taz.die tageszeitung

Musik-Urteil: Recycling endlich erlaubt
Zwei kopierte Sekunden Kraftwerk gehen in die Rechtsgeschichte ein ▶ Seite 6, 14
AUSGABE BERLIN | NR. 11032 | 22. WOCHE | 38. JAHRGANG
MITTWOCH, 1. JUNI 2016 | WWW.TAZ.DE
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Der Menschenfischer
H EUTE I N DER TAZ
FLÜCHTLINGSRETTUNG Andere haderten, Rupert Neudeck handelte
einfach: Er gründete Cap Anamur und half so Tausenden
Boatpeople. Jetzt ist der radikale Humanist gestorben ▶ SEITE 4
KUNST Hieronymus
Bosch in Madrid: Ob
alles echt ist? ▶ SEITE 15
KAKAO Warum die
Elfenbeinküste fast alles
exportiert ▶ SEITE 5
KRAWALL Viele Fran-
zosen kämpfen gegen
Sozialreformen. Und die
Deutschen? ▶ SEITE 13
BERLIN Flüchtlingskin-
der kriegen keine Geburtsurkunde ▶ SEITE 21
Fotos: dpa
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
Zur Flüchtlingskrise und Angela Merkels Verhalten hierbei
ist eigentlich alles gesagt, aber
noch nicht von allen. Begleitend zur aktuellen Bild-Serie
„Das lief schief in der Flüchtlingskrise“ schaltete sich nun
auch ein gewisser Tenzin
­Gyatso in die Debatte ein. Es
sei ja gut, Flüchtlingen zu helfen, erklärte der auch als Dalai Lama bekannte Tibeter der
FAZ. „Andererseits sind es mittlerweile zu viele.“ Auch moralisch gesehen finde er, dass
diese Flüchtlinge „nur vorübergehend aufgenommen werden sollten“. Stimmt! Er selbst
lebt schließlich auch erst
seit 1959 in Indien.
TAZ MUSS SEI N
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Weltweit im Rettungseinsatz: Rupert Neudeck, unermüdlicher Organisator und Werbetrommler der Hilfsorganisation Cap Anamur, an Bord des gleichnamigen Schiffes Foto: Schiller/dpa
KOMMENTAR VON DOMINIC JOHNSON ZUM TOD VON RUPERT NEUDECK
Er fehlt
E
s entbehrt nicht einer grausamen
Pointe, dass der große Flüchtlingsretter Rupert Neudeck genau zu dem
Zeitpunkt stirbt, an dem die Todeszahlen
afrikanischer Boatpeople im Mittelmeer
immer neue Rekordwerte erreichen. 700,
vielleicht sogar 1.000 Ertrunkene in einer Woche, so genau weiß das keiner; die
allermeisten Leichen werden nie geborgen werden, und die meisten Hinterbliebenen werden vom Tod ihrer Nächsten
nie erfahren.
Es sind genau solche Zustände, die
vor fast vierzig Jahren einen empörten
40-jährigen Journalisten namens Rupert Neudeck dazu bewogen, mit dem
Frachtschiff „Cap Anamur“ eine bei-
spiellose Rettungsaktion für vietnamesische Bootsflüchtlinge zu starten, die
über 10.000 Menschen das Leben rettete.
Viele der geretteten Vietnamesen fanden damals Aufnahme in der Bundesrepublik Deutschland, obwohl das Südchinesische Meer anders als das Mittelmeer
einen halben Globus entfernt liegt. Die
damals 40-Jährigen in Deutschland waren Kriegskinder, viele hatten in ihren
frühen Jahren Flucht am eigenen Leibe
erlebt, auch Neudeck. Die von heute sind
Wohlstandskinder und es gehört zum guten Ton, Merkels Aufnahmepolitik für syrische Flüchtlinge auf der Balkanroute im
Sommer 2015 zu einem verständlichen
und menschlichen, aber bedauerlichen
Irrtum zu erklären, den es keinesfalls zu
wiederholen gilt, und sei es um den Preis
von Tausenden Toten.
