Finale: Feuilletonist des Fußballs Mit dem Champions-League-Finale hat Marcel Reiff sein letztes Spiel kommentiert ▶ Seite 17, 19 AUSGABE BERLIN | NR. 11030 | 22. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ MONTAG, 30. MAI 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Friede, Freude, Schokokuchen Hunderte Tote binnen wenigen Tagen MITTELMEER Laut UNHCR sind mehr als 700 Flüchtlinge ertrunken LINKSPARTEI Eine Torte sorgt für Einigkeit. Sahra Wagenknecht wird wegen ihrer ANTIFA Albrecht von Äußerungen zur Flüchtlingspolitik von Antifa-Aktivisten mit Kuchen beworfen. Darauf stellt sich der Parteitag geschlossen hinter die umstrittene Fraktionschefin ▶ SEITE 3 der Lieth von „Nazifrei – Dresden stellt sich quer“ erzählt Gabriele Goettle vom Widerstand gegen die Rechten ▶ SEITE 15, 16 MILCHPREIS Weißes Gold, das arm macht. Zu Besuch bei einem Bauern vor dem Milchgipfel ▶ SEITE 5, 12 JUNGES NETZ Die erste Digitalkultur-Messe für Jugendliche ▶ SEITE 13 ROM/ATHEN dpa/taz | Das zen- trale Mittelmeer wird einmal mehr zur tödlichen Falle für Migranten auf dem Weg nach Europa. Binnen wenigen Tagen sind vermutlich mehr als 700 Menschen bei dem Versuch umgekommen, mit Booten von Nordafrika nach Italien zu gelangen. Die Zahlen gründeten auf Aussagen Überlebender, sagte Carlotta Sami vom UNFlüchtlingshilfswerk UNHCR am Sonntag in Rom. Allein von einem am Donnerstag gekenterten Boot würden 550 Menschen vermisst. In Griechenland werden derweil nur noch ein paar Dutzend Neuzugänge pro Tag gezählt. Nach der Räumung des Lagers in Idomeni klagen Flüchtlinge über unhaltbare Zustände in anderen Lagern. ▶ Ausland SEITE 11 Fotos: Gabriele Goettle, Sky (oben) Biogas gegen Ökolandbau VERBOTEN Guten Tag, AfD-ler*_Innen! Ökobauern für Subventionsstopp AGRAR Euer Möchtegernnationaltrai ner Alexander SuperGAUland meint also, „die Leute“ woll ten den Topfußballer Jérôme Boateng „nicht als Nachbarn“ haben. Weil er von außen so braun ist, wie Gauland innen drin? Oder weil er, anders als ihr, auch links spielen kann? Dazu nur so viel: Als das letz te Mal eine arielweiße Elf von Nazis mit der Taktik „nur über rechts außen“ zu einem Turnier nach Frankreich geschickt wur de – bei der WM 1938 –, flog das Großdeutsche Reich gleich in der allerersten Runde raus. Mit 2:4 gegen unsere multi kulturellen, tetralingualen Nachbarn aus der Schweiz! BERLIN taz | Deutschlands größ- „Schlimmer als die ganze Torte finde ich die Beleidigung, mit Frau von Storch auf eine Ebene gestellt worden zu sein“: Sahra Wagenknecht nach dem Tortenwurf am Samstag Foto: Hendrik Schmidt/dpa ter Ökobauernverband Bioland verlangt, dass das Erneuerbare-Energien-Gesetz nur noch Biogasstrom aus Reststoffen wie Gülle subventioniert. „Anlagen, die viel Mais vergären, sollten nicht mehr gefördert werden“, sagte Verbandspräsident Jan Plagge im Interview mit der taz. „Der Anbau von Agromais rein für die Biogasanlagen ist ausgeufert“, kritisierte Plagge. Hochsubventionierte Maisfelder für die Biogasproduktion würden Äcker für die weniger lukrative Lebensmittelerzeugung und insbesondere den flächenintensiven Ökolandbau verdrängen. ▶ Wirtschaft + Umwelt SEITE 9 TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.919 