STUDIE Gemeinsinn-Teil IV - I. Der Mensch

JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
TeilIVFreiheitund/oderGerechtigkeit:Antworten
ausgewählterPhilosophienderNeuzeit
GemeinsinnundEigensinnhabeneineinteressanteEntwicklunghintersich.Die
ursprünglichenarchaischenGemeinschaften,indenendieMenschenüber
Jahrzehntausendeleben,sinddurchGemeinsinnorientierunggeprägt–verbundenmit
relativegalitärenStrukturen(keinestarresozialeUngleichheit)undmiteinem
BemühenumGerechtigkeitalsGrundpfeilersozialerHarmonie.Gemeinsinninnerhalb
derjeweiligenGemeinschaftsichertdensozialenZusammenhaltunddie
lebensnotwendigeKooperation.DiegemeinsameSprachesowieEmpathieund
AltruismushaltendieGemeinschaftzusammen;ritualisierteNahrungsteilung,
Gemeinschaftsrituale,kennzeichnendeKunstformenundKultebzw.Mythenund
religiöseVorstellungendemonstrieren,beschwörenundfestigendenZusammenhalt.
Der/DieEinzelneistalsTeilderGemeinschaftfesteingebettetinein„Wir“–mit
„sinnvollen“Aufgaben,einemsicheren„Wissen“umdiegemeinsameAbstammungund
einemtiefenGefühlderZugehörigkeitundVerbundenheit–auchmitdenAhnen(vgl.
TeilIderStudie).
DasistsichereineidealisierteKennzeichnung,derAlltagistauchinsolchen
Gemeinschaften–wieschonerwähnt–nieganzfreivonKonfliktenundSpannungen,
abermirgehteshiereherumallgemeineEntwicklungslinien,nichtumDetails.....
MitdemAufbrechenderarchaischenGemeinschaftenundderEntstehunggroßer
Sozialsystemegewinnt„Eigensinn“zunehmendanBedeutung:inFormindividueller
AnsprücheaufPrivilegien,aufMachtundReichtum(vgl.EntstehungvonHerrschaftim
TeilIII),aberauchinFormindividuellerFreiheitsansprüchegegenüberdemKollektiv,
seinenErwartungen,WertenundTraditionen.DieseAnsprücheaufIndividualität
werdenzunächstnurdurcheinekultisch-militärisch-politischeEliteformuliert,später
auchdurchPhilosophen,Dichter,Kaufleute,Handwerker,BürgerinnenundBürgerusw.
SoentstehenneueSozialsystememitzumTeilextremenHierarchisierungen(vgl.TeilII
derStudie),alsomitstrukturellverankertersozialerUngleichheitundUngerechtigkeit.
DersozialeZusammenhaltkannnunnurdurchGewalt(androhung)gesichertwerden,
dieaberdurchKultundReligionals„gottgewollt“legitimiertwird.
ImweiterenVerlaufderGeschichte,insbesonderedessog.„Westens“,kommteszu
interessantenAmbivalenzenundParadoxien:
Die„gottgewollte“HerrschaftsiehtsichLegitimationsforderungenausgesetzt.Unter
demStichwort„Volkssouveränität“sollsiewiederdemGemeinwohlverpflichtet
werden.AuchdiemitsozialerHierarchisierungeinhergehendeUngleichheitund
UngerechtigkeitlöstimmerwiedersozialeundreligiöseProtestbewegungenund
Versucheaus,Gegenmodellezuetablieren(Katharerbewegungen,Sozialismusu.a.).
DiesmutetanwieeineRückkehrzurGemeinsinnorientierungderarchaischen
Sozietäten.DerWunschnacheinersolidarischenGemeinschaft,nachsozialerGleichheit
undGerechtigkeitwirdwiederbelebt,inZeiten,indenenEigensinnzutriumphieren
scheint(u.a.inFormabsolutistischerHerrschaft,ständigerEroberungskriege,
kapitalistischerAusbeutungundNutzenoptimierung).
DerEigensinnzeigtsichaberhistorischnichtnurinindividuellenMacht-und
Herrschaftsansprüchen,inderrücksichtslosenDurchsetzungegoistischerInteressen
usw.,sondernauchinindividuellenFreiheitsansprüchen,inderIdeederWürdeundder
1
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
unveräußerlichenRechtedesMenschen–undzwarjedeseinzelnenMenschen.Diese
FreiheitsansprücherichtensichzunächstgegenwillkürlicheHerrschaftund
Unterdrückung,siereichenaberweiter.Siebedeutenauch:Der/DieEinzelnenhatdas
Recht,sichggf.auchgegendieeigeneSozietätundderenWerte,Normenund
Traditionenzustellenundsein/ihrLeben„unabhängig“,„selbstbestimmt“(autonom)zu
gestalten.DamitgerätderAnspruchaufindividuelleFreiheitineinSpannungsverhältnis
zumWunschnachsolidarischerGemeinschaftundGemeinsinn.