Rupert Neudeck hat allerdings schon
zu Lebzeiten viele Nachahmer und Erben
gefunden, die sein Werk weiterführen:
nämlich dort einzuspringen, wo Menschenleben unmittelbar bedroht sind,
und mit Booten Schiffbrüchige aufzunehmen. Die Retter von heute sind viel-
Neudeck hat schon zu
Lebzeiten Erben gefunden,
die sein Werk fortführen
fach unterwegs vor den Küsten Libyens
und der Türkei, unbesungene Helden einer besseren Globalisierung, die die Suche eines Menschen nach dem Glück in
einem anderen Land nicht mit dem Tode
bestraft sehen wollen.
Aber die politische Aufmerksamkeit
und die Achtung, die Cap Anamur 1979
widerfuhr, erfahren die Flüchtlingsretter von heute nicht. Sie landen eher vor
Gericht als im politischen Mainstream.
Mit jedem toten Flüchtling im Mittelmeer stirbt ein Stück Menschlichkeit in
Europa. Deutschland wird jetzt einen
­
Helden der Menschlichkeit begraben
und gar nicht merken, wie entrückt dessen Ideale heute erscheinen.
Armenien: Özdemir beharrlich Nahles bedrückt
BUNDESTAG
Grünen-Chef für Resolution. Erdoğan beschwert sich bei Merkel
BERLIN taz | Grünen-Chef Cem
Özdemir verteidigt die geplante
Armenien-Resolution des Bundestags. „Alle Versuche, mit den
Mitteln der Diplomatie eine
Normalisierung der Beziehungen zwischen Armenien und
der Türkei zu erwirken, waren
leider vergeblich“, sagte Özde-
mir der taz. Der Bundestag habe
daher keinen Grund, zurückzuweichen.
Das Parlament wird voraussichtlich am Donnerstag über
die Resolution abstimmen, in
der die Verbrechen des Osmanischen Reiches an den Armeniern 1915 und 1916 als Völker-
mord bezeichnet werden. In
zwei Telefonaten beschwerten
sich am Dienstag sowohl der
türkische Präsident Erdoğan als
auch der türkische Ministerpräsident Yıldırım bei Angela Merkel über die geplante Abstimmung.
▶ Schwerpunkt SEITE 3
KINDERARMUT
Ministerin für Arbeit statt Sozialhilfe
BERLIN dpa | Arbeitsministerin
Andrea Nahles (SPD) sieht höhere Sozialleistungen als Mittel
im Kampf gegen Kinderarmut
skeptisch. „Kinderarmut ist immer ein bedrückendes Phänomen“, sagte Nahles. Sie glaube
jedoch: „Die Verbesserung von
Transferleistungen führt nicht
dazu, dass strukturell das Problem wirklich gelöst wird.“ Ziel
sei, „am besten beide Elternteile
in Arbeit zu bekommen“. Laut
neuer Zahlen der Bundesagentur für Arbeit ist derzeit rund jedes siebte Kind in Deutschland
abhängig von Hartz IV.
▶ SEITE 2, 12
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
NACH RICHTEN
ENTGELTGLEICH H EIT
MODERN E SKLAVEREI
Union gegen Schwesigs Entwurf
Mehr als 45 Millionen
betroffen
BERLIN | Die Union wird dem
Sylvana Simons, niederländische
Moderatorin Foto: dpa
Im Visier des
Volkszorns
Moderierend, präsentierend,
tanzend – die Niederländer
mochten Sylvana Simons. Seit
2000 waren ihre Shows in Fernsehen und Radio beliebt, und die
charismatische Gastgeberin,
mal mit Dreadlocks, mal kahlgeschoren, schien ihren Platz gefunden zu haben: im Scheinwerferlicht zwischen Musik, Talk,
Tanz und Quiz.
Nur: Sylvana Simons, 45, als
Kind aus der ehemaligen Kolonie Surinam in die Niederlande gekommen, hat weiterreichende Ambitionen. Das zeigte
sich schon, als sie einem Talkshowgast in die Parade fuhr, der
Bootsflüchtlinge als „Schwärzchen“ bezeichnete. Oder sie
nutzte ihren Auftritt bei einer
Theatertour, um sich über den
rassistischen Gehalt des Sinterklaas-Gehilfen Zwarte Piet auszulassen, dessen Gesicht oft
schwarz angemalt wird.
