taz.die tageszeitung

Architekturbiennale: An der Front sozialer Konflikte
Alejandro Aravena präsentiert bei seiner Schau in Venedig das revolutionäre Bauen ▶ Seite 15
AUSGABE BERLIN | NR. 11031 | 22. WOCHE | 38. JAHRGANG
DIENSTAG, 31. MAI 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
Rassist will
kein Rassist
sein
H EUTE I N DER TAZ
Wegen BoatengZitat kritisierter
Gauland faselt weiter
AFD
BERLIN epd/dpa | Die Bundesre-
MUSIK MIT INHALT
Das krumme
Geschäft mit
den Bananen
DJ Antye Greie produ­
ziert einen Sampler, der
kurdische Kämpferinnen
präsentiert ▶ SEITE 13
MILCH MIT SCHUSS
100 Millionen Subven­
tion für Bauern ▶ SEITE 8
BERG MIT RÖHRE Was
bringt der neue Gott­
hard-Tunnel? ▶ SEITE 4
TV OHNE FRAU Män­
ner dominieren ▶ SEITE 18
gierung hat abfällige Äußerungen des AfD-Vizechefs Alexander Gauland über Nationalspieler Jérôme Boateng kritisiert.
Regierungssprecher
Steffen
Seibert sagte am Montag: „Dieser Satz, der da gefallen ist, das
ist ein niederträchtiger und
ein trauriger Satz.“ Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hatte Gauland so zitiert:
„Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen
einen Boateng nicht als Nachbarn haben.“ Gauland behauptete am Montag, er sei „natürlich kein Rassist“. Für ihn seien
Menschen, die Vorbehalte gegen
Nachbarn mit ausländischen
Wurzeln haben, keine Rassisten.
▶ Gesellschaft + Kultur SEITE 14
▶ Flimmern + Rauschen SEITE 18
▶ Berlin SEITE 21
Exdiktator
verurteilt
Fotos: M.Silvestri/laif, Selbstportrait
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Pegi*dis_tInnen!
JUSTIZ Lebenslange Haft
für den Tschader
Hissène Habré
Empfängnisverhütung und Fa­
milienplanung kommen nach
den Worten des türkischen
Präsidenten Recep ­Tay­yip
Erdoğan für „keine muslimi­
sche Familie“ in Frage. „Ich
sage ganz klar: Unser Nach­
wuchs wird zunehmen“, sagte
Erdoğan bei einer Ansprache in
Istanbul. „Sie reden von Emp­
fängnisverhütung und Fami­
lienplanung. Keine muslimi­
sche Familie kann eine solche
Geisteshaltung haben.“
Echt jetzt? verboten kommt da
ein ganz schlimmer Verdacht:
Ist Erdoğan in Wirklichkeit
­Katholizist? Und droht jetzt die
BERLIN taz | Ein Sondergericht
OBSTIMPORTE Auf Plantagen in Lateinamerika wird gegen Menschen-
und Arbeitsrechte verstoßen, beklagt die Hilfsorganisation Oxfam.
Von dort stammen auch Bananen und Ananas, die in deutschen
Supermärkten mit dem Siegel der „Rainforest Alliance“ als
besonders nachhaltig beworben werden ▶ SEITE 3
Christianisierung
des ­Morgenlandes?
Foto: Westend 61/mauritius images
in Senegal hat gestern den ehemaligen tschadischen Diktator
Hissène Habré zu lebenslanger
Haft wegen Verbrechen gegen
die Menschlichkeit verurteilt.
Der 73-Jährige sei unter anderen für Mord, Folter, Hinrichtungen und Vergewaltigung verantwortlich. „Staatsfeinde“ seien
„auf dem gesamten Staatsgebiet systematisch gejagt“ worden. Habré hatte 1982 bis 1990
regiert und kam 2015 vor Gericht. Menschenrechtsorganisationen begrüßten das Urteil
D.J.
als historisch. ▶ Ausland SEITE 10
▶ Meinung + Diskussion SEITE 12
TAZ MUSS SEI N
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20622
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KOMMENTAR VON STEFAN REINECKE ÜBER DIE AFD UND DEN FALL BOATENG
A
lexander Gauland ist nicht nur der
fähigste Kopf der AfD. Der Ex-CDUMann ist die Schlüsselfigur der Partei, weil er den rechtsradikalen HöckeFlügel mit westdeutschen Bürger verbindet, denen Gender-Mainstreaming und
Multikulti zu anstrengend sind, die Rassismus aber unfein finden. Gauland verkörpert geradezu den Mythos der Partei
– dass man gleichzeitig honoriger Konservativer sein kann und daneben ein
bisschen rechtsextrem. Der Aufstieg der
AfD verdankt sich ja genau dieser Mixtur
von Wohlanständigkeit und Hetze.
