Armenien-Resolution: Erdoğan zum Trotz Der Bundestag erkennt heute den Völkermord an – wie mutig ist das? ▶ Seite 12, 14 AUSGABE BERLIN | NR. 11033 | 22. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ FERNSEHEN „Das will ich ehrlich zeigen“: Tabea Hosche über ihr Leben mit einem behinderten Kind ▶ SEITE 18 STROM Regierungs- DONNERSTAG, 2. JUNI 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Auf der Flucht aus Europa KINO Warum der Film über den österreichischen Schriftsteller Stefan Zweig im Exil brillant ist – und was sich Regisseurin Maria Schrader dabei gedacht hat pläne für erneuerbare Energie ▶ SEITE 3, 12 TERROR Soll der Verfas- sungsschutz Jugendliche überwachen? ▶ SEITE 4 BERLIN BER-Ausschuss: Grüne Bilanz ▶ SEITE 21 Fotos: (oben) Marian Kamensky, WDR VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! verboten ist eines dieser Wohlstandskindeskinder, die angesichts der Flüchtlingszahlen nur noch die Schotten dicht machen. Ganz im Gegensatz zu den bewundernswerten Weltkriegskindern, die in den 70er Jahren bereitwillig sage und schreibe insgesamt 10.000 Vietnamesen aufgenommen hatten. Das war natürlich wahnsinnig großherzig. So viele Flüchtlinge aufzunehmen, das schafften wir geizigen Wohlstandskindeskinder im letzten Sommer und Herbst höchstens pro Tag. Der Spielfilm „Vor der Morgenröte – Stefan Zweig in Amerika“, der heute in den deutschen Kinos anläuft, erzählt von den letzten Stationen im Leben des österreichischen Schriftstellers. Zweig war ein Pazifist. Bis zum selbstgewählten Ende seines Lebens, 1942, in Brasilien, wo er seit 1940 Exil gefunden hatte. Eine Heimat wurde ihm das Land nicht. Zu stark hing er noch an der Erinnerung an den europäischen Kontinent, den er 1934 zunächst über England verlassen hatte. Die Sicherheit, die ihm als Jude in Südamerika ge- währt wurde, nagte dabei nur umso mehr an seinem Gewissen. Während er von seinem Fenster auf Palmen blickte, fanden andere in Europa den Tod. In ihrem Film zeigt Regisseurin Maria Schrader, wie schwierig es für einen Künstler ist, seine Position gegenüber anderen zu verteidigen, wenn sich die Welt um ihn herum zum Schlechten zu wenden beginnt. Position beziehen, das ist es, was man 1936 beim PEN-Kongress in Buenos Aires erwartet, wo Zweig in einer der ersten Filmszenen darum gebeten wird, seine Einschätzung zu Europa und dem Nationalsozia lismus zu geben. Doch Zweig verweigert sich den erstaunten Journalisten und Kollegen. Sein Pazifismus reicht so weit, dass er jegliches politisches Engagement als Künstler ablehnt. Allein durch sein Werk will er ein gutes Beispiel geben. Der Titel seines Buchs „Sternstunden der Menschheit“ ist insofern programmatisch zu verstehen. Zweig will mit den Mitteln der Kunst das Gute im Menschen verteidigen und sichtbar machen. Das ist keine Welt- Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.919 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 40622 fremdheit, sondern ein Ethos, mit dem er sich unter den Exilautoren isoliert. Dass es sich Zweig mit diesem Ethos nicht leicht gemacht hat, führt Schrader präzise vor. Der österreichische Schauspieler Josef Hader gibt seinem Stefan Zweig eine würdevolle Verzweiflung, die dieses Künstlerschicksal umso gegenwärtiger macht. Österreich ist heute, wie der Rest Europas, durch eine entgegengesetzte Fluchtbewegung gekennzeichnet. Heute suchen Verfolgte hier Exil, statt von dort zu fliehen. Das Land, das an seine NS-Vergangenheit im Übrigen ungern erinnert wird, und Europa schotten sich