Leseprobe zum Titel: taz.die tageszeitung (08.06.2016)

Kopftuch: Voll in Mode
Models wie Mariah Idrissi – irritierend oder einfach nur schön? ▶ Seite 13
AUSGABE BERLIN | NR. 11038 | 23. WOCHE | 38. JAHRGANG
MITTWOCH, 8. JUNI 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
H EUTE I N DER TAZ
Occupy Bellevue!
BUNDESPRÄSIDENTENWAHL Warum Rote, Grüne und ganz Linke die
Entscheidung über das höchste Amt im Staat nicht der großen
Taktikerin Angela Merkel (CDU) überlassen sollten – und
welche KandidatInnen als Konkurrenz infrage kommen ▶ SEITE 2
PECHSTEIN Sport bleibt
Sport und Justiz bleibt
Justiz: Die beste deutsche Eisschnellläuferin
verliert vor Gericht ▶
SEITE 19
HOFREITER Vom selben
Fleisch? Der grüne Buchautor und sein schwarzer Laudator ▶ SEITE 14
BERLIN Der Streit um
Ferienwohnungen:
Erster Prozess nach
neuem Gesetz ▶ SEITE 21
Fotos oben: ap; getty images
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
Es ist ja nix mehr heilig. Die
Herren Köhler und Wulff haben
das Schloss Bellevue so gründlich ruiniert, dass es selbst eine
Lichtgestalt nicht mehr renovieren könnte. Und selbst der
Kaiser ist längst in Ungnade
gefallen. verboten beherzigt
heute trotzdem noch einmal
einen sehr bewährten Rat des
Kaisers, der für den Umgang
mit allen lästigen Dingen gilt –
und tut die AfD deshalb heute
Wird im März 2017 neu besetzt: das Schloss des Bundespräsidenten in Berlin. Die Frage ist nur, von wem? Foto: Malte Jaeger/laif
nicht einmal ignorieren.
KOMMENTAR VON LUKAS WALLRAFF ÜBER DIE GAUCK-NACHFOLGE
TAZ MUSS SEI N
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H
Wie das Kaninchen vor der Merkel
allo? Noch jemand wach im links bis
linksliberal fühlenden Teil Deutschlands? Offenbar nicht. Die Mehrheit
der Reaktionen auf den Rückzug von Bundespräsident Joachim Gauck zeugt von Lethargie und Fatalismus. Ach, ein wirklich
linker Kandidat hat ja eh keine Chance,
scheinen die meisten zu denken und wie
das Kaninchen vor der Merkel auf den
nächsten taktischen Sieg der Kanzlerin zu
warten. Gibt es keine Alternative mehr außer AfD?
Okay, klar, Jérôme Boateng wird’s nicht,
schon weil er zu jung ist. Aber heißt das im
Umkehrschluss, dass SPD und Grüne Norbert Lammert oder irgendeinen anderen
Merkel genehmen Konsensonkel mitwählen müssen? Oder dass sie Merkel wieder
indirekt zum Erfolg verhelfen, weil sich
die Rot-Rot-Grünen von vornherein aufsplitten, ohne mögliche Gemeinsamkeiten
auch nur auszuloten? Ist die kritische Klasse
wirklich dermaßen eingeschläfert durch elf
Jahre Merkel und vier Jahre Gauck? Ist den
Kräften links der sogenannten Mitte sogar
das vorsichtige Nachdenken über mögliche
Mehrheiten ohne Merkel endgültig ausgetrieben worden? Himmel, hilf!
Oder wenn es sein muss, auch Friedrich
Schorlemmer oder Margot Käßmann. Rote
Ampel hin, Nervensägen her: Gebraucht
wird eine von Dunkelrot bis Grün wählbare
Person, die ein Zeichen setzt gegen die lähmende große Merkel-Koalition, die von Afghanistan bis TTIP und von Grenzöffnung
bis Türkei-Deal alles durchwinkt, was Mer-
Gebraucht wird eine von
Dunkelrot bis Grün wählbare
Person, die ein Zeichen setzt
kel gerade nützt. Klar ist eine wirklich überzeugende linke Gegenstimme schwierig zu
finden und durchzusetzen. Sie müsste auch
nicht offiziell von SPD, Grünen und Linken
nominiert werden. Aber wenigstens als
Option für den dritten Wahlgang sollte die
Chance darauf erhalten bleiben. Und sei es
nur, damit die zögerlichen Grünen irgendwann Farbe bekennen müssen.
