Musik-Urteil: Recycling endlich erlaubt Zwei kopierte Sekunden Kraftwerk gehen in die Rechtsgeschichte ein ▶ Seite 6, 14 AUSGABE BERLIN | NR. 11032 | 22. WOCHE | 38. JAHRGANG MITTWOCH, 1. JUNI 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Der Menschenfischer H EUTE I N DER TAZ FLÜCHTLINGSRETTUNG Andere haderten, Rupert Neudeck handelte einfach: Er gründete Cap Anamur und half so Tausenden Boatpeople. Jetzt ist der radikale Humanist gestorben ▶ SEITE 4 KUNST Hieronymus Bosch in Madrid: Ob alles echt ist? ▶ SEITE 15 KAKAO Warum die Elfenbeinküste fast alles exportiert ▶ SEITE 5 KRAWALL Viele Fran- zosen kämpfen gegen Sozialreformen. Und die Deutschen? ▶ SEITE 13 BERLIN Flüchtlingskin- der kriegen keine Geburtsurkunde ▶ SEITE 21 Fotos: dpa VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! Zur Flüchtlingskrise und Angela Merkels Verhalten hierbei ist eigentlich alles gesagt, aber noch nicht von allen. Begleitend zur aktuellen Bild-Serie „Das lief schief in der Flüchtlingskrise“ schaltete sich nun auch ein gewisser Tenzin Gyatso in die Debatte ein. Es sei ja gut, Flüchtlingen zu helfen, erklärte der auch als Dalai Lama bekannte Tibeter der FAZ. „Andererseits sind es mittlerweile zu viele.“ Auch moralisch gesehen finde er, dass diese Flüchtlinge „nur vorübergehend aufgenommen werden sollten“. Stimmt! Er selbst lebt schließlich auch erst seit 1959 in Indien. TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.919 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Es sind genau solche Zustände, die vor fast vierzig Jahren einen empörten 40-jährigen Journalisten namens Rupert Neudeck dazu bewogen, mit dem Frachtschiff „Cap Anamur“ eine bei- spiellose Rettungsaktion für vietnamesische Bootsflüchtlinge zu starten, die über 10.000 Menschen das Leben rettete. Viele der geretteten Vietnamesen fanden damals Aufnahme in der Bundesrepublik Deutschland, obwohl das Südchinesische Meer anders als das Mittelmeer einen halben Globus entfernt liegt. Die damals 40-Jährigen in Deutschland waren Kriegskinder, viele hatten in ihren frühen Jahren Flucht am eigenen Leibe erlebt, auch Neudeck. Die von heute sind Wohlstandskinder und es gehört zum guten Ton, Merkels Aufnahmepolitik für syrische Flüchtlinge auf der Balkanroute im Sommer 2015 zu einem verständlichen und menschlichen, aber bedauerlichen Irrtum zu erklären, den es keinesfalls zu wiederholen gilt, und sei es um den Preis von Tausenden Toten. Rupert Neudeck hat allerdings schon zu Lebzeiten viele Nachahmer und Erben gefunden, die sein Werk weiterführen: nämlich dort einzuspringen, wo Menschenleben unmittelbar bedroht sind, und mit Booten Schiffbrüchige aufzunehmen. Die Retter von heute sind viel- Neudeck hat schon zu Lebzeiten Erben gefunden, die sein Werk fortführen fach unterwegs vor den Küsten Libyens und der Türkei, unbesungene Helden einer besseren Globalisierung, die die Suche eines Menschen nach dem Glück in einem anderen Land nicht mit dem Tode bestraft sehen wollen. Aber die politische Aufmerksamkeit und die Achtung, die Cap Anamur 1979 widerfuhr, erfahren die Flüchtlingsretter von heute nicht. Sie landen eher vor Gericht als im politischen Mainstream. Mit jedem toten Flüchtling im Mittelmeer stirbt ein Stück Menschlichkeit in Europa. Deutschland