Die rhetorische Figur, die perfekt zu
dem Doppelspiel der AfD passt, ist Provokation samt Dementi, stets vor staunend
Ausweitung der Kampfzone
erregtem oder meist angewidertem Publikum. Auch der Fall Boateng, den Gauland zufolge echte Deutsche nicht als
Nachbarn ertragen wollen, scheint in
dieses Muster zu passen: Erst die Tabuverletzung, dann Vorwürfe gegen die Medien, am Ende diffuses Gemurmel, alles
sei ein Missverständnis.
Doch dieser Fall liegt anders. Dies ist
keine geschickt inszenierte Grenzverletzung, sondern ein ziemliches Debakel für die AfD. Denn dieser Fall legt den
bösartigen Kern der Rechtspopulisten
frei – sichtbar nicht nur für Rassismus­
experten, sondern auch für Begriffsstutzige. Boateng, der am Sonntag Kapitän
der deutschen Nationalelf war, ist für die
Hassökonomie der Rechten das falsche
Ziel. Kein Wunder, dass sich die Junge
Freiheit, Zentralorgan der Rechtspopulisten, die Haare rauft, weil Boateng doch
nun mal „fraglos Deutscher“ ist.
Wenn die AfD gegen Flüchtlinge und
Moscheen zu Felde zieht, kann sie leider
oft auf Sympathien hoffen. Doch Boateng zum unerwünschten Fremdling
im biodeutschen Volkskörper zu erklä-
Die AfD ist unter Gaulands
Führung auf dem Weg zur
völkischen Sekte
ren, dürfte auch für konservative Zeitgenossen als das erkennbar sein, was es ist:
Rassismus.
Der Fall Boateng ist für die Rechtspopulisten ein Propaganda-GAU. Denn er erhellt schlaglichtartig die Logik der populistischen Rhetorik. Die Kampfzone muss
ausgeweitet werden. Die Beleidigungen
müssen heftiger, die Bilder drastischer,
die Feinde zahlreicher werden. Gauland
& Co zielen nicht mehr nur auf Migranten und Muslime, sie machen Stimmung
gegen alles, was nicht ethnisch deutsch
ist. Das ist nicht mehr nur rechtspopulistisch. Die AfD ist unter Gaulands Führung auf dem Weg zur völkischen Partei.
Und zur radikalen Sekte.
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
NACH RICHTEN
PARTEIVORSTAN D BESCH LI ESST ZEH N-PUN KTE-PLAN
BAKTERI EN I N WURST
SPD ruft zu Jagd auf Steuerbetrüger
Firma ruft gesamte
Ware zurück
BERLIN | Die SPD macht beim
Gegen die Arbeitsreform: CGT-Chef
Philippe Martinez Foto: reuters
Gewerkschafter
mit Charisma
P
hilippe Martinez ist der
Vorsitzende der größten
und ältesten Gewerkschaft
Frankreichs, der vor 120 Jahren
gegründeten Confédération générale du travail (CGT). Derzeit
gilt er vielen als Staatsfeind
Nummer eins – wegen seiner
führenden Rolle im Kampf gegen die Arbeitsmarktreform der
Regierung von Premierminister
Manuel Valls. Der konservative
Figaro porträtiert diesen Drahtzieher der Streiks und Straßenblockaden als „den Mann, der
Frankreich in die Knie zwingen
will“. Andere Medien beschreiben den Konflikt als persönlichen Hahnenkampf zwischen
Valls und Martinez.