Im Übrigen helfen auch gegen die AfD
keine möglichst großen Koalitionen, die als
Kungelei des Establishments gebrandmarkt
werden, sondern im Gegenteil klar unterscheidbare Konkurrenzprodukte innerhalb des demokratischen Spektrums: Eine
von Merkel nominierte CSU-Frau Gerda Hasselfeldt etwa gegen Käßmann – das hätte
Reiz. Und wer die längst gesühnte Verkehrsverfehlung für ein übergroßes Hindernis
hält, braucht über neue Mehrheiten für
eine neue Politik auch nicht nachzudenken.
Milliarden für
Europas neue
Türsteher
EU will
afrikanische Länder für
Grenzschutz bezahlen
FLÜCHTLINGE
taz/ap/
afp | Die EU-Kommission will
Flüchtlinge
wirkungsvoller
von Europa fernhalten. Vorbild solle der Flüchtlingspakt
mit der Türkei sein, sagte Kommissionsvize Frans Timmermans gestern vor dem Europaparlament. Aus der Türkei kämen kaum noch Flüchtlinge,
„aber unsere Arbeit ist alles andere als erledigt“. Die EU strebe
Abkommen mit Jordanien, Libanon, Niger, Nigeria, Senegal,
Mali, Äthiopien, Tunesien und
Libyen an, teilte die EU-Kommission bei der Vorlage ihrer Pläne
mit. Ziel sei, die Lebensbedingungen zu verbessern, damit die
Menschen dort bleiben. Für die
kommenden fünf Jahre könnten
8 Milliarden Euro bereitgestellt
werden. Finanziert werden sollen unter anderem Grenzkapazitäten, Asylunterkünfte oder
Maßnahmen gegen Menschenschmuggel.
Unterdessen wurde bekannt,
dass die libysche Küstenwache
am 24. April mit Warnschüssen
ein Schiff der privaten Seenotrettungsorganisation Sea Watch
stoppte. Die Besatzung musste
den Motor abschalten und sich
flach auf den Boden legen. Sie
befand sich außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer. In der
Antwort auf eine Anfrage der
Linken bestätigte das Auswärtige Amt den Vorfall. Der Abgeordnete Andrej Hunko kritisierte, dass EU und Bundeswehr
Einheiten der libyschen Küstenwache ausbilden wollen. CJA
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▶ Meinung + Diskussion SEITE 12
BERLIN/STRASSBURG
Merkel weist
Erdoğans
Angriffe zurück
Heftige Kritik an
Bundestagspolitikern
„nicht nachvollziehbar“
TÜRKEI
BERLIN dpa | Kanzlerin Angela
Merkel (CDU) hat die heftigen
Angriffe des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan
gegen mehrere Bundestagsabgeordnete wegen der Armenienresolution zurückgewiesen. „Die
Vorwürfe und die Aussagen, die
da jetzt gemacht werden von der
türkischen Seite, halte ich für
nicht nachvollziehbar“, sagte die
Kanzlerin am Dienstag. „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags sind frei gewählte Abgeordnete, ausnahmslos.“ Es gebe
unterschiedliche Sichtweisen
zwischen der Mehrheit des Bundestags und der Türkei.
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▶ Meinung + Diskussion SEITE 12
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Schwerpunkt
M IT TWOCH, 8. JU N I 2016
Gauck geht –
wer kommt?
Die taz präsentiert vier KandidatInnen für das höchste Amt im Staat,
die für ein weltoffenes und soziales Deutschland einstehen könnten
Eine Chance,
vier kluge Köpfe
NACHFOLGE Das Staatsoberhaupt könnte endlich einmal wieder
RepräsentantIn des progressiven Teils der Bevölkerung sein
VON PASCAL BEUCKER
Es ist mehr als eine charmante
Idee: ein Bundespräsident oder
eine Bundespräsidentin, der
oder die aufrecht und integer
für ein weltoffenes, friedliches
und soziales Deutschland eintritt. Die Mehrheit der Bundesversammlung hat die Chance,
ein Zeichen zu setzen: gegen
Hass und Intoleranz, gegen Nationalismus und Rassismus,
­gegen soziale Kälte. Sie muss
sie nur nutzen.
