SWR2 Feature am Sonntag

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
Feature am Sonntag
Untergewöhnlich
Eine praktische Übung nach Georges Perecs „Versuch einen Platz
in Paris zu erfassen“
Von Nicole Paulsen
Sendung: Sonntag, 5. Juni 2016, 14.05 Uhr, SWR2 – Feature
Redaktion: Walter Filz
Regie: Nicole Paulsen
Produktion: SWR 2016
Bitte beachten Sie:
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weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
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Intro
ZITATOR:
Was uns anspricht, ist wie mir scheint, immer das Ereignis, das Ungewöhnliche, das
Außergewöhnliche: fünf Spalten auf der Titelseite, Schlagzeilen. Die Zeitungen
schreiben über alles, außer über das Tagtägliche. Die Zeitungen langweilen mich.
Wo ist das, was wirklich geschieht, das, was wir erleben, das Übrige, alles Übrige?
Das, was jeden Tag geschieht und jeden Tag wiederkehrt, das Banale, das
Alltägliche, das Selbstverständliche, das Allgemeine, das Gewöhnliche, das Übliche,
wie soll man sich seiner bewusst werden, wie soll man es befragen, wie es
beschreiben?
Georges Perec:
L’Infra-ordinaire
Ansage:
Untergewöhnlich
Eine praktische Übung nach Georges Perecs
„Versuch einen Platz in Paris zu erfassen“
von Nicole Paulsen
Erzählerin:
Im Oktober 1974 begibt sich der französische Autor Georges Perec an drei
aufeinanderfolgenden Tagen an die Place Saint-Sulpice im 6. Pariser
Arrondissement. Von drei Cafés und einer Bank aus, notiert er das, was passiert,
wenn nichts passiert.
Unterlage französisches Original
I.
PEREC:
Das Datum: 18. Oktober 1974
Die Zeit:
10 Uhr 30
Der Ort:
Tabac Saint-Sulpice
Das Wetter:
Trockene Kälte, Grauer Himmel. Vereinzeltes Aufklaren.
PEREC:
Entwurf eines Inventars einiger der unmittelbar sichtbaren Dinge:
1
PEREC:
- Buchstaben des Alphabets, Worte: „KLM“ (auf der Tasche eines Spaziergängers),
„Hotel Récamier“, „Rue du Vieux-Colombier“, „Brasserie-Bar La Fontaine SaintSulpice“, „Parc Sant-Sulpice“.
PEREC:
- Ziffern: 86 (oben auf dem Autobus der Linie 86, oberhalb der Angabe seiner
Endstation: Saint-Germain-des-Prés), 1 (Schild mit der Hausnummer 1 in der Rue du
Vieux–Colombier), 6 (auf dem Platz, als Angabe, dass wir uns im 6. Pariser
Arrondissement befinden).
PEREC:
- Erde: festgestampfter Kies und Sand
- Stein:
Bordsteinkanten, ein Brunnen, eine Kirche, Häuser
- Asphalt
- Bäume (belaubt, häufig sich gelb färbend)
- Ein recht großes Stück Himmel (vielleicht 1/16 meines Blickfeldes)
- Ein Schwarm Tauben, der plötzlich zwischen Kirche und Brunnen über der
zentralen Fläche des Platzes niedergeht
- Fahrzeuge
- Menschen
- Ein Brot (ein Baguette)
- Ein Frisée, der teilweise aus dem Einkaufskorb herauslugt.
NICOLE:
Das Datum: 18. Oktober 2014
Die Zeit:
10 Uhr 30
Der Ort:
Café de la Mairie
Das Wetter:
sonnig, blauer Himmel, die Terrasse des Cafés noch im Schatten
Erzählerin:
40 Jahre später setze ich mich mit meiner Freundin Antje an die Place Saint-Sulpice
in Paris St. Germain und versuche zu den identischen Zeiten, an den gleichen Orten,
das Glanzlose zu notieren, die Hintergrundgeräusche aufzunehmen.
2
Den „Tabac Saint-Sulpice“, wo Perec sein Experiment begann, gibt es nicht mehr.
Wir setzen uns auf die Terrasse des Café de la Mairie an der anderen Ecke des
Platzes, packen das Aufnahmegerät aus, 2 Mikrophone, unsere Notizbücher und
bestellen 2 Grand Crème:
Geräusch Klick Aufnahmegerät, ATMO 1, 18.10.
ANTJE:
Café de la Mairie, 2 Grand Crème: 9 Euro 20
1 Stück Zucker eingewickelt in Papier Cafés Richard
PEREC:
Buslinien
Der 96er fährt zum Gare Montparnasse
Der 84er fährt zur Porte de Champerret
Der 70er fährt zur Place du Dr Hayem, Hauptgebäude des Staatlichen Rundfunks
Der 86er fährt nach Saint-Germain-des-Prés
Der 63er fährt zur Porte de la Muette
Der 87er fährt zum Champ de Mars
Der 84er fährt zur Porte Champerret
NICOLE:
Der 70er fährt zu zu Radio France
Der 87er fährt zum Champ-de-Mars
Der 63er fährt zur Porte de la Muette
ANTJE:
Bus 63 Porte de la Muette
ZITATOR:
Von Zeit zu Zeit eine Straße beobachten, vielleicht mit etwas systematischer
Aufmerksamkeit.
Erzählerin:
Rät George Perec in seinem Buch „Träume von Räumen“.
NICOLE:
Ein Mann mit einem Baguette in der Hand geht vorbei
3
Ein silbernes Mercedes-Taxi von links
Eine Frau mit Locken trägt eine weiße Plastiktüte mit Bananen
Im Café nebenan:
ein Hund bellt eine Frau an, die etwas in ihr Handy tippt. Der Hund, ein Mops,
bekommt vom Herrchen einen Klaps auf den Po weil er eine Serviette anbellt.
2 Fahrräder
Der Mopshund bellt eines der Fahrräder an und wird mit einer Zeitung
zurechtgewiesen.
ZITATOR:
Aufschreiben, was man sieht. Was sich an Erwähnenswertem ereignet.
ANTJE:
10 Uhr 50
Taxi Rot (besetzt), eine Taube fliegt zur Kirche
Tauben fliegen von der Kirche zur Wasserfontäne
zwei Männer sitzen rauchend neben uns. 10 Uhr 51
hinter uns ein schreibender Student
Bus 96, 10 Uhr 52
ZITATOR:
Im Grunde ereignet sich nichts.
ANTJE:
Frau mit Petersilie, in Papier eingewickelt, geht über die Straße
ATMO 2, 18.10. 11h Glocke
NICOLE:
Kurz vor 11 Uhr
Ein 87er Champ de Mars
Ein dünner Mann auf einem High Tech Klappfahrrad, er hat etwas Giacomettiartiges
Aufkommender Wind
Ein 86er Saint-Germain-des-Prés
NICOLE:
Hinter uns im Café kritzelt ein junger Mann unaufhörlich in ein Notizbuch.
4
ANTJE:
Bus 70. 11 Uhr
NICOLE:
Eine Frau, Typ Fanny Ardant flaniert vorbei
Der 63er Porte de la Muette
Ein schwarzes Mercedestaxi rast vorbei
ZITATOR:
Vermag man zu sehen, was erwähnenswert ist?
NICOLE:
11 Uhr 10. Mir ist kalt
Ein Ahornblatt fällt zeitlupenartig aus dem Nichts auf das Trottoir
Ein Mercedes, gefolgt von einem blauen Lieferwagen
Ein Windstoß (kein weiteres Blatt zu sehen)
Der 63er Porte de la Muette
ANTJE:
Bus 63
Zigarettenrauch und Rotwein, ein älterer Mann
Ein junger Mann, kariertes Jackett, Schiebermütze, er fotografiert, liest ein Buch und
schaut wieder auf den Platz. Literaturstudent?
ATMO 3, 18.10.
NICOLE:
11 Uhr 27
Ein Paar. Er trägt Basecap. Sie lange Haare
Eine Frau mit Laptop am Tisch nebenan
ANTJE:
Bus 96, 11Uhr 29
Im Café neben mir schreibt eine Frau auf einem Laptop und beobachtet den Bus
NICOLE:
Hinter uns sind jetzt zwei Schreibende:
5
- rechts hinter uns eine rotblonde Frau, sie schreibt etwas mit einem Kuli. Aus ihrem
Rucksack ragt eine Trinkflasche hervor, auf ihrem Tisch ein Café express, um den
Hals eine Kamera
- 2 Plätze links von ihr, direkt hinter uns, sitzt der junge Mann, blond, ein Moleskine in
der Hand.