Der 55-jährige ehemalige
Renault-Arbeiter hat sich im
Verlauf des eskalierenden Konflikts nicht nur als kompromissloser Gegner der Regierungspolitik erwiesen, sondern auch
als geschickter Taktiker, der es
verstanden hat, mit relativ beschränkten Mitteln den Druck
auf die Staatsführung in kürzester Zeit auf ein Maximum
zu erhöhen. Seine Kritiker werfen ihm vor, er sei in Wirklichkeit nur aus Schwäche so radikal.
Valls und Hollande haben ihn
aber zweifellos unterschätzt.
Denn er war eigentlich fast
per Zufall, als Lückenbüßer, 2015
an die Spitze der CGT gewählt
worden, weil sein Vorgänger wegen der Luxusrenovierung seiner Dienstwohnung abtreten
musste. Schnell hat sich Martinez einen Namen gemacht, indem er den Verband, der seit
Jahren an Einfluss einbüßt, auf
einen kompromisslosen Kurs
der Verteidigung aller gewerkschaftlichen Errungenschaften
der Vergangenheit brachte.
Inzwischen weiß man, dass
Martinez Charisma hat. Wegen
seines Schnurrbarts wird er mit
Asterix oder mit dem Bauernrebell José Bové verglichen. Er versteht es, seinen proletarischen
Look als Trumpf einzusetzen.
Er wohnt in einem Vorort und
fährt einen alten Gebraucht­
wagen. Politisch und gewerkschaftlich engagiert ist er seit
seiner Jugend im Pariser Vorort
Rueil-Malmaison.
Warum Martinez 2002 aus
dem Kommunistischen Partei
ausgetreten ist, will er nicht sagen. Kein Geheimnis aber ist es,
dass er ein großer Fan des FC
Barcelona ist – wie Valls, der wie
er spanische Wurzeln hat. Die
beiden Amigos wären eigentlich fast prädestiniert, sich bestens zu verstehen. RUDOLF BALMER
Der Tag
DI ENSTAG, 31. MAI 2016
Kampf gegen Steuerhinterziehung Druck. Der Parteivorstand
beschloss am Montag einen
Zehn-Punkte-Plan für ein härteres Vorgehen gegen Steuerbetrüger, der am Sonntag vom Parteikonvent verabschiedet werden soll. Die SPD will erreichen,
dass der Staat rechtswidrige Gewinne und aus Straftaten stammende Vermögenswerte konsequenter abschöpfen kann.
„Wir drehen die Beweislast
um“, heißt es in dem Papier.
Die Beschuldigten müssten
demnach den Nachweis erbringen, dass sie das Vermögen le-
gal erworben haben. Nach dem
Willen der SPD sollen Finanzanlagen in Offshore-Gebieten
verhindert und Unternehmen
bei ihrem Steuersitz zu mehr
Transparenz angehalten werden. Die Prüfstandards von Finanzämtern sollen vereinheitlicht, die Informationspflichten
von Steuerzahlern bei Geschäften mit Steueroasen erhöht werden. Banken, die Beihilfe zur
Vermögensverschleierung leisten, drohen „harte Sanktionen“.
Der Kampf gegen Steuerbetrug
hatte im Frühjahr durch die sogenannten
Panama-Papiere
neue Brisanz erhalten. (afp)
GERETSRIED | Nach dem Fund
von gesundheitsgefährdenden
Bakterien hat die bayerische
Fleischwarenfirma Sieber eine
Rückrufaktion für ihre gesamte
Ware gestartet. „In einigen Einzelfällen wurden in Schinkenund Wurstprodukten unseres
Unternehmens Listerien gefunden“, teilte Sieber mit. Die Produkte wurden aus dem Handel
genommen, die Verbraucher
sollen gekaufte Waren vernichten. Vom Rückruf sind gut 200
Produkte wie Aufschnitt, Leberkäse und vegetarische Erzeugnisse betroffen. (dpa)
TH EM EN-SCHWERPU N KTE
SYRISCH E GRENZE
Türkei baut
Selbstschussanlagen
Nachrichten ändern sich jeden
Tag, einige Themen bleiben. Die
taz bleibt dran, und auf taz.de
finden Sie in unseren dossierartigen Schwerpunkten alle Texte
zu einem Thema gesammelt,
übersichtlich und ausführlich.