jedoch weitgehend ab. Dieser Film hingegen lässt einen, ohne alle Vordergründigkeit, ins Antlitz eines Flüchtlings blicken. Und ihn als Menschen erkennen. Gedreht wurde der Film in den jeweiligen Landessprachen an den Orten der Handlung. „Es gab am Anfang immer nur eine Reaktion: Das geht nicht“, erzählte Regisseurin Schrader der taz. Aber es hat hervorragend geklappt. TIM CASPAR BOEHME ▶ Gesellschaft + Kultur SEITE 15 Auf der Flucht nach Europa Weiter mit Glyphosat Die Zahl der Menschen, die in Deutschland ankommen, sinkt. Die Zahl der MigrantInnen, die im Mittelmeer ertrinken, steigt Brüssel will die Zulassung des Unkrautvernichters um 18 Monate verlängern BERLIN taz | Die Zahl der nach BRÜSSEL/BERLIN dpa/taz | Eu- ABSCHOTTUNG TAZ MUSS SEI N 4 190254 801600 Schlechte Nachrichten aus der Heimat: Stefan Zweig (Josef Hader) im Exil Foto: X Verleih Deutschland einreisenden Flüchtlinge hat im Mai einen neuen Tiefstand erreicht. Gleichzeitig ertranken in dieser Zeit so viele Menschen im Mittelmeer wie noch nie. Bundesweit kamen nach Angaben der Bundespolizei im vergangenen Monat 4.470 Flüchtlinge über die Grenze. Vor der Schließung der Balkanroute im Februar waren noch 38.570 Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Gleichzeitig gab die Internationale Organisation für Migration in Genf bekannt, dass in den vergangenen acht Tagen bei fünf Schiffsunglücken zwischen Libyen und Italien etwa 1.000 Menschen ertrunken sind. Da- mit stieg die Zahl der Toten im Mittelmeer zwischen Januar und Mai auf fast 3.000 – der höchste bislang verzeichnete Wert. Anders als in der Zeit zuvor wurden nun wieder Flüchtlinge aus Syrien und Irak auf den Schiffen in Richtung Italien registriert. Nach der Schließung der Balkanroute ist das Land zum Nach der Schließung der Balkanroute ist Italien wieder zum Haupttor für MigrantInnen nach Europa geworden Haupttor für MigrantInnen nach Europa geworden. Nach UN-Zahlen kamen zwischen dem 19. und 26. Mai fast 5.700 Menschen nach Italien, Griechenland erreichten in der selben Zeit weniger als 300. Die meisten brechen von Libyen auf. Dort warten nach Schätzungen der UN bis zu 200.000 Menschen auf die Überfahrt nach Europa. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Kai Wegner hat derweil einen „Abschiebegipfel von Bund und Ländern“ und einen „nationalen Abschiebeplan“ gefordert. „Es sollte auch darüber nachgedacht werden, den Abschiebevollzug in Bundeshand zu geben.“ ▶ Der Tag SEITE 2 GESUNDHEIT ropa setzt vorerst weiter auf den umstrittenen Unkrautvernichter Glyphosat. Das allein in Deutschland auf 40 Prozent der Äcker versprühte Mittel des US-Konzerns Monsanto dürfte wahrscheinlich auch nach dem bisherigen Ende der Zulassung Ende Juni erlaubt bleiben. Die EU-Kommission strebt nämlich eine Verlängerung für bis zu anderthalb Jahre an. Dies kündigte der EU-Kommissar für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Vytenis Andriukaitis, am Mittwoch in Brüssel an. Mit der Verlängerung der Genehmigung für einen Zeitraum zwischen 12 und 18 Monaten will die EU-Kommission Zeit gewinnen, um ein Gutachten der euro- päischen Chemikalienagentur Echa zu Glyphosat abzuwarten. Zuvor hatte zwar die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit den Unkrautvernichter als unbedenklich eingestuft. Doch die Krebsforschungsagentur der Weltgesundheitsorganisation hält ihn für „wahrscheinlich krebserregend“. Sie beruft sich dabei vor allem auf Tierversuche, in denen der Wirkstoff Tumoren ausgelöst habe. Bislang war eine