Erzählerin:
Antje und ich schauen nach rechts und links:
NICOLE:
- links außen in erster Reihe zum Platz sitzt ein junger Mann mit Karojackett und
grauer Schiebermütze, er raucht, liest in einem Buch von Georges Perec, der Titel ist
schwer zu erkennen, er macht Fotos mit seinem Smartphone. Der Prototyp eines
Literaturstudenten.
- rechts außen in erster Reihe zum Platz eine Frau im schwarzen Trench mit
Macbook, Aufnahmegerät und Camcorder, sie gießt sich Tee aus einem silbernen
Kännchen in ihre Tasse.
Erzählerin:
Ist das schon die Sehnsucht nach dem Besonderen?
NICOLE:
11 Uhr 45. Der junge Mann hinter uns legt sein Moleskine zur Seite.
ATMO 4a + b (Glocke 3x)
Geräusch Klick Smartphone
OT 1 Renko:
Renko, Renko Recke, ja (also ich komme aus Deutschland)
Erzählerin:
Renko lebt seit eineinhalb Jahren in Paris, arbeitet als freier Journalist und Fotograf.
OT 2 Renko:
Also ich orientier mich auf jeden Fall an dem Zeitplan und versuche auch wirklich in
seinem Stil die Beobachtungen festzuhalten und denke dass es eigentlich auch ganz
gut läuft. Es ist schon anstrengend, auch bewusst zu beobachten; und die Tatsache
dass jetzt noch andere Beobachter unter uns sind macht das ganze irgendwie aber
auch interessant und man tauscht sich halt auch untereinander sogar aus.
Erzählerin:
Renko deutet in Richtung „Literaturstudent“.
OT 3 Renko:
Also der junge Mann da links hat das Buch auf jeden Fall auch in der Hand. A: Ja,
der gleicht immer ab. Ich hab schon beobachtet, per Fotos und so.
6
OT 4 Renko:
Also ich find faszinierend mit den Bussen, die hier (A: Ja) so regelmäßig reinfahren
A: und danach immer zwei Taxis, irgendwie zwei rote Taxis, find ich echt spannend.
Erzählerin:
Wie viele rote Taxis inzwischen unnotiert vorbeigefahren sind?
OT 5 Renko:
Und der junge Mann da, der Literaturstudent, ich nenn ihn mal so, er spaziert auch
noch herum. Da direkt, geht jetzt gerade zu dem Zeitungskiosk und macht Fotos, ja.
NICOLE:
Vielleicht ist er gar kein Literaturstudent? Nur eine Inszenierung.
Erzählerin:
Wir beobachten uns alle gegenseitig (oder OT)
PEREC:
Aus einem Touristenbus scheint eine Japanerin mich zu fotografieren.
OT 7 Renko:
Wäre ja spannend zu wissen ob einfach jemand nur das Buch gelesen hat und nur
hier sitzt und das so aufnimmt, ohne zu notieren, ohne festzuhalten.
ATMO 5_2 23:
49 (leise Café bestellen)
OT 8 Antje:
Aber wenn man hier den ganzen Tag sitzt, kennt man sich bald richtig aus, finde ich.
Erzählerin:
Renko notiert:
RENKO:
So langsam kommt mir der Gedanke, dass sich unter den Cafégästen eine ganze
Gruppe von „Beobachtern“ befindet. Werde ich anders beobachten, wenn ich weiß,
dass ich beobachtet werde?
Erzählerin:
Inzwischen habe ich unzählige Mikroereignisse verpasst.
NICOLE:
Es ist zwölf Uhr.
ANTJE:
Kirchenglocken
Literaturstudent mit Schiebermütze verlässt Café um 12 Uhr 03
Erzählerin:
7
Renkos Nachbarin, die Frau mit den rotblonden Haaren möchte uns fotografieren.
OT 9 Carol:
May I take a photo of you (lachen), I think that’s a fair exchange (lachen). So, Hello.
Geräusch Klick Smartphone
OT 10 Carol:
Caroline, Huff actually, from Australia. I am a student from the Australian national
University in Canberra and I am following Perec.
Erzählerin:
Caroline kommt aus Australien, sie studiert Videokunst an der Universität in
Canberra. Sie will einfach Perecs Versuch wiederholen, ohne bestimmtes Ziel.
OT 11 Carol:
I don’t even think it’s any focus (lacht) but I am actually was going to recreate his
performance.
PEREC:
Ein Reisebus, leer.
Weitere Japaner in einem weiteren Reisebus.
Erzählerin ov:
Caroline kommt kaum nach mit dem Zählen der Busse und Autos. Es ist so viel
Verkehr im Vergleich zu damals.
OT 12 Carol:
It’s really difficult to keep up with the number of buses and cars. Lacht. I think things
have changed, it’s so much traffic.
Erzählerin ov:
Der Platz war so etwas wie Perecs Hinterhof, meint Caroline und er kannte sich gut
mit Autos aus. Sie überhaupt nicht.
OT 13 Carol:
I mean it was his backyard, was his home Territory, and he also had a really good
knowledge of cars. And I just don’t, just say black car or big car.
ANTJE:
Sonnig, Sonne hinter der Kirche
Tauben fliegen
Ein Taxi
PEREC:
Kurze Beruhigung (Ermüdung?)
8
Pause.
NICOLE:
Pause.
PEREC:
Das Datum: 18. Oktober 1974
Die Uhrzeit:
12 Uhr 40
Der Ort:
Café de la Mairie
.
PEREC:
Mehrere Dutzend, mehrere Hundert gleichzeitiger Handlungen, Mikro-Ereignisse, von
denen jedes mit spezifischen Haltungen, motorischen Akten, Energieaufwendungen
verbunden ist:
PEREC:
Gespräche zu zweit, zu dritt, Gespräche zu mehreren: Lippenbewegung, die Gesten,
der Ausdruck
PEREC:
Fortbewegungsformen: Gehen, Zweirad, Automobile, Nutzfahrzeuge, Stadtreinigung,
öffentliche Verkehrsmittel, Touristenbusse
PEREC:
Grad der Entschlossenheit oder der Motiviertheit: warten, flanieren, bummeln, irren,
gehen, auf etwas zurennen, sich stürzen, suchen, Zeit vertrödeln, zögern, mit
entschlossenen Schritten gehen.
ATMO 6
NICOLE:
Das Datum: 18. Oktober 2014
Die Zeit:
12 Uhr 40
Der Ort:
Café de la Mairie
Erzählerin:
Antje, Caroline, Renko und ich sitzen in einer Reihe.
ZITATOR:
Die Leute auf der Straße: Woher kommen sie? Wohin gehen sie? Wer sind sie?
9
NICOLE:
Rechts neben der Terrasse sitzt ein junger Mann mit Bart auf einem roten Klappstuhl,
roter Schal, in der Hand ein Buch von Georges Perec.
ANTJE:
Mann mit rotem Klappstuhl neben dem Café an der Litfaßsäule, ein Schluck Wasser
blauer Himmel, zwei Silberstreifen von Flugzeugen
NICOLE:
Eine modelartige Frau sitzt auf einem Poller, lange blonde Haare, sie tippt auf ihrem
Smartphone herum. Eine ältere Dame telefoniert mit ihrem Smartphone. Ein älterer
Herr macht sich Notizen.
Erzählerin:
Renko notiert:
RENKO:
Neben der Litfaßsäule hat sich ein älterer Herr mit Trenchcoat aufgebaut. Er blickt
auf die Place Saint-Sulpice. Daneben entdecke ich einen jungen Mann mit einem
roten Klappstuhl. Er telefoniert mit einem alten Mobiltelefon. Auf seinem Schoß liegt
ein Buch.
ANTJE:
Der Mann auf dem rotem Klappstuhl isst aus einer Tupperdose
NICOLE:
Ein Junger Mann mit Ringelshirt sitzt auf einem Poller und telefoniert mit einem
Smartphone. Er hat Locken, fast wie Georges Perec
ANTJE:
Mann mit rotem Klappstuhl isst, putzt die Nase, den Mund, trinkt Wasser und kramt in
einer Lidl-Tüte, die aus der Tasche herausragt, reibt Hand, reibt Nase, holt Block und
Stift raus und das Buch von Perec.