Mehrnoch:DiemodernenGesellschaftensollenheutedenWunschunddieFähigkeit
jedesHeranwachsendenfördern,einselbstbestimmtesLebenzuführen.Indemsie
individuelleFreiheitsrechteunddamitauchdieRechtevonMinderheitendurch
entsprechendepolitische(Demokratie,Bürgerrechteusw.)undgesellschaftliche
(Erziehungs-undBildungssystem)Rahmenbedingungenstärken,verzichtensieaufeine
demonstrativeStärkungdesWir-GefühlsundaufradikaleVersuche,Gleichheit
(„Chancengleichheit“)undsozialeGerechtigkeitumzusetzen.
Umgekehrtgilt:Woversuchtwird,einPrimatdes„Wir“gesellschaftspolitischzu
etablieren(Nationalismus,Faschismus,Staatssozialismusu.a.),gehtdasimmerzulasten
individuellerFreiheitsrechte.DieseSystemeführenaufderBasisneuer„Wir“-Ideologien
bisherimmerzurAusgrenzungundBekämpfungvonMinderheiten,„Fremden“und
„Feinden“,zumAbbaudemokratischerRechteundzutotalitärenFormender
Repression;ganzabgesehendavon,dassesauchindiesenSystemennichtgelingt,meist
auchgarnichternsthaftversuchtwird,sozialeUngleichheitundUngerechtigkeit
abzubauen.
EineweitereAmbivalenzoderParadoxiehabeichindenbeidenvoranstehendenTeilen
derStudieangesprochen:DieEntwicklunguniversalistischerIdeenundBewegungen
(IdeederallgemeinenMenschenrechte,Befreiungsbewegungen)erfolgtvordem
Hintergrundstarkpartikularerbzw.separierenderGemeinschaftsangebote(z.B.Nation,
Volk,Klasse).OptimistenwerdendieGeschichtealseineEntwicklunghinzueiner
globalenVölkergemeinschaft(„Völkerbund“,„VereinteNationen“,„EuropäischeUnion“
alsZwischenstufe)interpretieren.Angesichtsderökologischen,sozialenund
wirtschaftlichenHerausforderungen,scheinteineArt„Weltregierung“aufderBasisvon
Demokratie,MenschenrechtenundGleichberechtigungallerVölkerunumgänglich.
DagegenstehenaberdieWünscheder(vieler?)Menschennach„überschaubaren“,
persönlichenGemeinschaften,nacheinemscheinbarverlässlichen„Wir“,dassichüber
eine(inderRegelkonstruierte)gemeinsameAbstammungundüberAbgrenzungvon
anderendefiniert(Volk,Nation,Rasse,GläubigeversusUngläubige).Kurz
zusammengefasstgehtesumfolgendeAmbivalenzenundParadoxien:
•
Individualismus/IndividuelleFreiheitversusWunschnachEinbindunginein
verlässlichesWir,damitoftzusammenhängend:
•
IndividuelleFreiheitversusEgalitätundsozialeGerechtigkeitbzw.soziale
VerantwortungoderGemeinsinn;
•
Universalismus(allgemeineMenschenrechte,dieganzeMenschheitalsneues
„Wir“)versusDominanzderPartikularinteressenund-werte(Nationalismus,
Regionalismus,Religion).
IchwerdenuneinigeneuerePhilosophenbzw.philosophischeDenkansätzebefragen,
diefürmichbisherimHinblickaufdiedargelegtenParadoxienbesondersanregend
sind.DabeibezieheichmichfastausschließlichaufSekundärliteratur;vondahersind
alleunterstelltenPositionenmitVorbehaltzulesen.IchäußeremichhieralsLaie.Im
2
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
MittelpunktstehtdabeifürmichdieFrage,obundwieinunsererZeitdieAnsprüche
sowohlaufindividuelleFreiheitundalsauchaufsozialeGerechtigkeitversöhntwerden
können.
Ichbefragedazu–sicherineigentlichunzulässigerKürze–folgendePhilosophienund
Philosophen(ggf.kommenweiteredazu):
1. Kommunitarismus(MichaelWalzer,CharlesTaylor)
2. RichardRorty(Neopragmatismus)
3. JohnRawls(EgalitärerLiberalismus)
4. Utilitarismus(JeremyBentham,PeterSinger)
5. ArthurSchopenhauer
6. FriedrichNietzsche
7. Existenzialismus(JeanPaulSartre,AlbertCamus)
8. Konstruktivismus
IchgehezunächstaufPhilosophenbzw.philosophischeStrömungenein,dieGemeinsinn
undGerechtigkeitbesondersgewichten(1.bis4.).