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 10622 4 190254 801600 KOMMENTAR VON STEFAN REINECKE ÜBER DIE INTELLEKTUELLE UND POLITISCHE ERSTARRUNG DER LINKSPARTEI E s gibt zwei gute Nachrichten für die Linkspartei: Sie ist stabil. Und sie kann auch ohne die charismatischen Überväter Gregor Gysi und Oskar Lafontaine existieren. Die überstrahlten lange die Schwächen der Partei – das graumäusige Hausbackene im Osten, die stählerne Linksorthodoxie im Westen. Die Partei hat auch ohne die beiden Leitfiguren eine tragfähige innere Architektur entwickelt. Viele haben begriffen, dass ein Sieg der Realos über die Fundis und vice versa in Selbstzerstörung enden könnte. Nun herrscht zwischen den Flügeln kalter Waffenstillstand. Perfekter Ausdruck dieser Koexistenz ist das Duo Dietmar Bartsch und Sahra Wagen- Der hohe Preis der Stabilität knecht, das weitgehend unfallfrei funktioniert. So bleibt zusammen, was nicht unbedingt zusammengehört. In Magdeburg haben die GenossInnen nun brav und begeisterungslos ihre Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger wiedergewählt. Es gab keine Zerwürfnisse, aber auch keine zündenden neuen Ideen. Man verwaltet das Image Protestpartei. Eine schlüssige Strategie gegen die Erfolge der AfD? Fehlanzeige. Die Stabilität hat einen hohen Preis – nämlich intellektuelle und politische Bewegungsunfähigkeit. Diese Erstarrung ist derzeit am ehesten an Katja Kipping ablesbar. Die Linksparteichefin wirkte früher offen auch für parteiferne Milieus, beherrschte eine lebensweltliche Sprache ohne Politstanzen und wagte es auch mal, die schräge Putin-Verehrung der Genossen zu kritisieren. Jetzt beschimpft sie die SPD als opportunistisch und „Totalausfall“ und warnt vorsorglich vor Anpassung an Rot-Grün. Dass auch die undogmatische Kipping die negative Fixierung auf die SPD stützt, ist ein trostloses Zeichen. Die Linkspartei bekriegt die SPD Eine schlüssige Strategie gegen die Erfolge der AfD? Fehlanzeige lieber, als sie klug und pragmatisch von links unter Druck zu setzen. Damit ist Rot-Rot-Grün für 2017 vom Tisch. Wer Koalitionspartner in spe zum Grund allen Übels erklärt, will keine Koalition. Die Linkspartei ist regierungsunfähig, weil mit Rot-Rot-Grün der sorgsam stillgelegte Flügelstreit sofort aufbrechen würde. Doch zu dem grob geschnitzten Linkspopulismus von 2005 führt auch kein Weg zurück. Dafür sind die Genossen, vor allem im Osten, zu etabliert. Zu erschöpft für kraftvollen Protest, zu ängstlich, um ein rot-rot-grünes Lager aufzuschlagen – zwischen diesen Polen bewegt sich die Linkspartei. Viel Spielraum ist da nicht. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN PEGI DA-FRONTFRAU UN D VOLKSVERH ETZUNG „UNZÄH LIGE“ H I NWEISE Ermittlungen gegen Festerling eingestellt FPÖ glaubt an Wahlbetrug LEIPZIG | Die Staatsanwaltschaft Tallinn Abu Chana, Siegerin als Miss Trans Israel Foto: ap Die gekrönte Transsexuelle H istorisch sei ihr Sieg, sagte die junge Frau im weißen Brautkleid, als ihr am Freitagabend das Krönchen auf ihr langes, dunkles Haar gesetzt wurde. Tallinn Abu Chana, eine Frau, gefangen im Körper eines Mannes, ist Miss Trans Israel: Die 21-jährige Balletttänzerin setzte sich in dem Schönheitswettbewerb für