RENKO:
Ein 70er fährt ein. Eine Frau, die einen rosafarbenen Schal trägt, wartet allein an der
Haltestelle. Sie steigt nicht in den 70er ein. Kurz darauf folgt ein 63er. Die Frau bleibt
an der Haltestelle stehen. Mein Blick fällt wieder auf den jungen Mann mit seinem
roten Stuhl. Er wirft einen Blick in das Buch auf seinem Schoß. Da erkenne ich, dass
es sich ebenfalls um Perec handelt. Er macht sich ebenfalls Notizen.
ZITATOR:
Sich dieser Beschäftigung hingeben. Sich Zeit lassen.
Erzählerin:
Ich pirsche mich an den Klappstuhlschreiber heran. Sein Blick ist auf das Café
gerichtet.
Geräusch Klick Smartphone
10
O-Ton 14b BAP:
„Baptiste“ (mehrmals)
Erzählerin:
Baptiste Gaubert, Bretone, ehemaliger Literaturstudent, Schauspieler und
Performancekünstler.
Erzählerin OV:
Baptiste macht das Projekt für sich selbst, aber es ist auch Georges Perec gewidmet,
den er sehr bewundert und der seiner Ansicht nach eine französische Literatur
geschaffen hat, die mehr ist als nur französische Literatur. Er ist fasziniert von
diesem Mann. Weil er Anleitungen gegeben hat, begegnen wollte, bedeuten und
nicht bedeuten.
OT 15 BAP:
C’est un project pour moi, oui, c’est un project pour lui aussi c’est un projet pour cet
homme que j’aime beaucoup que j’admire et qui pour moi a su donner une litterature
francaise bien que et pas que de la litterature francaise, mais voilà, je suis fasciné
par cet homme. Parce qu’il s’a imposé parce qu’il a voulu rencontre, parce qu’il a
voulu signifier et ne pas signifier, et voilà.
Erzählerin ov:
Seiner Meinung ist das eine sehr gute Übung für die Pariser, die nicht genug
hinschauen, was in ihrer Stadt passiert
OT 16 BAP:
A mon avis c’est un très bon exercice pour des Parisiens, je pense que les Parisiens
ne regardent pas assez ce qui se passe dans leur ville et, et voilà.
Erzählerin:
Er will an allen drei Tagen den Platz erfassen.
O-Ton 17 BAP:
Je vais essayer (lacht), je vais essayer de me tenir a ces fameuses trois journées.
ATMO 7
PEREC:
Vorübergehende Beruhigung, an der Bushaltestelle steht niemand.
Erzählerin:
Was ist mit den beiden Frauen hier? Sie sind gerade gekommen. Vor ihnen liegt ein
Notizbuch. Sind sie auch wegen Perec hier?
OT 18 Frau:
Pas du tout en fait, non, non, pas du tout, par hazard (lachen).
Erzählerin:
Nein, nur Zufall.
11
ANTJE:
12 Uhr 56. Mann mit Block, Zeitung und Zigarettenschachtel Marlboro, Handy,
Schlüssel und ein Espresso, Rechnung 2,20€, schlägt rotes Buch zu
Erzählerin:
Er vielleicht?
ANTJE:
Schlägt rotes Buch wieder auf, schreibt und raucht.
OT 19 Mann:
Non, non non non non.
Erzählerin:
Aber die Dame mit Camcorder, Macbook, Aufnahmegerät. Sie sitzt mindestens seit
11 Uhr 27 hier.
Geräusch Klick Smartphone
OT 20a+b Ruf:
Christina Ruf.
Erzählerin:
Künstlerin, lebt in München und Zürich.
OT 21 Ruf:
Nein, das ist das schönste, dass hier so viele dasitzen. Die Art wie er versucht hat zu
dokumentieren ist eigentlich in einer anderen Form das, was ich audiovisuell immer
versucht habe an Plätzen oder in Städten und jetzt versuch ich es gerade
herauszukriegen wie das 40 Jahre danach ist. Was da eigentlich so funktioniert oder
nicht funktioniert oder was sich verändert hat. - Ich hab auch nicht gedacht, dass da
so viele auftauchen (lachen).
Erzählerin:
Wir werden fotografiert. Aber wer ist das?
PEREC:
Es ist 5 nach eins. Eine Frau rennt über den Kirchenvorplatz.
ATMO 8, 18.10. 13:
15
ANTJE:
13 Uhr 20 Sonne, stechend heiß, blauer Himmel
NICOLE:
13 Uhr 20 es ist heiß. Ein lauter Roller.
PEREC:
12
Leute stolpern. Mikro-Unfälle.
NICOLE:
Rechts von uns, direkt neben dem Café, in der Nähe des roten Klappstuhls, entdecke
ich eine junge Frau mit Bommelmütze, an einen Baum gelehnt sitzend; auf dem
Schoß ein Block, in der linken Hand hält sie das Buch von Georges Perec, die
französische Ausgabe.
RENKO:
Während des Essens fällt mir ein weiterer junger Mann auf, der auch in der Perecs
„Versuch...“ liest. Er lehnt an der Litfaßsäule: Er ist mir aufgefallen, weil er eine bunte
Mütze mit einem roten Bommel trägt. Er macht sich aber keine Notizen.
ZITATOR:
Sich zwingen, das zu schreiben, was ohne Bedeutung ist.
NICOLE:
Antje setzt ihre Kopfhörer ab
Beobachter beobachten Beobachter
PEREC:
Ein 63er fährt vorbei
RENKO:
Ein 63 er fährt ein
ANTJE:
Bus 63, 13 Uhr 25
ATMO 9 „Le Monde“
ANTJE:
Ein Mann hält Le Monde Zeitungen hoch und ruft lautstark im Café
RENKO:
Ein Zeitungsverkäufer bietet den Gästen im Café die Wochenendausgabe von Le
Monde an.
NICOLE:
Ein Le Monde Verkäufer hält die Zeitung hoch, er trägt eine schwarze Brille.
PEREC:
Zwei leere Taxis am Taxistand
NICOLE:
Zwei blonde Frauen unter der Überdachung vor dem Café. Eine der beiden hat sich
ein Tuch über den Kopf gelegt, wahrscheinlich wegen der Hitze. Deutsche? Es sieht
aus, als machen sie ebenfalls Notizen
13
NICOLE:
Schreiben die Frauen tatsächlich?
Die Frau vom Baum schaut auf
Erzählerin:
13 Uhr 32
OT 23 Claire:
Je crois que la terrasse sera remplit des post-Perecs.
Erzählerin:
Sie stellt fest, dass die Terrasse voll von Post-Perecs ist.
Geräusch Klick Foto oder Polaroid
Erzählerin:
Claire Boullé, mit der Bommelmütze, Kunststudentin aus Straßburg.
Claire hat Perecs Experiment schon vor zwei Jahren gemacht. Jetzt wiederholt sie
die Übung nicht einfach, sondern macht das Gegenteil, sie streicht all das, was nicht
mehr geschieht. Es ist eine Art Ausdünnen des ursprünglichen Textes.
OT 24 Claire:
En fait moi j’avais déja fait l’exercice il y a deux ans de venir regarder ce qui se
passe. Et du coup j’avais laissé ca travailler un peu tout seul. Et là je suis venue
plutôt faire envers plutôt enlever, soustraire tout ce qui se passe plus dans le texte
plutôt que faire l’inventaire encore une fois de réitérer l’exercice.
Erzählerin ov:
Viel bleibt nicht nach dem Ausdünnen, sagt Claire.
OT 25 Claire:
Non, il n’y a pas grand chose qui reste ni des climats, des ciels, des chiffres, et des
attitudes, mais sinon, non. c’est l’impermanence des choses acquis, c’est flagrant.
Erzählerin ov:
Weder das Klima, noch die Wolken, die Zahlen, das Verhalten. Die Unbeständigkeit
der Dinge wird hier offensichtlich.
Erzählerin:
Die Mütze mit Bommel: Eine Erinnerung an das Klima von 1974?
PEREC:
Eine Dame, die drei Kinder zur Schule bringt (zwei davon haben lange rote Mützen
mit Bommeln)
Vor der Kirche steht der Lieferwagen eines Leichenbestatters
ATMO 10, 13:
14
54 beginnt R26_12
PEREC:
Es ist zwanzig nach zwei.
Erzählerin:
Unter dem kleinen Vordach sitzen die beiden Damen, die mit der Hitze zu kämpfen
haben.
Geräusch Klick Foto oder Polaroid
OT 26a Ariane:
Je suis de Paris, oui, je suis pas Parisienne, mais j’habite à Paris. C’est un texte que
j’utilise beaucoup avec des étudiants en architecture.
