunstinstallationen werden, wenn ich zu alt fürs Morden bin.“
Judiths Schrei des Erschreckens war so laut und schrill, dass Esther neben ihr
zusammenzuckte. Im nächsten Moment aber hob die feindliche Gestalt die Arme, griff mit der rechten Hand an die Armbrust an seiner linken und peitschenartig löste sich der Schuss. Der Schrei wandelte sich zu einer Art Würgen, dann
fiel Judiths Körper mit einem Pfeil im Mund zu Boden.
Das Überraschungsmoment aber war vorbei, sodass die beiden Verbliebenen
hektisch zur Tür zurückwichen. Esther war als erstes draußen, Jonathan folgte
ihr kaum einen Schritt weiter. Während sie schon zur eiligen Flucht ansetzte,
ertönte das Zurückschnellen der Sehne erneut und Jonathan schrie auf. Kaum
war er aus dem Zimmer heraus, da brach er auch schon zusammen, ein Pfeil
hatte sein Fußgelenk durchbohrt.
Entsetzt sah Esther zu ihrem Freund, der sich quälend langsam in ihre Richtung
schleppte. Nur langsam wich sie zurück, noch immer in der gefährlichen Überzeugung, ihn nicht zurücklassen zu dürfen – auch wenn ihr Verstand eigentlich
wusste, dass er mit der Verletzung unmöglich entkommen konnte.
„Lauf!“, keuchte er nun und zog sich wieder eine Handbreit vorwärts.
Esther schluckte, dann rannte sie los. Auf halbem Weg zur Treppe warf sie einen Blick zurück und erkannte, wie der Maskierte hinter Jonathan aus dem
Zimmer heraustrat. Geradezu genüsslich feuerte er noch einen Pfeil auf den
kaum zwei Meter entfernt Kriechenden ab, der sich diesem tief in den Rücken
bohrte.
„Esther“, presste Jonathan noch hervor. „Lauf!“
Doch sie war wie gelähmt, konnte nur zusehen, wie der Mörder gemächlich
langsam an Jonathan herantrat und ihn dann mit dem Fuß auf den Rücken
drehte. Jonathan schrie auf vor Schmerz, sein Peiniger indes griff sich hinter die
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Schulter und zog die lange Klingenwaffe hervor, die er auf dem Rücken getragen hatte.
In einem letzten Kraftakt bäumte sich Jonathan auf und schlug wahllos nach
dem Kopf des zu ihm hinunter gebeugten Wahnsinnigen. Irgendwie gelang es
ihm, seine Finger hinter der weißen Maske zu verkeilen, im nächsten Moment
riss er sie seinem Widersacher vom Gesicht.
Schlagartig erkannte Esther das Gesicht dahinter, das Gesicht des falschen Ermittlers Nicolas Nedo. Mit einem Blick seiner stechenden, hellblauen Augen
lächelte er Esther triumphierend zu. Dann holte er aus und versenkte die gebogene Spitze seiner Waffe in Jonathans Brust, wieder und wieder, als würde er
Holz hacken.
„Nein!“, schrie Esther noch schockiert heraus.
Dann endlich gewann der Überlebensinstinkt in ihr die Oberhand. Sie nahm die
Beine in die Hand und hechtete auf die Treppe zu, erreichte diese auch einen
Moment später und hastete herab. Es glich einem Wunder, dass sie nicht stolperte und sich alle Knochen an den steinernen Stufen brach. Noch immer panisch, gelangte sie schließlich unten an.
Wohin nun? Hektisch sah sie sich um. Irgendwo musste sie sich verstecken,
musste sich vor dem Verrückten verbergen. Im Keller? Nein, da saß sie ganz
sicher in der Falle, auch wäre das wohl der erste Ort, wo ihr Feind sie vermuten
würde. Im nächsten Moment stahl sich eine gar tollkühne Idee in ihr Bewusstsein: Die Küche. Diese war nur über den Speisesaal erreichbar – genau den
Speisesaal, wo die Leichen ihrer einstigen Familie hingen. Es war der letzte Ort
auf der Welt, den sie aufsuchen wollte. Und genau deshalb war er der richtige.
Da würde niemand sie erwarten.
Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte sie sich, dass Nicolas das untere Ende der Treppe noch nicht erreicht hatte, dann hastete sie los, wenn auch
diesmal behutsamer, um ihm nicht durch das Geräusch ihrer Schritte zu verraten, wohin sie wollte. Nach wenigen Momenten sah sie die noch immer offene
Tür des Speisesaals vor sich. Das kostete jetzt einige Überwindung – doch die
Alternative war der Tod, soweit reichte ihr Verstand noch. Nachdem sie sich
abermals umgesehen hatte – um das Unvermeidliche hinauszuzögern? – trat
sie schließlich ein.
Esther versuchte, nicht auf die drei Leichen zu achten, die noch immer von der
Decke hingen wie Schlachtvieh zum Ausbluten. Doch ebendieses Bewusstsein,
dass sie da waren, genügte schon völlig, um sie halb wahnsinnig zu machen.