Was spricht dagegen, mehr
als vier Jahrzehnte nach dem
Abtritt des Bürgeranwalts Gustav Heinemann endlich wieder
ein Staatsoberhaupt zu wählen,
das unabhängig vom Parteibuch
und über Parteigrenzen hinweg
als RepräsentantIn des progressiven Teils der bundesdeutschen
Bevölkerung wahrgenommen
wird? Die Mehrheitsverhältnisse sind es jedenfalls nicht.
Falls ein Kandidat oder eine
Kandidatin die Unterstützung
von SPD, Grünen und Linkspar-
tei erhalten würde, dürfte er
oder sie spätestens im dritten
Wahlgang mit relativer Mehrheit gewählt sein. Gemeinsam
mit Piraten und Südschleswigschem Wählerverband reichte
es für den „progressiven Block“
sogar zur absoluten Mehrheit.
Die absehbaren Verschiebungen nach den Landtagswahlen
von Berlin und MecklenburgVorpommern werden an dieser
Grundkonstellation nichts ändern. Es hängt alleine vom politischen Willen ab.
Blick auf den Tisch der Bundespräsidentin oder des Bundespräsidenten Foto: Daniel Pilar/laif
Die Verfassungsrichterin kann Recht und Reden
Der Schriftsteller kann Kultur, Politik, Islam
Susanne Baer
Navid Kermani
VerfassungsrichterInnen
können alles, vor allem können sie BundespräsidentIn.
Roman Herzog hat das in
den 90ern bewiesen. Jutta
Limbach und Andreas Voßkuhle waren auch schon im
Gespräch. Susanne Baer ist
seit 2011 Verfassungsrichterin. Vorgeschlagen wurde sie
damals von SPD und Grünen.
Als
Bundespräsidentin
wäre Baer nicht nur die erste
Frau, sondern auch die erste
offen homosexuelle Amtsinhaberin. Sie ist verpartnert, es
gäbe also weiterhin eine First
Lady. Ende 2014 entdeckte
Baer im Grundgesetz eine
Pflicht zum Ausgleich von Ungleichheit. Als Bundespräsidentin könnte sie die Vermögensteuer fordern. Sie ist in
der Lage, zu allem kluge Reden zu halten. Schließlich ist
sie Rechtsprofessorin, Rechtssoziologin und Rechtsfeministin. CHRISTIAN RATH
Foto: Herlinde Koelbl/Agentur Focus
Pathos kann er: das hat er
mit seinen Reden zur Verleihung des Friedenspreises
des Deutschen Buchhandels
(2015) und zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes (2014)
im Deutschen Bundestag gezeigt. Mit seinen Ausführungen über die sprachliche
Schönheit der deutschen Verfassung rührte er sogar manche Abgeordnete zu Tränen.
Mehrmals mahnte er eine
andere Flüchtlingspolitik an,
die den viel beschworenen
Werten Europas gerecht
wird. Der Kölner Intellektuelle bewegt sich elegant „zwischen Kafka und Koran“, zwischen Politik und Kultur und
spricht auch ein bürgerlichkonservatives Publikum an.
Und natürlich wäre allein
schon seine Nominierung
Signal dafür, dass der Islam
inzwischen selbstverständlich zu Deutschland gehört.
DANIEL BAX
Der Sozialdemokrat kann Bürgerrechte
Die Grüne kann Politik, Kirche, Medien
Friedrich Schorlemmer
Antje Vollmer
Sicher, es spricht einiges
gegen Friedrich Schorlemmer. Er ist keine Frau. Und
muss es denn schon wieder
ein Theologe sein? Ansonsten
jedoch wäre der 72-jährige Sozialdemokrat geradezu prädestiniert, zur Bundespräsidentenwahl anzutreten. Nicht
nur, dass er als klug und integer gilt: vor allem dürfte er
mit seiner ausgleichenden
Art wohl der einzige waschechte DDR-Bürgerrechtler
Antje Vollmer, 73, bringt mit,
was im Präsidialamt biografisch gern gesehen ist: Kirche,
Politik, Medien. Die evangelische Pastorin war von 1994
bis 2005 Vizepräsidentin des
Bundestags. Seit ihrem Ausscheiden aus der Politik arbeitet die Grüne als freie Autorin von Büchern zu Zeitgeschichte und Humanismus.