Erzählerin:
Ariane Wilson, Architekturdozentin, sie lebt in Paris. Sie findet es amüsant, dass
durch die anderen Beobachter eine zweite Ebene, entstanden ist. Gerade notiert sie
das alles. Sie hat inzwischen 5 Beobachter identifiziert. Mich hat sie auch schon
entdeckt.
OT 26b Ariane:
Oui c’est amusant parce que effectivement ca a crée une deuxième couche.
d’ailleurs je me vois en train de noter ces choses la. Il y maintenant cinq
personnages que j’ai identifiés depuis ce matin. Et vous aussi je vous avais déja vu.
PEREC:
Ich habe den Eindruck, der Platz sei fast leer (aber es befinden sich mindestens
zwanzig Menschen in meinem Blickfeld)
OT 27 Ariane:
Vous avez vu le monsieur allemand là bas, il est de Karlsruhe.
Erzählerin:
Ob wir den Mann aus Karlsruhe gesehen haben. Sie zeigt nach links auf einen Mann
mit blonden Haaren und blauem Hemd.
ANTJE:
Heiß, Sonnenbrand auf der Haut.
ATMO 11
OT 29 Ariston:
Oh das spricht sich schnell rum.
Geräusch Klick Smartphone
NICOLE:
14 Uhr 25
15
OT 30 Ariston:
Ariston Baton.
NICOLE:
Der Mann aus Karlsruhe
OT 31 Ariston:
Ja wie viele haben sie jetzt mittlerweile entdeckt? Sieben? Ja also hier sitzen glaub
ich zwei, drei, haben Sie den jungen Mann da vorne noch am Baum? N: aufm
Klappstuhl? R: ja aufm Klappstuhl, ja.
OT 32a Ariston:
Und jeder geht auch ein bisschen nach einem anderen Schema vor. Also ich hatte
mich vorhin mit dem jungen Herrn da auf dem Klappstuhl unterhalten. Er meinte er
hält sich relativ streng an diesen Plan und es gibt auch in einem anderen Buch von
Perec ne Anweisung, wie man sich in einem solchen Fall zu verhalten hat...
Erzählerin:
Träume von Räumen.
OT 32b Ariston:
... Ich bin da ähnlich. Ich geh ähnlich vor, aber lass mich zwischendrin irgendwie halt
auch mal gehen. Ich weiß nicht wie er das macht, ob er sich gehen lässt.
Erzählerin:
Also ich fürchte, ich lass mich ziemlich oft gehen.
ANTJE:
Ich bin kurz vorm Hitzestich.
OT 33 Arist:
Also ich merk jetzt gerade, dass ich richtig fertig bin. Aber wir schaffen die drei Tage,
denk ich.
Erzählerin:
Ja, wir schaffen das.
PEREC:
Es ist halb drei.
OT 34 Ariston:
Und dann ist irgendwann Schluss heute, mit dem Enzianlikör. Treffen wir uns da
wieder zum Enzianlikör? Sind Sie dabei?
ATMO 12
Erzählerin:
Renko und Caroline lesen in ihren Perec Büchern
Erzählerin:
16
Caroline schaut fasziniert auf meine Sonnenbrille.
OT 36a Carol:
I can see the reflection of the café de la Mairie in your glasses, in your sunglasses,
you see. I won’t see you, just everybody else.
Erzählerin:
Caroline fotografiert das Café de la Mairie (und sich selbst) in der Spiegelung meiner
Sonnenbrille.
OT 36b Carol:
(fotografiert) there you go, I just got myself in your sunglasses.
ZITATOR:
Ein Stück Stadt entziffern.
NICOLE:
Vorbeigehen eines Chinesen, er trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „In Case of
emergency“
PEREC:
Mann trägt Sarg heraus. Die Totenglocke beginnt wieder zu läuten
NICOLE:
Die Sonne brennt auf meine Wade
ANTJE:
Lachende Gesichter in die Sonne schauend, Indianerhand als Sichtschutz vor der
Sonne, lautes Lachen.
PEREC:
Der Leichenwagen fährt davon, gefolgt von einem Peugeot 204 und einem grünen
Méhari
Das Totengeläut hört auf
NICOLE:
Der 96er
Und noch ein 96er zum Gare Montparnasse
PEREC:
Ein 96er
PEREC:
Es ist viertel vor drei
ANTJE:
Es ist viertel vor drei. Pause.
17
PEREC:
Pause / Pause
PEREC:
Das Datum: 18. Oktober 1974
Die Uhrzeit:
15 Uhr 20
Der Ort:
Fontaine Saint-Sulpice (Café)
ATMO 13
NICOLE:
Das Datum: 18. Oktober 2014
Die Uhrzeit:
15 Uhr 20
Der Ort:
dort wo das Fontaine Saint-Sulpice (Café) hätte sein können
NICOLE:
Der Karlsruher und Baptiste mit dem Klappstuhl suchen den Ort wo das Café
Fontaine Saint Sulpice vor 40 Jahren war.
PEREC:
Jetzt sitze ich im Fontaine Saint-Sulpice, und zwar so, dass ich dem Platz den
Rücken zuwende
Die Autos und Leute, die mein Blick wahrnimmt, kommen vom Platz oder schicken
sich an, ihn zu überqueren.
OT 38a Ariston:
Wie könnte das funktionieren?
PEREC:
Gegenüber im Tabac schnappen die Bridgespieler aus dem Raum im ersten Stock
ein bisschen Luft.
OT 38b Ariston:
Also kann’s im Prinzip doch nur hier sein, wenn er gegenüber vom Tabac ist. Nur wie
kann er mit dem Rücken hier sitzen und wo müssen wir uns jetzt mit dem Rücken
hinsetzen?
OT 39 Bap:
R: Es wird eng. B: Une minute et Perec nous engueule.
Erzählerin:
18
Noch eine Minute und Perec brüllt uns an, meint Baptiste.
OT 40 Bap:
Je pose la chaise et j’éspère que Perec éclaire.
Erzählerin:
Er stellt seinen Stuhl auf und hofft, dass Perec besänftigt ist. Ich setze mich auf eine
Bank mit dem Rücken zum Platz. Blick Richtung Rue Bonaparte, The Kooples.
OT 41 Ariston:
So, jetzt geht’s los, müss’ mer zumindest mal das Datum schreiben und die Uhrzeit:
18. Oktober 2014, die Uhrzeit 15 Uhr 20, der Ort: die Terrasse des Fontaine Saint
Sulpice. Viel Spass! (lachen)
ATMO 15
PEREC:
Auf dem Trottoir ein Mann, der von Ticks mitgenommen, aber noch nicht zugrunde
gerichtet ist (Schulterbewegungen als ob er ein ständiges Jucken im Nacken
empfinden würde); er hält seine Zigarette auf dieselbe Weise wie ich (zwischen
Mittel- und Ringfinger): Zum ersten Mal sehe ich diese Angewohnheit bei einem
anderen
NICOLE:
Inmitten silbergrauer Autos ein goldener VW-Käfer. Wie aus einer anderen Zeit
ZITATOR:
Ohne zu wollen, fällt einem nur das Ungewöhnliche, das Besondere, das
hundsgemein Außerordentliche auf.
Erzählerin:
Ariane, auf einer Bank links von mir notiert:
ARIANE:
L’homme de Karlsruhe et le jeune homme à la chaise rouge écrivent cote à cote,
séparés par un vélo de ville rose.
OV Ariane:
Der Mann aus Karlsruhe und der junge Mann mit dem roten Klappstuhl schreiben
Seite an Seite, zwischen ihnen ein rosa Hollandfahrrad.
Erzählerin:
Und Ariston:
ARISTON:
Ich schreibe abwechselnd im Knien und im Stehen. Direkt vor mir ein Zebrastreifen,
an dem niemand wartet. Ein Mann überquert bei Rot.
NICOLE:
Ariston fotografiert mich.
19
Wo sind die anderen? Wo sind Renko und Caroline? Wo ist die Frau mit der Mütze
mit dem roten Bommel? Ist so wenig von „damals“ übriggeblieben, dass sie
aufgegeben hat?
Eine Stofftasche mit der Aufschrift „Buchhandlung König“ spaziert an mir vorbei. Sie
gehört einem jungen Mann mit vollem Gesicht und braunen Löckchen. Er umrundet
den Platz. Vorher saß er im Café neben uns. – Auch einer?
ARISTON:
Ich setze mich zu Nicole auf eine Bank etwas weiter links.
ARIANE:
L’homme de Karlsruhe a changé de place.
NICOLE:
Ariston kommt zu uns auf die Bank.