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Der Geruch des Blutes stieg ihr in die Nase und ließ sie würgen, doch Esther
setzte den Weg unermüdlich fort – zunächst mit langsamen Schritten, von denen jeder einige Überwindung kostete, dann immer schneller. Ehe sie sich versah, hatte sie die Tür zur Küche erreicht.
Als sie nun erleichtert eintrat, bemerkte sie einen großen Blutfleck auf dem Boden, wo eines der Opfer ermordet worden sein musste, doch das verunsicherte
sie nunmehr nicht weiter. Möglichst leise zog sie die Tür zu und griff dann nach
dem Schlüssel, der an einem kleinen Haken daneben hing. Als sie so schließlich
den Ausgang verschlossen hatte, konnte sie endlich durchatmen. Für einen kurzen Moment, als sie sich nun auf die Anrichte neben ihr setzte, spürte sie Erleichterung – dann kam die Resignation wieder.
Was sie eben noch angetrieben hatte, die Gegenwart ihrer beiden Freunde,
war ihr nun ebenfalls für immer genommen worden. Was blieb noch? Nichts als
ein Häuflein Elend, das sich in einem Raum ohne Ausgang verschanzt hatte, gefangen in dem Gebäude, das ihr Heim gewesen war. Unwillkürlich musste sie
daran denken, dass sie nun ganz allein auf der Welt war. Dunkel und undeutlich
erschienen ihr die Bilder ihrer Eltern vor Augen – verreckt damals vor vierzehn
Jahren. Sie hatte sie ja eigentlich kaum kennengelernt und doch war Joseph nie
ihr richtiger Vater gewesen, wie sie sich stets bewusst gewesen war. Aber er
war wenigstens etwas gewesen und nun war auch er tot, hing da draußen
kopfüber, nur wenige Meter von ihrem jetzigen Aufenthaltsort entfernt. Sie
stellte sich sein Gesicht vor, wie es war, als er noch gelebt hatte, doch das einzige, was erscheinen wollte, war seine strenge Fratze, die immerzu sagte „Bete
um die Erlösung von allem Unglück!“ und „Nur Gott kann dich retten!“. In diesem Moment kam es ihr wie blanker Hohn vor. Keinesfalls hätte sie in Betracht
gezogen, ihren Glauben verloren zu haben – und doch hatte sie an diesem
Abend nicht ein einziges Mal von sich aus daran gedacht, den Herrn um Hilfe
anzuflehen. Sie war allein – das war das einzige, was ihr im Moment sicher
schien. Gott, was und wo auch immer er sein mochte, interessierte sich nicht
für sie. Da war kein himmlischer Beistand, kein heiliger Schub an Mut und Entschlossenheit, nicht einmal Gelassenheit angesichts des ihr bevorstehenden
Schicksals. Gar nichts. Nur Resignation.
*********
Dann plötzlich waren Schritte vor der Tür zu hören. Erschrocken horchte Esther
auf und versuchte, kein Geräusch zu machen.
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Die Schritte, die nur von Nicolas Nedo stammen konnten, waren alles andere
als hastig, mehr schlendernd, Ausdruck seines immerwährenden Überlegenheitsgefühls. Mit angehaltenem Atem lauschte Esther, wie die Füße näherkamen. Auch wenn sie es natürlich kommen gesehen hatte, zuckte sie zusammen,
als die Türklinke auf einmal heruntergedrückt wurde. Von außen wurde daran
gerüttelt, doch natürlich öffnete sich die Tür nicht.
Für einen kurzen Moment war nichts zu hören, dann tönte Nicolas‘ Stimme
durch die verschlossene Tür. „Willst du dich da wirklich vor mir verstecken?
Wie lange gedenkst du das auszuhalten?“
Tatsächlich fragte Esther sich das auch. Klar, hier in der Küche gab es mehr als
genug Nahrung und Wasser, um womöglich wochenlang zu überleben. Aber
das wollte sie auf keinen Fall, wahrscheinlich würde sie früher oder später
wahnsinnig werden.
„Esther, Esther.“ Nicolas‘ Stimme klang irgendwie bedauernd. „Ich habe Zeit.
Mehr als genug Zeit.“
„Warum tust du all dies?“, schluchzte sie, doch er verstand es augenscheinlich.
„Was? Das Morden allgemein? Mein Verhalten dir gegenüber im Speziellen?“
„Du tötest unschuldige Menschen!“, spie sie aus, jetzt mit etwas mehr Selbstbewusstsein.
„Definiere unschuldig. Heinrich zum Beispiel. Es ist kein Zufall, wie ich ihn da
oben drapiert habe. Er hat es dir nie erzählt, nicht wahr? Nein, hat er nicht. Unter euch wusste nur Joseph davon, was ihm schließlich zum Verhängnis wurde.