Da hörte es auf mit der Zuneigung. Das Publikum buhte Simons aus, sie flog aus der Tour.
„Es sollte ein schöner Abend
werden“, so der Produzent. Fazit: Wer die tradierten Symbole
„holländischer Geselligkeit“ infrage stellt, kann sich auf der
Beliebtheitsskala nach unten
orientieren. Dies gilt auch für
Prominente und vor allem für
solche, die nicht blond und blauäugig sind.
Die Vorgeschichte sollte man
kennen, um die jüngste Eskalation um Simons einordnen
zu können. Mitte Mai gab die
zweifache Mutter bekannt, der
jungen politischen Bewegung
DENK beizutreten, um gegen
Ungerechtigkeit zu kämpfen,
„die Minderheiten, aber auch
Frauen in den Niederlanden widerfahren“. Ein enormer rassistischer Shitstorm ergoss sich über
sie, gipfelnd in einer FacebookSeite, die ihre Abschiebung „am
Tag nach Sinterklaas“ fordert
und tausendfache Likes erntete.
Am Dienstag erstattete Sylvana Simons Anzeige. Beklemmend ist indes nicht nur der
Hass, der ihr entgegenschlägt.
Die beiden türkischstämmigen
Gründer von DENK pflegen einen durchaus ethnischen Politikansatz, sind notorische Er­
do­ğan-Versteher, was Repressio­
nen gegen Kritiker angeht, und
auch beim Thema Genozid an
Armeniern ankaratreu. Ob das
die richtige Umgebung ist für Simons? Jedenfalls zeigte sie unlängst Verständnis für die Verhaftung der niederländischen
Kolumnistin Ebru Umar in der
TOBIAS MÜLLER
Türkei. Der Tag
M IT TWOCH, 1. JU N I 2016
Gesetzentwurf von Familienministerin Manuela Schwesig
zu Entgeltgleichheit zwischen
Männern und Frauen nach Angaben von CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder noch nicht
zustimmen. Grund sei, dass
der Entwurf weit über den Koalitionsvertrag
hinausgehe,
sagte Kauder gestern in Berlin.
Die Union wolle die „klare Vorschrift“ auf dem Koalitionsvertrag umsetzen. „Wer sich nicht
daran hält, ist das Familienministerium“, kritisierte Kauder.
Es sei deshalb absolut falsch,
wenn die SPD der Union nun
eine Blockade vorwerfe, sagte
Kauder: „Es kann nicht angehen, dass der, der über den Koalitionsvertrag hinausgeht, dann
denjenigen, die den Koalitionsvertrag einhalten wollen, werden und müssen, vorwirft, es
wird blockiert.“ SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann fordert dagegen Tempo: „Ich erwarte ganz klar von der Union,
dass wir dieses Projekt aus dem
Koalitionsvertrag morgen auf
den Weg bringen.“ Mit dem
Lohngleichheitsgesetz soll die
gleiche Bezahlung von Frauen
und Männern in Betrieben
durchgesetzt werden. (rtr)
SYDNEY | Weltweit werden laut
einer Studie mehr als 45 Millionen Menschen als Sklaven
ausgebeutet. Zwei Drittel dieser modernen Sklaven – Männer, Frauen und Kinder – werden im asiatisch-pazifischen
Raum festgehalten, die meisten davon mit 18 Millionen allein in Indien, heißt es in dem
Bericht der Walk Free Foundation. In Relation zur Bevölkerungsgröße weise Nordkorea die
höchste Quote auf. Laut Bericht
gibt es jetzt 28 Prozent mehr unter sklavenähnlichen Bedingungen Lebende als noch 2014. (afp)
DI E TAZ I M N ETZ
VW IM ERSTEN QUARTAL
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Nettogewinn sackt
um ein Fünftel ab
taz.de/facebook
WOLFSBURG | Der Volkswagen-
taz.de/vimeo
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Konzern hat vor dem Hintergrund des Abgasskandals im
ersten Quartal 2016 einen empfindlichen Gewinneinbruch verbucht. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum fiel der Nettogewinn um ein Fünftel auf 2,31
Milliarden Euro, teilte der Autobauer gestern in Wolfsburg mit.