Erzählerin:
Das Projekt nimmt Sophie Calle-artige Züge an.
ATMO 16
Erzählerin:
Ich blättere im Original. Viel geschrieben hat Perec in der Zeit zwischen 15 Uhr 20
und viertel vor fünf nicht. Es steht in keinem Verhältnis zu dem, was jetzt auf dem
Platz alles zu erfassen wäre.
ZITATOR:
Zeit vergeht. Sein Glas Bier trinken. Warten.
ATMO
NICOLE:
16 Uhr. Versuch der Konzentration
PEREC:
Es ist fünf nach vier. Müdigkeit der Augen. Müdigkeit der Worte
Ein apfelgrüner 2CV
(mir ist kalt; ich bestelle einen Vieux Marc)
Erzählerin:
Ich kann nicht mehr sitzen und gehe an die Straße vor.
ARIANE:
La dame au micro arrive et appuie son calepin sur un des poteaux entourant la grille.
Elle n’a plus de micro mais toujours ses lunettes de soleil.
20
Ariane ov:
Die Dame mit dem Mikro kommt und legt ihr Notizbuch auf einen der Pfosten die das
Gitter umzäunen. Sie hat kein Mikro mehr aber immer noch ihre Sonnenbrille.
ARISTON:
Es ist fünf nach vier.
PEREC:
Ein Motorradfahrer. Ein apfelgrüner Citroen-Lieferwagen.
Erzählerin:
Apfelgrüne Autos? Waren die 70er Jahre eher apfelgrün?
ATMO 17 Begegnung Caroline
Erzählerin:
Caroline geht an uns vorbei. Sie macht Fotos.
OT 42 Carol:
This is so much happening. I just decided to get whatever catches my eye, which is
only one millionst of what’s happening here. I won’t be exhausting the place (lacht)
Erzählerin:
Sie kann nur ein Millionstel von dem erfassen, was hier passiert. Caroline wirkt als
hätte der Platz sie erschöpft und nicht sie den Platz.
Erzählerin:
Caroline verschwindet in der Menge.
PEREC:
Ein Telegrammbote auf dem Fahrrad
NICOLE:
16 Uhr 40.
ATMO 18 frei
PEREC:
Es ist viertel vor fünf. Ich habe das Bedürfnis auf andere Gedanken zu kommen. Le
Monde lesen. Das Lokal wechseln. Pause / pause.
NICOLE:
Es ist viertel vor fünf. Auch ich habe das Bedürfnis auf andere Gedanken zu
kommen. Pause.
ARISTON:
(Es ist viertel vor fünf.) Pause
ANTJE:
Pause.
21
ARIANE:
Pause
ATMO 19a +b
PEREC:
Das Datum: 18. Oktober 1974
Die Uhrzeit:
17 Uhr 10
Der Ort:
Café de la Mairie
Parallel
NICOLE:
Das Datum: 18. Oktober 2014
Die Uhrzeit:
17 Uhr 10
Der Ort:
Café de la Mairie
PEREC:
Es ist kalt, immer kälter, scheint mir.
Ich sitze im Café de la Mairie, ein ganz klein wenig zurückgesetzt im Verhältnis zur
Terrasse
NICOLE:
Es ist warm, immer noch warm.
Das Café ist überfüllt. Wir lehnen uns an die Poller neben dem Café
Ariane wartet ebenfalls auf einen Tisch
PEREC:
Vorbeifahrt eines ziemlich leeren 70ers
Vorbeifahrt eines fast vollen 63ers
(Warum die Busse zählen? Sicher weil sie wiedererkennbar und regelmäßig sind: Sie
unterteilen die Zeit, sie rhythmisieren die Hintergrundgeräusche.
Alles Übrige scheint zufällig, unwahrscheinlich, anarchisch.
ATMO 21 + 22
22
Erzählerin:
Innen im Café sitzt Ariston an einem kleinen Tisch mit schlechter Sicht auf den Platz.
OT 44 Ariston:
Das ist eine eigenartige Perspektive, weil von hier sieht man kaum was draußen vor
sich geht weil ständig jemand vorne rum ist und die Busse kann man kaum erkennen
auch die Nummern der Busse sind kaum zu sehen, aber das macht’s ja irgendwie
spannend. Jetzt sieht man’s quasi leuchten, 96 leuchtet gerade. Moment ich muss
mal kurz schreiben, ein 96er fährt vorbei.
PEREC:
Vorbeifahrt eines fast vollen 86ers
Vorbeifahrt eines fast leeren 63ers
Vorbeifahrt eines ziemlich vollen 96ers
Vorbeifahrt eines ziemlich vollen 87ers
OT 45 Ariston:
Du schreibst gar nicht mehr, ne?
NICOLE:
17 Uhr 20
Wir haben endlich einen Platz im Café gefunden
ganz hinten an einem Fenster mit Blick auf das Saint Laurent Schaufenster in der
Rue des Canettes
Der Blickwinkel ist sehr ungünstig
NICOLE:
17 Uhr 47
Antje und ich schreiben uns kleine Nachrichten: wollen wir aufgeben? wie lange geht
es „offiziell“ noch fragt Antje.- 18:45h! Nein. Wir geben nicht auf
PEREC:
Es ist 17 Uhr 50 – Veränderungen des Tageslichts
NICOLE:
Mehr Schatten
PEREC:
Ein Mann will das Café betreten; aber er beginnt, an der Tür zu ziehen, anstatt zu
drücken
Hirngespinste
23
Vorbeifahrt eines vollen 70ers
(Müdigkeit)
NICOLE:
Müdigkeit!? Allerdings.
Sommerabend! Die Sonne steht jetzt tiefer und taucht den Platz in ein goldenes
Licht.
PEREC:
Die Farben verschwimmen:
Gelbe Flecken. Rötliche Schimmer
NICOLE:
Ein Schwuler mit Trenchcoat und Hündchen
Rosa Plastiktüten
18 Uhr 27. Erschöpfung
Männer mit roten Hosen
Ein junger Mann mit T-Shirt und Schal
Erzählerin:
Antje starrt auf die Toilettentür als erwarte sie dahinter die Offenbarung des
Untergewöhnlichen
ANTJE:
18 Uhr 30
Toilettentür, Frau mit kleinem Kind
Toilettentür Frau, Mann
Kirchenglocken
ANTJE:
Toilettentür Junge
Toilettentür älterer Herr, jüngere Dame
ältere Dame mit gelbem Pullover kommt heraus
NICOLE:
Tranceartiger Blick aus dem Fenster in die Rue des Canettes
24
ANTJE:
Blick aus dem Fenster zu einem Schuhladen mit goldenem Schriftzug „Saint Laurent
Paris“, gelbes Neonlicht
Eine blonde junge Frau im Schuhladen hilft einer anderen jungen Frau aus dem
schwarzen Mantel
Ein Mann im grünen Shirt schaut auf Schuhe im Schaufenster und geht dabei in die
Knie
Ein kleines Mädchen in rotem Shirt schaut auf rote Schuhe im Schaufenster hoch
und zeigt mit dem Finger darauf
Zwei Frauen mit Handtasche schauen auf Schuhe im Schaufenster
Erzählerin:
Antje schaut zum Nachbartisch.
ANTJE:
18 Uhr 35 er zahlt ohne Trinkgeld und geht.
NICOLE:
Zeit zu gehen.
PEREC:
Ein voller 96er
(vielleicht habe ich erst heute meine Berufung entdeckt: Linienkontrolleur der Pariser
Verkehrsbetriebe)
NICOLE:
18 Uhr 45 die Kirche auf dem Platz im rosagelben Abendhimmel.
PEREC:
Es ist 18 Uhr 45
PEREC:
Es regnet noch immer
Ich trinke einen Enzianlikör aus Salers.
NICOLE:
Wir trinken keinen Enzianlikör aus Salers. Ich habe auf der Karte keinen entdeckt,
und habe das französische Wort für „Enzianlikör“ vergessen.
ARISTON:
Ich möchte einen Enzianlikör aus Salers bestellen, aber laut Nicole vom SWR gibt es
keinen.
Zwischenszene:
25
Atmo / Musik
OT 46 Bap:
Exemple entre parenthèses au milieu, au place centre du livre „fatigue“. Et oui, je ne
sais pas si je ressens la fatigue, je ressens plutôt un mal de tête et la nécessite de
prendre des aspirines en rentrent le soir, voilà.
Erzählerin:
In der Mitte des Buches spricht Perec von «Müdigkeit». Baptiste spürt eher
Kopfschmerzen als Müdigkeit und braucht heute Abend ein Aspirin.
