Architekturbiennale: An der Front sozialer Konflikte Alejandro Aravena präsentiert bei seiner Schau in Venedig das revolutionäre Bauen ▶ Seite 15 AUSGABE BERLIN | NR. 11031 | 22. WOCHE | 38. JAHRGANG DIENSTAG, 31. MAI 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Rassist will kein Rassist sein H EUTE I N DER TAZ Wegen BoatengZitat kritisierter Gauland faselt weiter AFD BERLIN epd/dpa | Die Bundesre- MUSIK MIT INHALT Das krumme Geschäft mit den Bananen DJ Antye Greie produ ziert einen Sampler, der kurdische Kämpferinnen präsentiert ▶ SEITE 13 MILCH MIT SCHUSS 100 Millionen Subven tion für Bauern ▶ SEITE 8 BERG MIT RÖHRE Was bringt der neue Gott hard-Tunnel? ▶ SEITE 4 TV OHNE FRAU Män ner dominieren ▶ SEITE 18 gierung hat abfällige Äußerungen des AfD-Vizechefs Alexander Gauland über Nationalspieler Jérôme Boateng kritisiert. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte am Montag: „Dieser Satz, der da gefallen ist, das ist ein niederträchtiger und ein trauriger Satz.“ Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hatte Gauland so zitiert: „Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben.“ Gauland behauptete am Montag, er sei „natürlich kein Rassist“. Für ihn seien Menschen, die Vorbehalte gegen Nachbarn mit ausländischen Wurzeln haben, keine Rassisten. ▶ Gesellschaft + Kultur SEITE 14 ▶ Flimmern + Rauschen SEITE 18 ▶ Berlin SEITE 21 Exdiktator verurteilt Fotos: M.Silvestri/laif, Selbstportrait VERBOTEN Guten Tag, meine Pegi*dis_tInnen! JUSTIZ Lebenslange Haft für den Tschader Hissène Habré Empfängnisverhütung und Fa milienplanung kommen nach den Worten des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan für „keine muslimi sche Familie“ in Frage. „Ich sage ganz klar: Unser Nach wuchs wird zunehmen“, sagte Erdoğan bei einer Ansprache in Istanbul. „Sie reden von Emp fängnisverhütung und Fami lienplanung. Keine muslimi sche Familie kann eine solche Geisteshaltung haben.“ Echt jetzt? verboten kommt da ein ganz schlimmer Verdacht: Ist Erdoğan in Wirklichkeit Katholizist? Und droht jetzt die BERLIN taz | Ein Sondergericht OBSTIMPORTE Auf Plantagen in Lateinamerika wird gegen Menschen- und Arbeitsrechte verstoßen, beklagt die Hilfsorganisation Oxfam. Von dort stammen auch Bananen und Ananas, die in deutschen Supermärkten mit dem Siegel der „Rainforest Alliance“ als besonders nachhaltig beworben werden ▶ SEITE 3 Christianisierung des Morgenlandes? Foto: Westend 61/mauritius images in Senegal hat gestern den ehemaligen tschadischen Diktator Hissène Habré zu lebenslanger Haft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Der 73-Jährige sei unter anderen für Mord, Folter, Hinrichtungen und Vergewaltigung verantwortlich. „Staatsfeinde“ seien „auf dem gesamten Staatsgebiet systematisch gejagt“ worden. Habré hatte 1982 bis 1990 regiert und kam 2015 vor Gericht. Menschenrechtsorganisationen begrüßten das Urteil D.J. als historisch. ▶ Ausland SEITE 10 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 12 TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.919 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Der Aufstieg der AfD verdankt sich ja genau dieser Mixtur von Wohlanständigkeit und Hetze. Die rhetorische Figur, die perfekt zu dem Doppelspiel der AfD passt, ist