Hinzu kommt eine pazifistische Grundhaltung, deren Fundamentalität aller-
sein, an dem sogar die Linkspartei Gefallen findet. Erst im
vergangenen Jahr veröffentlichte der Friedenspfarrer ein
Buch gemeinsam mit Gregor
Gysi. Dass Schorlemmer zudem ein guter Redner ist, bewies er zuletzt als Trauerredner beim Staatsakt zu Ehren
von Hans-Dietrich Genscher.
Der Vorsitzende des WillyBrandt-Kreises wäre also ein
optimaler SPD-Kandidat. PASCAL BEUCKER
Foto: imago
dings nicht in jedem Fall gut
ankommt. So war ihr einstiger Vorschlag, mit der RAF
zu sprechen, um den Terror
zu beenden, heftig umstritten. Nach den Anschlägen am
11. September 2001 lehnte sie
alle militärischen Lösungen
gegen Terrorismus ab. Kritisch wurde in der Ukraine­
krise ihr Zuspruch für den
russischen Präsidenten Putin gesehen.
Foto: Lukas Barth/imago
Foto: Müller-Stauffenberg/imago
SIMONE SCHMOLLACK
„Frau, Migrantin, mit sozialer Empathie“
LINKE
Bernd Riexinger, Chef der Linkspartei, über die Frage, warum das linke Lager mit SPD und Grünen eine gemeinsame KandidatIn braucht
taz: Herr Riexinger, die Linke
hat bereits am Wochenende
vorgeschlagen, eine gemeinsame Kandidatin zusammen
mit SPD und Grünen für die
Wahl zum Bundespräsidenten
im Februar 2017 zu benennen.
Waren Sie nicht zu voreilig?
Bernd Riexinger: Warum? Als
es hieß, Herr Gauck wolle nicht
mehr antreten, wurden wir gefragt, was wir davon halten. Und
wir haben gesagt, für den Fall,
dass er nicht mehr antritt, machen wir schon mal den Vorschlag, dass Linke, SPD und
Grüne eine gemeinsame KandidatIn benennen. Das finde
ich in Ordnung.
Die Antwort von SPD und Grünen ist lautes Schweigen.
Die anderen Parteien müssen
sich das natürlich überlegen.
Insbesondere die SPD steht vor
der Frage, ob sie sich alles offenhalten will, auch eine Große Koalition mit Frau Merkel, oder ob
sie ein politisches Zeichen setzen will für einen Kandidaten
aus dem linken Lager. Die Grünen sitzen in der gleichen Falle.
Sie spekulieren ebenfalls auf
eine Koalition mit der CDU, sie
begreifen sich ja schon ein bisschen als Reservepartei für eine
CDU-geführte Koalition. Des-
halb wird es in beiden Parteien
sicher Diskussionen geben.
Also geht es der Linken auch
darum, SPD und Grüne ein wenig in ihrer Verzagtheit vorzuführen?
Nein, darum geht es gar nicht.
Es geht um klare inhaltliche
Fragen. Wir sagen, jetzt wäre
der Moment gekommen, ein
deutliches Zeichen zu setzen,
gerade auch in einer Situation
großer gesellschaftlicher Polarisierung, in der rechtspopulistische Kräfte Zulauf bekommen.
Wenn wir beispielsweise eine
Präsidentin hätten, eine Frau,
eine Migrantin, die mit klarer
sozialer Empathie für Weltoffenheit und gegen Ausländerfeindlichkeit und Rechtspopulismus steht – das wäre doch
ein Signal in der aktuellen politischen Landschaft.
Kritik am Vorgehen kommt
auch aus der Linken. Die Ab-
geordnete Halina Wawzyniak
hat getwittert, wer eine rotrot-grüne Kandidatur wolle,
der dürfe keine Aufforderungen an andere verkünden, sondern sondiere vertraulich.
Das eine schließt das andere ja
nicht aus. Aber Politik ist eben
eine öffentliche Angelegenheit,
die auch öffentlich erörtert werden sollte. Wir haben in der Führung alle den gleichen Standpunkt.
Gibt es schon Sondierungsgespräche?
Nein. Wir müssen die Klärungsprozesse bei SPD und Grünen
abwarten. Beide Parteien wären gut beraten, nicht zu viel
Zeit vergehen zu lassen, sonst
schießen die Spekulationen in
die Höhe.
Tatsächlich gibt es große Skepsis, ob Ihr Vorschlag Realität
wird. Wie will die Linke rechte
SPDler überzeugen?