II.
PEREC:
Das Datum: 19. Oktober 1974 (Samstag)
Die Uhrzeit:
10 Uhr 45
Der Ort:
Tabac Saint Sulpice
Das Wetter:
Feiner Regen, Genre Nieselregen.
NICOLE:
Das Datum: 19. Oktober 2014 (Sonntag)
Die Zeit:
10 Uhr 45
Der Ort:
Dort wo früher der Tabac Saint Sulpice war
Das Wetter:
Blauer Himmel, wolkenlos
PEREC:
Was hat sich verändert im Vergleich zum Vortag? Auf den ersten Blick ist es wirklich
gleich. Vielleicht ist der Himmel verhangener? Es wäre wirklich Voreingenommenheit
zu sagen, dass es zum Beispiel weniger Menschen oder weniger Fahrzeuge gäbe?
ATMO 22
PEREC:
Viele Dinge haben sich nicht verändert, haben sich allem Anschein nach nicht
gerührt (die Buchstaben, die Symbole, der Brunnen, die zentrale Fläche, die Bänke,
die Kirche usw.); ich selbst habe mich an denselben Tisch gesetzt.
NICOLE:
26
Viele Dinge haben sich nicht verändert, haben sich allem Anschein nach nicht
gerührt (die Buchstaben, die Symbole, der Brunnen, die zentrale Fläche, die Bänke,
die Kirche usw.); ich selbst habe mich auf dieselbe Bank gesetzt.
PEREC:
Autobusse fahren vorbei. Ich verliere vollständig das Interesse an Ihnen.
ZITATOR:
Eilige Leute. Langsame Leute. Stürmer.
NICOLE:
Jogger mit neongelben Schuhen, mit neongelber Kleidung, mit Funktionskleidung,
mit ausgeleierten Sachen, mit schwarzen, mit weißen Hosen, mit Schlabberhosen,
Ringelshirts, Poloshirts, mit großen oder kleinen Kopfhörern, Jogger von links nach
rechts, von rechts nach links, über den Platz, über die Straße, Zehenläufer,
Fersenläufer, Walker, Spaziergänger, Ehepaare mit Mops, vorsichtig gehende
Rentner, watschelnde Touristen.
NICOLE:
Ein Fotograf, den ich gestern schon bemerkt habe, irrt umher, hält sich die Hand an
die Stirn, um die Sonne abzuschirmen. Wohin schaut er?
Musik Film
ANTJE:
Ein älterer Mann mit braunem Mantel und Schiebermütze, Hände verschränkt am
Rücken
NICOLE:
Wie ein Relikt aus einer anderen Zeit kommt aus der Rue du Vieux Colombier ein
alter Mann mit Schiebermütze, Sonnenbrille, Schal und weinrotem Mantel,
entsprechend der Jahreszeit, aber nicht entsprechend der Temperatur (außer der
Brille)
NICOLE:
Erneut der Fotograf mit Hand an der Stirn, er setzt seine Kamera auf mich an, dreht
ab, kuckt, schwarze Brille
PEREC:
Es ist Viertel nach elf
ARISTON:
Es ist Viertel nach elf
ATMO 23 Geschrei Frau Anfang bis ca. 2’00 näher kommend
NICOLE:
Ich ziehe um in die Vieux Colombier, Blickrichtung Platz
Dort sitzt auch der rote Klappstuhl
27
Von hinten vom Platz dringt Geschrei
ARISTON:
Der SWR trifft ein
Eine laut vor sich hin schreiende Frau läuft aus der Rue du Vieux Colombier
kommend in meine Richtung.
ANTJE:
Schreiende Afrikanerin, hält an, mit vielen Taschen bepackt.
NICOLE:
Eine Frau schreit agressiv (apfelgrün-weiße Plastiktüte à la Ikea)
NICOLE:
Der Fotograf steht auf der Verkehrsinsel. Fotografiert er die schreiende Frau?
NICOLE:
Baptiste denkt nach, er liest seine Aufzeichnungen.
ANTJE:
Glockenschlag 3x. 11 Uhr 45
ANTJE:
Ein schwarzer Mann mit hellem Strohhut sitzt auf einer Bank; roter Schal, schwarze
Lederjacke, braune Hose, wippt mit den Beinen
PEREC:
Eine Taube läßt sich auf der Spitze des Laternenpfahls nieder
ANTJE:
Eine Taube, ganz starr, mit dem Schnabel auf dem Boden 11Uhr55
Die Taube steht, liegt noch nicht, bewegt sich nicht
Eine Frau fällt fast über die Taube, die Taube bewegt ganz leicht den Schnabel
Glockenläuten häufig Kirche 1
Glockenläuten Kirche 2, lautes, kräftiges Läuten
Kirchenglocken 12 Uhr
Ein Mann schaut ob die Taube sich bewegt, ein anderer Mann schaut die Taube
zweimal an
Keine Bewegung der Taube
Ein Mädchen schaut auf die Taube und schiebt Blätter an die Taube, keine Regung
28
Ein Junge springt auf und sieht die Taube, spricht mit ihr, springt, um sie zu
erschrecken, keine Regung der Taube
11 Minuten ohne Regung dieser Taube
ATMO 24 Glockenschläge 12h bei 6’31 und 7’31, Martinshorn, Motorrad
PEREC:
Pause / Pause
ANTJE:
12 Uhr 07.
Der schwarze Mann mit dem hellen Strohhut, charismatisch, strahlend geht auch zur
Taube und spricht mit ihr.
PEREC:
Das Datum: 19. Oktober 1974
Die Zeit:
12 Uhr 30
Der Ort:
Auf einer Bank in strahlender Sonne, inmitten der Tauben, mit Blick in Richtung
Brunnen (Verkehrslärm von hinten)
Das Wetter:
Es hat plötzlich aufgeklart.
NICOLE:
Das Datum: 19. Oktober 2014
Die Zeit:
12 Uhr 30
Der Ort:
Auf einer Bank in strahlender Sonne, inmitten der Tauben, mit Blick in Richtung
Brunnen (Verkehrslärm von hinten)
Das Wetter:
Es ist immer noch sonnig, (leichter Wind)
ATMO 25
PEREC:
Die Tauben sind quasi reglos. Dennoch ist es schwierig, sie zu zählen (200
vielleicht); mehrere haben sich mit angewinkelten Beinen hingelegt. Es ist die Zeit
ihrer Toilette (mit dem Schnabel zupfen sie am Kropf oder den Flügeln); einige haben
29
sich auf dem Rand der dritten Brunnenschale niedergelassen. Menschen kommen
aus der Kirche
NICOLE:
Auf dem Platz eine reglose Taube, wie versteinert sitzt sie da, den Schnabel am
Boden als wäre sie bei ihrer letzten Nahrungsaufnahme erstarrt
ARISTON:
Eine reglose Taube, stehend, etwa 20 Meter neben mir. Ihr Schnabel berührt den
Boden. Viele Leute bleiben stehen, gaffen, laufen weiter. Vor der Kirche: eine Traube
von Touristen
ANTJE:
12 Uhr 30 Taube reglos (seit 35 Minuten)
ARISTON:
Die Taube hat einen starren Blick. Keine weiteren Tauben auf der Place.
NICOLE:
Tauben sitzen oben auf dem Brunnen. Hin und wieder landet eine. Die meisten auf
dem Rand der dritten Brunnenschale
NICOLE:
Ein Asiate fotografiert seine Frau auf einem weißen Roller
NICOLE:
Auf der äußersten Bank sitzt wieder der Lockenkopf mit seiner Stofftasche
NICOLE:
Eine weitere Asiatin in Joggingkleidung beobachtet die Taube, umrundet sie
NICOLE:
Die Taube noch immer reglos, direkt neben einer Skulptur, die mit roten Kordeln
geschützt ist
NICOLE:
Ein Hündchen reckt den Hals nach der Taube
ARISTON:
Oben auf dem Brunnen entdecke ich Tauben. Keine Ahnung, wie lange sie schon
dort sind
PEREC:
Tauben waschen sich im Brunnen; sie bespritzen sich und kommen ganz zerzaust
heraus
NICOLE:
Die Tauben sind nur am 3. Brunnenrand. Die erstarrte Taube unverändert
Immer wieder halten Passanten an und wundern sich
30
Ein Mann, der wie ein Voodoo-Priester aussieht, mit Stock und Havannahut, scheint
in Verbindung mit der reglosen Taube zu stehen
Ein paar Tauben oben am Fuß des Denkmals. Einzelne Tauben baden im Brunnen
PEREC:
Die Tauben zu meinen Füßen haben einen starren Blick. Die Menschen, die sie
betrachten, ebenfalls.