Provokation samt Dementi, stets vor staunend Ausweitung der Kampfzone erregtem oder meist angewidertem Publikum. Auch der Fall Boateng, den Gauland zufolge echte Deutsche nicht als Nachbarn ertragen wollen, scheint in dieses Muster zu passen: Erst die Tabuverletzung, dann Vorwürfe gegen die Medien, am Ende diffuses Gemurmel, alles sei ein Missverständnis. Doch dieser Fall liegt anders. Dies ist keine geschickt inszenierte Grenzverletzung, sondern ein ziemliches Debakel für die AfD. Denn dieser Fall legt den bösartigen Kern der Rechtspopulisten frei – sichtbar nicht nur für Rassismus experten, sondern auch für Begriffsstutzige. Boateng, der am Sonntag Kapitän der deutschen Nationalelf war, ist für die Hassökonomie der Rechten das falsche Ziel. Kein Wunder, dass sich die Junge Freiheit, Zentralorgan der Rechtspopulisten, die Haare rauft, weil Boateng doch nun mal „fraglos Deutscher“ ist. Wenn die AfD gegen Flüchtlinge und Moscheen zu Felde zieht, kann sie leider oft auf Sympathien hoffen. Doch Boateng zum unerwünschten Fremdling im biodeutschen Volkskörper zu erklä- Die AfD ist unter Gaulands Führung auf dem Weg zur völkischen Sekte ren, dürfte auch für konservative Zeitgenossen als das erkennbar sein, was es ist: Rassismus. Der Fall Boateng ist für die Rechtspopulisten ein Propaganda-GAU. Denn er erhellt schlaglichtartig die Logik der populistischen Rhetorik. Die Kampfzone muss ausgeweitet werden. Die Beleidigungen müssen heftiger, die Bilder drastischer, die Feinde zahlreicher werden. Gauland & Co zielen nicht mehr nur auf Migranten und Muslime, sie machen Stimmung gegen alles, was nicht ethnisch deutsch ist. Das ist nicht mehr nur rechtspopulistisch. Die AfD ist unter Gaulands Führung auf dem Weg zur völkischen Partei. Und zur radikalen Sekte. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN PARTEIVORSTAN D BESCH LI ESST ZEH N-PUN KTE-PLAN BAKTERI EN I N WURST SPD ruft zu Jagd auf Steuerbetrüger Firma ruft gesamte Ware zurück BERLIN | Die SPD macht beim Gegen die Arbeitsreform: CGT-Chef Philippe Martinez Foto: reuters Gewerkschafter mit Charisma P hilippe Martinez ist der Vorsitzende der größten und ältesten Gewerkschaft Frankreichs, der vor 120 Jahren gegründeten Confédération générale du travail (CGT). Derzeit gilt er vielen als Staatsfeind Nummer eins – wegen seiner führenden Rolle im Kampf gegen die Arbeitsmarktreform der Regierung von Premierminister Manuel Valls. Der konservative Figaro porträtiert diesen Drahtzieher der Streiks und Straßenblockaden als „den Mann, der Frankreich in die Knie zwingen will“. Andere Medien beschreiben den Konflikt als persönlichen Hahnenkampf zwischen Valls und Martinez. Der 55-jährige ehemalige Renault-Arbeiter hat sich im Verlauf des eskalierenden Konflikts nicht nur als kompromissloser Gegner der Regierungspolitik erwiesen, sondern auch als geschickter Taktiker, der es verstanden hat, mit relativ beschränkten Mitteln den Druck auf die Staatsführung in kürzester Zeit auf ein Maximum zu erhöhen. Seine Kritiker werfen ihm vor, er sei in Wirklichkeit nur aus Schwäche so radikal. Valls und Hollande haben ihn aber zweifellos unterschätzt. Denn er war eigentlich fast per Zufall, als Lückenbüßer, 2015 an die Spitze der CGT gewählt worden, weil sein Vorgänger wegen