Die SPD hat es mit neoliberaler
Politik versucht und konnte ihren Erosionsprozess nicht stoppen. Wir brauchen eine Diskussion über ein linkes Lager in
Abgrenzung zum bürgerlichen
Lager, weil auch die Bevölkerung die Schnauze voll davon
hat, dass alle Parteien so ähnlich ticken.
Könnte sich die Linke auch vorstellen, der SPD das Vorschlagsrecht zu überlassen und diese
KandidatIn dann mitzutragen?
Der bessere und normalere Weg
wäre eine Verständigung aller
drei Parteien. Eine KandidatIn
aus dem linken Spektrum hätte
nur dann Erfolg, wenn man sich
abspricht.
Sie haben aber keine Mehrheit
in der Bundesversammlung.
Das ist eine knappe Sache,
ja. Aber im dritten Wahlgang
könnte es mit Unterstützung
der Piraten klappen.
Haben Sie schon eine geeignete
Kandidatin im Visier?
Zunächst muss man sich einigen, diesen Weg zu gehen.
Jede öffentliche Diskussion
über eine Person würde zurzeit dazu führen, dass diese
Person es garantiert nicht wird.
INTERVIEW ANNA LEHMANN
Bernd Riexinger
■■60, war Gewerkschaftssekretär und bis zu deren Verschmelzung mit der damaligen PDS
Mitglied der WASG. Seit 2012 ist
er zusammen mit Katja Kipping
einer der beiden
Parteivorsitzenden von
Die Linke.
Foto: dpa
Schwerpunkt
Flucht
M IT TWOCH, 8. JU N I 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Nach dem Deal mit der Türkei will die EU-Kommission nun in
Afrika und im Nahen Osten Einwanderung frühzeitig stoppen
Ich kauf mir die Welt, wie sie mir gefällt
EUROPA Afrikanische Länder sollen mit finanziellem Druck dazu bewegt werden, „illegale Migranten“ zurückzunehmen
AUS BRÜSSEL ERIC BONSE
Der umstrittene Flüchtlingspakt mit der Türkei soll nun
auch nach Afrika verlagert werden. Man habe aus dem Deal mit
Ankara gelernt und wolle ähnliche Abkommen auch mit ausgewählten Ländern aus dem Nahen Osten, dem Maghreb und
Afrika südlich der Sahara abschließen, erklärte EU-Flüchtlingskommissar Dimitris Avramopoulos.
Die EU-Kommission hat
dazu einen sogenannten „Migrations-Pakt“ entworfen, der
am Dienstag in Straßburg vorgestellt wurde. Im Mittelpunkt
steht dabei der „Rückgang der
irregulären Migration nach Eu-
ropa“, wie Avramopoulos in der
Welt betonte.
Es geht also vor allem um
Abschottung, nicht um die verstärkte Aufnahme von Afrikanern. Vorschläge zur Schaffung
legaler und sicherer Fluchtwege
sucht man in dem 14-seitigen
Entwurf, der der taz vorab vorlag, denn auch vergebens. Nur
für Facharbeiter und hochqualifizierte Einwanderer soll es
künftig eine reformierte „Blue
Card“ (Aufenthaltstitel) geben.
Für alle anderen Flüchtlinge
und Einwanderer werden neue,
hohe Hürden gebaut. Die EUKommission setzt dabei auf die
Mithilfe ihrer afrikanischen
„Partner“, die unerwünschte
Migranten künftig umstands-
los zurücknehmen sollen. Dabei geht es zunächst um Jordanien und Libanon. Weitere
Abkommen sind mit Niger, Nigeria, Senegal, Mali und Äthiopien geplant.
Aber auch international geächtete Regimes wie Sudan oder
Eritrea tauchen in dem Kommissionspapier auf. Über Hilfen für
diese und andere Länder habe
man bereits mit den EU-Staaten
diskutiert, heißt es in der Vorlage. Allerdings sei noch kein
grünes Licht für eine Kooperation gegeben worden, hieß es in
Brüssel.
Ziemlich konkret sind hingegen schon die Instrumente,
mit denen man die afrikanischen „Partner“ auf Kurs brin-
gen will. Kooperationsbereite
Länder sollen mit Finanzhilfen und Investitionen belohnt
­werden. Im Rahmen sogenannter „Migrationspartnerschaften“ sind dafür acht Milliarden
Euro aus dem EU-Budget vorgesehen – verteilt auf fünf Jahre.