ISTANBUL | Die Türkei baut an
der Grenze zu Syrien Medien zufolge Selbstschussanlagen zum
Schutz vor illegalen Grenzübertritten. Dabei handele es sich
um „intelligente Wachtürme“,
die mit Wärmebildkameras und
Maschinengewehren ausgerüstet seien, so die regierungsnahe
Yeni Safak unter Berufung auf
das Verteidigungsministerium.
Sollten sich „Elemente“ auf 300
Meter nähern, werde zunächst
ein Warnruf in mehreren Sprachen ausgelöst. Werde dem
nicht Folge geleistet, werde das
Feuer eröffnet. (dpa)
Nachrichten
Analysen
Übersicht
www.taz.de
Fluten, mit denen keiner gerechnet hat
HOCHWASSER Enorme Regenmengen haben ganze Regionen im Südwesten Deutschlands überrascht.
Vier Menschen sterben, ein Dorf ist von Geröllmassen verwüstet. Schuldige sind nicht so leicht auszumachen
AUS STUTTGART BENNO STIEBER
Die Flut kam innerhalb von Sekunden. In der Nacht zum Montag sei plötzlich eine drei bis vier
Meter hohe Wasserwand die
Straße heruntergeschossen, berichten die Einwohner aus dem
kleinen Örtchen Braunsbach
im Norden von Baden-Württemberg. Bilder von HandyKameras zeigen braune Fluten
aus Geröll, Schlamm und Wasser, die sich eine Schneise durch
das 900-Einwohner-Dorf bahnt
und dabei Autos und einen Rettungswagen wie Treibholz mit
sich reißt. Gebäude wurden
zum Teil schwer beschädigt, Tote
und Verletzte hat der Ort jedoch
nicht zu beklagen.
Anders im 50 Kilometer entfernten Schwäbisch Gmünd: Ein
21-jähriger Mann wurde dort in
einer Unterführung von den
Wassermassen überrascht. Ein
Feuerwehrmann versuchte ihn
zu retten. Beide Männer wurden in einen Kanal gesogen und
konnten nur noch tot geborgen
werden. In der ganzen Stadt waren sämtliche Unterführungen
mit Wasser voll gelaufen.
Insgesamt forderte das
stärkste Hochwasser in BadenWürttemberg seit 20 Jahren vier
Tote. Auf dem Neckar wurde die
Schifffahrt eingeschränkt, Audi
in Neckarsulm musste die Produktion einstellen. Im ganzen
Land waren über 7.000 Rettungskräfte im Einsatz. „Hier
ist alles im Einsatz, was laufen
kann“, sagte ein Polizeisprecher
in Heilbronn.
Inzwischen sieht es nach Entwarnung aus. In der Nacht auf
Dienstag werde der Scheitel-
punkt der Hochwasserstände
erreicht, vermeldete die Hochwasservorhersagezentrale in
Karlsruhe. Die Ursache für die
Flut ist auch für Experten nicht
leicht zu analysieren. Die betroffenen Orte liegen bei Weitem nicht alle in HochwasserRisikoregionen, die Pegelstände
der großen Flüsse waren nicht
extrem. Hauptursache sei die
enorme Regenmenge von bis
zu 100 Litern pro Quadratmeter. Sie sei zustande gekommen,
weil das Gewitter nur langsam
weitergezogen sei. Meteorolo-
„Mir krieges ­
wieder hin“
EINE BEWOHNERIN DES
VERWÜSTETEN DORFS BRAUNSBACH
IN BADEN-WÜRTTEMBERG
gen sprechen von einer „druckschwachen Wettersituation“.
Wissenschaftler wie auch
Experten der Naturschutzverbände beobachten eine Häufung solcher extremer Wetterlagen, die sie auf eine langfristige
Klimaveränderung zurückführen. Politik und Katastrophenschutz müssten sich solche Phänomene genau anschauen und
daraus Schlüsse für den Hochwasserschutz auch außerhalb
der klassischen Risikoregionen
ziehen, sagte Jörn Birkmann
vom Institut für Raumplanung
der Universität Stuttgart.
Die Politik hielt sich mit
schnellen Reaktionen zurück.