der Luxusrenovierung seiner Dienstwohnung abtreten musste. Schnell hat sich Martinez einen Namen gemacht, indem er den Verband, der seit Jahren an Einfluss einbüßt, auf einen kompromisslosen Kurs der Verteidigung aller gewerkschaftlichen Errungenschaften der Vergangenheit brachte. Inzwischen weiß man, dass Martinez Charisma hat. Wegen seines Schnurrbarts wird er mit Asterix oder mit dem Bauernrebell José Bové verglichen. Er versteht es, seinen proletarischen Look als Trumpf einzusetzen. Er wohnt in einem Vorort und fährt einen alten Gebraucht wagen. Politisch und gewerkschaftlich engagiert ist er seit seiner Jugend im Pariser Vorort Rueil-Malmaison. Warum Martinez 2002 aus dem Kommunistischen Partei ausgetreten ist, will er nicht sagen. Kein Geheimnis aber ist es, dass er ein großer Fan des FC Barcelona ist – wie Valls, der wie er spanische Wurzeln hat. Die beiden Amigos wären eigentlich fast prädestiniert, sich bestens zu verstehen. RUDOLF BALMER Der Tag DI ENSTAG, 31. MAI 2016 Kampf gegen Steuerhinterziehung Druck. Der Parteivorstand beschloss am Montag einen Zehn-Punkte-Plan für ein härteres Vorgehen gegen Steuerbetrüger, der am Sonntag vom Parteikonvent verabschiedet werden soll. Die SPD will erreichen, dass der Staat rechtswidrige Gewinne und aus Straftaten stammende Vermögenswerte konsequenter abschöpfen kann. „Wir drehen die Beweislast um“, heißt es in dem Papier. Die Beschuldigten müssten demnach den Nachweis erbringen, dass sie das Vermögen le- gal erworben haben. Nach dem Willen der SPD sollen Finanzanlagen in Offshore-Gebieten verhindert und Unternehmen bei ihrem Steuersitz zu mehr Transparenz angehalten werden. Die Prüfstandards von Finanzämtern sollen vereinheitlicht, die Informationspflichten von Steuerzahlern bei Geschäften mit Steueroasen erhöht werden. Banken, die Beihilfe zur Vermögensverschleierung leisten, drohen „harte Sanktionen“. Der Kampf gegen Steuerbetrug hatte im Frühjahr durch die sogenannten Panama-Papiere neue Brisanz erhalten. (afp) GERETSRIED | Nach dem Fund von gesundheitsgefährdenden Bakterien hat die bayerische Fleischwarenfirma Sieber eine Rückrufaktion für ihre gesamte Ware gestartet. „In einigen Einzelfällen wurden in Schinkenund Wurstprodukten unseres Unternehmens Listerien gefunden“, teilte Sieber mit. Die Produkte wurden aus dem Handel genommen, die Verbraucher sollen gekaufte Waren vernichten. Vom Rückruf sind gut 200 Produkte wie Aufschnitt, Leberkäse und vegetarische Erzeugnisse betroffen. (dpa) TH EM EN-SCHWERPU N KTE SYRISCH E GRENZE Türkei baut Selbstschussanlagen Nachrichten ändern sich jeden Tag, einige Themen bleiben. Die taz bleibt dran, und auf taz.de finden Sie in unseren dossierartigen Schwerpunkten alle Texte zu einem Thema gesammelt, übersichtlich und ausführlich. ISTANBUL | Die Türkei baut an der Grenze zu Syrien Medien zufolge Selbstschussanlagen zum Schutz vor illegalen Grenzübertritten. Dabei handele es sich um „intelligente Wachtürme“, die mit Wärmebildkameras und Maschinengewehren ausgerüstet seien, so die regierungsnahe Yeni Safak unter Berufung auf das Verteidigungsministerium. Sollten sich „Elemente“ auf 300 Meter nähern, werde zunächst ein Warnruf in mehreren Sprachen ausgelöst. Werde dem nicht Folge geleistet, werde das Feuer