Neuzulassung des Stoffs für einen längeren Zeitraum gescheitert, weil die nötige Mehrheit unter den EU-Staaten nicht zustande kam. Das lag auch an Deutschland. Wie die Koalition sich nun verhält, ist unklar. ▶ Wirtschaft + Umwelt SEITE 8 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT Der Tag DON N ERSTAG, 2. JU N I 2016 NACH RICHTEN LAN D UNTER I N BAYERN FRAN KREICH Katastrophenalarm in mehreren Gemeinden Streik bremst Zugverkehr aus TRIFTERN | Der bayrische Land- Die Frankfurter Museumschefin Hannah Lotte Lund Foto: Michael Benk Kleists neue Direktorin Die deutsche Literaturgeschichte ist reich und vielfältig, widerständig und angepasst, voller Höhen, Tiefen und Abgründe. Hannah Lotte Lund soll nun dafür sorgen, dass der Blick auf sie genauso differenziert bleibt. Die 1971 geborene Historikerin und Germanistin tritt Mitte August eine dafür wichtige Stelle an. Sie wird die neue Direktorin des Kleist-Museums in Frankfurt an der Oder. Wichtig ist dieses Haus am Geburtsort von Deutschlands wildestem Klassiker wegen seiner 34.000 Bestandseinheiten in der Bibliothek und den Sammlungen. Das sind Schätze für die Kleist-Forschung. Vor allem wird dort, in Spuckweite der Oder, aber auch mit darüber bestimmt, wie lebendig wir überhaupt mit Heinrich von Kleist umgehen. Gerade das Kleist-Museum hat da zuletzt für einige Entkrampfung gesorgt. Sehr bekannt wurde im Kleist-Jahr 2011 etwa die „Kleist-WG“. In ihr warfen sich Schüler mit Herzblut und Medienexpertise in die Auseinandersetzung mit dessen sprachmächtigen Texten. In der Geschichte ist gerade Kleist aber auch immer wieder eng nationalistisch gelesen und politisch vereinnahmt worden. Die AfD versucht derzeit, die deutsche Nation auf deutscher Identität und deutscher Kultur zu begründen. Da könnte es – man weiß es nicht – zu erneuten Vorstößen in Richtung reaktionärer Kleist-Lesarten kommen. Auf jeden Fall ist es gut zu wissen, dass Hannah Lotte Lund für einen deutlich offenen Umgang mit dem Autor der „Penthesilia“, der „Hermannsschlacht“ oder auch der „Marquise von O.“ steht. Sie promovierte an der Uni Potsdam mit einer Arbeit zum Berliner „Jüdischen Salon“ um 1800. Neben der Berlin-Brandenburgischen Literaturgeschichte gehören zu ihren Forschungsschwerpunkten die Bildung und Geselligkeit im 18. und 19. Jahrhundert sowie jüdische Geschichte und Geschlechtergeschichte. Die Vielstimmigkeit eines Salongesprächs, jüdische Emanzipation und Frauen – das sind interessant unverstaubte Kontexte, um sich mit Kleist zu beschäftigen. Für vaterländische Lesarten und einen engen Begriff davon, was deutsche Kultur ist, wird die neue Chefin des Museums nicht zu DIRK KNIPPHALS haben sein. kreis Rottal-Inn hat wegen schwerer Überschwemmungen in mehreren Gemeinden Katastrophenalarm ausgelöst. Besonders betroffen sind laut Behörden Triftern bei Pfarrkirchen und Simbach am Inn sowie die Gemeinde Tann. In Triftern wurden Menschen mit Hubschraubern von Hausdächern gerettet, in Simbach musste die Polizeidienststelle evakuiert werden. „Da steht das Wasser meterhoch“, sagte ein Polizeisprecher. Von den Wassermassen ist auch die Schule von Triftern betroffen. „Etwa 250 Schulkin- der sind noch in ihren Klassen. Zum Glück liegt das Gebäude auf einem Berg. Vielleicht müssen die Kinder aber die Nacht in der Turnhalle verbringen, weil die Zufahrtswege nicht passierbar sind“, erläuterte Czech. Rettungshubschrauber seien im Einsatz, um von Wassermassen eingeschlossene Menschen zu retten. Die Zufahrtsstraßen und Brücken sind