Heinrich hatte es ihm einst gebeichtet.“
„Wovon sprichst du?“
„Möchtest du die Geschichte hören? Vor etwas über dreißig Jahren hat er ein
Mädchen getötet, jünger als du war sie. Emilia Scharnbecker, ein unschuldiges
Mitglied seiner Gemeinde – nur leider von einem Dämon besessen, wie ihre
Eltern glaubten. Also nahm der gute Heinrich einen Exorzismus vor, sie überlebte es nicht. Wen nennst du hier also unschuldig?“ „Das … du lügst.“
„Tatsächlich kann ich dir im Moment nur mein Wort geben, aber ich versichere
dir, das tue ich nicht. Heinrich hat es mir selbst gestanden und ich wusste davon schon aus anderer Quelle.“
„Woher, verdammt, weißt du das?“ Man hatte ihr immer beigebracht, nicht zu
fluchen, doch im Moment war ihr das herzlich egal.
„Es ist nun nicht ganz so, dass ich Gedanken lesen könnte. Aber glaube mir, ich
habe da gewisse Wege, an Informationen zu kommen. So einiges ist mir be56
kannt. Unter anderem auch, was deine Eltern betrifft.“ Er legte eine Pause ein,
vermutlich um sie den letzten Satz verdauen zu lassen.
„Was willst du angeblich wissen?“ Esthers Stimme war bereits laut, ihre Emotionen konnte sie nicht mehr verbergen.
„Wer die Schuld an ihrem Tod trägt.“ „Niemand trägt die Schuld! Sie starben an
einer Krankheit, sie… Wenn du nun Gott dafür verantwortlich machen willst,
dann…“
„Wie lächerlich wäre das denn? Gott existiert nicht, wie kann er da an etwas
schuld sein? Nein, ganz bestimmt nicht. Und kann man ein Virus für so etwas
haftbar machen? Wohl eher nicht. Aber nein, es war gar kein Virus, sondern ein
Bakterium. Tuberkulose, nicht wahr?“
Esther antwortete nicht. Tatsächlich hatte er Recht.
„Tuberkulose – noch dazu einige Jahre vor der Verbreitung multiresistenter Erregertypen. Ein bestimmtes Antibiotikum, über ein halbes Jahr eingenommen,
hätte gereicht. Aber dazu kam es nicht, habe ich Recht? Lieber haben sie sich in
Gottes Hand begeben, die lebensrettende Therapie verweigert.“
„Das ist nicht wahr!“
„Verleugnung. Das ganze Weltbild von deinesgleichen basiert auf Verleugnung
von Tatsachen. Du weißt, dass es wahr ist. Ich war es nicht, der deine Familie
zerstört, dir die Kindheit und jegliche Perspektive genommen hat. Als das geschah, war ich noch ein harmloses Kind. Es war einzig und allein der tiefe Glaube deiner Eltern. Irgendeine berühmte Person hat einmal Folgendes gesagt:
Gute Menschen tun gute Dinge, böse Menschen tun böse Dinge, dazu bedarf es
keiner Religion. Aber nur Religion bringt gute Menschen dazu, böse Dinge zu
tun.“
„Du bist ein Schwein, dass du das für deine widerliche Ideologie missbrauchst!“
„Bitte werde nicht vulgär, liebe Esther. Mir ist viel an einem zivilisierten Gespräch gelegen, denn in vulgären Auseinandersetzungen bin ich schrecklich unerfahren. Was ich sagen will: Dein ganzes Leben ist eine einzige bittere Ironie.
Die Religion hat dir deine Familie genommen. Und doch ist sie es, der du dich
mit ganzem Herzen unterwirfst und in der du deine Hilfe siehst. Erinnert mich
irgendwie an das Stockholm-Syndrom.“
„Was willst du? Dass ich jetzt Gott verfluche?“
„Wie König Antiochos im Zweiten Buch der Makkabäer? Ich erzählte dir doch
davon, der erste Splatter-Text der Weltgeschichte. Aber nein, das wäre nicht
konsequent. Du bist ganz sicher keine Heilige. Ich ziehe absolut in Betracht,
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dass du deinen Glauben verleugnen könntest, nur um zu überleben. Nein, ich
will, dass du dein eigenes Weltbild hinterfragst. Es ist ja nicht so, dass ich in
missionarischem Eifer von dir fordere, so zu werden wie ich. Aber schon eine
gewisse Distanzierung von diesem Gräuel Religion würde mir Grund genug sein,
dich nicht mehr töten zu müssen. Wir können ja mit dem Deismus anfangen,
wenn dir der Atheismus noch zu hart ist. Was hältst du davon?“
„Hältst du das für ein verdammtes Spiel hier?“
„Es wäre doch wirklich geschmacklos, das, was ich hier tue, als Spiel zu bezeichnen.“
„Was bitte ist bei dir eigentlich schief gelaufen?“
„Schief gelaufen? Mal wieder so eine typisch menschliche Eigenart. Wenn jemand sich nicht regelkonform benimmt, dann muss etwas schief gelaufen sein.