eröffnet. (dpa) Nachrichten Analysen Übersicht www.taz.de Fluten, mit denen keiner gerechnet hat HOCHWASSER Enorme Regenmengen haben ganze Regionen im Südwesten Deutschlands überrascht. Vier Menschen sterben, ein Dorf ist von Geröllmassen verwüstet. Schuldige sind nicht so leicht auszumachen AUS STUTTGART BENNO STIEBER Die Flut kam innerhalb von Sekunden. In der Nacht zum Montag sei plötzlich eine drei bis vier Meter hohe Wasserwand die Straße heruntergeschossen, berichten die Einwohner aus dem kleinen Örtchen Braunsbach im Norden von Baden-Württemberg. Bilder von HandyKameras zeigen braune Fluten aus Geröll, Schlamm und Wasser, die sich eine Schneise durch das 900-Einwohner-Dorf bahnt und dabei Autos und einen Rettungswagen wie Treibholz mit sich reißt. Gebäude wurden zum Teil schwer beschädigt, Tote und Verletzte hat der Ort jedoch nicht zu beklagen. Anders im 50 Kilometer entfernten Schwäbisch Gmünd: Ein 21-jähriger Mann wurde dort in einer Unterführung von den Wassermassen überrascht. Ein Feuerwehrmann versuchte ihn zu retten. Beide Männer wurden in einen Kanal gesogen und konnten nur noch tot geborgen werden. In der ganzen Stadt waren sämtliche Unterführungen mit Wasser voll gelaufen. Insgesamt forderte das stärkste Hochwasser in BadenWürttemberg seit 20 Jahren vier Tote. Auf dem Neckar wurde die Schifffahrt eingeschränkt, Audi in Neckarsulm musste die Produktion einstellen. Im ganzen Land waren über 7.000 Rettungskräfte im Einsatz. „Hier ist alles im Einsatz, was laufen kann“, sagte ein Polizeisprecher in Heilbronn. Inzwischen sieht es nach Entwarnung aus. In der Nacht auf Dienstag werde der Scheitel- punkt der Hochwasserstände erreicht, vermeldete die Hochwasservorhersagezentrale in Karlsruhe. Die Ursache für die Flut ist auch für Experten nicht leicht zu analysieren. Die betroffenen Orte liegen bei Weitem nicht alle in HochwasserRisikoregionen, die Pegelstände der großen Flüsse waren nicht extrem. Hauptursache sei die enorme Regenmenge von bis zu 100 Litern pro Quadratmeter. Sie sei zustande gekommen, weil das Gewitter nur langsam weitergezogen sei. Meteorolo- „Mir krieges wieder hin“ EINE BEWOHNERIN DES VERWÜSTETEN DORFS BRAUNSBACH IN BADEN-WÜRTTEMBERG gen sprechen von einer „druckschwachen Wettersituation“. Wissenschaftler wie auch Experten der Naturschutzverbände beobachten eine Häufung solcher extremer Wetterlagen, die sie auf eine langfristige Klimaveränderung zurückführen. Politik und Katastrophenschutz müssten sich solche Phänomene genau anschauen und daraus Schlüsse für den Hochwasserschutz auch außerhalb der klassischen Risikoregionen ziehen, sagte Jörn Birkmann vom Institut für Raumplanung der Universität Stuttgart. Die Politik hielt sich mit schnellen Reaktionen zurück. Das Umweltministerium verwies auf gestiegene Investitionen beim Hochwasserschutz in den letzten Jahren. Für Ursachenforschung zum Hoch- Die Flut ging, ein Gerölllawine blieb: Braunsbach in Baden-Württemberg Fotos: Kai Pfaffenbach/reuters, Christoph Schmidt/dpa Wassermengen, gegen die nichts hilft RISIKO wasser von Sonntagnacht sei es jedoch noch zu früh, sagte ein Sprecher. Mit Rücksicht auf die Aufräumarbeiten wollen Ministerpräsident Kretschmann (Grüne) und Innenminister Strobl (CDU) Braunsbach und andere betroffene Orte erst in den nächsten Tagen besuchen. In Braunsbach bietet sich Stunden später immer noch ein Bild der Verwüstung. Das Wasser ist fort, die Geröllmassen sind geblieben und haben Autos und Straßen unter sich begraben. Im Ort sei die Trinkwasserversorgung zusammengebrochen. 