überschwemmt. Verletzte habe es bislang nicht gegeben. Zuletzt hatten Montagnacht Wassermassen vor allem in Mittelfranken mehrere Orte über flutet. (dpa) PARIS | In Frankreich ist ein gro- ßer Teil des Zugverkehrs wegen des Eisenbahnerstreiks zum Erliegen gekommen. Die Bahngesellschaft SNCF musste 40 Prozent der Hochgeschwindigkeitszugverbindungen absagen. Außerdem fiel mehr als die Hälfte der Regionalzüge aus. Zudem hat die Gewerkschaft SPAF für Ende nächster Woche Pilotenstreiks bei Air France angekündigt. Damit steigt das Risiko von Unterbrechungen im Flugverkehr bei der Fußball-Europameisterschaft, die am 10. Juni in Paris beginnt. (rtr) GROSSES KI NO Große Kinostreifen, kleine Perlen, Flops und Oscar-Kandidaten sowie Interviews mit Regisseuren und Schauspielern: Alles nachzulesen auf taz.de/film Rezensionen Filmtipps Interviews www.taz.de BAYER + MONSANTO Übernahme wird „Marathon“ LEVERKUSEN | Der Chemie- und Pharmakonzern Bayer braucht nach Ansicht von Vorstandschef Werner Baumann für die milliardenschwere Monsanto-Übernahme einen langen Atem. „Die geplante Übernahme von Monsanto wird kein Sprint, sondern sicherlich eher ein Marathon“, sagte Baumann der Wirtschafts woche. Insbesondere die Abstimmungen mit Kartellwächtern könnten sich hinziehen. Am Markt wird darauf spekuliert, dass Bayer die Offerte von 122 Dollar je Monsanto-Aktie noch aufstocken könnte. (dpa) „Besonders tödliches Jahr“ vor Italien MITTELMEER Bei einer Serie von Bootsunglücken sind in der letzten Woche offenbar über 1.000 Flüchtlinge auf dem Weg von Libyen nach Italien ertrunken. Helfergruppe wirft europäischen Behörden Tatenlosigkeit vor VON CHRISTIAN JAKOB BERLIN taz | Die Informationen kamen scheibchenweise: Zuerst gab es gar keine Meldung, nach und nach stiegen die Opferzahlen. Schließlich hat Flavio Di Giacomo, Sprecher der Internationalen Organisation für Migration, eine neue Schätzung bekannt gegeben: Bei einer Serie von Schiffsunglücken im Mittelmeer sind in den vergangenen acht Tagen offenbar über 1.000 Flüchtlinge ertrunken. Damit liegt die Opferzahl bis Ende Mai bei 2.630 und damit höher als je zuvor. 2016 sei bislang ein „besonders tödliches“ Jahr, sagte ein Sprecher des UN-Flüchtlingswerks UNHCR. Rund 2.300 Menschen starben zwischen Libyen und Sizilien, die meisten der übrigen in der Ägäis. In den ersten fünf Monaten des Vorjahrs waren 1.855 MigrantInnen ertrunken. Vor den neuen Unglücken war die Zahl der in Nordafrika ablegenden Boote zwischenzeit- lich gesunken. Gleichzeitig hatten immer weniger Menschen aus den Krisengebieten im Nahen und Mittleren Osten diese Route gewählt. Vor allem westafrikanische MigrantInnen waren in Italien angekommen. In den letzten Tagen jedoch registrierten Hilfsorganisationen hier wieder Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak – offenbar Folge der Schließung der Balkanroute. Anders als bei ähnlichen Unglücken ist die Situation in den letzten Tagen unübersichtlich. Mit Seelenverkäufern übers Meer: Mit solchen Booten versuchen Migranten die Überfahrt Foto: Italian Navy/ap initiativen in der Region aktiv. Nach den jüngsten Unglücken griffen sie die EU scharf an. „Letztes Jahr ertrank jeder 53. Flüchtling im Mittelmeer. In diesem Jahr ist es jeder 23. Glaubt Europa immer noch, dass Abschreckung wirkt?