Gastkommentar - Wirtschaftsuniversität Wien

ÖSTERREICH
Donnerstag, 2. Juni 2016
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Grenzenloser Wohlstand?
Gastkommentar: Die Diskussionen um TTIP haben den Freihandel generell in Misskredit gebracht.
Warum eigentlich? Internationaler Handel schafft Wohlstand – gerade für kleine Länder wie Österreich.
Von Ingrid Kubin
Freihandel ist wieder in Diskussion geraten. Sie entzündet sich
nicht nur an TTIP, dem geplanten
Freihandelsabkommen zwischen
den USA und der EU, sondern
auch an der Frage, ob innerhalb
von Europa wieder verstärkt
Grenzkontrollen für Güter und
Dienstleitungen eingeführt werden sollen. Doch warum gibt es
eigentlich so viel Kritik? Internationaler Handel schafft Wohlstand, das ist eine der ältesten Erkenntnisse der Volkswirtschaft.
Worauf aber beruht sie eigentlich? Und wenn das stimmt, warum gibt es dann so viele Gegner
einer weiteren Handelsöffnung?
Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat David Ricardo die
Theorie komparativer Kostenvorteile entwickelt: Typischerweise
sind Länder unterschiedlich produktiv in der Erzeugung unterschiedlicher Güter. Das mag auf
unterschiedliche
technische
Kenntnisse zurückzuführen sein
oder aber auch darauf, dass die
Produktionsfaktoren in einem
Land besonders günstig sind für
die Produktion bestimmter Güter.
Ein Land wie Österreich mit hochqualifizierten Arbeitskräften hat
eben einen Vorteil in der Produktion von High-Tech-Produkten, so
hat zum Beispiel jüngst Bundeskanzler Christian Kern auf die international erfolgreiche Schienenund Weichenerzeugung in Österreich verwiesen. Bei einfachen
Textilien wird Österreich aber nur
schwer mit den Niedriglohnländern konkurrieren können.
Mit internationalem Handel
können Länder ihre Produktion
auf Sektoren, in denen sie besonders produktiv sind, spezialisieren und ausdehnen – diese Güter
exportieren sie. Im Gegenzug importieren sie Güter, deren Produktion eingeschränkt wurde. Österreich kann sich auf die besonderes produktive Herstellung von
Industriegütern spezialisieren, in
diesem Bereich die Produktion
ausdehnen und diese Güter exportieren. Im Gegenzug kann die
Produktion in weniger produktive
Sektoren eingeschränkt werden,
diese Güter werden importiert
zum Beispiel eben einfache Textilien; und die Preise sind niedriger, als sie bei einer Produktion
in Österreich wären.
Wohlstandsunterschiede
werden nicht beseitigt
Was aber ist mit Ländern, aus denen Österreich die einfachen Textilien bezieht? Was ist mit Ländern, die in keinem Sektor besonders produktiv sind? Selbst diese
Länder profitieren vom internationalen Handel, da sie die Produktion in den total unproduktiven
Sektoren einschränken können
(diese Güter werden importiert)
und in den etwas produktiveren
Sektoren ausdehnen (und exportieren), das kann eben der Textilsektor sein. Außenhandel erhöhte
so den Wohlstand für alle am
Handel beteiligten Länder; aber
Wohlstandsunterschiede werden
höchstens reduziert, nicht aber
beseitigt. (Außenhandel ist eben
auch kein entwicklungspolitischer deus ex machina.)
Aber das ist nur ein Teil der
Geschichte. Die Wohlstandsgewinne sind nicht automatisch gleich
Foto: Fotolia/jcpjr
verteilt innerhalb der Länder – eine Intensivierung des internationalen Handels schafft Gewinner
und Verlierer. Es kann gezeigt
werden, dass die Gewinne größer
als sind als die Verluste, aber es
gibt eben auch Verliererinnen
und Verlierer.
Die Verlagerung der Produktion weg von den Sektoren mit geringer Produktivität hin zu den
Sektoren mit höherer Produktivität verlangt Mobilität der Arbeitskräfte: Sie werden arbeitslos, finden einen neuen Arbeitsplatz
vielleicht nur in einer anderen
Region, vielleicht nur, wenn sie
eine andere Qualifikation erlernen. Das ist einfacher, wenn Anpassungsprozesse langsam ablaufen. Der Beschäftigtenanteil in der
Textilbrache in Österreich ist seit
den 60er Jahren langsam, aber
kontinuierlich gesunken und ist
heute verschwindend klein. Dieser Prozess fiel zudem mit der
Ausweitung des Bildungsangebots
in den 70ern zusammen; die
Tochter der Textilarbeiterin konnte eine höhere Qualifikation erwerben und einen besseren Arbeitsplatz finden.
Gewinne sind höher
als die Verluste
Aber nicht nur die Anpassungsprozesse verursachen Verluste
und Verliererinnen und Verlierer:
Die Unternehmen, die im weniger
produktiven Sektor verbleiben,
verlieren auch; die Löhne unqualifizierter Arbeitskräfte werden sinken, während Löhne in produktiveren, exportorientierten Sektoren ansteigen werden. Da die Gewinne größer als die Verluste
sind, gibt es Raum für eine wirtschaftspolitische Gestaltung dieses Umstrukturierungsprozesses,
eben durch Bildungspolitik oder
durch Sozialpolitik.