wird jetzt einen Helden der Menschlichkeit begraben und gar nicht merken, wie entrückt dessen Ideale heute erscheinen. Armenien: Özdemir beharrlich Nahles bedrückt BUNDESTAG Grünen-Chef für Resolution. Erdoğan beschwert sich bei Merkel BERLIN taz | Grünen-Chef Cem Özdemir verteidigt die geplante Armenien-Resolution des Bundestags. „Alle Versuche, mit den Mitteln der Diplomatie eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Armenien und der Türkei zu erwirken, waren leider vergeblich“, sagte Özde- mir der taz. Der Bundestag habe daher keinen Grund, zurückzuweichen. Das Parlament wird voraussichtlich am Donnerstag über die Resolution abstimmen, in der die Verbrechen des Osmanischen Reiches an den Armeniern 1915 und 1916 als Völker- mord bezeichnet werden. In zwei Telefonaten beschwerten sich am Dienstag sowohl der türkische Präsident Erdoğan als auch der türkische Ministerpräsident Yıldırım bei Angela Merkel über die geplante Abstimmung. ▶ Schwerpunkt SEITE 3 KINDERARMUT Ministerin für Arbeit statt Sozialhilfe BERLIN dpa | Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) sieht höhere Sozialleistungen als Mittel im Kampf gegen Kinderarmut skeptisch. „Kinderarmut ist immer ein bedrückendes Phänomen“, sagte Nahles. Sie glaube jedoch: „Die Verbesserung von Transferleistungen führt nicht dazu, dass strukturell das Problem wirklich gelöst wird.“ Ziel sei, „am besten beide Elternteile in Arbeit zu bekommen“. Laut neuer Zahlen der Bundesagentur für Arbeit ist derzeit rund jedes siebte Kind in Deutschland abhängig von Hartz IV. ▶ SEITE 2, 12 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN ENTGELTGLEICH H EIT MODERN E SKLAVEREI Union gegen Schwesigs Entwurf Mehr als 45 Millionen betroffen BERLIN | Die Union wird dem Sylvana Simons, niederländische Moderatorin Foto: dpa Im Visier des Volkszorns Moderierend, präsentierend, tanzend – die Niederländer mochten Sylvana Simons. Seit 2000 waren ihre Shows in Fernsehen und Radio beliebt, und die charismatische Gastgeberin, mal mit Dreadlocks, mal kahlgeschoren, schien ihren Platz gefunden zu haben: im Scheinwerferlicht zwischen Musik, Talk, Tanz und Quiz. Nur: Sylvana Simons, 45, als Kind aus der ehemaligen Kolonie Surinam in die Niederlande gekommen, hat weiterreichende Ambitionen. Das zeigte sich schon, als sie einem Talkshowgast in die Parade fuhr, der Bootsflüchtlinge als „Schwärzchen“ bezeichnete. Oder sie nutzte ihren Auftritt bei einer Theatertour, um sich über den rassistischen Gehalt des Sinterklaas-Gehilfen Zwarte Piet auszulassen, dessen Gesicht oft schwarz angemalt wird. Da hörte es auf mit der Zuneigung. Das Publikum buhte Simons aus, sie flog aus der Tour. „Es sollte ein schöner Abend werden“, so der Produzent. Fazit: Wer die tradierten Symbole „holländischer Geselligkeit“ infrage stellt, kann sich auf der Beliebtheitsskala nach unten orientieren. Dies gilt auch für Prominente und vor allem für solche, die nicht blond und blauäugig sind. Die Vorgeschichte sollte man kennen, um die jüngste Eskalation um Simons einordnen zu können. Mitte Mai gab die zweifache Mutter bekannt, der jungen politischen Bewegung DENK beizutreten, um gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen, „die Minderheiten, aber auch Frauen in den