Das Umweltministerium verwies auf gestiegene Investitionen beim Hochwasserschutz
in den letzten Jahren. Für Ursachenforschung zum Hoch-
Die Flut ging, ein Gerölllawine blieb: Braunsbach in Baden-Württemberg Fotos: Kai Pfaffenbach/reuters, Christoph Schmidt/dpa
Wassermengen, gegen die nichts hilft
RISIKO
wasser von Sonntagnacht sei es
jedoch noch zu früh, sagte ein
Sprecher. Mit Rücksicht auf die
Aufräumarbeiten wollen Ministerpräsident Kretschmann
(Grüne) und Innenminister
Strobl (CDU) Braunsbach und
andere betroffene Orte erst in
den nächsten Tagen besuchen.
In Braunsbach bietet sich
Stunden später immer noch
ein Bild der Verwüstung. Das
Wasser ist fort, die Geröllmassen sind geblieben und haben
Autos und Straßen unter sich
begraben. Im Ort sei die Trinkwasserversorgung zusammengebrochen. 120 Menschen müssten von Notfallseelsorgern betreut werden. Trotzdem übten
sich einige Braunsbacher mit
Optimismus. Eine Bewohnerin:
„’S wird dauern, aber mir krieges wieder hin.“
THEMA
DES
TAGES
Immer häufiger sind von Wetterkatastrophen auch Gebiete betroffen, die bisher nicht überschwemmt worden sind
STUTTGART taz | Am Tag nach
der Unwetterkatastrophe von
Schwäbisch Gmünd und Braunsbach hüten sich auch Naturschutzverbände vor schnellen
Schuldzuweisungen.
Natürlich, man müsse den Gewässern mehr Raum für Überschwemmungen geben, sagt
die stellvertretende Geschäftsführerin des Naturschutzbundes Baden-Württemberg, Ingrid Eberhardt-Schad. Selbstverständlich müsse man der
Bodenversiegelung entgegenwirken, sagt der Vorsitzender
des BUND in der betroffenen Region Heilbronn-Franken, Jürgen
Hellgardt. Aber ob das alles bei
Wassermengen von bis zu 100
Litern pro Quadratmeter ausreichen würde, um Katastrophen wie in Braunsbach zu verhindern, da sind sich auch die
Experten der Naturschutzverbände nicht sicher.
Tatsache ist: Für den Hochwasserschutz wurde im Südwesten in den letzten Jahren
eine Menge getan. Mit Renaturierungsprojekten an Rhein
und anderen großen Flüssen
und in Hochwasser-Risikogebieten baute die Landesregierung
Rückhalteflächen zur Überflutung. Viele Gemeinden fühlen
sich gar schon in der Ortsentwicklung eingeschränkt, da Risikoflächen, die vom Land ausgewiesen werden, nicht bebaut
werden dürfen. Sie klagen gegen
das Land.
Auch das eigens für Extremlagen eingerichtete Hochwasservorhersagezentrum in
Karlsruhe lieferte auch Sonntagnacht offenbar zuverlässige
Daten. All diese Vorkehrungen
werden vornehmlich für Hochwasser-Risikoregionen getroffen. Doch Extremwetterlagen,
wie Sonntagnacht verschonen
auch Orte nicht, die nicht in Risikogebieten liegen.
Diese
Wetterphänomene
häufen sich nach Beobachtung
der Meteorologen. „Hochwasser kommt in solchen Regionen
plötzlich, aber inzwischen ganz
regelmäßig“, sagt Jörn Birkmann vom Institut für Raumordnung und Entwicklungsplanung der Universität Stuttgart.
Er fordert, aus solchen Phäno-
menen, die durch den Klimawandel häufiger werden, zu
lernen. „Wir dürfen das Hochwasser nicht mehr nur an den
Flüssen suchen“, sagt Birkmann,
womöglich seien auch für Starkregen-Regionen fernab von
Rhein und Neckar Risikoeinstufungen notwendig.
Jürgen Hellgardt vom BUND
erwartet von der Politik jetzt
eine fundierte Analyse, und
ein Gesamtkonzept. „Da muss
mehr kommen, als nur mehr
Geld für größere Rückhaltebecken.“
BENNO STIEBER
Schwerpunkt
Unfairer Handel
DI ENSTAG, 31. MAI 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Eine neue Studie kritisiert die Arbeitsbedingungen auf zertifizierten
Obstplantagen. Die Früchte werden hierzulande viel gekauft
Süß für Verbraucher, bitter für Arbeiter
ERNÄHRUNG Rainforest Alliance ist eines der populärsten Nachhaltigkeitssiegel für Bananen und Ananas.