1
1.DerKommunitarismus :LebeninGemeinschaften
DerKommunitarismus(MichaelWalzer,MichaelSandel,CharlesTayloru.a.)entspricht
inzentralenPositionenwohlnochamehestenmeinenKernaussageninTeilIderStudie.
Erentstehtinden80erJahrendesletztenJahrhundertsindenUSAu.a.alsKritikander
„TheoriederGerechtigkeit“vonJohnRawls(s.u.)undandessenPrämisseeines
GesellschaftsvertrageszwischenautonomenIndividuen.DieKommunitaristenwenden
sichgegendieIllusioneines„autonomenIndividuums“,sehendieMenschenvielmehr
alsSozialwesen,als„sozialeIndividuen“,dieunvermeidlicheingebundensindin
Gemeinschaften(communities),indenengemeinsamgeteilteWertvorstellungenund
Traditionenherrschen.Menschenexistierenalsonichtalsisolierte„Individuen“,sie
werdeninsprachlich,ethnisch,kulturell,religiöso.a.definierteGemeinschaften
hineingeboren,indenensieaufwachsenundleben,indenenbestimmte,gemeinsam
geteilteWert-undMoralvorstellungen,z.B.einegemeinschaftlicheKonzeptiondes
Guten,herrschen.
Diesog.ModernemitihrerTendenzzurIndividualisierungbzw.der„Überbetonungdes
Individuellen“,diesichz.B.inderständigenSuchevielerMenschennach
„Selbstverwirklichung“zeigt,wirdalsFehlentwicklungkritisiert.Sieführezur
„Entsolidarisierung“dersozialenBeziehungenundzurVereinzelungbzw.
VereinsamungvielerMenschen;sieverschärfeIdentitäts-undSinnkrisen.Fürden
kanadischenPhilosophenCharlesTaylor,erbezeichnetsichselbstnichtals
„Kommunitaristen“,stehtihnenaberinvielerHinsichtnahe,führtdieneuzeitlicheIdee
menschlicherFreiheitunddesindividuellenSelbstbestimmungsrechtsletztlichzueinem
fatalen„WertrelativismusundSubjektivismus,derBelangejenseitsdeseigenenIch
ignoriert“;TaylorsiehtdagegeneingrundlegendesmenschlichesBedürfnisnacheinem
Sinn,derdasdiesseitigeLebentranszendiert.2
SelbstverständlichgehtesauchdenKommunitaristenumMöglichkeitenfüreine
individuelleEntfaltungderPersönlichkeit,diesekannaberihrerMeinungnachnurin
1HauptvertretersindMichaelWalzer(geb.1935);CharlesTaylor(geb.1931;MichaelSandel(geb.1953);
AmitaiEtzioni(geb.1929),RobertPutnam(geb.1941),u.a.
2CharlesTaylor:„QuellendesSelbst“;„EinsäkularesZeitalter“;
https://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Taylor_(Philosoph)
3
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
RückkopplungandiesozialeGemeinschaft(z.B.Familie,Nachbarschaft)undinsozialer
Spiegelungerfolgreichsein.IndividualitätentstehtinderGemeinschaftundgespiegelt
durchderenMitglieder.DassehenNarzissmustheoretikerwieH.KohutoderA.Ilien
ganzähnlich(vgl.TeilIII,2.Individualisierung).MenschlicheIdentitätalsverlässliches
ErkennenundsinnvollerlebtesHandelnistohneintersubjektivverbindlicheAkzeptanz
gemeinsamerWertenichtmöglich.
DarauserwächstaucheinesozialeVerantwortungdeseinzelnenbzw.eine
wechselseitigeVerpflichtungzwischendenIndividuenundderCommunity,ein
„GleichgewichtzwischenindividuellenRechtenundsozialenPflichten“.Die
KommunitaristenforderneineErneuerunggemeinsamerWertebzw.eine
RückbesinnungaufdasGemeinwohl,inmeinenWorten:eineWiederbelebungvon
Gemeinsinn.DiessollemöglichstschoninKindergärtenundSchulenerfahrbarund
vermitteltwerden.
KritisiertwerdenLiberalismus(unddasIdealindividuellerFreiheitund
Selbstverwirklichung)undKapitalismus(Prinzipderökonomischen
Nutzenoptimierung),dieletztlichdiegemeinschaftlichenGrundlagendereigenenKultur
unddas,woraufsiesichbeziehen:Freiheit,DemokratieundWohlfahrtfüralle,
untergraben.