NICOLE:
Caroline, die Australierin geht am Platz vorbei, mit starrem Blick
ANTJE:
12 Uhr 51 1mm Zucken des aufgestellten Schnabels.
NICOLE:
Es ist sonnig und warm.
ARISTON:
Die Sonne strahlt kräftig. Es ist nahezu windstill.
PEREC:
Die Sonne hat sich versteckt. Es ist windig.
PEREC:
Das Datum: 19. Oktober 1974
Die Zeit:
14 Uhr
Der Ort:
Tabac Saint-Sulpice
parallel:
NICOLE:
Das Datum: 19. Oktober 1974
Die Zeit:
14 Uhr
Der Ort:
auf der Treppenstufe vor dem Laden „Sequoia“ Rue du Vieux Colombier, dort wo
früher der Tabac Saint-Sulpice war
PEREC:
Ich sitze hier ohne zu schreiben, seit Viertel vor eins; ich habe ein Wurstsandwich
gegessen und dazu ein Glas Bourgeil getrunken. Dann mehrere Kaffees.
31
PEREC:
Der Himmel ist grau. Vorübergehende Aufheiterungen.
Ermüdung des Sehens:
Zwangsvorstellung von apfelgrünen 2CVs.
ATMO 27
NICOLE:
Ariane und Ariston setzen sich zu uns auf die Treppenstufe. Baptiste sitzt auf seinem
Klappstuhl um die Ecke in der Colombier.
NICOLE:
14 Uhr 19 Blätter im Wind auf Trottoir.
PEREC:
Vorbeigehen einer Frau; sie isst ein Tortenstück
NICOLE:
Wieder der Lockenkopf mit dem Stoffbeutel. - Was macht er?
NICOLE:
Ariane springt auf, rennt los und schreckt dabei die Tauben auf, sie winkt jemandem,
der wie sie eine rote Hose trägt. Arianes Freund.
Erzählerin:
Renko setzt sich zu uns auf die Treppe.
RENKO:
Ich setze mich in den Eingang des Geschäfts „Sequoia“.
ARISTON:
Zuwachs aus Deutschland: ein weiterer Perec-Jünger.
PEREC:
Ich höre: „Es ist Viertel nach drei“
NICOLE:
Ich höre eine einsetzende Kreissäge
NICOLE:
15 Uhr 21 Erschöpfung, Rückenschmerzen
NICOLE:
Claire läuft über den Zebrastreifen in Richtung Café de la Mairie, immer noch in
Mantel und Bommelmütze, sie sieht uns nicht.
PEREC:
Mir ist kalt. Ich bestelle einen Marc.
32
NICOLE:
Taxi grün
Kalter Po
Müde Augen
NICOLE:
Das Geräusch einer Kreissäge, immer wieder. Woher?
NICOLE:
Arianes Freund verteilt Macaron, er packt ein hellbraunes Törtchen aus und lässt
Antje davon abbeißen.
PEREC:
Vorbeigehen eines Mannes, der einen Kuchen isst.
ARISTON:
1 Macaron in meiner Hand. „Merci.“
NICOLE:
Macaron von Pierre Hermé.
ATMO 28 15 Uhr 30
NICOLE:
Eine Frau im beigen Trench(coat) fragt uns was wir machen
ARIANE:
Une dame nous dit „C’est Perec?“
OT 47 Medici:
Ah, Perec. Je connais toute la Place. Je suis née dans le quartier, baptisée dans
l’église. C’est une très belle place. Mais je ne sais pas s’il l’a décrit très bien. L’esprit
de la place.
Erzählerin ov:
Die Dame kennt den Platz sehr gut, wurde hier im Viertel geboren und in der Kirche
getauft.
NICOLE:
Disput über Georges Perec, der sie nicht interessiert.
Erzählerin ov:
Ob Perec den Platz sehr gut beschrieben hat, weiß sie nicht. Den Geist des Platzes.
NICOLE:
Ihre Collegeschuhe sehen aus, wie in den 80ern gekauft
OT 48 Medici:
33
C’est ce qui est intéressant dans la place c’est pas décrire le géoquotidien, c’est
l’esprit de la place. R: C’est quoi l’esprit pour vous. M: ah ben, l’esprit de la place est
beaucoup plus intéressant que ce qu’raconte Perec. C’est le Curie de Saint Sulpice,
c’est très bref, il faut visiter l’église.
Erzählerin:
Das, was den Platz ausmacht, ist ihrer Meinung nach die Kirche und viel
interessanter als das Alltägliche, was Perec da erzählt.
NICOLE:
Die Dame tippt auf ihrem i-phone herum, als google sie nach einer Bestätigung ihrer
Thesen.
OT 49 Medici:
Il y a Catherine de Medici qui a construit le Palais du Luxembourg. Catherine de
Medici, N: ah! tout Ca c’est dans ma tête. Donc la femme de Henry IV. où trois?
Construit ou Marie de Medici plutôt? Attendez il faut que je vérifie parce que je suis
française. Je n’ai pas le droit de me tromper. (weiter als Atmo)
Erzählerin ov:
Hat nun Catherine de Medici oder Marie de Medici die Kirche erbaut? Sie muss das
prüfen. Als Französin hat sie kein Recht sich zu irren, meint die Dame.
ARIANE:
La dame donne une leçon d’histoire à la femme au micro.
RENKO:
Sie fängt ungefragt an, einen Vortrag über die Kirche Saint-Sulpice zu halten.
NICOLE:
Die Kirche hat also den Platz geschaffen, verstehe ich.
PEREC:
Die Glocken von Saint-Sulpice beginnen zu läuten, vielleicht für die Hochzeit. Die
großen Türen der Kirche sind geöffnet.
OT 50a Medici:
Ah, c’est ce que vous intéresse c’est Perec, (wir: oui!) c’est pas Marie de Medici?!
NICOLE:
Mir fällt auf, dass ihr Trenchcoat leicht angeschmuddelt ist
OT 50d Medici:
Ah, c’est un événement.
NICOLE:
Der Mantel könnte direkt aus dem Jahr 1974 stammen.
RENKO:
34
Sie fügt hinzu, dass Perec der spirituellen Wirkung des Platzes nicht würdig sei und
dass seine Beschreibungen nicht gut sein können.
OT 51 Medici:
Georges Perec c’est un athée, il est a coté de l’esprit de la place forcement. il est a
côté de l’esprit de la Place. L’esprit de la place c’est l’église et le séminaire.
NICOLE:
Der Geist des Platzes sind Kirche und Priesterseminar. Und Perec ein Atheist.
PEREC:
Einzug des Hochzeitszuges in die Kirche.
NICOLE:
In Saint-Sulpice wurde der Marquis de Sade getauft.
OT 52 Medici:
Ah oui, oui. J’ai vu des extraits de ce livre. J’ai pas lu en entier, parce que ça
m’adresse pas de le lire. Mais ce que je ne comprends pas, il décrit le quotidien de la
place. C’est pas le quotidien de la place qui est intéressant. C’est l’esprit de la place.
Erzählerin:
Das Alltägliche in Perecs Werk ist einfach nicht ihr Ding.
RENKO:
Sie läuft mit verständnisloser Miene davon.
NICOLE:
Gegenüber an der Straßenecke steht wieder der Fotograf.
Geräusch Klick Smartphone
NICOLE:
Es ist kurz vor vier.
OT 53 Photo:
François, c’est mon nom, mon nom de photographe, Soetemondt voilà.
Erzählerin ov:
François hat in zwei Tagen um die 800 Fotos gemacht. Seine Fotos sieht er als
visuelle Entsprechung zu Perecs Text. Auch er hat diesen repetitiven Ansatz, macht
Serien von Leuten, Serien von Autos, von Sitzenden, Stehenden, Gehenden, ähnlich
wie Perec. Aber er ist nicht so eingeschränkt wie seine literarischen Kollegen, da er
sich auf dem Platz frei bewegen kann.
OT 54 Photo:
J’apporte le complément visuel de son texte. J’ai aussi cet approche un peu
répétitive, voilà, passe une personne, passe un bus, passe une voiture et cetera.