Transsexuelle im berühmten Tel Aviver Habimah-Theater gegen die anderen elf Finalistinnen durch. „Ich bin Tänzerin, ich bin Sängerin und ich spiele Trompete, ich habe was zu bieten“, sagte sie selbstbewusst der Jury. Historisch ist nicht nur der Wettbewerb, der zum ersten Mal im Vorfeld der Gay-PrideWoche ausgetragen wurde, sondern auch, dass die erste Gewinnerin eine konservative Minderheit vertritt und damit Klischees aufbricht: Tallinn Abu Chana ist eine arabische Christin aus Nazareth. Und die arabische Gesellschaft – auch innerhalb Israels – gilt nicht als besonders tolerant. Dennoch sind die Möglichkeiten, anders zu leben, zu denken und mit Traditionen zu brechen, für Araber in Israel größer als anderswo, ist die Gewinnerin überzeugt: „Ich bin stolz darauf, israelische Araberin zu sein“, sagt sie. „Wäre ich in Palästina oder in einem anderen arabischen Land, hätte man mich vielleicht ins Gefängnis gesteckt oder getötet.“ Der Tag MONTAG, 30. MAI 2016 Leipzig hat ein Verfahren gegen Pegida-Frontfrau Tatjana Festerling wegen des Vorwurfs der Volksverhetzung und Aufwiegelung zu Straftaten eingestellt. Sie sehe bei ihren Äußerungen auf Demos der fremden- und asylfeindlichen Pegida-Bewegung „noch“ keinen Straftatbestand erfüllt, berichtete der MDR am Sonntag unter Berufung auf ein Behördenschreiben. Festerling war wegen einer Rede am 11. Januar in Leipzig angezeigt worden, unter anderem vom Deutschen JournalistenVerband, wegen des Verdachts der Volksverhetzung. Der Verband zitierte Festerling mit den Worten: „Wenn die Mehrheit der Bürger noch klar bei Verstand wäre, dann würden sie zu Mistgabeln greifen und diese volksverratenden, volksverhetzenden Eliten aus den Parlamenten, aus den Gerichten, aus den Kirchen und aus den Pressehäusern prügeln.“ Die Staatsanwaltschaft sieht dem Bericht zufolge auch Äußerungen von Festerling zu den Übergriffen an Silvester in Köln von der Meinungsfreiheit gedeckt. Festerling habe von einem „entfesselten Mob“ von Flüchtlingen gesprochen. (epd) WIEN | Die rechtspopulistische FPÖ glaubt an Wahlbetrug bei der Präsidentenwahl . „Wir werden die unzähligen Hinweise von einer unabhängigen, neutralen Stelle prüfen lassen und dann eine Entscheidung treffen“, sagte FPÖ-Chef HeinzChristian Strache der KronenZeitung von gestern. Strache warnte, das Ergebnis der Wahl könne sich durchaus noch verändern. Der FPÖ-Kandidat Norbert Hofer war bei der Stichwahl am 22. Mai äußerst knapp dem Grünen Alexander Van der Bellen unterlegen. (afp) Unser Ziel: Unabhängiger Onlinejournalismus ohne Bezahlschranke. Schon 7.865 Menschen zahlen freiwillig für taz.de. Alles rund um unsere Pay-Wahl unter taz.de/zahlich Anknüpfen im Netz www.taz.de GROSSES DATEN LECK Nach LinkedIn auch Myspace betroffen BEVERLY HILLS | Nur wenige Tage nach einem Fall beim OnlineKarriere-Netzwerk LinkedIn sollen auch Millionen entwendeter Zugangsdaten von My Space aufgetaucht sein. Bis zu 427 Millionen Passwörter und 360 Millionen E-Mail-Adressen von Nutzern seien möglicherweise in einer gehackten Datenbank enthalten, meldete die USWebsite „Motherboard“ am Freitag. Demnach könnte es sich um denselben Hacker handeln, der in den Besitz von 177 Millionen Datensätzen von LinkedIn gelangt