GemeinsinnorientierungscheintzwareinuniversellesPrinzipzusein,sierealisiertsich
aberstetsinkonkretenGemeinschaftenoderCommunities.DerKommunitarismus
vertrittdahereineeherrelativistischePosition:JedeCommunityentwickelteigene
WerteundWahrheitsansprüche.DahermussinmodernenGesellschafteneine
entsprechendePluralitätgesichertwerden(PluralismusderWeltanschauungen).Damit
öffnendieKommunitaristen,insbesondereauchCharlesTaylor,denBlickaufandere
KulturenundderenWertvorstellungen.
DiepolitischenZieleundIdealederKommunitaristensindzunächstdurchaus
nachvollziehbar.ZwischendemStaat,dessenAufgabensichaufdasNotwendigste
reduzierensollen,unddenIndividuensolleineSphärevonmöglichstlokalen,
nachbarschaftlichenGemeinschaften(„communities“)treten.Indenlokalen
GemeinschaftennehmendieMenschenihreAlltagsangelegenheitenselbstindieHand
(Selbstorganisation,Selbsthilfe).DieweitgehendeDezentralisierungstaatlicher
AufgabengehteinhermiteinerFörderungbürgerschaftlichenEngagementsundmitder
EntwicklungvonFormendirekterDemokratie.AngestrebtwirdalsoeineStärkungder
Zivilgesellschaft.VorbildistdiegriechischePolisbzw.dieattischeDemokratiemitihrer
FörderungindividuellerPartizipation.Kritisiertwerdensowohlliberalebzw.
neoliberaleVorstellungenvomPrimatindividuellerFreiheitundweitgehend
unbeschränkter„Selbstverwirklichung“,aberauchsozialdemokratischeModelledes
(bürokratischen)Wohlfahrtsstaates,derdenEinzelneninAbhängigkeithalteund
Eigeninitiativeeinschränke.
Dawiresheutebekanntlichnichtmehrmitquasinaturwüchsigenarchaischen
Existenzgemeinschaften(Jäger-und-Sammler-Gruppe;überschaubareDorfgemeinschaft,
Kultgemeinschaft)zutunhaben,bleibtdieentscheidendeFrage,washierals
„Community“definiert,konstruiertoderunterstelltwird.Menschenlebenheutein
unterschiedlichensozialenZusammenhängen,dieseberuhenzumTeilaufdirekter,
persönlicherBegegnungundKommunikation(Familie,Nachbarschaft,Kommune,
Arbeitskollegium,Vereinusw.),zumTeilaberauchaufgrößerenundweitgehend
anonymenEinheiten(Staat,Nation,Ethnie,Religionsgemeinschaft,Metropolregion,sog.
4
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
sozialeNetzeimInternet,usw.).Ineinigewirdmanhineingeboren,anderewähltman
aus.Umwelche„Communities“gehtesdenKommunitaristen?
DieKommunitaristenverfolgenoffenbarzweizentraleStrategienzurEntwicklungvon
„Communities“:ZumeinensollenalteGemeinschaftsformen,dieimZugedes
KapitalismusundseinerDurchdringungallerLebensbereiche„zerstört“oder
aufgeweichtwordensind,wiederbelebtwerden:Familie,Gemeinde,
Religionsgemeinschaftusw.ZumanderengehtesumdieSchaffungneuer
Gemeinschaftsformen,dieausnachbarschaftlichenStrukturen,sozialemund
ökologischemEngagement,ausSelbsthilfe-undBürgerprotestbewegungenerwachsen.
DieersteStrategiehalteichfürsehrfragwürdig(s.u.).
Fürmichbleibtunklar,obnachMeinungderKommunitaristendieverschiedenen
tradiertenundrevitalisiertenoderneuentstehenden„Communities“alsjeweilige
Wertegemeinschaftgrundsätzlichzutolerierensind–bzw.obundwennjawie
umgekehrteinuniversellerGeltungsanspruchderMenschenrechteundder
individuellenFreiheitsrechtebegründetwird.HeutebestehteineVielzahlvongroßen
undkleinen„Gemeinschaften“,vielemitausmeinerSichtäußerstfragwürdigenZielen
undStrukturen(fundamentalistischeReligionsgemeinschaften,religiöseSekten,
kriminelleBanden,reaktionäreundrassistischeOrganisationenusw.).
Zufragenistu.a.:
- Wiesindz.B.MinderheiteninnerhalbderjeweiligenGemeinschaftgeschützt?
- WelcheRechteaufPartizipation,aberauchaufNichtkonformitätimHinblickaufdie
allgemeingeteiltenWertehabendieeinzelnenIndividuen?
- WoliegenGrenzenderToleranzgegenüberfundamentalistischen,
antidemokratischenCommunities?