Aber ich kann dir versichern, ich bin nicht bei einer Familie kannibalistischer
Hinterwäldler groß geworden. Ich wurde auch nie im Sommercamp von den
anderen Kindern gemobbt und zum Ertrinken in einen See getrieben. Ich bin
nie missbraucht worden und auch meine Eltern wurden nicht vor meinen Augen ermordet. Das einzige, was bei mir schief gelaufen ist, ist die Tatsache, dass
sich mein Verstand von allen dogmatischen Moralfesseln lösen und sein Weltbild von Grund auf neu errichten konnte, auf der Basis von Logik.“
„Und was ist mit der Menschenwürde? Glauben daran nicht auch die Atheisten?“
„Die Atheisten, wenn man so pauschal sprechen kann, ja. Aber auch die Menschenwürde ist nur so ein Dogma, mit dem wir in der Kindheit indoktriniert
werden, das sich auf absolut nichts begründet. Nur eine Weiterführung des
christlich-arroganten Menschenbildes mit säkularen Mitteln. So wie aus Kreationismus Intelligent Design wurde, um den Anschein einer Wissenschaft zu
erwecken, so machte man aus der Gottesebenbildlichkeit eben die Menschenwürde. Also komm mir bitte nicht damit.“
„Hör auf mit deinen dummen Vorträgen! Ich habe keine Angst vor dir!“ So sicher war sie sich des zweiten Satzes eigentlich nicht und sie wusste auch, dass
ihr Gegenüber es wohl ebenfalls kaum ernst nehmen würde. Sie versuchte sich
damit wohl mehr selbst zu überzeugen.
„Keine Angst? Jetzt bin ich aber ganz schön in meinem Ego gekränkt. Ich wusste, ich hätte doch die Maske aus verwesender Menschenhaut nehmen sollen.
Wenn ich so schon niemandem Angst mache.“
Als er diesmal das Wort Angst aussprach, kam Esther plötzlich ein Einfall. Wo58
möglich war sie doch nicht ganz verloren.
„Aber das war mir natürlich zu pervers, ich Idiot“, fuhr Nicolas in sarkastischem
Tonfall fort. „Hätte ich nur gewusst, dass mich so keiner ernst nimmt…“
Esther indes hörte nicht mehr zu. Auf Zehenspitzen, damit er ihre Bewegungen
nicht hörte, schlich sie durch die Küche. Hier würde sich doch wohl alles Nötige
finden lassen. Einen Schrank nach dem anderen öffnete sie, dann fand sie endlich, was sie suchte: Mehl. Nachdem sie ein Paket herausgenommen hatte,
suchte sie weiter nach der zweiten Zutat, die ihr das Leben retten konnte. Quälend lange wühlte sie sich durch die Konserven in einer der großen Schubladen,
dann hielt sie endlich eine kleine Tube mit Tomatenmark in der Hand. Nicolas
dozierte indes noch irgendwas vor der Tür, doch Esthers Aufmerksamkeit galt
nunmehr ihrem verzweifelten Verteidigungsplan. Ein möglichst großes Messer
fand sie sofort, es steckte unübersehbar in einem Messerblock neben dem
Kühlschrank.
„Nun gut“, tönte es von der Türe. „Wenn du nicht mit mir reden willst, dann
komme ich eben rein.“
Esther riss gerade das Paket mit dem Mehl auf, als mit lautem Geräusch das
Metall von Nicolas‘ Harpe die Tür durchdrang. Das gebogene Ende der
schwertartigen Waffe hatte sich in dem Loch verhakt, von der anderen Seite
versuchte der Mörder es zurückzuziehen. Nun recht panisch, vergrub Esther
ihre Hände in dem weißen Pulver, nicht darauf achtend, dass es sich unkontrolliert über Anrichte, Boden und Kleidung verteilte. Während die Klinke abermals
zuschlug und die Tür perforierte, verteilte sie sich das Mehl großzügig im Gesicht. Angenehm war es nicht und lächerlich sah sie zweifellos aus – doch
ebendies war ja der Sinn dahinter.
Nicolas hatte gerade über Angst gesprochen. Da war ihr eingefallen, was er ihr
bei ihrem Gespräch in der Kirche erzählt hatte – dass er unter Coulrophobie litt,
unter der irrationalen Angst vor Clowns. Da sollte sich ja wohl ausnutzen lassen. Hektisch quetschte Esther nun Tomatenmark aus der Tube und strich es
sich wie übertriebenen Lippenstift über und um den Mund, danach noch zwei
Kleckse auf die Wangen. Als sie merkte, dass ihr wohl noch ein paar Sekunden
bleiben, verschmierte sie es sich auch noch in den Haaren, um diese so ungeordnet und bunt wie möglich erscheinen zu lassen.
Abermals hieb die Harpe durch die Tür. Das Loch war inzwischen merklich größer geworden, von der anderen Seite grinste Nicolas Nedo hindurch.
„Here is Nicky!“, rief er mit manischer Stimme.