sein soll. (dpa) Geschichte wird gemacht PATHOS UND PROTEST Geschichte im Dienst der Politik: An diesem Wochenende nutzen Staats- und Regierungschefs wie Demonstranten einschneidende historische Ereignisse, um ihre Politik zu rechtfertigen VON KLAUS HILLENBRAND Wie gedenkt man wichtiger historischer Ereignisse? In verschiedenen Teilen Europas begingen Staats- und Regierungschefs ebenso wie hohe Geistliche am Wochenende eine Reihe nationaler Gedenktage. Alle bemühten sich dabei, die Geschichte zum Kronzeugen ihrer eigenen Ansichten zu machen, um daraus eine Legitimation für ihr gegenwärtiges politisches Verhalten abzuleiten. Gleich dreimal ging es darum, die eigene nationale Identität mithilfe längst vergangener Ereignisse zu stärken. Nur einmal stand die Versöhnung zwischen Nationen trotz ihrer blutigen Geschichte im Mittelpunkt. In Istanbul bejubelte der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan am Sonntag vor einer Million Türken die Herrlichkeit der osmanischen Eroberung des alten Konstantinopels vor 563 Jahren. Bei der Feier zur Eroberung des alten Konstantinopels vor 563 Jahren Foto: reuters THEMA DES TAGES Putin findet die Moral Doch auch in Israel war der Wandel zur Frau für Tallinn Abu Chana wie auch für ihre Mitstreiterinnen nicht einfach. Caroline Khouri aus der arabischen Stadt Tamra erzählte, männliche Verwandte hätten sie geschlagen und versucht, sie zu töten, bis sie von der Polizei gerettet wurde. Auch Tallinns Vater akzeptiere sie nicht so, wie sie ist: „Ich möchte, dass er den Mut findet, seine Tochter zu lieben, die glücklicher ist als je zuvor.“ Tallinn erhofft sich von ihrem Sieg nicht nur einen persönlichen, familiären Fortschritt, sondern auch einen für alle Transsexuellen: dass Israel und auch der Rest der Welt offener werden und „dass die Menschen verstehen, wer wir sind.“ Als Gewinnerin bekommt Tallinn einen chirurgischen Eingriff in einem Krankenhaus in Thailand im Wert von 15.000 Dollar bezahlt und wird Israel bei dem Wettbewerb „Miss Trans Star International“ im September in Barcelona vertreten. LIZZY KAUFMANN TAZ.DE / TZI In der griechischen Mönchsrepublik Athos beschwor derweil der russische Präsident Wladimir Putin den gemeinsamen christlich-orthodoxen Glauben als Grundlage moralischer Werte. In Verdun gedachten Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef François Hollande der 300.000 Toten auf diesem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs. Und in Berlin protestierten etwa 1.000 türkischstämmige Bürger dagegen, dass die Tötung von etwa 1,5 Millionen Armeniern etwa zur gleichen Zeit als „Völkermord“ bezeichnet werden soll. Allen vier Veranstaltungen war das Bemühen gemeinsam, die jeweilige nationale Geschichte in den Dienst der Politik zu stellen. Ob hohle Blasen des historischen Pathos oder doch die hehren Ziele nationaler Verständigung am Ende stärker wirken? Türken gegen Bundestag Russlands Präsident bei Athos-Mönchen ARMENIER Protest gegen geplante Resolution KARYES ap/taz | Der russische Präsident Wladimir Putin hat am Samstag die autonome Mönchsrepublik am heiligen Berg Athos in Nordgriechenland besucht. Bei seiner Ankunft wurde Putin von 20 Äbten und 20 Mönchen willkommen geheißen. „Hier