Aber auch auf zertifizierten Plantagen würden Menschenrechte verletzt, sagt die Hilfsorganisation Oxfam
VON JOST MAURIN
BERLIN taz | Das hören Verbrau-
cher gern: Farmen, die das Nachhaltigkeitssiegel der US-Umweltorganisation Rainforest Alliance haben, „verringern den
Einsatz von chemischen Mitteln“. So steht es auf der Internetseite der Initiative mit dem
grünen Frosch als Logo. Und:
„Sie sorgen für das Wohlergehen ihrer Arbeiter und deren
Familien.“
Deshalb klebt der Frosch bereits auf allen Ananas und fast
allen Bananen der Supermarktkette Lidl. Auch bei Edeka und
Rewe tragen die meisten das
Siegel. Aldi Nord und Süd wollen nach einer Umfrage der Organisation Oxfam demnächst
komplett bei beiden Fruchtarten auf Rainforest umstellen.
Doch selbst Bananen und
Ananas mit dem Frosch kom-
„Pestizide verbreiten
sich sehr schnell und
weit“, sagt Franziska
Humbert von Oxfam
men laut Oxfam mitunter von
Plantagen, auf denen gegen
Menschen- und Arbeitsrechte
verstoßen wird. Die Firmen hätten nicht besser abgeschnitten
als die Konkurrenz ohne das Siegel. Der Verband hat für eine am
Dienstag veröffentlichte Studie
Plantagen in Ecuador und Costa
Rica besucht und über lokale
Gewerkschafter sowie Umweltaktivisten mehr als 200 Arbeiter von 23 Plantagen befragen
lassen. Die beiden Länder wurden ausgewählt, weil Ecuador
Deutschland dem Statistischen
Bundesamt zufolge die meisten
Bananen liefert, Costa Rica die
meisten Ananas.
Die Mehrheit der befragten
Arbeiter auf den RainforestAlliance-Plantagen gaben laut
Oxfam an, dass sie immer wieder schutzlos Pestiziden ausgesetzt seien. So würden Flugzeuge Pestizide sprühen, während Menschen auf der Farm
sind. Oder sie müssten weniger als eine Stunde nach dem
Sprühen wieder aufs Feld. „Wir
machen uns große Sorgen, weil
wir unter dem Pestizidregen arbeiten müssen. Wir bekommen
Hautausschläge. Aber wenn
man sich beschwert, riskiert
Auf einer Bananenplantage in Machala, Ecuador Foto: Oxfam Deutschland
man, entlassen zu werden“, zitiert der Verband einen Arbeiter eines Lidl-Zulieferers.
Der ecuadorianische Exporteur Tropical Fruit Export bestreitet die Vorwürfe. Er verkauft
an Lidl Bananen des beschuldigten Produzenten Matías. Da die
Plantage so groß sei, könne in
einem Teil gesprüht werden,
obwohl sich in einem anderen
Teil Arbeiter aufhalten. „Pestizide verbreiten sich sehr schnell
und weit“, sagte dazu die Autorin
der Studie, Franziska Humbert.
Auch die costa-ricanische
Farm Agrícola Agromonte, von
der Edeka, Rewe und Aldi Süd
Ananas bezögen, sprühe häu-
fig Pestizide, wenn Arbeiter auf
dem Acker sind. Bei dem LidlProduzenten Finca Once in dem
mittelamerikanischen Land bekämen die Beschäftigten zwar
Schutzkleidung. Jedoch „ginge
diese schnell kaputt, und die
Ausgaben für Neuanschaffungen würden von ihrem Lohn
abgezogen“, sagen Betroffene
in dem Oxfam-Report.
Am meisten würden Arbeiter
über Schwindel- und Ohmachtsanfälle, Erbrechen und allergische Hautreaktionen klagen.
Die Finca nutze nach eigenen
Angaben zum Beispiel die von
der US-Umweltbehörde EPA als
„wahrscheinlich krebserregend“
klassifizierten Chemikalie Diu­
ron, Mancozeb und Oxyfluorfen
sowie das von der WHO als akut
toxisch eingestufte Oxamyl, das
bei Einatmung tödlich wirkt.