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Dann griff er mit der Hand hindurch und erfasste den noch immer steckenden
Schlüssel. Esther flüchtete sich ein Stück zur Seite, das Messer kampfbereit erhoben, um die Überraschung perfekt zu machen. Mit erkennbarem Geräusch
drehte Nicolas den Schlüssel herum, dann riss er die Tür auf. Doch zu seiner
Überraschung war Esther nur allzu bereit.
Die Arme erhoben, sprang sie hervor und stieß, so gut es ihr weinerlicher Zustand zuließ, ein möglichst verrücktes Lachen aus. Tatsächlich zuckte der Gegner zusammen und ließ ihr die Gelegenheit für einen Angriff. Mit dem Messer
stach sie nach ihm, erwischte ihn wohl irgendwo an der Schulter. Wieder wollte
sie voller Hass zustechen, da fiel ihr die an seinem Gürtel hängende Pistole auf.
Ehe der schockierte Wahnsinnige sich fangen konnte, griff sie nach der Waffe,
stach ungezielt noch einmal zu und sprang zurück.
Nicolas stand starr da, überrumpelt von dem plötzlichen Angriff. Blut war dort
zu sehen, wo sie ihn mit dem Messer getroffen hatte. Esther indes zog das hintere Stück der Pistole zurück, wie sie glaubte, dass es zum Laden nötig war. Als
sie die Waffe nun auf ihren Gegenspieler richtete – ihre Finger zitterten vor
Aufregung – bemerkte sie auch noch den kleinen Schalter daran, mit man die
Pistole wahrscheinlich entsicherte, auch diesen betätigte sie.
Nicolas‘ Augen wirkten verstört, ansonsten hielt er sich aber noch recht souverän angesichts der Tatsache, dass er vor Clowns ja angeblich große Angst hatte.
„Und? Erschießt du mich nun?“
Esther schluckte, die Pistole noch immer auf ihn gerichtet. „Ich könnte es.“Da
machte sich auf seinem Gesicht aber schon wieder das arrogante Grinsen breit.
„Los, entscheide dich. Kannst du mich einfach so erschießen? Einen Hilflosen?
Ich kann mich ja nicht wehren.“
„Du wirst mich umbringen, wenn ich es nicht tue?“
„Ich könnte jetzt natürlich beteuern, dass ich dies nicht beabsichtige. Aber das
wäre wohl wertlos, denn ich könnte lügen. Oder es in diesem Moment meiner
Todesangst wegen ernst meinen und später meine Meinung ändern. Siehst du,
du musst es wohl tun. Nun, hältst du es mit Mose oder mit Jesus? Du sollst
nicht töten oder Du sollst das Böse in deiner Mitte ausrotten?“„Ich…“
„Zweifelst du daran, dass ich die Situation ernst nehme? Denkst du, ich sei so
ein unsterblicher Michael-Myers-mäßiger Mörder? Oh, welch schöne Alliteration. Denkst du, ich würde nach dem Treffer einfach aufstehen und weiter morden, weil mir die Waffe nichts anhaben kann? Nein, ganz sicher nicht. Erschieß
mich schon, dann bist du das Problem los.“
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„Vielleicht tue ich es!“
„Hättest du nicht noch vor kurzem gesagt, du könntest niemals jemanden töten? Mir scheint, du bist dir da nicht mehr ganz so sicher. Jeder Mensch ist fähig, zum Tier zu werden, wenn man ihn in die Enge treibt. Homo est hominem
lupus, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, heißt es nicht so? Ein passendes
Sprichwort, wie ich finde.“
„Du würdest andere Menschen töten, wenn ich dich gehen lasse.“
„Ja, das würde ich zweifellos. Aber interpretiere ich dein Argument richtig? Es
geht dir nicht um Vergeltung, sondern um Prävention? Du willst mich umbringen, weil es in meiner Natur liegt, irgendetwas zu tun? Sieht aus, als seist du
gar nicht so viel anders als ich.“
„Untersteh dich, so etwas zu sagen! Du bist ein Monster, du…“
„Ich töte Menschen, von denen potentielle Gefahr ausgeht. Dass beispielsweise
Heinrich für den Glauben jemanden töten konnte, hat er hinreichend bewiesen.
Und selbst, wenn einer von euch keine derartig unmittelbare Gefahr darstellt.
Was ist mit euren Kindern, die ihr eines Tages haben werdet? Mit Leuten, die
ihr vielleicht missioniert? Die könnten eine Gefahr darstellen, denn Religion
bringt immer wieder Gefahr hervor. Ich bin konsequenter als du, ich ziehe meine Linie bis zur letzten Konsequenz durch. Aber qualitativ unterscheiden wir
uns nicht. Wo willst du die Grenze ziehen? Ein Psychopath, der entsprechende
Medikamente nimmt, beispielsweise. Er stellt keine Gefahr dar. Könnte er aber,
wenn er seine Pillen absetzt. Oder wenn er die Psychopathie an seine Nachkommen vererbt. Töten oder nicht? Es geht am Ende nur um die Frage, ob man
überhaupt aus Prävention töten, ja allgemein aus Prävention sanktionieren
darf. Und wir beide stimmen diesem zu. Du bist nicht von anderer Art als ich,
nur von anderer Ausprägung. Und nun los, entscheide dich! Auge um Auge
oder Halte die andere Wange hin? Treffen Sie jetzt Ihre Wahl! Altes oder Neues
Testament?“
Esther drückte ab.