Niederlanden widerfahren“. Ein enormer rassistischer Shitstorm ergoss sich über sie, gipfelnd in einer FacebookSeite, die ihre Abschiebung „am Tag nach Sinterklaas“ fordert und tausendfache Likes erntete. Am Dienstag erstattete Sylvana Simons Anzeige. Beklemmend ist indes nicht nur der Hass, der ihr entgegenschlägt. Die beiden türkischstämmigen Gründer von DENK pflegen einen durchaus ethnischen Politikansatz, sind notorische Er doğan-Versteher, was Repressio nen gegen Kritiker angeht, und auch beim Thema Genozid an Armeniern ankaratreu. Ob das die richtige Umgebung ist für Simons? Jedenfalls zeigte sie unlängst Verständnis für die Verhaftung der niederländischen Kolumnistin Ebru Umar in der TOBIAS MÜLLER Türkei. Der Tag M IT TWOCH, 1. JU N I 2016 Gesetzentwurf von Familienministerin Manuela Schwesig zu Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen nach Angaben von CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder noch nicht zustimmen. Grund sei, dass der Entwurf weit über den Koalitionsvertrag hinausgehe, sagte Kauder gestern in Berlin. Die Union wolle die „klare Vorschrift“ auf dem Koalitionsvertrag umsetzen. „Wer sich nicht daran hält, ist das Familienministerium“, kritisierte Kauder. Es sei deshalb absolut falsch, wenn die SPD der Union nun eine Blockade vorwerfe, sagte Kauder: „Es kann nicht angehen, dass der, der über den Koalitionsvertrag hinausgeht, dann denjenigen, die den Koalitionsvertrag einhalten wollen, werden und müssen, vorwirft, es wird blockiert.“ SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann fordert dagegen Tempo: „Ich erwarte ganz klar von der Union, dass wir dieses Projekt aus dem Koalitionsvertrag morgen auf den Weg bringen.“ Mit dem Lohngleichheitsgesetz soll die gleiche Bezahlung von Frauen und Männern in Betrieben durchgesetzt werden. (rtr) SYDNEY | Weltweit werden laut einer Studie mehr als 45 Millionen Menschen als Sklaven ausgebeutet. Zwei Drittel dieser modernen Sklaven – Männer, Frauen und Kinder – werden im asiatisch-pazifischen Raum festgehalten, die meisten davon mit 18 Millionen allein in Indien, heißt es in dem Bericht der Walk Free Foundation. In Relation zur Bevölkerungsgröße weise Nordkorea die höchste Quote auf. Laut Bericht gibt es jetzt 28 Prozent mehr unter sklavenähnlichen Bedingungen Lebende als noch 2014. (afp) DI E TAZ I M N ETZ VW IM ERSTEN QUARTAL taz.de/twitter Nettogewinn sackt um ein Fünftel ab taz.de/facebook WOLFSBURG | Der Volkswagen- taz.de/vimeo Folgen Liken Klicken www.taz.de Konzern hat vor dem Hintergrund des Abgasskandals im ersten Quartal 2016 einen empfindlichen Gewinneinbruch verbucht. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum fiel der Nettogewinn um ein Fünftel auf 2,31 Milliarden Euro, teilte der Autobauer gestern in Wolfsburg mit. Der Konzernumsatz sank demnach um 3,4 Prozent auf 51 Milliarden Euro. Laut Vorstandschef Matthias Müller kann Volkswagen angesichts „vielfältiger Herausforderungen“ aber „insgesamt zufrieden“ sein. (afp) Jedes siebte Kind ist von Armut bedroht GELD Die Zahl der Kinder, die von Hartz IV abhängig sind, steigt. Insbesondere alleinerziehende Mütter leiden unter Armut. Linkspartei-Chefin Katja Kipping fordert nun eine Grundsicherung für unter 15-Jährige VON GARETH JOSWIG