120 Menschen müssten von Notfallseelsorgern betreut werden. Trotzdem übten sich einige Braunsbacher mit Optimismus. Eine Bewohnerin: „’S wird dauern, aber mir krieges wieder hin.“ THEMA DES TAGES Immer häufiger sind von Wetterkatastrophen auch Gebiete betroffen, die bisher nicht überschwemmt worden sind STUTTGART taz | Am Tag nach der Unwetterkatastrophe von Schwäbisch Gmünd und Braunsbach hüten sich auch Naturschutzverbände vor schnellen Schuldzuweisungen. Natürlich, man müsse den Gewässern mehr Raum für Überschwemmungen geben, sagt die stellvertretende Geschäftsführerin des Naturschutzbundes Baden-Württemberg, Ingrid Eberhardt-Schad. Selbstverständlich müsse man der Bodenversiegelung entgegenwirken, sagt der Vorsitzender des BUND in der betroffenen Region Heilbronn-Franken, Jürgen Hellgardt. Aber ob das alles bei Wassermengen von bis zu 100 Litern pro Quadratmeter ausreichen würde, um Katastrophen wie in Braunsbach zu verhindern, da sind sich auch die Experten der Naturschutzverbände nicht sicher. Tatsache ist: Für den Hochwasserschutz wurde im Südwesten in den letzten Jahren eine Menge getan. Mit Renaturierungsprojekten an Rhein und anderen großen Flüssen und in Hochwasser-Risikogebieten baute die Landesregierung Rückhalteflächen zur Überflutung. Viele Gemeinden fühlen sich gar schon in der Ortsentwicklung eingeschränkt, da Risikoflächen, die vom Land ausgewiesen werden, nicht bebaut werden dürfen. Sie klagen gegen das Land. Auch das eigens für Extremlagen eingerichtete Hochwasservorhersagezentrum in Karlsruhe lieferte auch Sonntagnacht offenbar zuverlässige Daten. All diese Vorkehrungen werden vornehmlich für Hochwasser-Risikoregionen getroffen. Doch Extremwetterlagen, wie Sonntagnacht verschonen auch Orte nicht, die nicht in Risikogebieten liegen. Diese Wetterphänomene häufen sich nach Beobachtung der Meteorologen. „Hochwasser kommt in solchen Regionen plötzlich, aber inzwischen ganz regelmäßig“, sagt Jörn Birkmann vom Institut für Raumordnung und Entwicklungsplanung der Universität Stuttgart. Er fordert, aus solchen Phäno- menen, die durch den Klimawandel häufiger werden, zu lernen. „Wir dürfen das Hochwasser nicht mehr nur an den Flüssen suchen“, sagt Birkmann, womöglich seien auch für Starkregen-Regionen fernab von Rhein und Neckar Risikoeinstufungen notwendig. Jürgen Hellgardt vom BUND erwartet von der Politik jetzt eine fundierte Analyse, und ein Gesamtkonzept. „Da muss mehr kommen, als nur mehr Geld für größere Rückhaltebecken.“ BENNO STIEBER Schwerpunkt Unfairer Handel DI ENSTAG, 31. MAI 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Eine neue Studie kritisiert die Arbeitsbedingungen auf zertifizierten Obstplantagen. Die Früchte werden hierzulande viel gekauft Süß für Verbraucher, bitter für Arbeiter ERNÄHRUNG Rainforest Alliance ist eines der populärsten Nachhaltigkeitssiegel für Bananen und Ananas. Aber auch auf zertifizierten Plantagen würden Menschenrechte verletzt, sagt die Hilfsorganisation Oxfam VON JOST MAURIN BERLIN taz | Das hören Verbrau- cher gern: Farmen, die das Nachhaltigkeitssiegel der US-Umweltorganisation Rainforest Alliance haben, „verringern den Einsatz von chemischen Mitteln“. So steht es auf der Internetseite der Initiative mit dem grünen Frosch als Logo. Und: „Sie sorgen für das Wohlergehen ihrer Arbeiter und deren Familien.