Es knallte ohrenbetäubend und Rauch erfüllte die Luft. Sofort schoss sie noch
einmal, dann ein weiteres Mal.
Doch im nächsten Moment schon erkannte sie Nicolas, der noch immer ungerührt vor ihr stand. Er war nicht zu Boden gegangen, ja nicht einmal aus dem
Gleichgewicht gebracht worden. Die einzige sichtbare Verwundung an seinem
Körper war die unwesentliche, die Esther ihm eben mit dem Messer zugefügt
hatte. „Diese meine ‚Dienstwaffe‘“, erklärte er mit süffisantem Lächeln, „ist ei61
ne Schreckschusspistole. Sie diente mir nur dazu, den Anschein eines Ermittlers
zu erwecken, nicht dazu, irgendjemanden zu verletzen. Dafür habe ich schließlich diese beiden Babys.“
Als er nun die Hände mit Harpe und Armbrust hob, reagierte Esther schnell. Mit
aller Kraft warf sie die nutzlose Pistole auf ihn und während er sich darunter
hinweg duckte, drehte sie sich um und rannte. Hinter sich hörte sie einen Pfeil
gegen die Wand treffen, als sie gerade den Speisesaal verlassen hatte. Instinktiv rannte sie zur Treppe, immer nach oben.
Außer Atem hielt sie inne, als sie den ersten Stock erreicht hatte. Hinter dem
Treppengeländer duckte sie sich und sah auf das Messer, das sie noch immer in
ihrer verkrampften Hand hielt. Zumindest war sie nicht gänzlich unbewaffnet.
Doch von unten hörte sie schon die Schritte des Widersachers, wie sie sich unaufhaltsam über die glatten Stufen bewegten, sich ihr immer weiter näherten.
Bald würde er da sein. Weglaufen brachte nichts, schließlich hatte er die Armbrust, mit der er auch verflucht genau schießen konnte. Das Messer war mit
seiner mickrigen Reichweite nutzlos gegen die tödliche Harpe, die schon so viele ihrer Freunde gefällt hatte. Sie hatte den falschen Weg eingeschlagen, war
sie sich jetzt auf einmal sicher. Lieber hätte sie nach draußen rennen sollen,
irgendwo in die Wildnis in der Hoffnung, dass er sie bis zum Morgengrauen
nicht finden würde. Aber hier oben saß sie in der Falle, der Stress hatte sie einen tödlichen Fehler begehen lassen.
„Liebes kleines Fräulein Strohde!“, rief Nicolas mit dämonisch freundlicher
Stimme nach ihr. Inzwischen war er sehr nahe.
Esther merkte, dass sie es wohl kaum zu einem der Zimmer schaffen würde,
ohne dass seine Armbrust sie erwischte. Sie hatte den Zeitpunkt verpasst, in
dem sie noch weiter hätte fliehen können. Aber was wenn das gar nicht der
richtige Weg war? Wenn stattdessen…
Als die Schritte unverkennbar den obersten Meter zurücklegten, erkannte sie
ihre Chance und sprang hinter dem Geländer hervor. Mit aller Wut stieß sie Nicolas, der gerade auf der vorletzten Stufe angelangt war, das Messer in die
Brust. Instinktiv zog sie es wieder hinaus, nur um es von neuem hinein zu rammen. Er hatte die weiße Maske wieder aufgesetzt, wie sie jetzt bemerkte. Das
charakterlose, fast schon verschlafen wirkende Gesicht darauf weckte ihre Wut
nur umso mehr, sodass der nächste Stich dem rechten Augenloch galt. Das linke weitete sich indes in ehrlichem Schrecken, zugleich entglitt die Harpe seinen
Fingern und sprang scheppernd die Treppenstufen hinab. Unkontrolliert ver62
suchte er noch mit der am Unterarm befestigten Armbrust zuzuschlagen, den
Treffer nahm Esther in ihrem Zorn aber kaum wahr. Wie ein Berserker stach sie
zu auf Brust und Hals, wo immer der Hass ihre Klinge hinlenkte.
„Und Jesus gingen die Augen über“, stießen fünf Worte, nun kaum mehr ein
Flüstern, unter der Maske hervor.
Seine Beine knickten ein, er drohte nach vorne zu kippen – da stieß Esther ihn
mit dem Fuß zurück. Kraftlos polterte der Körper die Treppe hinunter, geriet ob
ihrer Rundung bald aus dem Sichtfeld seiner Mörderin. Nur unregelmäßige
Spuren von Blut blieben auf den bisher einfarbigen Stufen zurück.