Finca Once schrieb dazu, Lidl
würde „jede Lieferung ständig“
auf Pestizide untersuchen lassen. Damit sind offenbar Rückstände in der Ware gemeint.
Aber nicht alle verwendeten
Mittel sind auch nach der Ernte
noch in der Frucht zu finden.
Die „meisten“ – also nicht alle
– Sprühaktionen fänden frühmorgens oder abends statt,
wenn keine Arbeiter auf dem
Feld seien, so Finca Once weiter.
Mehrere Befragte aus Costa
Rica erklärten, viele Feldarbeiter stammten aus Nicaragua.
Sie hätten keine Aufenthaltserlaubnis und würden über Mittelsmänner beschäftigt. Zahlreiche Arbeiter müssten bis zu
12 Stunden arbeiten, um auf
die rund 16 Euro Mindestlohn
zu kommen, die ihnen laut Gesetz schon für 8 Stunden zustünden. Existenzsichernd wäre ein
Lohn von mindestens 20 Euro.
Finca Once wies den Vorwurf zurück, den Mindestlohn zu unterschreiten. Agrícola-AgromonteAbnehmer Rewe und Edeka forderten von Oxfam konkretere
Informationen, um die Angaben zu prüfen.
Die meisten befragten Arbeiter auf den Bananen-Fincas in
Ecuador hätten über Entlassungen wegen Gewerkschaftszugehörigkeit berichtet, so Oxfam.
Ähnlich sei die Lage auf zwei
Ananas-Farmen in Costa Rica.
Wohl auch deshalb gaben die
meisten ecuadorianischen Befragten an, ihrer Meinung nach
würde ihr Unternehmen es nicht
zulassen, dass sie eine Gewerkschaftsgruppe gründen. LidlLieferant Tropical Fruit schrieb
dazu, seine Farm würde sich
nicht gegen eine Gewerkschaft
stellen. „Die Arbeiterschaft der
Plantage hat jedoch bis jetzt
keine gegründet.“
Rainforest Alliance teilte
mit, ihre bereits „eingeleiteten
Ermittlungen konnten die Anschuldigungen durch Oxfam
Deutschland nicht bestätigen“.
Man prüfe die Sache aber noch.
Oxfam-Autorin Humberts Urteil steht dennoch schon fest:
„Die Supermärkte kontrollieren das Aussehen der importierten Früchte penibel und geben
ganze Lieferungen bei kleinsten
Makeln zurück. Aber sie lassen
es zu, dass die Menschen, die sie
ernten, dabei vergiftet werden.“
Die Bundesregierung müsse
den Handel dazu verpflichten,
Menschen- und Arbeitsrechte
bei ihren Lieferanten durchzusetzen.
Die Suche nach dem besten Standard
Besonders begehrt als fair gehandelte Waren sind hierzulande Südfrüchte, Kaffee
und Blumen. Zu den verlässlicheren Gütesiegeln zählt laut Oxfam heute das Fairtrade-Siegel
AUGENHÖHE
BERLIN taz | Was kann ich guten
Gewissens noch kaufen? Diese
Frage werden sich viele Verbraucher stellen, nachdem die
Hilfsorganisation Oxfam Menschenrechtsverstöße auf Bananen- und Ananas-Plantagen
mit dem Siegel der Rainforest
Al­liance kritisiert hat.
Oxfam empfiehlt in ihrer Studie den Kauf von Produkten, die
mit dem Fairtrade-Siegel von
Transfair (siehe Abbildung un­
ten rechts) zertifiziert wurden.
Diese sollten am besten gleich-
zeitig das EU-Biosiegel tragen,
das chemisch-synthetische Pestizide verbietet.
Durch den Handel mit Fairtrade-Produkten soll langfristig, so die Hoffnung, eine Partnerschaft auf Augenhöhe zustande kommen. Fairtrade
garantiert dabei beispielsweise
durch seine Standards, dass sich
Arbeiter*innen in Gewerkschaften organisieren können und
dass der Einsatz von besonders
gefährlichen Pestiziden verboten ist.