- WiekanndasschwierigeVerhältnisvonEigeninitiativeundFürsorge,von
Subsidiarität(HilfezurSelbsthilfe)undsolidarischerUnterstützungNotleidender
oderBedürftigerdurchdieGemeinschaftgeregeltwerden?
Zufragenistauch,wiesichdiegesellschaftlichenUrbanisierungs-,Migrations-und
Diversifikationsprozesse,dieEntwicklungvongigantischen,multi-undtranskulturellen
MetropolregionenaufdieMöglichkeitenderCommunity-Bildungauswirken.Obüber
dieGefahrvonethnisch-religiöserundsozio-ökonomischerGhettobildunghinausneue
FormenvonGemeinschaftenentstehenkönnen.VielleichtbietetdieDigitalisierungder
WirtschaftunddesArbeitslebensPerspektivenfürvölligneueKommunikations-und
Kooperationsgemeinschaften.....
DieerhoffteAktivierungvonSelbstorganisationundbürgerschaftlichemEngagement
beruhtaufderMöglichkeitvonGerechtigkeit.
„Gerechtigkeit“istdiezentraleLeitplankefürgesellschaftlicheMoralsysteme,
GerechtigkeiterfordertallerdingskomplexeRegelungen.AuchGrundsätzeder
GerechtigkeitsindnachCharlesTaylorstetsandiejeweilsgemeinsamgeteilten
WertvorstellungenderGemeinschaftgebunden.Diesesindaberimpluralistischen
KonzeptderKommunitaristennichtuniversell.Kannesalsogarkeineuniverselle
Verständigungüber„Gerechtigkeit“(„Wasistgerecht?“)geben?IsteineVerständigung
überMenschenrechte(inkl.Frauen-,Kinder-,Minderheiten-,Tierrechte)undandere
EckpfeilerderGerechtigkeit(BekämpfungvonArmutundHunger,gleichberechtigter
ZugangzuRessourcen,Bildung,RechtekünftigerGenerationen,usw.)unrealistisch?
NochwürdeichdieHoffnungnichtaufgeben.
5
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
NachMichaelWalzer3sindmenschlicheGesellschaften„Verteilungsgesellschaften“mit
gemeinsamgeteiltenVorstellungenvomWertderGüterundmitfestgelegten
Verteilungsprinzipien:
Eine„gerechte“VerteilungkannnichtaufBasiseinfacherGleichheiterfolgen,sondern
nuraufBasiskomplexerRegelungen(„komplexeGleichheit“).Deswegentrennterdas
gesellschaftlicheLebeninSphären,indenendieGüternachunterschiedlichen
Prinzipienverteiltwerden.DabeiunterscheideterdreiDistributionsprinzipien:freier
Tausch,Verdienst,Bedürfnis.
NachM.WalzergibteselfSphären:unteranderemMitgliedschaftundZugehörigkeit,
SicherheitundWohlfahrt,GeldundWare,ErziehungundBildung,Anerkennungund
politischeMacht.EinegerechteVerteilungerfordert,dassdieverschiedenen
VerteilungssphärenklargegeneinanderabgegrenztunddassalleGütergemäßihren
gesellschaftlichenBedeutungensowiedenspezifischenKriterienundMaßstäbenihrer
jeeigenenSphärezugeteiltwerden.SosindetwamedizinischeLeistungenanKranke
gemäßderBehandlungsbedürftigkeitundpolitischeÄmteranKandidatenin
EntsprechungzuihrerQualifikationzuvergeben.
IchseheindenkommunitaristischenÜberlegungeneineDoppelstrategie:Zumeinen
müssendiebestehendenstaatlichenSystemeundOrdnungenimSinnederGrundsätze
derGerechtigkeitweiterentwickeltwerden,d.h.jenachTeilsystembzw.„Sphäre“
(Justiz,Medizin,Bildung,medialeÖffentlichkeit,usw.)müssendasBemühenum
„Gerechtigkeit“unddiesbezüglichechteFortschritteerfahrbarsein,wenn
Bürgerengagementermutigtwerdensoll.Zumanderenmüssenfürdieses
BürgerengagementFreiheits-undErprobungsräumegeschaffenwerden,zumBeispielin
sozialenSelbstorganisations-undVernetzungsformen(StärkungderZivilgesellschaft).
DasistallerdingsnochkeinuniversalistischerAnsatz,ersetztvielmehreine
demokratischeGrundordnungundRechtssicherheitvoraus,bleibtalso„westlichen“
Wertenverbunden.