“ Deshalb klebt der Frosch bereits auf allen Ananas und fast allen Bananen der Supermarktkette Lidl. Auch bei Edeka und Rewe tragen die meisten das Siegel. Aldi Nord und Süd wollen nach einer Umfrage der Organisation Oxfam demnächst komplett bei beiden Fruchtarten auf Rainforest umstellen. Doch selbst Bananen und Ananas mit dem Frosch kom- „Pestizide verbreiten sich sehr schnell und weit“, sagt Franziska Humbert von Oxfam men laut Oxfam mitunter von Plantagen, auf denen gegen Menschen- und Arbeitsrechte verstoßen wird. Die Firmen hätten nicht besser abgeschnitten als die Konkurrenz ohne das Siegel. Der Verband hat für eine am Dienstag veröffentlichte Studie Plantagen in Ecuador und Costa Rica besucht und über lokale Gewerkschafter sowie Umweltaktivisten mehr als 200 Arbeiter von 23 Plantagen befragen lassen. Die beiden Länder wurden ausgewählt, weil Ecuador Deutschland dem Statistischen Bundesamt zufolge die meisten Bananen liefert, Costa Rica die meisten Ananas. Die Mehrheit der befragten Arbeiter auf den RainforestAlliance-Plantagen gaben laut Oxfam an, dass sie immer wieder schutzlos Pestiziden ausgesetzt seien. So würden Flugzeuge Pestizide sprühen, während Menschen auf der Farm sind. Oder sie müssten weniger als eine Stunde nach dem Sprühen wieder aufs Feld. „Wir machen uns große Sorgen, weil wir unter dem Pestizidregen arbeiten müssen. Wir bekommen Hautausschläge. Aber wenn man sich beschwert, riskiert Auf einer Bananenplantage in Machala, Ecuador Foto: Oxfam Deutschland man, entlassen zu werden“, zitiert der Verband einen Arbeiter eines Lidl-Zulieferers. Der ecuadorianische Exporteur Tropical Fruit Export bestreitet die Vorwürfe. Er verkauft an Lidl Bananen des beschuldigten Produzenten Matías. Da die Plantage so groß sei, könne in einem Teil gesprüht werden, obwohl sich in einem anderen Teil Arbeiter aufhalten. „Pestizide verbreiten sich sehr schnell und weit“, sagte dazu die Autorin der Studie, Franziska Humbert. Auch die costa-ricanische Farm Agrícola Agromonte, von der Edeka, Rewe und Aldi Süd Ananas bezögen, sprühe häu- fig Pestizide, wenn Arbeiter auf dem Acker sind. Bei dem LidlProduzenten Finca Once in dem mittelamerikanischen Land bekämen die Beschäftigten zwar Schutzkleidung. Jedoch „ginge diese schnell kaputt, und die Ausgaben für Neuanschaffungen würden von ihrem Lohn abgezogen“, sagen Betroffene in dem Oxfam-Report. Am meisten würden Arbeiter über Schwindel- und Ohmachtsanfälle, Erbrechen und allergische Hautreaktionen klagen. Die Finca nutze nach eigenen Angaben zum Beispiel die von der US-Umweltbehörde EPA als „wahrscheinlich krebserregend“ klassifizierten Chemikalie Diu ron, Mancozeb und Oxyfluorfen sowie das von der WHO als akut toxisch eingestufte Oxamyl, das bei Einatmung tödlich wirkt. Finca Once schrieb dazu, Lidl würde „jede Lieferung ständig“ auf Pestizide untersuchen lassen. Damit sind offenbar Rückstände in der Ware gemeint. Aber nicht alle verwendeten