03
Allerdings steht auch das
von Oxfam empfohlene Siegel
in der Kritik. So kam im April
2014 eine Studie der University
of London zu dem Schluss, dass
Arbeiter*innen konventioneller
Kaffee-, Tee- und Blumenplantagen in Kenia und Äthiopien
besser bezahlt wurden als ihre
Kolleg*innen auf Fairtrade-Plantagen. Seitdem seien die Standards von Fairtrade jedoch verbessert worden, sagt Franziska
Humbert von Oxfam: „Jedes
System hat seine Mängel. Doch
unter den vielen, die es gibt, ist
Fairtrade der beste Standard.“
Eine Milliarde Euro gaben
deutsche Verbraucher*innen
2014 für fair gehandelte Produkte aus. Das Fairtrade-Produktsiegel machte dabei mit
797 Millionen Euro (78 Prozent)
den größten Anteil am fairen
Handel aus. Spitzenreiter sind
neben Kaffee und Blumen die
Südfrüchte. 2014 machten sie
mit 53.800 Tonnen 10 Prozent
des Gesamtumsatzes im fairen
Handel aus. DANIEL KOSSMANN
EU-Bio-Logo
BananenRepubliken
Vom Fluch
der krummen Frucht
in Mittelamerika
GESCHICHTE
BERLIN taz | Bananen prägen die
Geschichte Mittelamerikas. Für
die sieben Staaten der Region –
Belize, Costa Rica, El Salvador,
Guatemala, Honduras, Nicaragua und Panama – sowie für
Ecuador und Kolumbien ist die
krumme Frucht bis heute ein
wichtiges Exportprodukt.
Für viele der kleinen mittelamerikanischen Staaten ist sie
jedoch eher Fluch als Segen. Darauf verweist auch der Begriff
der Bananenrepublik, der 1907
aufkam. Damals „überzeugten“
die USA die korrupte Diktatur in
Honduras davon, die Interessen
der United Fruit Company gegen
die Arbeiter durchzusetzen.
Das war kein Einzelfall, wie
die blutige Niederschlagung
der Aufstände der Bananenarbeiter 1928 in Kolumbien oder
der Sturz der Regierung von Jacobo Árbenz in Guatemala 1954
zeigt. In beiden Fällen ging es
um die Interessen der großen
US-Fruchtkonzerne, die über exzellente Kontakte in die Regierung und zum CIA verfügten. In
Guatemala stürzten sie 1954 die
progressive Regierung. Das hat
der Schriftsteller Gabriel García Márquez in Kolumbien literarisch verarbeitet, sein Kollege
Sie haben keine
Skrupel, hoch­
toxische Pestizide
einzusetzen
Miguel Angel Asturiasa, ebenfalls Nobelpreisträger, in Guatemala. Doch trotz der internationalen Aufmerksamkeit hat
sich an den Strukturen beim Export von Bananen, Ananas oder
Melonen aus der Region in die
USA und Europa wenig geändert. Immer noch kontrolliert
ein halbes Dutzend Konzerne
– darunter Chiquita, Dole und
die irische Fyffes – den Markt.
Sie haben keine Skrupel, hochtoxische Pestizide einzusetzen –
auch wenn sie in den USA oder
in Europa lange verboten sind.
International bekannt geworden ist das Beispiel des Wirkstoffs 1,2-Dibrom-3-chlorpropan
(DBCP), der unter dem Handelsnamen Nemagon und Fumazone im Einsatz war, um Fadenwürmer an den Stauden zu
bekämpfen. Obwohl seit Mitte
der 1970er Jahre bekannt war,
dass der Wirkstoff Krebs auslöst
und unfruchtbar macht, wurde
er in auf den Plantagen in den
„Bananenrepubliken“ weiterhin eingesetzt. Zehntausende
von Arbeiter*nnen wurden vergiftet. Bis heute haben nur wenige Entschädigungen erhalten.
In Costa Rica ist heute nach
wie vor das Herbizid Bromacil
im Einsatz, welches laut dem
Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN)
zum „dreckigen Dutzend“ der
besonders gefährlichen Schädlingsbekämpfungsmittel gehört. Dabei hat Costa Rica als
Ökokourismus-Destination einen relativ guten Ruf. Doch
beim Anbau der Südfrüchte
werden ungern Kompromisse
gemacht: Arbeits- und Umweltrechte sind nachrangig – in bester bananenrepublikanischer
KNUT HENKEL
Tradition.