Der Konzernumsatz sank demnach um 3,4 Prozent auf 51 Milliarden Euro. Laut Vorstandschef
Matthias Müller kann Volkswagen angesichts „vielfältiger Herausforderungen“ aber „insgesamt zufrieden“ sein. (afp)
Jedes siebte Kind ist von Armut bedroht
GELD Die Zahl der Kinder, die von Hartz IV abhängig sind, steigt. Insbesondere alleinerziehende Mütter leiden
unter Armut. Linkspartei-Chefin Katja Kipping fordert nun eine Grundsicherung für unter 15-Jährige
VON GARETH JOSWIG
BERLIN taz | Jedes siebte Kind in
Deutschland lebt am Rande des
Existenzminimums. In Bremen
und Berlin sind sogar ein Drittel der Heranwachsenden von
Armut bedroht. Das geht aus
Daten der Bundesagentur für
Arbeit hervor, die Sabine Zimmermann analysierte, Bundestagsabgeordnete der Linken für
Arbeitsmarktpolitik.
Deutschlandweit gab es im
Dezember 2015 insgesamt 1,54
Millionen unter 15-Jährige, die
von Hartz-IV-Leistungen abhän-
gig waren. Damit stieg die Anzahl von Armut bedrohter Kinder um 30.000 gegenüber dem
Vorjahr. Gleichzeitig verkündete
die Arbeitsagentur am Dienstag,
dass die Zahl der Arbeitslosen
im letzten Jahr um 98.000 gesunken ist. Wie kann das sein?
Insbesondere
alleinerziehende Mütter leiden unter Armut. Das Jobcenter verrechnet etwa Kindergeld mit dem
Grundbedarf. Linken-Chefin
Katja Kipping forderte deswegen eine „Grundsicherung für
alle Kinder und Jugendlichen“.
Über 20 Wohlfahrtsverbänden,
Vertreter der Wissenschaft und
der Kirchen sehen das ähnlich.
Anlässlich des Kindertags am
heutigen Mittwoch forderten
auch sie in einem gemeinsamen Aufruf die Einführung einer „einheitlichen und eigenständigen Geldleistung für Jugendliche und Kinder“.
Das Bündnis weist in dem
Aufruf auf die Ungerechtigkeit
hin, dass BezieherInnen „höherer Einkommen für ihre Kinder
mit ihrem Kindersteuerfreibetrag eine höhere Unterstützung erhalten als solche normaler und niedriger Einkommen.“
Familie T. in Berlin lebt von Hartz IV Foto: Kiên Hoàng Lê
Immer fehlt was
ERFAHRUNG
risiko von 42 Prozent voraus:
„Die Armutsquote der Alleinerziehenden steigt, obwohl ihre
Erwerbstätigenquote seit Jahren
zunimmt.“
Die „Tafel“ ist ebenfalls Unterzeichnerin des Aufrufs. Ihre
EhrenamtlerInnen verteilen
Essen an Menschen, die trotz
vermeintlicher Existenzsicherung nur dank Essensspenden
die Runden kommen. TaIn Berlin und Bremen über
fel-Vorsitzender Jochen Brühl
lebt jedes dritte Kind sagt: „Kinderarmut ist seit rund
zehn Jahren konstant auf sehr
am Rande des
hohem Niveau. 24 Prozent unse­Existenzminimums
rer Tafel-Gäste sind Kinder und
Jugendliche unter 18 Jahren. Das
sind aktuell mehr als 350.000
junge Menschen.“
Wie die geforderte Grundsicherung konkret aussehen
soll? Das Bündnis will, dass der
Staat alle kindbezogenen Geldleistungen oder steuerlichen
Vergünstigungen in einer einheitlichen und ausreichenden
Zahlung bündelt. Dadurch vereinfache sich das bürokratische
Nebeneinander verschiedener
Systeme und befreie „viele Jugendliche aus dem stigmatisierenden Bezug der Grundsicherungsleistungen“.
Das Bundesministerium für
Arbeit und Soziales unter Andrea Nahles schlug kürzlich
genau das Gegenteil vor. Nahles will Alleinerziehenden tageweise das Sozialgeld kürzen:
an den Tagen, an dem das Kind
bei ExpartnerInnen ist. Laut
dem Verband alleinerziehender Mütter und Väter würden
darunter vor allem Kinder leiden: Alleinerziehende müssten
sich fragen, ob sie es sich leisten
können, das Kind zum Expartner zu geben.