Mittel sind auch nach der Ernte noch in der Frucht zu finden. Die „meisten“ – also nicht alle – Sprühaktionen fänden frühmorgens oder abends statt, wenn keine Arbeiter auf dem Feld seien, so Finca Once weiter. Mehrere Befragte aus Costa Rica erklärten, viele Feldarbeiter stammten aus Nicaragua. Sie hätten keine Aufenthaltserlaubnis und würden über Mittelsmänner beschäftigt. Zahlreiche Arbeiter müssten bis zu 12 Stunden arbeiten, um auf die rund 16 Euro Mindestlohn zu kommen, die ihnen laut Gesetz schon für 8 Stunden zustünden. Existenzsichernd wäre ein Lohn von mindestens 20 Euro. Finca Once wies den Vorwurf zurück, den Mindestlohn zu unterschreiten. Agrícola-AgromonteAbnehmer Rewe und Edeka forderten von Oxfam konkretere Informationen, um die Angaben zu prüfen. Die meisten befragten Arbeiter auf den Bananen-Fincas in Ecuador hätten über Entlassungen wegen Gewerkschaftszugehörigkeit berichtet, so Oxfam. Ähnlich sei die Lage auf zwei Ananas-Farmen in Costa Rica. Wohl auch deshalb gaben die meisten ecuadorianischen Befragten an, ihrer Meinung nach würde ihr Unternehmen es nicht zulassen, dass sie eine Gewerkschaftsgruppe gründen. LidlLieferant Tropical Fruit schrieb dazu, seine Farm würde sich nicht gegen eine Gewerkschaft stellen. „Die Arbeiterschaft der Plantage hat jedoch bis jetzt keine gegründet.“ Rainforest Alliance teilte mit, ihre bereits „eingeleiteten Ermittlungen konnten die Anschuldigungen durch Oxfam Deutschland nicht bestätigen“. Man prüfe die Sache aber noch. Oxfam-Autorin Humberts Urteil steht dennoch schon fest: „Die Supermärkte kontrollieren das Aussehen der importierten Früchte penibel und geben ganze Lieferungen bei kleinsten Makeln zurück. Aber sie lassen es zu, dass die Menschen, die sie ernten, dabei vergiftet werden.“ Die Bundesregierung müsse den Handel dazu verpflichten, Menschen- und Arbeitsrechte bei ihren Lieferanten durchzusetzen. Die Suche nach dem besten Standard Besonders begehrt als fair gehandelte Waren sind hierzulande Südfrüchte, Kaffee und Blumen. Zu den verlässlicheren Gütesiegeln zählt laut Oxfam heute das Fairtrade-Siegel AUGENHÖHE BERLIN taz | Was kann ich guten Gewissens noch kaufen? Diese Frage werden sich viele Verbraucher stellen, nachdem die Hilfsorganisation Oxfam Menschenrechtsverstöße auf Bananen- und Ananas-Plantagen mit dem Siegel der Rainforest Alliance kritisiert hat. Oxfam empfiehlt in ihrer Studie den Kauf von Produkten, die mit dem Fairtrade-Siegel von Transfair (siehe Abbildung un ten rechts) zertifiziert wurden. Diese sollten am besten gleich- zeitig das EU-Biosiegel tragen, das chemisch-synthetische Pestizide verbietet. Durch den Handel mit Fairtrade-Produkten soll langfristig, so die Hoffnung, eine Partnerschaft auf Augenhöhe zustande kommen. Fairtrade garantiert dabei beispielsweise durch seine Standards, dass sich Arbeiter*innen in Gewerkschaften organisieren können und dass der Einsatz von besonders gefährlichen Pestiziden verboten ist. 03 Allerdings steht auch das von Oxfam empfohlene Siegel in der Kritik. So kam im April 2014 eine Studie der University of London zu dem Schluss, dass Arbeiter*innen konventioneller Kaffee-, Tee- und Blumenplantagen in Kenia und Äthiopien besser bezahlt wurden als ihre Kolleg*innen auf Fairtrade-Plantagen. Seitdem seien die Standards von Fairtrade jedoch verbessert worden, sagt Franziska Humbert von Oxfam: „Jedes System hat seine Mängel. Doch unter den vielen, die es gibt, ist Fairtrade der beste Standard.