auf Berg Athos wird großartige und wichtige Arbeit auf Grundlage moralischer Werte geleistet“, sagte Putin und dankte den Mönchen. Auf Athos ist die Anwesenheit von Frauen grundsätzlich verboten. Anlass für Putins Besuch ist die Feier zum 1.000. Jahrestag der Ansiedlung russischer Mönche auf Athos, weshalb auch das Oberhaupt der russisch-or thodoxen Kirche, Patriarch Kyrill I., in der Region weilt. BERLIN dpa/taz | In Berlin pro- Putin und Kyrill I. auf Athos Foto: ap Nur Präsident: Erdogan Foto: dpa Erdogan feiert Sultan Feier zur Eroberung von Konstantinopel SIEG ISTANBUL dpa/taz | Zehntau- sende Anhänger des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan haben in Istanbul die Feier zum 563. Jahrestag der Eroberung des christlichen Konstantinopel durch die islamischen Osmanen begangen. Sowohl Erdogan als auch Ministerpräsident Binali Yildirim wurden zur Veranstaltung erwartet. Die Massenkundgebung ist eine Prestigeveranstaltung des türkischen Präsidenten, der gerne an die glorreiche Zeit der Osmanen erinnert. Auf dem Programm standen eine Janitscharen-Darbietung und eine Flugschau der Luftwaffe. Die Elitetruppen der Janitscharen stellten zur Zeit der Osmanen die Leibwache des Sultans. Freundschaft verbindet Foto: ap „Armenierschwein“ „Es sind immer die gleichen Ausdrücke: Verräter, Armenierschwein, Hurensohn, armenischer Terrorist und sogar Nazi“ DER GRÜNEN-VORSITZENDE CEM ÖZDEMIR ÜBER DROHUNGEN GEGEN IHN IM INTERNET WEGEN SEINES ENGAGEMENTS FÜR DIE ARMENIER-RESOLUTION IM DEUTSCHEN BUNDESTAG Merkel am Schlachtfeld Gedenken mit Hollande in Verdun 1. WELTKRIEG VERDUN ap/taz | Bundeskanz- lerin Angela Merkel hat die Kämpfe bei Verdun im Ersten Weltkrieg als eine der schrecklichsten Schlachten der Menschheit bezeichnet. Gemeinsam mit Frankreichs Präsident François Hollande gedachte sie am Sonntag der Opfer. Hollande pries Verdun als „Stadt des Friedens“. 1916 hatten sich deutsche und französische Soldaten bei Verdun zehn Monate lang bekämpft. Mehr als 300.000 französische und deutsche Soldaten fielen. „Verdun ist eine Stadt, die das Schlechteste repräsentiert, als Europa verlorenging, und zugleich das Beste“, sagte François Hollande mit Blick auf die deutsch-französische Freundschaft. testierten am Samstag türkische Verbände gegen die geplante Resolution des Bundestags zur Verurteilung der Massenmorde an den Armeniern im Ersten Weltkrieg. Rund 1.000 Menschen zogen zum Brandenburger Tor. „Der Bundestag ist nicht zuständig! Parlamente sind keine Gerichte!“, hieß es auf Transparenten. Viele Demonstranten schwenkten türkische Flaggen. „Wir haben niemanden umgebracht“, sagte eine Teilnehmerin. Bei der Armenierverfolgung durch das Osmanische Reich kamen etwa 1,5 Millionen Menschen ums Leben. Die Türkei erkennt die Verantwortung für die Tat bis heute nicht an. Meinung + Diskussion SEITE 12 Deutschtürken am Tor Foto: dpa Schwerpunkt Linkspartei MONTAG, 30. MAI 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Auf dem Parteitag in Magdeburg dominierte inhaltlich ein Tortenwurf. Ansonsten wurde vor allem Selbstvergewisserung betrieben AUS MAGDEBURG ANNA LEHMANN Das muss Gregor Gysi gefuchst haben. Kurz vor dem 5. Parteitag der Linkspartei in Magdeburg an