BERLIN taz | Jedes siebte Kind in Deutschland lebt am Rande des Existenzminimums. In Bremen und Berlin sind sogar ein Drittel der Heranwachsenden von Armut bedroht. Das geht aus Daten der Bundesagentur für Arbeit hervor, die Sabine Zimmermann analysierte, Bundestagsabgeordnete der Linken für Arbeitsmarktpolitik. Deutschlandweit gab es im Dezember 2015 insgesamt 1,54 Millionen unter 15-Jährige, die von Hartz-IV-Leistungen abhän- gig waren. Damit stieg die Anzahl von Armut bedrohter Kinder um 30.000 gegenüber dem Vorjahr. Gleichzeitig verkündete die Arbeitsagentur am Dienstag, dass die Zahl der Arbeitslosen im letzten Jahr um 98.000 gesunken ist. Wie kann das sein? Insbesondere alleinerziehende Mütter leiden unter Armut. Das Jobcenter verrechnet etwa Kindergeld mit dem Grundbedarf. Linken-Chefin Katja Kipping forderte deswegen eine „Grundsicherung für alle Kinder und Jugendlichen“. Über 20 Wohlfahrtsverbänden, Vertreter der Wissenschaft und der Kirchen sehen das ähnlich. Anlässlich des Kindertags am heutigen Mittwoch forderten auch sie in einem gemeinsamen Aufruf die Einführung einer „einheitlichen und eigenständigen Geldleistung für Jugendliche und Kinder“. Das Bündnis weist in dem Aufruf auf die Ungerechtigkeit hin, dass BezieherInnen „höherer Einkommen für ihre Kinder mit ihrem Kindersteuerfreibetrag eine höhere Unterstützung erhalten als solche normaler und niedriger Einkommen.“ Familie T. in Berlin lebt von Hartz IV Foto: Kiên Hoàng Lê Immer fehlt was ERFAHRUNG risiko von 42 Prozent voraus: „Die Armutsquote der Alleinerziehenden steigt, obwohl ihre Erwerbstätigenquote seit Jahren zunimmt.“ Die „Tafel“ ist ebenfalls Unterzeichnerin des Aufrufs. Ihre EhrenamtlerInnen verteilen Essen an Menschen, die trotz vermeintlicher Existenzsicherung nur dank Essensspenden die Runden kommen. TaIn Berlin und Bremen über fel-Vorsitzender Jochen Brühl lebt jedes dritte Kind sagt: „Kinderarmut ist seit rund zehn Jahren konstant auf sehr am Rande des hohem Niveau. 24 Prozent unseExistenzminimums rer Tafel-Gäste sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Das sind aktuell mehr als 350.000 junge Menschen.“ Wie die geforderte Grundsicherung konkret aussehen soll? Das Bündnis will, dass der Staat alle kindbezogenen Geldleistungen oder steuerlichen Vergünstigungen in einer einheitlichen und ausreichenden Zahlung bündelt. Dadurch vereinfache sich das bürokratische Nebeneinander verschiedener Systeme und befreie „viele Jugendliche aus dem stigmatisierenden Bezug der Grundsicherungsleistungen“. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter Andrea Nahles schlug kürzlich genau das Gegenteil vor. Nahles will Alleinerziehenden tageweise das Sozialgeld kürzen: an den Tagen, an dem das Kind bei ExpartnerInnen ist. Laut dem Verband alleinerziehender Mütter und Väter würden darunter vor allem Kinder leiden: Alleinerziehende müssten sich fragen, ob sie es sich leisten können, das Kind zum Expartner zu geben. Meinung SEITE 12 THEMA DES TAGES Laut dem Verband alleinerziehender Mütter und Väter beziehen 39 Prozent der alleinstehenden Eltern Hartz IV, und die Hälfte aller Kinder mit Jobcenter-Leistungen leben bei Single-Eltern. Auch der Armutsbericht 2016 des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes sagt für Alleinerziehende ein Armuts- Es ist besser, an einen Stromzaun zu pinkeln, als zum Jobcenter zu gehen, schreibt eine Betroffene BERLIN taz | 2014. Erst ging es mir persönlich schlecht, dann beruflich. Ich konnte meinen Roman nicht zum Abgabetermin beenden. Kein Buch, kein Geld. Ich war frisch alleinerziehend, musste mir Geld leihen. Eine gute Idee ist es, gegen einen Stromzaun zu pullern. Keine gute Idee ist es, zum Jobcenter zu gehen, wenn man Hilfe braucht. Vor mir in der Schlange stand eine Mutter. Ein Kind im Wagen, eins lief schon schwankend, aber schnell. Jocelyn. Die Mutter rief sie oft zurück. Das andere Kind spuckte den Schnuller aus. „Na, spielst du Arbeitsamt, Jasmin?“ Sie hob den Schnuller auf. Jasmin lachte, spuckte den Schnuller aus. Die Mutter begann zu drohen: „Ich kürz dir den Schnuller, dann heulste wieder!“ Die Kindsnamen waren auf ihre Fußknöchel tätowiert. Schwangere Frauen dürfen übrigens an der Seite der Schlange vorbei. Frauen mit Kindern nicht. Jasmin weinte, wollte keinen achten Keks. Jocelyn turnte hinter der Absperrung herum. Ich schwitzte solidarisch mit der Mutter mit. Wenn mein Kind krank geworden wäre, wäre ich auch Mutter mit Kind beim Amt gewesen. Als sie endlich dran war, wurde am Empfangstresen ihr Rücken erst hart, dann rund. Zusammengeknüllt wie Müll ging sie, rief nach Jocelyn, als wär’s ein böser Hund. In ihren Unterlagen fehlte sicher etwas. Noch nie sah jemand mehr nach „Wieder kein Geld“ aus. Erst da sah ich, wie jung sie war. Ich wollte ihr einen Keks geben, den Schnuller reinstecken, und wenn sie ihn ausspuckte, würde ich mit ihr Arbeitsamt spielen. Bei der Sachbearbeiterin war das Fenster offen, die ganze Zeit bellten zwei Hunde im Hof. Die Frau fragte und fragte. Ich hatte auch Fragen: ob jeden Tag Hunde unten bellten. Sie seufzte. Alle taten mir leid. Die Hunde, die Frau. „Könnte man dort nicht Trinknäpfe hinstellen?“ Das würde sie mal vorschlagen, die armen Tiere. Und könnte man nicht unten eine Spielecke für Kinder einrichten, fragte ich weiter. Ich erzählte von der jungen Mutter. Da war es vorbei mit „die ar- men Tiere“. Schon bei „junge Mutter“ wusste sie alles. „Ich will ja nicht alle über eine Klinge springen lassen, aber …“ Die bringen die Kinder mit, weil sie hoffen, dass sie dann vorgelassen werden. War ich froh, dass ich keine Vorurteile gegen Jobcenterangestellte hatte, sonst wären sie jetzt bestätigt worden. Sie gab mir alle Anträge, Anlage A, Faltanleitung für einen Papiersarg. Bis ich das Geld bekommen habe, sind Monate vergangen. Immer fehlte etwas. Ohne meine Mutter wäre ich KIRSTEN FUCHS verhungert. Schwerpunkt Völkermord an den Armeniern M IT TWOCH, 1. JU N I 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Morgen beschließt der Bundestag, die Massenmorde des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg als Genozid einzustufen Ein türkischer Demonstrant zeigt in Berlin seinen Unmut über die Völkermorddiskussion Foto: K.