Die Geräusche des fallenden Körpers endeten schließlich, er musste Im Erdgeschoss gelandet sein. Noch immer ungläubig, was sie gerade getan hatte, stand
Esther da und blickte die dunkle Wölbung des Treppenhauses hinab. Das Messer in ihrer Hand war voll von Blut, ihr Oberteil ebenso. Wie oft hatte sie ihn
eben abgestochen? Siebenmal? Zehnmal gar? Egal, es reichte auf jeden Fall.
Es löste sich der Griff ihrer Finger und das Messer fiel zu Boden. Nun endlich
war sie befreit von der schrecklichen Gefahr. Sie dachte kurz daran, nach unten
zu gehen, um sich von Nicolas‘ Tod zu vergewissern, doch ihr graute davor –
Leichen hatte sie weiß Gott genug gesehen an diesem Abend. Es war ohnehin
gänzlich ausgeschlossen, dass ihr Peiniger das überlebt hatte. Außerdem fühlte
sie sich jetzt, wo die Spannung von ihr abfiel, wo das Adrenalin sich in ihrem
Körper abbaute, erschöpft und kraftlos. Noch am selben Ort sank sie nun langsam zu Boden und dämmerte, die Wand im Rücken, hinweg.
*********
„Was für ein Blutbad“, sprach Oberkommissar Hartmann und schüttelte, noch
immer ungläubig, den Kopf.
Mit einem obligatorischen Nicken bestätigte sein Kollege Peter Krüger die Äußerung.
Beide sahen sie gerade zu, wie Esther Strohde, die einzige Überlebende des
Gemetzels, von einer Kollegin in eines der nahegelegenen Polizeifahrzeuge geleitet wurde. Das Mädchen währte sich nicht – augenscheinlich war sie nach
wie vor nicht ganz bei sich. Kein Wunder eigentlich bei dem, was sie erlebt hatte.
Andere Polizisten waren bereits dabei, Spuren zu sichern. Zweifellos gab es davon viele. An diversen Orten waren Blutspritzer, die noch zugeordnet werden
mussten, hinzu kamen eventuell Haare und Fingerabdrücke. Krüger verdrehte
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genervt die Augen. „Ich fasse es noch immer nicht, dass wir erst so spät darauf
gekommen sind.“
„Wie hätte man auch darauf kommen sollen, dass der Kerl kein echter Beamter
ist? Es ist reiner Zufall, dass einer beim BKA angerufen hat und man erkannte,
dass es da keinen Nicolas Nedo gibt.“ Hartmann wandte sich einem Polizisten
zu, der gerade aus dem Haupteingang des Klosters kam. „Wie sieht es inzwischen mit dem Körper aus?“
„Es wurde keine Leiche gefunden, Chef“, erwiderte jener.
„Dann liegt ein Fehler in der bisherigen Rekonstruktion.“
Krüger nickte selbstsicher. „Es gibt bisher keine Rekonstruktion – nur ein paar
unzusammenhängende Äußerungen einer traumatisierten Siebzehnjährigen,
die man aus dem ganzen Geweine heraushören konnte. Wir müssen auf die
Ergebnisse der Spurensicherung warten. Die DNA-Analyse sollte wohl klarstellen, von wem das Blut auf der Treppe stammt, ob von dem Täter oder dem Toten im Obergeschoss – wenn der nicht schon oben ermordet wurde.“
„Acht Leichen.“ Abermals schüttelte Hartmann den Kopf. „Und eine weitere
liegt schon in der Pathologie. Ganz abgesehen von dem, der auf dem Weg zurück zum Kloster verschwunden ist. So etwas habe ich bisher noch nicht erlebt.“
„Und nach wie vor kaum eine Spur vom Täter. Wenn es nicht gerade das Mädchen war, das uns hier wunderbar schauspielert.“
„Immerhin ist sie wie ein Clown geschminkt.“ Hartmann schmunzelte leicht,
auch wenn Humor ihm im Moment gerade fern lag. „Aber das glaube ich nicht.
Wir werden sie natürlich trotzdem da behalten, bis die Ergebnisse aus dem Labor fertig sind. Sicher ist sicher.“
Krüger nickte.
Jetzt begann man gerade die Leichen aus dem Gebäude zu tragen. Eine verschlossene, sargähnliche Kiste, dann noch eine, wenig später folgte die nächste.
Ein ganzer Trauerzug war das, der da aus dem verlassenen Klostergebäude erschien. Mit einem Wagen würden sie da nicht auskommen.
*********
Ein Polizeibeamter öffnete die Tür zu Esthers Zelle.
„Sie können jetzt gehen“, sagte er mit freundlichem Ton.
Esther nickte schwach. „Schön.“ Sonderlich erfreut klang es nicht.
Den letzten Tag hatte sie mehr oder minder in Untersuchungshaft verbracht,
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abgesehen natürlich von dem Verhör und den Gesprächen mit einer Psychologin, in denen sie so genau wie möglich die Ereignisse der vergangenen Tage berichtet hatte. Natürlich hatte sie mitbekommen, dass man sie, wenn auch mehr
alibihalber als aus ernstem Tatverdacht, als mögliche Verdächtige betrachtete.