diesem Wochenende hatte sich der Starpolitiker mal wieder aus dem Off gemeldet und seiner Partei Saft- und Kraftlosigkeit unterstellt. Der Ex-Fraktionsvorsitzende drohte den 580 Delegierten die Show zu stehlen. Doch dann kam jemand auf die Idee, der amtierenden Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht eine Schokotorte ins Gesicht zu klatschen, und Gysis Querschüsse gerieten zur Fußnote auf einem Parteitag, der Gysis Querschüsse wurden zur Fußnote auf dem Parteitag, der Aufbruch vermitteln sollte nach drei für die Linke desaströsen Landtagswahlen Aufbruchstimmung vermitteln sollte. Es passierte ausgerechnet während der Auftaktrede von Parteichef Bernd Riexinger, als dieser seine Partei dafür loben wollte, dass sie in der Flüchtlingsfrage standhaft geblieben war. Plötzlich gingen die Kameras aus und Flyer flogen. „Was isch n da los?“, fragte Riexinger. Los war: Wagenknecht wischte sich braune Creme aus dem Gesicht, sie wurde aus dem Saal geführt, notdürftig mit Jacken abgeschirmt. Auf den Flyern der Antifaschistischen Initiative „Torten für Menschenfeinde“ hieß es, Wagenknecht teile mit Beatrix von Storch nicht nur Torte im Gesicht. Ihre Aussagen über „Kapazitäts-“ und „Obergrenzen“ seien nur die Spitze des Eisberges. Wagenknecht sagte später in einem Pulk von Journalisten: „Schlimmer als die Torte ist die Beleidigung, mit Frau von Storch auf eine Ebene gestellt zu werden.“ Auch die Partei scharte sich um Wagenknecht, als diese nach einer Auszeit am frühen Samstagnachmittag wieder eintraf. Standing Ovations für ihre Fraktionsvorsitzende, die noch vor einigen Wochen harsch wegen ihrer „Obergrenzen“-Aussagen kritisiert worden war. In ihrer Rede zum Ende des Parteitags stellte Wagenknecht dann noch sowohl die beiden Parteivorsitzenden als auch KoFraktionschef Dietmar Bartsch rhetorisch in den Schatten. Mit Applaus goutierten die Delegierten Sätze wie: „Alle Parteien außer der Linken sind AfD-nah.“ Wagenknechts klare Botschaft: Wir sind Sahra Wagenknecht: Die Linkspartei rückt nach dem Tortenwurf auf ihre Fraktionsvorsitzende zusammen Foto: Peter Endig/dpa Wir gegen alle LINKE Keine Auseinandersetzung mit drängenden Fragen – dafür der Versuch, sich sowohl den Status als Protestpartei zurückzuerobern als auch regierungsfähig in einem linken Bündnis zu erscheinen Wir, die Linke, gegen alle anderen Parteien. Dabei erlaubte sich Wagenknecht auch kleine Spitzen gegen Ko-Chef Bartsch, etwa wenn sie beklagte: „Wir haben uns zu wenig dagegen gewehrt, als Teil des Merkel-Lagers wahrgenommen zu werden.“ Bartsch hatte im November die Bundeskanzlerin für ihre damalige Flüchtlingspolitik gelobt. „Selbst gewähltes Elend“, seufzte ein Delegierter angesichts des jubelnden Saales. Wagenknechts Rede am Ende und der Tortenwurf auf sie am Anfang nahmen den Parteitag in die Klammer. Eine offene und kritische Auseinandersetzung über die Frage, welche Antworten die Linke Wählern gibt, die sich fragen: „Wie soll das gehen, wenn noch mehr Flüchtlinge zu uns kommen?