Donc je fait des séries de gens, des séries de voitures, je fais des gens assis, des
gens debout, des gens qui marchent, voila, dans le même sens. Mais je ne me suis
35
pas imposé la même, la même restriction que mes amis littéraires parce que moi j’ai
bougé, eux se sont fixé, voilà. - On a beaucoup de chance qu’il fait super beaux. En
photo, ca aide. Hupe
ATMO 29 Blindenampel
NICOLE:
Gegenüber ein Mann mit grauen Haaren und Bart auf einem Poller sitzend, daneben
ein weißes Hündchen mit Knopfaugen, Blick zu uns (beide?)
Schreibt der Mann?
Das Hündchen sitzt jetzt.
Ist jetzt endlich halb fünf?
PEREC:
Es ist halb fünf.
Zwischenszene
OT 55 Ariston:
Du machst ja im Prinzip gar keinen Feierabend. Deine Gedanken sind so in diesem
Schema verhaftet, ja du machst einfach weiter, stehst in der U-Bahn und kuckst dir
die Schuhe von Leuten an, kuckst dir eigentlich nur die Schuhe von Leuten an und
dann vergleichst du: braune spitze, schmutzige, Hochglanzschuhe, was weiß ich,
Sandalen, Schlappen, Socken, alles mögliche und dann gehste hoch, so kuckst die
Leute an in ihre Gesichter, machst das gleiche mit Hautfarbe mit Haaren, mit
Frisuren, mit Klamotten usw. das hört nicht auf bis du einschläfst und was dann
nachts in deinen Träumen passiert, keine Ahnung.
III.
Fenster ATMO Paris 1974
PEREC:
Das Datum: 20. Oktober 1974 (Sonntag)
Die Uhrzeit:
11 Uhr 30
Der Ort:
Café de la Mairie
Das Wetter:
Regnerisch. Nasser Boden. Vorübergehendes Aufklaren
NICOLE:
Das Datum: 20. Oktober 2014 (Montag)
36
Die Uhrzeit:
11 Uhr 30
Der Ort:
Café de la Mairie
Das Wetter:
bedeckt, es hat deutlich abgekühlt
ATMO 30
Erzählerin:
Ariston, Antje, Baptiste und ich sitzen nebeneinander auf der Terrasse des Cafés.
Renko fehlt. Carolines und Claires Perec-Experiment scheint durch Hitze und
Ausdünnen endgültig beendet.
ZITATOR:
Nichts fällt uns auf. Wir vermögen nichts zu sehen.
NICOLE:
11 Uhr 33 der Lockenkopf mit der Jutetasche „Buchhandlung Walter König“ läuft vom
Kirchenvorplatz zum Café, setzt sich unter das Vordach, schreibt aber nicht.
ANTJE:
Mann mit Wuschelkopf mit Beutel Schriftzug Buchhandlung Walter König (Perec?)
NICOLE:
11 Uhr 39 Ariane nimmt Platz
NICOLE:
Der Lockenkopf liest in einem Buch (der Titel ist nicht erkennbar)
Statt „Zwangsvorstellung apfelgrüner 2CVs“, Zwangsvorstellung von Lockenköpfen
mit Stoffbeuteln?
ARIANE:
Un homme fait de grandes bulles de savon à l’aide d’un lasso
Ov Ariane:
Ein Mann macht große Seifenblasen mit Hilfe eines Lassos
ANTJE:
Eine große Seifenblase über dem Platz
NICOLE:
Auf dem Platz vor der Kirche macht ein Mann riesige bunte Seifenblasen, die vom
Wind in Richtung Brunnen getragen werden.
ZITATOR:
37
Sich zwingen, das zu schreiben, was ohne Bedeutung ist, was das
Selbstverständlichste, das Allgemeine, das Glanzloseste ist.
ATMO 31 Aufheulen Motor Ferrari
PEREC:
Ein Vogel setzt sich auf die Spitze des Laternenpfahls
Es ist Mittag
Böe
ANTJE:
12 Uhr Kirchenglocken
NICOLE:
12 Uhr volles Geläut der Glocken von Saint-Sulpice
PEREC:
Augenblicke der Leere
NICOLE:
Mir ist kalt
ANTJE:
kalt, Himmel grau, weiße Wolken
ATMO 32
NICOLE:
Mein Bleistift fällt runter (Schwächeanfall?)
Der Lockenkopf?
Baptiste, der heute nicht auf seinem roten Klappstuhl sitzt, schaut nachdenklich auf
den Platz.
Erzählerin ov:
Baptiste hat versucht, Perecs Anleitung aus seinem Buch „Träume von Räumen“ zu
folgen. Wo er ganz einfach die praktische Aufgabe stellt, von Zeit zu Zeit die Straße
zu beobachten, mit etwas systematischer Aufmerksamkeit, sich dieser Beschäftigung
hinzugeben, sich Zeit zu lassen. Dinge die er seiner Meinung nach nicht gemacht
hat. Er hat sich nicht genug Zeit genommen.
OT 56 BAP:
J’ai essayé de suivre, comme j’avais dit peut être déja, le fameux travail pratique
qu’avait mené Perec à mon avis en vue de cette tentantive qu’il a publié dans
l’espèce d’espace, et qui demande simplement comme travail pratique d’observer la
rue de temps en temps, peut-être avec un souci un peu systématique, s’appliquer,
38
prendre son temps, chose qu’à mon avis je n’avais pas faite (lacht), je n’ai pas pris
mon temps.
ANTJE:
Die Sonne kommt raus, 12 Uhr 40
NICOLE:
12 Uhr 40 Die Sonne schiebt sich hinter einer Wolke hervor
ARIANE:
J’ai froid
NICOLE:
Es ist zwanzig vor eins
PEREC:
Es ist zwanzig vor eins.
PEREC:
Das Datum: 20. Oktober 1974
Die Uhrzeit:
13 Uhr 05
Der Ort:
Café de la Mairie
NICOLE:
Das Datum: 20. Oktober 2014
Die Uhrzeit:
13 Uhr 05
Der Ort:
Café de la Mairie
ATMO 34 a + b
PEREC:
Schon seit einer ganzen Weile steht ein Polizist reglos auf der Umrandung der
zentralen Fläche des Platzes, zwischen der Kirche und dem Brunnen, mit dem
Rücken zur Kirche und liest etwas.
ARISTON:
Schon seit einer ganzen Weile sitzt eine Chinesin reglos, in einen lila Anorak
eingepackt, auf einer der Parkbänke auf der Place gegenüber, das Gesicht in meine
Richtung.
ANTJE:
Eine Chinesin sitzt reglos auf der Bank, sie klappt ihre Kapuze über den Kopf.
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NICOLE:
Eine reglos auf der Bank sitzende Chinesin hat sich die Kapuze ihres Anoraks über
den Kopf gezogen.
NICOLE:
Das Gefühl von Luftverschmutzung
PEREC:
Aufklaren. Kein einziges Auto. Dann fünf. Dann eines.
NICOLE:
Baptiste kommt mit einem angebissenen Apfel in der Hand zurück
Ariane ist gegangen.
ARIANE:
Il n’est pas encore tout à fait 14 heure.
NICOLE:
Es wird immer frischer
Ein Blatt Papier weht vorbei
13 Uhr 22 die Tauben vor der Fontaine fliegen auf
ZITATOR:
Weitermachen.
Bis der Ort unwahrscheinlich wird
NICOLE:
13 Uhr 54 Lärm vom Platz
Kindergeschrei.
NICOLE:
Ein kleiner Sonnenstrahl
Der 97er
PEREC:
Vier Kinder. Ein Hund. Ein kleiner Sonnenstrahl. Der 96er.
ARISTON:
Es ist zwei Uhr
NICOLE:
Es ist zwei Uhr
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ANTJE:
Es ist zwei Uhr
PEREC:
Es ist zwei Uhr. Il est deux heures.
EPILOG
Erzählerin OV:
Baptiste geht es wie uns allen, das Schwierigste ist, sich darauf zu konzentrieren,
dass nichts passiert, denn es passiert die ganze Zeit etwas. Es ist unbefriedigend,
sich auf die Abwesenheit von etwas zu konzentrieren. Man sucht regelrecht nach
einer Aktion.
OT 57 Bap:
Le plus difficile, c’est de savoir où poser ses yeux, son regard, à quoi s’autoriser à
dire que là était effectivement il ne se passait à rien. Comme quelqu’un m’a dit: il se
passe toujours quelque chose. Quelqu’un m’a demandé c’est ce que nous faisions là,
m’a dit mais il se passe toujours quelque chose. On ne peut pas se passer de
l’absence de quelque chose. Ca n’est pas rassurant. On a la nécessité d’avoir une
action. D’avoir du tout, voilà. On veut voir une action.
ABSAGE
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