Widerwillige Staaten müssen
hingegen mit Hilfsentzug und
anderen Strafen rechnen; auch
Handelssanktionen und Embargos dürften dazu zählen. „Das
ganze Arsenal finanzieller und
außenpolitischer Instrumente
muss eingesetzt werden“, heißt
es in dem Kommissionsentwurf.
Dass sich die Außenpolitik
auf die Steuerung – und Eindämmung – der Migration
konzentrieren soll, hat die EU-
Außenbeauftragte
Federica
Mogherini bereits mehrfach
betont. Auch die Staats- und Regierungschefs haben die Wende
bereits eingeleitet. Schon beim
EU-Afrika-Gipfel im vergangenen November auf Malta wurden die Weichen Richtung Abschottung gestellt.
Kritik kam von der migrationspolitischen Sprecherin der
Grünen im Europaparlament,
Ska Keller. Mit den geplanten
Sanktionen verschärfe die EUKommission Fluchtursachen,
statt sie zu bekämpfen. Nötig
sei mehr Hilfe im Kampf gegen
Armut und Krieg, so Keller. Doch
davor drücke sich Brüssel: „Was
die EU-Kommission hier tut, ist
die zynische Abweisung aller
Verantwortung.“
Der Vizepräsident der Brüsseler Behörde, Frans Timmermans, wies die Kritik zurück.
Es gehe darum, den „unerträglichen Verlust von Menschenleben im Mittelmeer“ zu beenden und „Ordnung in die Migrationsströme“ zu bringen,
sagte der Sozialdemokrat. Die
EU diktiere den afrikanischen
Ländern nicht ihren Kurs, sondern schlage „maßgeschneiderte Partnerschaften“ vor.
Meinung + Diskussion SEITE 12
Am Todesstrand von Zuwara
LIBYEN
Bürgerwehr verjagt Menschenschmuggler – ein Ort hat das geschafft. Der Lohn: eine Anzeige
VON DER LIBYSCHEN KÜSTE
MIRCO KEILBERTH
Bassem Dhan steht am Mittelmeerstrand und schaut finster
nach Norden. Eigentlich könnte
der Abgeordnete des Gemeinderats von Zuwara zufrieden sein.
Seit über einem halben Jahr hat
vom Strand der kleinen Berberstadt im Westen Libyens kein
Flüchtlingsboot mehr abgelegt.
Doch am Wochenende wurden über 130 Leichen von Ertrunkenen angeschwemmt –
wie schon im letzten Sommer.
„Ein grauenhaftes Bild, das mich
nicht mehr loslässt“, erinnert
sich Dhan. „Seit wir Fotos von
den ertrunkenen Migranten in
der Stadt zeigen, lehnen die Bürger das Tun der Menschenhändler ab.“
Und schritten zur Tat. Eine
maskierte Bürgerwehr aus Aktivisten hat die größten Schmugglerbosse von Zuwara öffentlich
angeprangert und hinter Gitter
gebracht. Nun haben sich die
Abfahrplätze nach Europa einfach nach Westen verschoben:
in Sabrata, 60 Kilometer entfernt. In der für ihr römisches
Amphitheater berühmten Küstenstadt bündelt sich der libysche Konflikt wie im Brennglas. Rund ein Dutzend rivalisierende Gruppen beäugen
sich misstrauisch, an Kontrollpunkten stecken finster dreinschauende Milizionäre ihre Reviere ab – auch am Strand. Und
die Schmuggler gehen bei allen
Gruppen ein und aus.
che waren in dem 40.000 Einwohner zählenden Ort schon zu
Gaddafi-Zeiten aktiv.
Gemeinderat Bassem Dhan
in Zuwara ist aber nun schwer
enttäuscht: Statt internationale Hilfe bekam er eine Anzeige des Staatsanwalts aus Libyens Hauptstadt Tripolis. Mit
der Inhaftierung der Schmugglerbosse habe Zuwaras Bürgerwehr, eine vom libyschen Innenministerium anerkannte
Ordnungskraft, ihre Kompetenzen überschritten. „Die Mafia hat gute Kontakte“, sagt Dhan
dazu. „Das ist ein Netzwerk bis
in hohe Regierungsstellen in Tripolis, Tunesien und Malta.“
Mohamed Senussi*, zu Besuch in Zuwara, studiert das
­Schreiben sorgfältig. Er kommt
aus der Schmugglerhochburg
Sabrata. Dort warten derzeit
schätzungsweise 6.000 Menschen auf die Abfahrt, berich-
tet er: Nigerianer vor allem,
auch Migranten aus Ghana, der
Elfenbeinküste und Kongo. Sie
bauen ihre Schiffe selbst.