“, wie es im zweiten Leitantrag heißt, fand nicht statt. Genauso wenig wie eine kritische Auseinandersetzung der Linken mit sich selbst. „Der Angriff auf Sahra ist ein Angriff auf uns alle“, hatte Parteichefin Katja Kipping nach der Tortung spontan geurteilt. Und so geschah es. Die Linke rückte zusammen, was sich auch in soliden Wahlergebnissen für die beiden Parteivorsitzenden Riexinger und Kipping widerspiegelte: Beide wurden mit über 70 Prozent im Amt bestätigt. Sie werden die Linke nun für weitere zwei Jahre führen, auch in den Bundestagswahlkampf 2017. Spätestens dann wird sich zeigen, ob der erhoffte Aufbruch der Partei geglückt ist. Kipping und Riexinger hatten sich einen Monat zuvor mit einem Aufruf für eine „Revolution für soziale Gerechtigkeit und Demokratie“ für die Wiederwahl empfohlen und darin auch eine Schärfung des alten Profils der Protest- und Kümmererpartei skizziert. Das machte auch Kipping in ihrer Rede deutlich. „Wir müssen bereit sein, uns mit den Superreichen und dem Finanzkapital so richtig anzulegen“, rief sie den Delegierten zu und teilte ansonsten gegen die SPD aus, die in der Kriegs- und Flüchtlingsfrage ein Totalausfall sei. Die Linke: Wahlprognosen ■■Wahlen: Die nächsten Landtagswahlen finden am 18. September 2016 in Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern statt. Der nächste Bundestag wird im Herbst 2017 gewählt. ■■Prognosen (in Prozent): Berlin (18. 9.): CDU: 19 (23,4), SPD: 23 (28,3), Linke: 16 (11,7), Grüne: 18 (17,6), AfD: 15 (–), FDP: 4 (1,8), (Piraten: 8,9) Mecklenburg-Vorpommern (18. 9.): CDU: 24 (23), SPD: 22 (35,6), Linke: 16 (18,4), Grüne: 8 (8,7), AfD: 18 (–), FDP: 4 (2,8), NPD: 4 (6) ■■Bundestagswahl: CDU/CSU: 32 (41,5), SPD: 21 (25,7), Linke: 9 (8,6), Grüne: 12 (8,4), AfD: 15 (4,7), FDP: 7 (4,8) Quelle: infratest dimap Eine sichere Applausbank, denn die Kritik geht immer. Andere haben Zweifel, ob sich mit dem Image der Protestpartei wieder Wahlen gewinnen lassen. Einerseits, weil die AfD diesen Nimbus inzwischen erfolgreicher verkörpert. Anderseits, weil man aufpassen müsse, „dass wir nicht allzu platt daherkommen und an den Menschen vorbeidiskutieren“, meint Dominic Heilig, Sprecher des forums demokratischer sozialismus, einer Reformerströmung innerhalb der Linken. Ohnehin herrscht am Bratwurststand eher Ratlosigkeit, wie der Spagat zwischen Protestund Regierungspartei gelingen kann. Trotz aller Attacken gegen Gabriel und Co. und entgegen fehlender Mehrheitsverhältnisse in Umfragen versuchte die Parteiführung nämlich weiter zu vermitteln, dass ein rot-rotgrünes Bündnis an der Linken nicht scheitern werde. Wenn es die Chance gäbe, die Austeritätspolitik sowie Merkels Amtszeit zu beenden und den Aufstieg des Rechtspopulismus zu stoppen, sei man bereit, sagte Kipping. „Aber nur dann!“ Zumindest in den ersten beiden Leitanträgen, die mehrheitlich beschlossen wurden, finden sich viele Anknüpfungspunkte für ein solches Bündnis: Die Linke versucht Antirassismus und soziale Gerechtigkeit miteinander zu verbinden und fordert ein 25-Milliarden-Euro-Sofortprogramm unter anderem für freie Bildung, kostenlosen Nahverkehr, ein Beschäftigungsprogramm und sozialen Wohnungsbau. Als Geldquelle solle etwa eine Vermögensteuer eingeführt werden. Auch die SPD und Teile der Grünen sprechen sich dafür aus, kostenlose Kitas und Hochschulen sind in der SPD ebenfalls kein Tabu, sondern Programm. Inhaltlich liefert die Linke in allen drei Leitanträgen jedoch wenig Neues. „Wir beschließen, was wir schon immer beschlossen haben“, meint der Berliner Landeschef Klaus Lederer. „Nur mit mehr Vehemenz.