“, so Ärzte ohne Grenzen. Am Mittwoch berichtete „Das ist ein kalku eine italienische Zeitung, dass die staatliche Seenotrettungsliertes und über stelle in Rom (MRCC) offenwachtes Sterben“ bar durch italienische VerbinHAGEN KOPP, INITIATIVE WATCH THE MED dungsbeamte in Nordafrika kontinuierlich und frühzeitig über Abfahrtszeiten und -orte von Flüchtlingsbooten informiert wird. „Das ist bislang nicht bekannt gewesen“, sagte Hagen Kopp von der Initiative Watch the Med, die per Satellitentelefon Kontakt zu Flüchtlingsbooten in Seenot hält. Die Boote würden von nur drei Stellen in Libyen abfahren. Es wäre ein Leichtes, die drei Routen aus der Luft zu überwachen und den Menschen rechtzeitig zu Hilfe zu kommen, sagte Kopp. Doch die übrigen EU-Staaten würden dafür nur „begrenzte Kapazitäten“ bereitstellen. „Das ist ein kalkuliertes und überwachtes Sterben“, sagte Kopp. Derweil melden griechische Behörden, dass Schleuser zunehmend Migranten aus der Türkei über die Insel Kreta nach Italien zu bringen versuchen. Seit Freitag waren rund 180 Flüchtlinge aus dem Nahen Osten bei Kreta aus Seenot gerettet worden. Sie gaben an, in der Türkei gestartet zu sein. Schleuser hätten ihnen versprochen, sie nach Italien zu bringen. THEMA DES TAGES Soweit bislang bekannt ertranken am vergangenen Mittwoch knapp 250 Menschen, am Donnerstag rund 500 und am Freitag 250 Menschen. Mittlerweile ist ein halbes Dutzend privater Seerettungs- Gestrandet in der Via Cupa in Rom ITALIEN Die Flüchtlingszahlen ähneln denen vom vergangenen Jahr, doch jetzt muss Italien viel mehr Menschen unterbringen ROM taz | Mitten in Rom, gleich hinter dem Bahnhof Tiburtina, stehen die Zelte auf der Straße, manchmal liegen dort aber auch bloß Matratzen. Rund 300 Menschen vor allem aus Eritrea und Somalia haben in der schmalen Via Cupa ihr Notlager aufgeschlagen. Noch bis zum November hätten sie hier die von Freiwilligen betriebene Aufnahmeeinrichtung Baobab gefunden, doch deren Türen sind versperrt: Die Stadt Rom schloss die Einrichtung kurzerhand. Die freiwilligen Helfer sind immer noch da, tun, was sie können, um den Flüchtlingen beizustehen, und viele Menschen aus dem Stadtviertel kommen mit Kleiderspenden, mit Essen vorbei. Doch die Stadt, die eine alternative Unterkunftsstätte versprochen hat, rührt sich nicht. Notstand oder traurige Normalität? – diese Frage stellt sich in Italien immer wieder. „Keinen Notstand“ sieht zum Beispiel Innenminister Angelino Alfano gegeben, auch wenn in der letzten Woche fast 6.000 Menschen von Libyen aus übers Mittelmeer kamen. Der Minister verweist auf die Zahlen aus den Vorjahren, und es stimmt: Bis Ende Mai ist die Zahl der Ankünfte mit gut 40.000 gegenüber 2014 und 2015 stabil. Geändert hat sich allerdings das europäische Umfeld. Andere EU-Staaten, vorneweg Deutschland und Österreich, drängen darauf, dass die Flüchtlinge und Migranten in Italien lückenlos registriert werden. Mit der Einrichtung von „Hotspots“ auf Lampedusa und Sizilien ist Italien dieser Forderung entgegengekommen; Minister Alfano reklamiert für sich, dass mittlerweile „fast 100 Prozent“ der Eintreffenden registriert werden. Danach jedoch sind sie – auch wenn ihre Anträge auf Asyl oder humanitären Schutz abschlägig beschieden werden, auch wenn sie einen Ausweisungsbeschluss erhalten – frei weiterzureisen. Auch auf diesem Feld baut Österreich mit den am Brenner begonnenen Bauarbeiten für eine neue Grenzkontrollstelle Druck auf. Italien reagierte mit der Verstärkung der Polizeieinheiten südlich des Brenners, die die Flüchtlinge schon vor der Grenze abfangen sollen. Damit ist jetzt schon absehbar, dass dieses Jahr die Zahl der im Land selbst unterzubringenden Menschen deutlich ansteigen wird: Die Weiterreise der Flüchtlinge