4
2.RichardRorty :Empathieförderungfüreinesolidarische
Gemeinschaft
Auchderpolitischeher„linke“amerikanischeNeo-Pragmatist5RichardRortygehtvom
Idealeinersolidarischen,gerechtenGesellschaftaus.DieGrundlageoderVoraussetzung
füreinsolidarischessozialesZusammenlebensiehterinderEmpathiefähigkeitdes
Menschen(vgldazuauchArthurSchopenhauer,s.u.).
RortygiltalsPragmatist(VorbildistJohnDewey)bzw.Neopragmatist,weilsichsein
philosophischesDenkensachbezogenanalltäglichenundbekanntenGegebenheitenund
nichtansog.unveränderlichenmetaphysischenPrinzipienausgerichtet:Theorien,Ideen
undWahrheitensollenhilfreichsein,fürdasVerständnisdermenschlichenbzw.
gesellschaftlichenPraxis.
3MichaelWalzer:„SphärenderGerechtigkeit:einPlädoyerfürPluralitätundGleichheit“;„Gibteseinen
gerechtenKrieg?“
4RichardRorty(1931–2007):„DerSpiegelderNatur.EineKritikderPhilosophie“:Rortyentwickeltvor
allemeineKritikdergängigenerkenntnistheoretischenPositionen.
5DerNeopragmatismus(RichardRorty,HilaryPutnam,W.VanOrmanQuine,HansJoasu.a.)kannals
sprachphilosophischeWeiterentwicklungdesPragmatismus(JohnDewey,WilliamJames,CharlesPeirce,
GeorgeHerbertMead)bezeichnetwerden.
6
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
DieSolidaritätzwischendenMenschenentstehtfürRortydurchdiegemeinsamgeteilte
ErfahrungvonGrausamkeit(einkulturellgemeinsamgeteiltesEmpfinden).Empathieist
dersozialeKitt–undEmpathiekannentwickeltundgefördertwerden.Zielistes,
GrausamkeitundLeidenzuminimierenundzuvermeiden.Zielistesauch,das„Wir“
auszuweiten,dasdieseEmpathiefüreinanderaufbringt.FürRortywürdesichindieser
Ausweitungder„moralischeFortschritt“derMenschheitzeigen.
AuchRichardRortysetztalsoaufdieWiederbelebungvonGemeinsinn.Erplädiertfür
„Gefühlserziehung“(SensibilisierungfürdasLeidenanderer).DieSensibilisierungder
MenschenfürdasLeidenandereristalsmoralischeInstanzfürihnwichtigerals
Rationalität.RortysetzthieraufErziehungundBildungbzw.dieLernfähigkeitder
Menschen.SolidaritätundHandelnsolltenauchimMittelpunktoffenerphilosophischer
Diskursestehen.
Grundsätzlichhälteresabernichtfürmöglich,überdeneigenenethnozentrischen
HorizonthinausvorurteilsfreieBewertungenandererKulturenvorzunehmen.
UnsereTheorien,Vokabulare,WerteundSichtweisensindnachRortyhistorischund
kulturellrelativ:Esgibtkeineallgemeinen,verbindlichenKriterien,umdieBedeutung
oderdieWahrheitverschiedenerVokabularezubewerten.Undesseiesauchnicht
möglich,überdeneigenen„ethnozentrischen“Horizonthinauseinevorurteilsfreie
BewertungandererKulturenvorzunehmen.DeshalbschlägtR.Rortyvor,sowohlunser
Vokabular,alsauchdieEntwicklungunserersozialenWelt,alsauchunsereigenesSelbst
als„kontingent“anzusehen,alseinemöglicheundsinnvolle,abernichtzwingend
geboteneSicht.AbsoluteWahrheitundObjektivitätgibtesdemnachnicht;jede
„Wahrheit“istfürihnkontingent,sieerweistsichbestenfallsfürdieLebenspraxisals
sinnvollundhilfreich,aberdamitistsienichtzugleichunumstößlichundnotwendig
gegeben.
DasisteinPlädoyerfürinterkulturelleOffenheitundVerständigung.Seine
„KontingenztheoriederWahrheit“relativiertaberm.E.zugleichdenuniversalistischen
AnspruchaufSolidaritätundLeidminderung.
WirmüssenzudemvonderKontingenzunserereigenenÜberzeugungenausgehen(bei
Rortyals„HaltungderIronie“bezeichnet).Ichverstehedasso:Auch„unsere
Wahrheiten“,unsereWerteundÜberzeugungenkönnensichändern,könnendurch
nichtvoraussehbareEreignisseneujustiertwerden.........