“ Kleine Kulturgeschichte der Tortung LECKER Asozial nannte die Linkspartei die Aktion gegen Wagenknecht. Dabei dürfte ihr die Protestform nicht unbekannt sein. Schon die 68er „torteten“ BERLIN taz | Diesmal also war es eine Schokotorte. Viel Sahne, viel Braunes. Am Samstag klatschte sie ein Antifa-Aktivist der Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht in Magdeburg mitten ins Gesicht. „Torten für Menschenfeinde“, hieß es in seinem Bekennerschreiben. In der Flüchtlingspolitik bediene Wagenknecht mit ihren Hinweisen auf „Kapazitätsgrenzen“ den „Volkszorn“, der AfD liefere sie „ideologische Munition“. Der Tortenwurf geriet zum größten Politikum auf dem Lin- ken-Parteitag. Dabei dürfte die Protestform der bewegungsaffinen Partei nicht unbekannt sein. Schon die 68er „torteten“. Und erst im Frühjahr erwischte es die AfD-Bundesvize Beatrix von Storch (Sahnetorte, wegen Forderung nach Waffeneinsatz gegen Flüchtlinge). In den Vorjahren traf es zudem Exverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (Sahnetorte, wegen Plagiatsaffäre), den Grünen Jürgen Trittin (Joghurttorte, wegen zu lascher Anti-AKW-Politik) oder Baden-Württembergs Innenminister Reinhold Gall (Himbeer-Sahne, wegen Blockierung eines NSU-Ausschusses). Vor allem nach der Attacke auf von Storch hatte die Torte einen Popularitätsgewinn in der linken Szene. In Berlin brachten Demonstranten auf eine AntiAfD-Demo jüngst ein selbst gebautes Tortenkatapult – das umgehend von der Polizei beschlagnahmt wurde. Die Linke reagiert mit Entrüstung. Von einer „asozialen“ Aktion sprach Linken-Frak tionschef Dietmar Bartsch, Par- teichefin Katja Kipping nannte sie einen „Angriff auf uns alle“. Sachsens Grünen-Chef Jürgen Kasek sagte dagegen, der Aufschrei zeige, dass der Tortenwerfer „ins Schwarze getroffen“ habe. Die Linkstrotzkisten „Klasse gegen Klasse“ jubelten: „Endlich.“ Rühre Wagenknecht doch „kräftig die Trommeln für Abschiebungen“. Der Tortenwerfer selbst kommt offenbar aus der anderen Ecke der Linken: der antideutschen. Ein 23-Jähriger, seit Jahren in Weißenfels (Sach- sen-Anhalt) in Anti-Nazi-Bündnissen aktiv. Akkreditiert hatte er sich für den Parteitag über das Berliner Zeitungsprojekt „Straßen aus Zucker“, das aus dem antideutschen Spektrum stammt. Die reagierten nur lakonisch: „Wir waren’s nicht.“ Man habe an dem Wochenende die nächste Ausgabe geplant oder am See gesessen. Allerdings: Die „Aufregung um eine leckere Schokotorte“ könne man „nicht ganz nachvollziehen“. Gegen den Werfer ermittelt nun die Polizei von Amts we- gen wegen versuchter Körperverletzung und Sachbeschädigung. Wagenknecht und die Parteispitze ließen offen, ob sie Anzeige erstatten werden. Es könnte teuer werden: Der Werfer der Torte auf Baden-Württembergs Exinnenminister Gall etwa musste 1.000 Euro Geldstrafe zahlen. Dazu kamen 1.300 Euro Schmerzensgeld für Galls Personenschützer, der sich beim Einschreiten verletzt hatte. Dennoch: Spätere Tortenwerfer hat auch das nicht abgehalten. KONRAD LITSCHKO
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