Meinung SEITE 12
THEMA
DES
TAGES
Laut dem Verband alleinerziehender Mütter und Väter
beziehen 39 Prozent der alleinstehenden Eltern Hartz IV, und
die Hälfte aller Kinder mit Jobcenter-Leistungen leben bei Single-Eltern. Auch der Armutsbericht 2016 des Paritätischen
Wohlfahrtsverbandes sagt für
Alleinerziehende ein Armuts-
Es ist besser, an einen Stromzaun zu pinkeln, als zum Jobcenter zu gehen, schreibt eine Betroffene
BERLIN taz | 2014. Erst ging es mir
persönlich schlecht, dann beruflich. Ich konnte meinen Roman
nicht zum Abgabetermin beenden. Kein Buch, kein Geld.
Ich war frisch alleinerziehend, musste mir Geld leihen.
Eine gute Idee ist es, gegen
einen Stromzaun zu pullern.
Keine gute Idee ist es, zum Jobcenter zu gehen, wenn man
Hilfe braucht.
Vor mir in der Schlange stand
eine Mutter. Ein Kind im Wagen,
eins lief schon schwankend,
aber schnell. Jocelyn. Die Mutter rief sie oft zurück. Das andere Kind spuckte den Schnuller
aus. „Na, spielst du Arbeitsamt,
Jasmin?“ Sie hob den Schnuller
auf. Jasmin lachte, spuckte den
Schnuller aus. Die Mutter begann zu drohen: „Ich kürz dir
den Schnuller, dann heulste
wieder!“ Die Kindsnamen waren auf ihre Fußknöchel tätowiert.
Schwangere Frauen dürfen übrigens an der Seite der
Schlange vorbei. Frauen mit
Kindern nicht.
Jasmin weinte, wollte keinen
achten Keks. Jocelyn turnte hinter der Absperrung herum. Ich
schwitzte solidarisch mit der
Mutter mit. Wenn mein Kind
krank geworden wäre, wäre ich
auch Mutter mit Kind beim Amt
gewesen.
Als sie endlich dran war,
wurde am Empfangstresen ihr
Rücken erst hart, dann rund. Zusammengeknüllt wie Müll ging
sie, rief nach Jocelyn, als wär’s
ein böser Hund. In ihren Unterlagen fehlte sicher etwas. Noch
nie sah jemand mehr nach „Wieder kein Geld“ aus.
Erst da sah ich, wie jung sie
war. Ich wollte ihr einen Keks geben, den Schnuller reinstecken,
und wenn sie ihn ausspuckte,
würde ich mit ihr Arbeitsamt
spielen.
Bei der Sachbearbeiterin war
das Fenster offen, die ganze Zeit
bellten zwei Hunde im Hof.
Die Frau fragte und fragte. Ich
hatte auch Fragen: ob jeden Tag
Hunde unten bellten.
Sie seufzte.
Alle taten mir leid. Die Hunde,
die Frau.
„Könnte man dort nicht
Trink­näpfe hinstellen?“
Das würde sie mal vorschlagen, die armen Tiere.
Und könnte man nicht unten
eine Spielecke für Kinder einrichten, fragte ich weiter. Ich
erzählte von der jungen Mutter.
Da war es vorbei mit „die ar-
men Tiere“. Schon bei „junge
Mutter“ wusste sie alles. „Ich
will ja nicht alle über eine Klinge
springen lassen, aber …“
Die bringen die Kinder mit,
weil sie hoffen, dass sie dann
vorgelassen werden.
War ich froh, dass ich keine
Vorurteile gegen Jobcenterangestellte hatte, sonst wären sie
jetzt bestätigt worden.
Sie gab mir alle Anträge, Anlage A, Faltanleitung für einen
Papiersarg. Bis ich das Geld bekommen habe, sind Monate vergangen. Immer fehlte etwas.
Ohne meine Mutter wäre ich
KIRSTEN FUCHS
verhungert.