-D. Gabbert/dpa „Völkermord“ steht auf dem Arm dieser armenischen Demonstrantin in Berlin Foto: Stefan Boness/Ipon Eine deutsch-türkische Geschichtsstunde RESOLUTION Die Abstimmung über das Thema Genozid an den Armeniern ist vor allem heikel für Abgeordnete aus Wahlkreisen, in denen viele türkischstämmige Bürger leben VON TOBIAS SCHULZE Mit dem Völkermord an den Armeniern wird sich der Bundestag am Ende nicht länger aufhalten als unbedingt nötig. Die Abgeordneten debattieren am Donnerstagmittag zwar eine Stunde lang über ihre Resolution zum Thema. Die Abstimmung über den gemeinsamen Antrag von CDU, SPD und Grünen hinterher wird aber eine Sache von Sekunden. Hände hoch für Ja, Hände hoch für Nein, dann geht es weiter zum nächsten Punkt der Tagesordnung. Anders als bei vielen anderen brisanten Themen ist in diesem Fall keine namentliche Abstimmung vorgesehen. Der Bundestag wird nicht dokumentieren, wie die einzelnen Abgeordneten abstimmen. Alle vier Fraktionen im Parlament haben sich darauf geeinigt, auf das ausführliche Verfahren zu verzichten. Dazu gebe es keine Veranlassung, heißt es aus SPD und Union. Man gehe ohnehin von einer breiten Mehrheit aus, heißt es aus der Linksfraktion. Dass es noch einen weiteren Grund gibt, deutet lediglich Grünen-Chef Cem Özdemir an. „Ich habe auch von Sorgen und Nöten gehört, die einzelne Abgeordnete haben“, sagt er. Es geht um den Druck, den vor allem Gegner der Resolution vor der Abstimmung aufbauen. In den Bundestagsbüros gehen in diesen Tagen massenhaft E-Mails zum Thema Genozid an den Armeniern ein. Viele sind sachlich, manche enthalten nach Angaben aus dem Parlament aber auch Drohungen. Die Abstimmung am Donnerstag ist daher heikel – speziell für Abgeordnete aus Wahlkreisen, in denen viele türkischstämmige Bürger leben. Unter diesen ist die Resolution nämlich besonders umstritten. In dem dreiseitigen Text heißt es, die „planmäßige Vertreibung und Vernichtung von über einer Million ethnischer Armenier“ in den Jahren 1915 und 1916 stehe beispielhaft für „die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, ja der Völkermorde“. Auch das Deutsche Reich trage dafür Verantwortung: Es habe „als militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen Reichs nicht versucht, diese Verbrechen zu stoppen“. Gegen die Resolution demonstrierte schon am vergangenen Samstag ein Bündnis deutsch-türkischer Verbände vor dem Reichstagsgebäude. Ihr Motto: „Der Bundestag ist kein Abstimmung mit Vorlauf ■■Die Resolution hat eine lange Vorgeschichte: Ursprünglich war sie für den hundertsten Jahrestag des Völkermords im April 2015 eingeplant. Union und SPD zogen den Entwurf damals aber kurzfristig zurück, weil sie die Beziehungen zur türkischen Regierung nicht unnötig belasten wollten. ■■Im Februar 2016 reichten die Grünen einen neuen Entwurf ein. In der Debatte dazu versprachen ihnen die Regierungsfraktionen: Wenn die Grünen ihren Antrag zurücknehmen, gibt es bis zur Sommerpause doch noch eine fraktionsübergreifende Resolution. Über diesen stimmt der Bundestag nun ab. (tsc) Gericht.