nach Norden wird immer schwieriger. Schon jetzt sind alle knapp 120.000 Plätze in den vom Staat bereitgestellten Aufnahmeeinrichtungen voll belegt. Die Zentralregierung reagiert, indem sie das Problem nach unten, an die Regionen und Kommunen, weiterreicht, per Zuweisung von Flüchtlingskontingenten. Der Präfekt von Mailand wollte deshalb die Aufnahmeprobleme auf seine Weise lösen: Er verfügte letzte Woche, dass neue Zeltlager errichtet werden, aber auch dass all jene unter den etwa 2.000 in der Stadt untergebrachten Flüchtlingen, die „bloß“ humanitären Schutz, nicht aber Asyl genießen, auf die Straße gesetzt werden, um Platz für die Neuankömmlinge zu schaffen. Die Stadtverwaltung legte sich einstweilen quer: Sie will nicht zur Komplizin bei der Vergrößerung des Obdachlosenheers werden. MICHAEL BRAUN Schwerpunkt DON N ERSTAG, 2. JU N I 2016 Erneuerbare Energien 0,7 Windenergie Wasserkraft Biomasse 27,8 AUS FREIBURG BERNWARD JANZING 18,7 0,1* 0,6* 3,9 1,7* 3,3* HESSEN 15,7* 5,3* 11,6 11,6 7,3* 2,3 14,7 BERLIN BRANDENBURG 4,1* 11,3 19,2 22,1 13,4* 4,4* 3,3 3,7 0,5 4,1 SACHSEN 2,0 THÜRINGEN DEUTSCHLAND GESAMT 6,5* RHEINLANDPFALZ 2,3* 26,9 0,5 SACHSENANHALT 0,3* NORDRHEINWESTFALEN 2,1* 13,6 0,3 NIEDERSACHSEN 2,7* 7,1 19,3 12,3 4,9* BAYERN 2,3* 7,3* 12,8 7,9 1,0* 8,9 2,0 11,8 1,1 7,7 0,7* voranschreiten. Auch die Beteiligung von Bürgern wird schwierig 35,8 BREMEN 0,6 3,1 9,2 7,4 SAARLAND BADENWÜRTTEMBERG Quelle: Agentur für Erneuerbare Energien taz-Grafik: infotext-berlin.de Streit um Mais und Müll Deutlich weniger Strom aus Biogas will Wirtschaftsminister Gabriel künftig zulassen. Er erntet Widerspruch, nicht nur aus Bayern ENERGIEMIX BERLIN taz | So ganz allein auf weiter Flur kämpft Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) nicht für die Bioenergie. Auch andere Bundesländer halten den Vorschlag des Bundeswirtschaftsministers für verbesserungsfähig. Sigmar Gabriel will den Zubau von Biogasanlagen künftig auf 100 Megawatt jährlich begrenzen. Doch damit konnte sich Gabriel am Dienstagabend im Kanzleramt nicht durchsetzen: In Sachen Bioenergie „gibt es noch Gesprächsbedarf“, verkündete er im Anschluss. Seehofer sieht das genauso, er will viel mehr Zubau erlauben. Das sei ein „ganz wichtiger Bereich“, lässt er durch seinen Sprecher ausrichten. Eine Entscheidung „gegen Bayern“ dürfe es nicht geben. Allerdings geht es nicht nur um Bayern. Auch in Thüringen, Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vorpommern leisten die Landwirte einen großen Beitrag zur Stromerzeugung. Und so teilt die Staatskanzlei in Erfurt mit, es gebe durchaus Überschneidungen mit den Kollegen aus Bayern. So müsse sichergestellt werden, dass modernisierte Bestandsanlagen auch weiter durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz gefördert werden. Aus Schwerin heißt es auch, in einem sinnvollen Energiemix spiele die Bioenergie eine Rolle. Die Forderungen aus Bayern „gingen aber zu weit“. Auch den Grünen erscheint Seehofers Position nicht ganz abwegig. Julia Verlinden, ener- giepolitische Sprecherin der Partei im Bundestag, weist der Bioenergie im Energiemix eine „besondere Bedeutung“ zu. Sie könne immer dann einen Ausgleich schaffen, wenn wenig Sonnen- und Windenergie ins Netz eingespeist würden. „Würden die Anlagen für einen flexiblen Betrieb umgerüstet“, so Verlinden, „sollten auch bestehende Anlagen eine Anschlussfinanzierung erhalten.