Doch das störte sie nicht. Es wäre ihr ein Grauen gewesen, in das ausgestorbene Gemäuer zurückzukehren, das bis vor kurzem ihr Zuhause gewesen war, allein mit ihren schrecklichen Erinnerungen. Die Zelle auf der Polizeistation, die
man ihr zugeteilt hatte, war dabei wesentlich angenehmer gewesen, obgleich
sie wegen der Termine nur wenig Zeit darin verbracht hatte.
„Der Verdacht ist ausgeräumt?“, fragte sie im Aufstehen, ohne den Mann wirklich anzusehen.
Er nickte. „Das Messer, das neben Ihnen lag, als man Sie gefunden hat, trägt
zwar ihre Fingerabdrücke, aber passt zu keiner der Wunden der Ermordeten.
Die DNA des Blutes daran gehört, ebenso wie das Blut auf der Treppe, zu keinem von diesen.“
„Und Nicolas Nedo?“, fragte sie.
„Eigentlich darf ich Ihnen nichts dazu verraten, doch in Anbetracht Ihrer Situation mache ich eine Ausnahme. Es gibt keine Person, die auf diesen Namen registriert ist.“ Kurz atmete er ein, als wollte er noch etwas sagen, dann ließ er es
jedoch.
„Aber … der Mörder? Hat man ihn jetzt gefunden?“
„Er kann nicht weit gekommen sein. Folgen Sie mir jetzt.“
Sie schluckte kurz unsicher, dann verließ sie hinter ihm den Raum. Schweigend
führte der Polizist Esther nun durch das triste Gebäude der Polizeistation. Einige Gänge erkannte sie wieder von den vorigen Gängen, doch allein hätte sie
den Weg sicher nicht gefunden. Lange dauerte es nicht, dann erreichten sie einen größeren Raum, dem gegenüber der Ausgang lag.
Der Polizist deutete auf eine Reihe von Sitzen an der Wand. „Hier können Sie
erst einmal warten. Da Sie noch minderjährig sind, wird sich eine Sozialarbeiterin erst einmal um Sie kümmern, bis alles Nötige geregelt ist. Sie sollte bald da
sein, bis dahin gedulden Sie sich noch ein wenig.“
„Okay, ich verstehe.“
Als der Polizist sich umdrehte, erkannte Esther, wie ein Mann in einem Nebenraum am Eingang – vermutlich der Pförtner oder so – Blickkontakt zu ihm aufnahm und ihn heranwinkte. Er folgte der Aufforderung und sprach kurz mit
dem anderen, was Esther aber nicht verstand. Schließlich nahm er zwei Gegen65
stände entgegen und kam damit zu ihr zurück.
„Das wären einmal Ihre Sachen, die Sie an dem entscheidenden Abend trugen“,
erklärte er, während er ihr einen durchsichtigen Plastikbeutel mit dem genannten Inhalt überreichte. „Die Untersuchungen damit sind beendet. Das Messer
allerdings müssen wir noch etwas länger hierbehalten, da es für die Ermittlungen noch von Relevanz sein kann. Und dann...“ Er hob den anderen Gegenstand, ein unbeschriftetes, aus gewöhnlicher Pappe bestehendes Paket. „Ein
junger Mann war eben noch hier und hat das für Sie abgegeben. Sie sollten es
bekommen, wenn Sie entlassen werden.“
„Gut“, erwiderte sie leise und nahm es entgegen.
„Die Sozialarbeiterin wird bald hier sein. Bis dahin...“ Der Polizist stoppte, als er
merkte, dass er sich wiederholte. Schließlich lächelte er noch einmal, dann entfernte er sich.
Esther indes war verwundert. Wer sollte ihr dieses Paket geschickt haben? Alle
„jungen Männer“, zu denen sie eine Beziehung gehabt hatte – Markus, Daniel,
Jonathan – waren tot. Sie wünschte sich jetzt, man hätte ihr das Messer auch
schon zurückgegeben. Ohne dieses musste sie erst einige Zeit an dem mit Klebeband verschlossenen Päckchen herumreißen, bis es endlich nachgab und sie
es öffnen konnte. Unwillkürlich kamen ihr grässliche Vorstellungen in den Sinn,
was darin sein mochte, wenn es tatsächlich von dem stammte, an den sie gerade denken musste.
Doch als sie die Pappe schließlich aufklappte, erleichterte sie der Anblick. Bücher. Mehrere Bücher, vermutlich drei oder vier, füllten das Paket. Sie erkannte
den Titel des obersten: Die Metamorphosen von Ovid. Darauf, mit einem kleinen Streifen Klebeband fixiert, lag ein unscheinbarer Zettel. Esther erstarrte
das Herz zu Eis, als sie das eine, schmucklose Wort darauf las:
Thyroxin ;)
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