“ Für Mittwochabend ist eine weitere Demonstration angemeldet. Zudem kursiert im Internet ein Musterschreiben, das Gegner der Resolution an Fraktionen und Abgeordnete schicken sollen. Darin heißt es unter anderem, die Resolution sei „Gift für das friedvolle Zusammenleben zwischen Deutschen und Türken“. Dass Interessengruppen vor wichtigen Abstimmungen auf diese Weise Druck auf das Parlament machen, ist nicht ungewöhnlich. Bei harmlosen Zuschriften bleibt es im Fall der Armenien-Resolution aber nicht. „Wer wie ich für die Resolution wirbt, wird mit Morddrohungen und Beschimpfungen überzogen. In dem Ausmaß habe ich das bisher bei keinem anderen Thema erlebt“, sagt die Bochumer Abgeordnete Sevim Dağdelen (Linkspartei). Am Dienstagmittag kündigte sie per Videobotschaft auf ihrer Facebook-Seite an, für die Resolution zu stimmen. In einem der harmloseren Kommentare dazu bezeichnet sie ein Nutzer als PKKTerroristin. Auf der Facebook-Seite der Hagener CDU-Abgeordneten Cemile Giousouf sind solche Kommentare bislang nicht zu lesen. Sie hat sich in der Debatte über die Resolution bisher zurückgehalten und sagt: „Als der Bundestag über die Regulierung von E-Zigaretten abgestimmt hat, bekam ich mehr E-Mails als jetzt.“ Dennoch erhalte auch sie nun Zuschriften. Das Thema Genozid an den Armeniern werde „von beiden Seiten emotional diskutiert“. Unabhängig davon wollen beide Abgeordnete der Resolu- Bei harmlosen Zuschriften bleibt es im Fall der Armenien- Resolution nicht tion zustimmen. „Um der Opfer zu gedenken und nicht, um die Türkei zurechtzuweisen“, betont Giousouf. „Um die türkische Zivilgesellschaft zu unterstützen, die bei der Aufarbeitung viel weiter ist als ihre Regierung“, sagt Dağdelen. Andere türkischstämmige Abgeordnete tun sich mit der Resolution schwerer. Der Duisburger MdB Mahmut Özdemir zum Beispiel kündigte in der ARD an, nicht an der Abstimmung teilzunehmen. Aus Rücksicht auf seine Wähler? In der Woche nach der Bundestagswahl 2013 hatte er in Duisburg an einer Veranstaltung der Union Europäisch- Türkischer Demokraten teilgenommen und sich für seine Wahl bedankt. Die Organisation unterstützt den türkischen Präsidenten Erdoğan und ist gegen die Armenien-Resolution. Zwei Gesprächsanfragen der taz lehnte der SPD-Abgeordnete Özdemir „aus terminlichen Gründen“ ab. Problematisch ist die Abstimmung auch für die deutschstämmige Abgeordnete Angela Merkel aus dem Wahlkreis Vorpommern-Rügen. In ihrer Funktion als Bundeskanzlerin hat sie bekanntlich regen Kontakt mit der Regierung in Ankara. Der neue türkische Ministerpräsident Binali Yıldırım beschwerte sich am Dienstagvormittag in einem Telefonat bei ihr: Die geplante Resolution enthalte „haltlose und ungerechte politische Urteile“. Immerhin: Um die Abstimmung am Donnerstag könnte Merkel herumkommen – dank einer geschickten Terminplanung im Kanzleramt. Laut Tagesordnung beginnt die Armenien-Debatte im Bundestag um 11.10 Uhr, die Abstimmung folgt eine Stunde später. Die Bundeskanzlerin spricht derweil zwei Kilometer entfernt auf einer Konferenz in der Hauptstadtrepräsentanz der Telekom. Ihr Vortrag auf der ganztägigen Veranstaltung ist ausgerechnet für 11.40 Uhr eingeplant. „Wir tragen eine Mitschuld an diesem Völkermord“ WIRKUNG Cem Özdemir unterstützt die Genozidresolution des Bundestags. Der Grünen-Chef ist sich sicher, dass das den Druck auf Ankara erhöhen wird taz: Herr Özdemir, glauben Sie wirklich, dass die Verurteilung des Völkermords an den Armeniern durch den Bundestag der Vergangenheitsbewältigung in der Türkei nutzt? Cem Özdemir: Auf Dauer ja, kurzfristig nicht. Die Reaktionen aus der Türkei sind ja derzeit scharf. Was Ankara dabei ausblendet, ist, dass der Bundestag handelt, weil es eine deutsche Mitverantwortung