DerRelativismus/PluralismusseinerKontingenztheorie(-esgibtwederabsolute
WahrheitnocheineklarbegründbarePrioritätbestimmterWerthaltungen)erschwert
zugleichdasvonR.RortygeforderteEngagementfürMenschenrechte,
Gewaltvermeidung,Gleichberechtigung,DemokratieundRaumfürindividuelle
Selbstentfaltung.DazusagtBärbelFrischmann:6
„RortyentgegnetdiesenVorwürfen,indemerimmerwiederdaraufverweist,erstens,dass
esihmumdieErhaltungunddenweiterenAusbauderErrungenschaftenheutiger
Demokratiengehe,dassesaberdafürkeineFundamentalbegründunggebe,sonderneben
nurdaskonkreteEngagementvonMenschen,dieihreKulturgestalteten.Zweitensmacht
erimmerwiederdeutlich,dasssichseineironischeHaltunggegenfundamentalistischeund
essentialistischeAnsprücherichtet,damitabernichtdieausdereigenenLebenspraxis
wohlbegründetenÜberzeugungeninFragestellt.Nursolltenwirakzeptieren,dassesfür
dieseÜberzeugungenkeinletztestheoretisches„Fundament“derBegründunggebe.Wir
6BärbelFrischmann,„RichardRorty“,in:InformationPhilosophie,http://www.informationphilosophie.de/?a=1&t=251&n=2&y=1&c=4
7
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
müsstenlernen,ineinerpluralenWeltundinAnbetrachtderKontingenzunserer
WeltbilderdennochDingefürsowichtigzuhalten,dasswiresalslohnenswerterachteten,
unsfürsieeinzusetzen.IronieseiallesanderealsNihilismus,sonderneinaufgeklärter
UmgangmitKontingenz.“
Ichfürchte,RichardRortyhatRecht.EsbleibtnurderpragmatischeWeg,sichim
DiskursmitdengroßenanderenkulturellenTraditionenbzw.inundmitder
StaatengemeinschaftaufeinenGrundkonsenszuverständigenunddabeidieeigenen
GrundsätzeundWertemitEntschiedenheit,gutenArgumentenundmoralischem
Nachdruckeinzubringen.DieUN-ChartaderMenschenrechteistsoeinGrundkonsens,
aberauchhiergibtesbereitsRelativierungen.EszeigtsichinderPraxisimmerwieder,
dasssichradikalepolitischeundreligiöseBewegungenoderdiktatorischeRegimes
wenigumdiesenKonsensscheren.SchonimHinblickaufdieallgemeinen
MenschenrechteformulierenislamischeStaaten(vgl.KairoerErklärungder
MenschenrechteimIslamvon1990)oderauchdieVolksrepublikChinaeigene
Prinzipien.EsmangeltzudemansystematischenKontroll-undwirkungsvollen
Sanktionsmöglichkeiten.DiesesindabermitNachdruckzufordernbzw.einzuklagen.
RichardRortysetztoffenbargroßeHoffnungenauf„Gefühlserziehung“(Entwicklung
undFörderungvonEmpathie),erglaubtnichtandieÜberzeugungskraftrationaler
Argumente:
„NachAuffassungRortysistesnichtderZuwachsanRationalitätundmoralischemWissen,
derdiemodernedemokratischeKulturbefördert,sondernvorallemdieSensibilisierung
derMenschenfürdasLeidenanderer.(...)Diefreiheitlich-liberaleUtopieerfordereeine
entsprechendemoralischeEinstellungderSolidarität,derVermeidungvonGrausamkeit
unddesgegenseitigenRespekts.Wennesgelinge,diemoralischenEmpfindungender
Menschensozumanipulieren,dasssiesichindieVerachtetenundUnterdrückten
hineinversetzenkönnten,werdesich,soRortysHoffnung,dieMenschenrechtskulturimmer
weiterausbreiten.(...)DabeiführterinsFeld,dasssicheineEntscheidungzwischen
verschiedenenWertsystemennichtalleindurchRationalitättreffenlasseunddass
normativeOrientierungenwohlnichtaufgrundvonrationalenArgumentenaufgegeben
würden.(...)SoisterskeptischgegenüberderHoffnung,dassderEinsatzrationaler
Überlegungendazuführenkönne,MenschenvonbestimmtenWertauffassungenoder
politischenZielenzuüberzeugenundsieinihreneigenenGrundüberzeugungenzu
erschüttern.EsgebeebenkeinefavorisierteMethode,anderezuüberzeugen.Manche
MenschenließensichdurchrationaleArgumentationbeeinflussen,anderedurch
Erlebnisse,dieanihreEmotionenrührten,wiedasHörenvonGeschichtenoderdasSehen
vonFilmen.“(B.Frischmann)
DenletztenAussagenstimmeichvorbehaltloszu.Dennoch:DieseGefühlserziehung
(sprichtertatsächlichvoneiner„ManipulationdermoralischenEmpfindungender
Menschen“?)könnteandieGrenzendes„archaischenWir“stoßen:Empathiewird
zunächstundprimärfürdieAngehörigendereigenenGemeinschaftentwickelt,eine
ErweiterungscheintanpersönlicheBegegnungoderanpersönliche
Identifikationsmöglichkeitengebundenzusein–malganzabgesehenvonder
ÜberschätzungderMöglichkeitendirekterpädagogischerIntervention.Die„Erziehung
dersozialistischenPersönlichkeit“indensog.staatssozialistischenLändernkannund
solltejedenfallsnichtalshistorischesBeispielundpraktischesModellherangezogen
werden.