“ „Für den Klimaschutz wandeln wir besser Flächen in Moore um“ KLAUS HENNENBERG, ÖKO-INSTITUT Eben darauf dringt die Biogaslobby. Sie will nicht nur höhere Ausbauziele erreichen, sondern auch bestehende Anlagen weiter gefördert sehen. Während Windräder und Solarpanels den Strom kostengünstig liefern, wenn die Investitionskosten einmal abbezahlt sind, müssen Biogasanlagen immer wieder mit teurem Brennstoff gefüttert werden. „Für sie bedeutet es das Aus, wenn sie, wie vorgesehen, nach zwanzig Jahren keine staatliche Förderung mehr erhalten“, sagt Bernd Geisen, Geschäftsführer des Bundesverbandes Bioenergie. Setze sich das Wirtschaftsministerium durch, werde das „auf einen Rückbau hinauslaufen“, so Geisen. Und: „Die Kli- Zwei vor, eins zurück DECKEL Der Ausbau der erneuerbaren Energien soll langsamer MECKLENBURGVORPOMMERN 8,8 HAMBURG 4,1 5,4 7,7 9,9 Photovoltaik 0,4 2,0 4,7 SCHLESWIGHOLSTEIN 03 Bund und Länder wollen das EEG reformieren. Doch es gibt Streit. Kritiker warnen, die Akzeptanz der Eneuerbaren stehe auf dem Spiel Anteil erneuerbarer Energien an der Bruttostromerzeugung 2014 in Prozent, * Zahlen von 2013 TAZ.DI E TAGESZEITU NG maziele erreicht Deutschland so nicht.“ Klaus Hennenberg vom ÖkoInstitut in Darmstadt sieht das anders. „Anlagen, die neue Ackerflächen belegen, sind nicht mehr tolerabel“, sagt er. Schon jetzt würden infolge der hohen Nachfrage nach Ackerland in Deutschland Moorböden weiterhin genutzt, die mehr Kohlendioxid freisetzten, als durch die Nutzung von Bioenergie eingespart werde. „Für den Klimaschutz wäre es besser, wir würden die Flächen stilllegen und wieder in Moor verwandeln“, so Hennenberg. Wer mehr Flächen für Energiepflanzen nutzen wolle, müsse automatisch den Tierbestand senken: „Mehr Bioenergie und eine weiterhin hohe Tierfutterproduktion, beides geht nicht“. Hennenberg schlägt vor, neue Anlagen nur noch mit Abfall und Reststoffen zu betreiben, warnt allerdings vor überzogenen Erwartungen. „Der Hausmüll wird schon in großen Teilen genutzt, nur in der Gülle liegt noch einiges Potenzial“. Knapp 9.000 Biogasanlagen stehen in Deutschland, nur 400 verwerten ausschließlich Abfall. Häufigster Brennstoff ist, obgleich seit Jahren kritisiert, noch immer der Mais. Auf etwa 2,5 Millionen der insgesamt 14 Millionen Hektar Ackerfläche wird er angebaut – meist allerdings als Viehfutter. Unter anderem sorgt er für Hochleistungen bei Milchkühen. HEIKE HOLDINGHAUSEN „Das Schlimmste“ sei verhindert worden, urteilte gestern Baden-Württembergs Umweltminister Franz Untersteller (Grüne). Ein Durchbruch und eine zukunftsfähige Lösung sei das Resultat der Verhandlungen jedoch nicht. Als einer der ersten Landespolitiker äußerte sich Untersteller damit nach den langen Gesprächen zwischen Bund und Ländern über die Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG). Vor allem nannte er es „absurd, die Netze für Braunkohlestrom frei zu halten, indem die Erneuerbaren gebremst werden“. Die Deutsche Umwelthilfe warnte gar, die Beschlüsse gefährdeten die Akzeptanz der Energiewende. Es sei fatal, wenn nur noch Kapitalgesellschaften ohne lokalen Bezug zur Energiewende beitragen können; für Bürgerenergien, kleine Biogasanlagen und Photovoltaik auf Mehrfamilienhäusern und für das Gewerbe werde eine Beteiligung an der Energiewende zunehmend schwieriger. Allein die Bundesregierung sieht das EEG, wie sie gestern mitteilte, „auf gutem Weg“. Bund und Länder hätten sich „auf Grundzüge der Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) verständigt“. Doch mit ihrer Formulierung, dass „die größte Wegstrecke zurückgelegt“ sei, machte Angela Merkel auch deutlich, dass es noch immer Differenzen gibt, vor allem was die Bioenergie angeht. Fest steht bereits: Die Bundesregierung hat für das Jahr 2025 ein wenig ambitioniertes Ziel definiert. Denn lediglich 40 bis 45 Prozent des Stromverbrauchs in Deutschland sollen dann aus erneuerbaren Energien gedeckt werden – verglichen mit den zurückliegenden Jahren ein äußerst bescheidener Fortschritt. 