Heutzutage findet jedoch ein
beträchtlicher Teil des Handels
zwischen vergleichbaren Ländern
statt, der größte Handelspartner
Österreichs ist Deutschland. Beide
Länder sind vergleichbar, was
Produktivität und Faktorausstattung betrifft. Paul Krugman hat
Ende der 1970er Jahre einen Erklärungsansatz für diese Art von
internationalen Handel entwickelt, für den er später auch den
Nobelpreis erhalten hat. Anfang
der 2000er Jahre hat Marc Melitz
diese Theorie weiterentwickelt.
Moderne industrielle Produktion
ist demnach durch Größenvorteile
gekennzeichnet.
Unternehmen
können billiger anbieten, wenn
sie eine größere Stückzahl produzieren. Internationaler Handel
setzt die Unternehmen zwar intensiverer Konkurrenz aus, vergrößert aber auch die Absatzmärkte und erlaubt so, die Kosten
und Preise zu reduzieren.
Sind Unternehmen eines Sektors unterschiedlich produktiv,
dann können nur die produktivsten von den Chancen der größeren Absatzmärkte profitieren. Weniger produktive bleiben auf dem
heimischen Markt beschränkt
und verlieren durch die größere
Konkurrenz aus dem Ausland, Betriebe mit der geringsten Produktivität scheiden gänzlich aus dem
Markt aus. Insgesamt ist das ein
Vorteil für die Wirtschaft: Die produktivsten Betriebe werden gestärkt, ihre Produktion steigt und
damit insgesamt die Produktivität, die Preise sinken; zudem
nimmt die Gütervielfalt zu, da
Konsumentinnen und Konsumenten eben aus in- und ausländische
Produkten wählen können.
Vielleicht noch wichtiger sind
die längerfristigen Effekte einer
Handelsöffnung: Letztlich sind es
die größeren Märkte, die Investitionen in Innovation erlauben. Hohe Entwicklungskosten, die nicht
untypisch sind für die moderne
industrielle Produktion, rechnen
sich nur für einen großen Absatzmarkt. Internationaler Handel
vergrößert damit das Potenzial für
technischen Fortschritt, der die
eigentlichen Quelle eines ansteigenden Wohlstands ist. Ein weiterer längerfristiger Aspekt betrifft
die Unternehmensmobilität: in
kleinen lokalen Märkten sind die
Profitchancen gering, wenn kein
Zugang zu den großen internationalen Märkten besteht. Längerfristig droht daher die Abwanderung dieser Unternehmen. Oder
anders ausgedrückt: Auf lange
Sicht sichert eine Handelsöffnung
auch den Unternehmensstandort
in Ländern mit einem kleinen
Binnenmarkt, da sie eben den Zugang zu einem viel größeren
Weltmarkt ermöglicht und damit
Profitchancen für hochproduktive
Unternehmen eröffnet.
Wirtschaftlicher Vorteil
von TTIP nur gering
Aber: Auch hier gibt es Personen,
die gewinnen, und Personen, die
verlieren (wobei auch hier gezeigt
werden kann, dass die Gewinne
größer als die Verluste sind).
Auch hier gibt es schmerzhafte
Anpassungsprozesse, die Mobilität der Arbeitskräfte verlangen;
auch hier entstehen Verluste in
den Sektoren und Unternehmen,
die der internationalen Konkurrenz ausgesetzt sind, ohne von
den größeren Märkten profitieren
zu können; und auch hier ist
Wirtschaftspolitik gefordert, diese
Anpassungsprozesse zu gestalten
und abzusichern.
Gegner und Befürworter einer
Handelsöffnung haben demnach
beide recht und unrecht; sie betonen jeweils einen Aspekt, vernachlässigen aber den anderen:
Befürworter betonen die Vorteile
und schieben die Verluste zur Seite, während Gegner Verluste in
den Vordergrund rücken und die
Gewinne übersehen. Richtig ist
aber beides: Handelsöffnung
bringt Vorteile, schafft aber auch
Probleme. Die Wirtschaftspolitik
ist gefordert; sie muss sich um die
Verlierer kümmern, muss Anpassungsprozesse aktiv gestalten
und absichern. Spielraum dazu
gibt es, da die Vorteile größer als
die Nachteile sind, insbesondere
in der dynamischen längerfristigen Perspektive. Die Chancen des
internationalen Handels sollte
man sich – insbesondere in einem kleinen Land – nicht entgehen lassen. Tatsache ist, dass alle
reichen Länder in den internationalen Handel integriert sind.
Haben all diese Argumente etwas mit der Diskussion um TTIP
zu tun? Ja. Versucht man jedoch,
die ökonomischen Wirkungen von
TTIP zu quantifizieren, so gehen
die Schätzungen weit auseinander; erkennbar ist aber, dass der
wirtschaftliche Vorteil eher gering sein wird. Aber die volkswirtschaftliche Dimension ist nur
eine von viele, die in der Diskussion um TTIP eine Rolle spielt.
Dominanter in dieser Diskussion
sind Fragen im Zusammenhang
mit der Gestaltung und der Rolle
der Gerichtsbarkeit und im Zusammenhang mit der Definition
von Standards, insbesondere,
aber nicht nur, im Umwelt- und
Gesundheitsbereich. Aber: Sehr
relevant sind diese Argumente für
die Frage, ob innerhalb von Europa wieder verstärkt Grenzkontrollen eingeführt werden sollen, die
auch den Handel mit Gütern und
Dienstleitungen erschweren. ■
ZUR AUTORIN
Ingrid
Kubin
ist Professorin
für Internationale Wirtschaft
und Vorständin
des Departments Volkswirtschaft an der
Wirtschaftsuniversität Wien.
Foto: Studio Huger