Schwerpunkt
Völkermord an
den Armeniern
M IT TWOCH, 1. JU N I 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Morgen beschließt der Bundestag, die Massenmorde des
Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg als Genozid einzustufen
Ein türkischer Demonstrant zeigt in Berlin seinen Unmut über die Völkermorddiskussion Foto: K.-D. Gabbert/dpa
„Völkermord“ steht auf dem Arm dieser armenischen Demonstrantin in Berlin Foto: Stefan Boness/Ipon
Eine deutsch-türkische Geschichtsstunde
RESOLUTION Die Abstimmung über das
Thema Genozid an den Armeniern
ist vor allem heikel für Abgeordnete
aus Wahlkreisen, in denen viele
türkischstämmige Bürger leben
VON TOBIAS SCHULZE
Mit dem Völkermord an den Armeniern wird sich der Bundestag am Ende nicht länger aufhalten als unbedingt nötig. Die
Abgeordneten debattieren am
Donnerstagmittag zwar eine
Stunde lang über ihre Resolution zum Thema. Die Abstimmung über den gemeinsamen
Antrag von CDU, SPD und Grünen hinterher wird aber eine Sache von Sekunden. Hände hoch
für Ja, Hände hoch für Nein,
dann geht es weiter zum nächsten Punkt der Tagesordnung.
Anders als bei vielen anderen
brisanten Themen ist in diesem
Fall keine namentliche Abstimmung vorgesehen. Der Bundestag wird nicht dokumentieren,
wie die einzelnen Abgeordneten abstimmen. Alle vier Fraktionen im Parlament haben sich
darauf geeinigt, auf das ausführliche Verfahren zu verzichten.
Dazu gebe es keine Veranlassung, heißt es aus SPD und
Union. Man gehe ohnehin von
einer breiten Mehrheit aus,
heißt es aus der Linksfraktion.
Dass es noch einen weiteren
Grund gibt, deutet lediglich
Grünen-Chef Cem Özdemir an.
„Ich habe auch von Sorgen und
Nöten gehört, die einzelne Abgeordnete haben“, sagt er.
Es geht um den Druck, den
vor allem Gegner der Resolution vor der Abstimmung aufbauen. In den Bundestagsbüros
gehen in diesen Tagen massenhaft E-Mails zum Thema Genozid an den Armeniern ein. Viele
sind sachlich, manche enthalten
nach Angaben aus dem Parlament aber auch Drohungen. Die
Abstimmung am Donnerstag ist
daher heikel – speziell für Abgeordnete aus Wahlkreisen, in
denen viele türkischstämmige
Bürger leben.
Unter diesen ist die Resolution nämlich besonders umstritten. In dem dreiseitigen
Text heißt es, die „planmäßige
Vertreibung und Vernichtung
von über einer Million ethnischer Armenier“ in den Jahren
1915 und 1916 stehe beispielhaft
für „die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, ja der Völkermorde“. Auch das Deutsche
Reich trage dafür Verantwortung: Es habe „als militärischer
Hauptverbündeter des Osmanischen Reichs nicht versucht,
diese Verbrechen zu stoppen“.
Gegen die Resolution demonstrierte schon am vergangenen Samstag ein Bündnis
deutsch-türkischer Verbände
vor dem Reichstagsgebäude. Ihr
Motto: „Der Bundestag ist kein
Abstimmung mit Vorlauf
■■Die Resolution hat eine lange
Vorgeschichte: Ursprünglich war
sie für den hundertsten Jahrestag des Völkermords im April
2015 eingeplant. Union und
SPD zogen den Entwurf damals
aber kurzfristig zurück, weil sie
die Beziehungen zur türkischen
Regierung nicht unnötig belasten
wollten.
■■Im Februar 2016 reichten die
Grünen einen neuen Entwurf ein.
In der Debatte dazu versprachen
ihnen die Regierungsfraktionen:
Wenn die Grünen ihren Antrag
zurücknehmen, gibt es bis zur
Sommerpause doch noch eine
fraktionsübergreifende Resolution. Über diesen stimmt der
Bundestag nun ab. (tsc)
Gericht.“ Für Mittwochabend ist
eine weitere Demonstration angemeldet. Zudem kursiert im Internet ein Musterschreiben, das
Gegner der Resolution an Fraktionen und Abgeordnete schicken sollen. Darin heißt es unter anderem, die Resolution sei
„Gift für das friedvolle Zusammenleben zwischen Deutschen
und Türken“.