2015 lag Deutschland bereits bei 33 Prozent Ökostromanteil, allein binnen zwei Jahren war der Wert um 7 Prozentpunkte gestie- gen. Nach dem Regierungsplan sollen nun in zehn Jahren lediglich weitere 7 bis 12 Prozentpunkte hinzukommen. Um die Dynamik zu begrenzen, soll das Förderkonzept ab 2017 komplett umgestaltet werden. Bislang wurden die betreffenden Erzeugungsanlagen durch fixe Einspeisekonditionen gefördert. Wer zu den gegebenen Bedingungen an einem Standort wirtschaftlich arbeiten konnte, und – sofern für die Anlage nötig – eine Baugenehmigung bekam, konnte sein Projekt realisieren. Die bundesweite Zubaumenge ergab sich dann schlicht aus den Marktbedingungen. Die Beschlüsse gefährden die Akzeptanz der Energiewende, warnt die Deutsche Umwelthilfe Diese Praxis will die Bundesregierung nun beenden. Sie will stattdessen feste Zubaumengen definieren, die künftig ausgeschrieben werden. Um die Volumina der Kontingente wurde allerdings lange gerungen. Bei der Windenergie an Land soll der jährliche Zubau künftig bei 2.800 Megawatt liegen. Das ist ein Bruttowert, das heißt, für den Rückbau von Altanlagen gibt es keine Zusatzkontingente. Letztes Jahr wurden in Deutschland watt an gut 3.700 MegaWindkraftanlagen neu errichtet. Zugleich soll die che Verteiräumlilung der Anlagen stärker gesteuert werden: In Norddeutschland soll der Zubau auf 60 Prozent dessen reduziert werden, was im Durch- schnitt der letzten drei Jahre installiert wurde. Begründung: Es fehle an Netzen. Damit wird die Windbranche zwar gebremst, ihr Einsatz der letzten Wochen hat sich aber gelohnt. Denn zeitweise waren noch deutlich niedrigere Zahlen im Gespräch. Anfangs sollte die Windkraft sogar zu einer reinen Steuerungsgröße degradiert werden, deren Ausbau sich aus einer komplexen Formel ergeben sollte, in die auch der Zubau aller anderen Technologien eingeht. Nun kann die Branche mit dem Ergebnis leben: „Wir danken den Bundesländern für ihren deutlichen Einsatz“, sagte Hermann Albers, Präsident des Bundesverbandes Windenergie. Was die Branche allerdings noch umtreibt, sind Pläne, zum kommenden Jahr die Vergütungen für Neuanlagen, die noch unter das alte EEG fallen, pauschal um 5 oder gar 7,5 Prozent zu senken. Denn das würde Projekte treffen, deren Anlagen genehmigt und bereits bestellt sind und die kaufmännisch längst durchkalkuliert sind. Der Verband Deutscher Maschinenund Anlagenbau (VDMA) nennt diese Pläne einen „ordnungsrechtlichen Sündenfall“. Unterdessen stehen auch bei der Photovoltaik Ausschreibungen an. 600 Megawatt sollen jährlich davon umfasst sein. Zusammen mit kleineren Anlagen, die nicht an der Ausschreibung teilnehmen, setzt die Bundesregierung einen Gesamtzubau von 2.500 Megawatt pro Jahr an. Allerdings ist völlig unklar, wie diese Menge erzielt werden soll, nachdem im vergangenen Jahr lediglich 1.460 Megawatt installiert wurden. Entsprechend kritisiert der Bundesverband Solarwirtschaft, auf Basis der jüngsten Verhandlungsergebnisse sei „die angestrebte Wiederbelebung der Photovoltaiknachfrage nicht erreichbar.“ Meinung + Diskussion SEITE 12 Foto: Alamy/mauritius images
© Copyright 2025 ExpyDoc