“ Eine Milliarde Euro gaben deutsche Verbraucher*innen 2014 für fair gehandelte Produkte aus. Das Fairtrade-Produktsiegel machte dabei mit 797 Millionen Euro (78 Prozent) den größten Anteil am fairen Handel aus. Spitzenreiter sind neben Kaffee und Blumen die Südfrüchte. 2014 machten sie mit 53.800 Tonnen 10 Prozent des Gesamtumsatzes im fairen Handel aus. DANIEL KOSSMANN EU-Bio-Logo BananenRepubliken Vom Fluch der krummen Frucht in Mittelamerika GESCHICHTE BERLIN taz | Bananen prägen die Geschichte Mittelamerikas. Für die sieben Staaten der Region – Belize, Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua und Panama – sowie für Ecuador und Kolumbien ist die krumme Frucht bis heute ein wichtiges Exportprodukt. Für viele der kleinen mittelamerikanischen Staaten ist sie jedoch eher Fluch als Segen. Darauf verweist auch der Begriff der Bananenrepublik, der 1907 aufkam. Damals „überzeugten“ die USA die korrupte Diktatur in Honduras davon, die Interessen der United Fruit Company gegen die Arbeiter durchzusetzen. Das war kein Einzelfall, wie die blutige Niederschlagung der Aufstände der Bananenarbeiter 1928 in Kolumbien oder der Sturz der Regierung von Jacobo Árbenz in Guatemala 1954 zeigt. In beiden Fällen ging es um die Interessen der großen US-Fruchtkonzerne, die über exzellente Kontakte in die Regierung und zum CIA verfügten. In Guatemala stürzten sie 1954 die progressive Regierung. Das hat der Schriftsteller Gabriel García Márquez in Kolumbien literarisch verarbeitet, sein Kollege Sie haben keine Skrupel, hoch toxische Pestizide einzusetzen Miguel Angel Asturiasa, ebenfalls Nobelpreisträger, in Guatemala. Doch trotz der internationalen Aufmerksamkeit hat sich an den Strukturen beim Export von Bananen, Ananas oder Melonen aus der Region in die USA und Europa wenig geändert. Immer noch kontrolliert ein halbes Dutzend Konzerne – darunter Chiquita, Dole und die irische Fyffes – den Markt. Sie haben keine Skrupel, hochtoxische Pestizide einzusetzen – auch wenn sie in den USA oder in Europa lange verboten sind. International bekannt geworden ist das Beispiel des Wirkstoffs 1,2-Dibrom-3-chlorpropan (DBCP), der unter dem Handelsnamen Nemagon und Fumazone im Einsatz war, um Fadenwürmer an den Stauden zu bekämpfen. Obwohl seit Mitte der 1970er Jahre bekannt war, dass der Wirkstoff Krebs auslöst und unfruchtbar macht, wurde er in auf den Plantagen in den „Bananenrepubliken“ weiterhin eingesetzt. Zehntausende von Arbeiter*nnen wurden vergiftet. Bis heute haben nur wenige Entschädigungen erhalten. In Costa Rica ist heute nach wie vor das Herbizid Bromacil im Einsatz, welches laut dem Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN) zum „dreckigen Dutzend“ der besonders gefährlichen Schädlingsbekämpfungsmittel gehört. Dabei hat Costa Rica als Ökokourismus-Destination einen relativ guten Ruf. Doch beim Anbau der Südfrüchte werden ungern Kompromisse gemacht: Arbeits- und Umweltrechte sind nachrangig – in bester bananenrepublikanischer KNUT HENKEL Tradition.
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