Dass Interessengruppen vor
wichtigen Abstimmungen auf
diese Weise Druck auf das Parlament machen, ist nicht ungewöhnlich. Bei harmlosen
Zuschriften bleibt es im Fall
der Armenien-Resolution aber
nicht. „Wer wie ich für die Resolution wirbt, wird mit Morddrohungen und Beschimpfungen überzogen. In dem Ausmaß
habe ich das bisher bei keinem
anderen Thema erlebt“, sagt
die Bochumer Abgeordnete Sevim Dağdelen (Linkspartei). Am
Dienstagmittag kündigte sie per
Videobotschaft auf ihrer Facebook-Seite an, für die Resolution
zu stimmen. In einem der harmloseren Kommentare dazu bezeichnet sie ein Nutzer als PKKTerroristin.
Auf der Facebook-Seite der
Hagener CDU-Abgeordneten
Cemile Giousouf sind solche
Kommentare bislang nicht zu
lesen. Sie hat sich in der Debatte über die Resolution bisher zurückgehalten und sagt:
„Als der Bundestag über die Regulierung von E-Zigaretten abgestimmt hat, bekam ich mehr
E-Mails als jetzt.“ Dennoch erhalte auch sie nun Zuschriften.
Das Thema Genozid an den Armeniern werde „von beiden Seiten emotional diskutiert“.
Unabhängig davon wollen
beide Abgeordnete der Resolu-
Bei harmlosen
Zuschriften bleibt
es im Fall
der Armenien-­
Resolution nicht
tion zustimmen. „Um der Opfer
zu gedenken und nicht, um die
Türkei zurechtzuweisen“, betont
Giousouf. „Um die türkische Zivilgesellschaft zu unterstützen,
die bei der Aufarbeitung viel
weiter ist als ihre Regierung“,
sagt Dağdelen.
Andere türkischstämmige
Abgeordnete tun sich mit der Resolution schwerer. Der Duisburger MdB Mahmut Özdemir zum
Beispiel kündigte in der ARD an,
nicht an der Abstimmung teilzunehmen. Aus Rücksicht auf
seine Wähler? In der Woche nach
der Bundestagswahl 2013 hatte
er in Duisburg an einer Veranstaltung der Union Europäisch-
Türkischer Demokraten teilgenommen und sich für seine
Wahl bedankt. Die Organisation
unterstützt den türkischen Präsidenten Erdoğan und ist gegen die Armenien-Resolution.
Zwei Gesprächsanfragen der taz
lehnte der SPD-Abgeordnete Özdemir „aus terminlichen Gründen“ ab.
Problematisch ist die Abstimmung auch für die deutschstämmige Abgeordnete Angela Merkel aus dem Wahlkreis Vorpommern-Rügen. In ihrer Funktion
als Bundeskanzlerin hat sie bekanntlich regen Kontakt mit der
Regierung in Ankara. Der neue
türkische Ministerpräsident Binali Yıldırım beschwerte sich am
Dienstagvormittag in einem Telefonat bei ihr: Die geplante Resolution enthalte „haltlose und
ungerechte politische Urteile“.
Immerhin: Um die Abstimmung am Donnerstag könnte
Merkel herumkommen – dank
einer geschickten Terminplanung im Kanzleramt. Laut Tagesordnung beginnt die Armenien-Debatte im Bundestag um
11.10 Uhr, die Abstimmung folgt
eine Stunde später. Die Bundeskanzlerin spricht derweil zwei
Kilometer entfernt auf einer
Konferenz in der Hauptstadtrepräsentanz der Telekom. Ihr
Vortrag auf der ganztägigen Veranstaltung ist ausgerechnet für
11.40 Uhr eingeplant.
„Wir tragen eine Mitschuld an diesem Völkermord“
WIRKUNG
Cem Özdemir unterstützt die Genozidresolution des Bundestags. Der Grünen-Chef ist sich sicher, dass das den Druck auf Ankara erhöhen wird
taz: Herr Özdemir, glauben Sie
wirklich, dass die Verurteilung
des Völkermords an den Armeniern durch den Bundestag der
Vergangenheitsbewältigung in
der Türkei nutzt?