Politik der kleinen Schritte
Senussi hört sich aufmerksam
an, wie Zuwaras Aktivisten ihre
Kampagne gegen den Menschenhandel aufzogen. Gemeinderat Dhan berichtet über Identitätskarten für Migranten, mit
denen sie eine Gesundheitsprüfung und offizielle Arbeitsmöglichkeiten erhalten. „Mit kleinen Schritten versuchen wir,
den Einheimischen die Angst
zu nehmen und den Migranten
einen Status zu geben.“
In Sabrata, sagt Senussi, wäre
das nicht möglich. Wer sich dort
den Schmugglern in den Weg
stellt, erklärt der junge Mann,
riskiert sein Leben. „Seit die
Banktresore leer sind und die
Ölförderung stillsteht, geht es
in Libyen hauptsächlich um den
Zugang zu Geld – und an Migranten kann man schnell und
unkompliziert verdienen.“
Europa, darüber sind sich die
beiden jungen Aktivisten einig,
muss den libyschen Gemeinden
beim Aufbau von gut bezahlten
Sicherheitsstrukturen helfen –
und zwar im Süden des Landes,
in der Wüste. An der Küste sei
es schon zu spät. Da könne man
niemanden mehr aufhalten.
Außer man gebe den
Schmugglern eine alternative
Einkommensquelle. In Zuwara,
sagt Bassam Dhan, haben einige
einen neuen Geschäftszweig
entdeckt: Benzinexport über
das Mittelmeer nach Malta. Bei
einem Einkaufspreis von 8 Cent
ist dabei viel mehr Geld zu machen als mit Menschen. Zumal die Nato-Flotte die Benzinschmuggler passieren lässt.
* Name geändert
Die möglichen „Migrationspartnerländer“ der EU
■■Jordanien, Libanon: neben der
Türkei die wichtigsten Aufnahmeländer für syrische Flüchtlinge
■■Libyen: derzeit wichtigstes Abreiseland für Afrikaner Richtung
Europa, ohne funktionierende
Staatsmacht
■■Tunesien: letzter Rest des
Arabischen Frühlings, soll kein
Auswanderungsland werden
■■Niger: wichtigstes Transitland
für West- und Zentralafrikaner
auf dem Weg nach Libyen
■■Nigeria: wichtigstes westafrikanisches Herkunftsland
■■Senegal und Mali: Herkunftsländer und enge EU-Partner
■■Äthiopien: Aufnahmeland und
auch Transitland für Flüchtlinge
aus Somalia, Südsudan, Eritrea
■■Weitere „Prioritätenländer“
für Migrationsvereinbarungen:
Afghanistan, Algerien, Bangladesch, Elfenbeinküste, Eritrea,
Ghana, Marokko, Pakistan,
Somalia, Sudan
Menschenhändler im Knast
Bis zum Februar füllten ihre
Schutzgeldzahlungen die Kassen des „Islamischen Staats“
(IS), der in Sabrata präsent war.
Doch nach US-Luftangriffen
verjagten lokale Milizen die
Dschihadisten. Sabrata ist nun
offiziell wieder IS-frei. „Der IS –
das waren alles Tunesier“, ist die
Sprachregelung in den ­Cafés.
Jetzt ist man wieder unter sich
und verdient an den Flüchtlingen viel Geld.
Zuwara aber hat sich seiner
Flüchtlingsschmuggler
entledigt, so wie es sich die EU
wünscht. Rund 20 „große Fische“, wie die Bürgerwehr von
Zuwara sagt, sitzen in einem Gefängnis nahe der Polizeiwache
in der Innenstadt und in einem
Camp westlich der Stadt. Man-
Alltägliches Grauen: Hilfskräfte bergen eine Leiche, die nach einem Schiffsunglück an den Strand von Zuwara, im Westen Libyens, gespült wurde. 4. Juni 2016 Foto: Hani Amara/reuters