am Völkermord gibt. Die Bundesrepublik ist Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs, das im Jahr 1915 Hauptverbündeter des Osmanischen Reichs war. Dass auch wir jetzt von Völkermord reden, erhöht den Druck auf Ankara. Die beschönigende offizielle Geschichtsversion in der Türkei wird sich auf Dauer nicht halten. Wird es Gegenmaßnahmen von Erdoğan geben? Das weiß man bei ihm nie so genau. Als wir im Bundestag über Fraktionsgrenzen hinweg im April 2015 von Völkermord gesprochen haben, war die Reaktion aus Ankara zurückhaltend. Manche kritisieren, dass der Zeitpunkt für die Resolution jetzt ungünstig ist. Mag sein. Aber dass wir im Parlament nun zum dritten Mal über das Gedenken an den Völkermord debattieren, liegt doch an dem Versuch der Regierung, das Thema immer wieder wegzudrücken. Also: Große Staatskunst, Frau Merkel und Herr Steinmeier! Die Völkermordresolution wird „die Konflikte zwischen der Türkei und Armenien sogar verschärfen“ … Das ist von mir … Das haben Sie 2001 geschrieben – um den Antrag, zu verhindern, den Sie nun unterstützen. Woher der Wandel? Ich wäre auch heute noch der Erste, der sagt: Wir sollten die Gespräche zwischen Armenien und der Türkei nicht stören. Nur gibt es diese Gespräche nicht. Deshalb haben wir keinen Grund zurückzuweichen. Alle Versuche, mit den Mitteln der Diplomatie eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Armenien und der Türkei zu erwirken, waren leider vergeblich. Gleiches gilt für den Versuch, ei- nen historischen Konsens mit der Türkei über das, was 1915 geschehen ist, herzustellen. Die Ermordung meines Freundes Hrant Dink 2007, der sich wie kein Zweiter für eine Aussöhnung eingesetzt hat, zeigt doch, wohin die Reise geht. Etliche Staaten haben in den letzten Jahren den Genozid an den Armeniern verurteilt. Hat das in der Türkei Produktives bewirkt? Ich glaube, dass der internationale Druck in der Türkei bei manchen Zweifel wachsen lässt, ob es denn wirklich sein kann, dass alle anderen im Unrecht sind. Und ob wirklich stimmt, was noch heute in der Schule gelehrt wird: dass der Türke nur einen Freund hat – den Türken. Ich erlebe zwei verschiedene Reaktionsmuster. Manche leugnen hartnäckig. Ich bekomme Briefe, in denen steht: Wir haben dich, Özdemir, als Armenier damals vergessen. Erstens bin ich kein Armenier, zudem ist die Haltung, dass es keinen Völkermord gab, wir es aber sofort wieder tun würden, entlarvend. Mir schreiben aber auch viele Jüngere, die mehr über die Geschichte wissen wollen. Es gibt ein großes Informationsdefizit. Das Kaiserreich deckte 1915 den Genozid. Das wird in der Resolution nur angetippt. Warum keine deutlichere Selbstkritik? Wir stellen diesen Antrag mit SPD und Union. Da mussten wir Kompromisse machen. Das Besondere dieses Antrags ist doch: Wir, der damalige Hauptverbündete, sagen, dass das, was 1915 passiert ist, ein Völkermord war und wir daran eine Mitschuld tragen. Das hat bisher kein deutsches Parlament so formuliert. Ich hätte nicht gedacht, dass dies möglich ist. INTERVIEW STEFAN REINECKE Cem Özdemir ■■ist seit 2008 Kovorsitzender der Grünen, derzeit gemeinsam mit Foto: dpa Simone Peter. 2017 will der 50-Jährige grüner Spitzenkandidat werden.
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