Cem Özdemir: Auf Dauer ja,
kurzfristig nicht. Die Reaktionen aus der Türkei sind ja derzeit scharf. Was Ankara dabei
ausblendet, ist, dass der Bundestag handelt, weil es eine
deutsche
Mitverantwortung
am Völkermord gibt. Die Bundesrepublik ist Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs, das
im Jahr 1915 Hauptverbündeter
des Osmanischen Reichs war.
Dass auch wir jetzt von Völkermord reden, erhöht den Druck
auf Ankara. Die beschönigende
offizielle Geschichtsversion in
der Türkei wird sich auf Dauer
nicht halten.
Wird es Gegenmaßnahmen
von Erdoğan geben?
Das weiß man bei ihm nie so
genau. Als wir im Bundestag
über Fraktionsgrenzen hinweg im April 2015 von Völkermord gesprochen haben, war
die Reaktion aus Ankara zurückhaltend. Manche kritisieren, dass der Zeitpunkt für die
Resolution jetzt ungünstig ist.
Mag sein. Aber dass wir im Parlament nun zum dritten Mal
über das Gedenken an den Völkermord debattieren, liegt doch
an dem Versuch der Regierung,
das Thema immer wieder wegzudrücken. Also: Große Staatskunst, Frau Merkel und Herr
Steinmeier!
Die
Völkermordresolution
wird „die Konflikte zwischen
der Türkei und Armenien sogar verschärfen“ …
Das ist von mir …
Das haben Sie 2001 geschrieben – um den Antrag, zu verhindern, den Sie nun unterstützen. Woher der Wandel?
Ich wäre auch heute noch der
Erste, der sagt: Wir sollten die
Gespräche zwischen Armenien und der Türkei nicht stören. Nur gibt es diese Gespräche
nicht. Deshalb haben wir keinen Grund zurückzuweichen.
Alle Versuche, mit den Mitteln
der Diplomatie eine Normalisierung der Beziehungen zwischen
Armenien und der Türkei zu erwirken, waren leider vergeblich.
Gleiches gilt für den Versuch, ei-
nen historischen Konsens mit
der Türkei über das, was 1915
geschehen ist, herzustellen.
Die Ermordung meines Freundes Hrant Dink 2007, der sich
wie kein Zweiter für eine Aussöhnung eingesetzt hat, zeigt
doch, wohin die Reise geht.
Etliche Staaten haben in den
letzten Jahren den Genozid an
den Armeniern verurteilt. Hat
das in der Türkei Produktives
bewirkt?
Ich glaube, dass der internationale Druck in der Türkei bei
manchen Zweifel wachsen lässt,
ob es denn wirklich sein kann,
dass alle anderen im Unrecht
sind. Und ob wirklich stimmt,
was noch heute in der Schule
gelehrt wird: dass der Türke nur
einen Freund hat – den Türken.
Ich erlebe zwei verschiedene Reaktionsmuster. Manche leugnen hartnäckig. Ich bekomme
Briefe, in denen steht: Wir haben dich, Özdemir, als Armenier damals vergessen. Erstens
bin ich kein Armenier, zudem ist
die Haltung, dass es keinen Völkermord gab, wir es aber sofort
wieder tun würden, entlarvend.
Mir schreiben aber auch viele
Jüngere, die mehr über die Geschichte wissen wollen. Es gibt
ein großes Informationsdefizit.
Das Kaiserreich deckte 1915 den
Genozid. Das wird in der Resolution nur angetippt. Warum
keine deutlichere Selbstkritik?
Wir stellen diesen Antrag mit
SPD und Union. Da mussten wir
Kompromisse machen. Das Besondere dieses Antrags ist doch:
Wir, der damalige Hauptverbündete, sagen, dass das, was 1915
passiert ist, ein Völkermord war
und wir daran eine Mitschuld
tragen. Das hat bisher kein deutsches Parlament so formuliert.
Ich hätte nicht gedacht, dass dies
möglich ist.
INTERVIEW STEFAN REINECKE
Cem Özdemir
■■ist seit
2008
Kovorsitzender der
Grünen,
derzeit gemeinsam mit
Foto: dpa
Simone
Peter. 2017 will der 50-Jährige
grüner Spitzenkandidat werden.