8
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
3.JohnRawls7:FreiheitundGerechtigkeitverbinden
Der„sozialliberale“amerikanischePhilosophJohnRawls,einVertreterdessog.
egalitärenLiberalismus,setztinseinenÜberlegungenzurGerechtigkeitvoraus,dass
MenschenautonomeIndividuensind;seinIdealbzw.seinAusgangspunktisteine
Gemeinschaftfreier,vernünftigerbzw.vernunftfähigerIndividuen,diesichunterder
LeitideederGerechtigkeitzurGesellschaftzusammenschließen(Ideedes
Gesellschaftsvertrages).ErmöchtealsodieindividuellenFreiheits-undGrundrechte,die
fürihnoberstePrioritäthaben,verbindenmiteinemZusammenleben,dasan
Gerechtigkeitsprinzipienund-regelngebundenist,dieauchdenwenigerBegünstigten
Chancengleichheitgewährenbzw.zueinenNachteilsausgleichführen.J.Rawlssetzt
dabeiaufinstitutionalisiertegesellschaftlicheRegelungenundaufsozialesmoralisches
Lernenbzw.diepädagogischunterstützteEntwicklungdes„Gerechtigkeitssinns“.
JohnRawlsgehtvomPrimatderFreiheitdesEinzelnenaus.Dieseregelnübereinen
„Gesellschaftsvertrag“ihrZusammenleben,wobeiJ.Rawlshypothetischeinefaireund
gleiche(fiktive!)Ausgangssituationannimmt,umseinKonzeptvonGerechtigkeitzu
entwickeln.
Esgehtdarum,denFreiheitsanspruchderMenschenmitdemAnspruchauf
Gerechtigkeitzuversöhnen.JederMenschbesitzteineausderGerechtigkeit
entspringendeUnverletzlichkeitundFreiheit,dieauchimNamendesGemeinwohls
nichtaufgehobenwerdenkann.DieGerechtigkeitlässtesnichtzu,dassderVerlustder
FreiheitbeieinigendurcheingrößeresWohlfüranderewettgemachtwird.
„Gerechtigkeit“istzwardasLeitprinzipdesZusammenlebens,siedarfabernichtden
grundlegendenFreiheitsanspruchdesEinzelnenverletzen!
GerechtigkeitistdiemaßgeblicheTugendsozialerInstitutionenundZielder
Gesetzgebung;DieinstitutionelleZuweisungvonRechtenundPflichtenunddie
VerteilungderGütermussnachRegelnderFairness(BerücksichtigungderInteressen
aller)undGerechtigkeiterfolgen(„GerechtigkeitalsFairness“).Dasheißt,auchdie
InteressenderSchwächstensindzuberücksichtigen.(„Fair“handelt,werdieInteressen
andererberücksichtigtunddievereinbartenRegelnbeachtet.„Gerecht“isteine
Gesellschaftsordnung,wennalledenRegelnzustimmenkönnen,bevorsiewissen,
welchenRangoderPlatzsieinderGesellschafteinnehmenwerden.Icherinneredaran,
dass„gerecht“etymologischmit„richtig“zusammenhängt.)
FürJohnRawlsgelteninseiner„TheoriederGerechtigkeit“zweiGrundsätze:8
1.AlleMenschenhabendengleichenAnspruchaufGrundfreiheitenundGrundrechte.
DieFreiheitdesEinzelnendarfnurumderFreiheitderanderenwilleneingeschränkt
werden.DashatoberstePriorität.–DieserGrundsatzsichertodergarantiertabernicht
sozialeGleichheit.DaMenschenunterschiedlicheBegabungen,Interessen,Charaktere
undLebensschicksalehaben,z.B.zufälligeoderselbst„erarbeitete“bzw.„verschuldete“
ErfolgeundMisserfolge,kommteszusozialenundwirtschaftlichenUngleichheiten.
DarausresultiertderzweiteGrundsatz:
2.SozialeundökonomischeUngleichheitenmüssenzweiBedingungenerfüllen:
a)EsherrschtfaireChancengleichheit.AlleGüter,ÄmterundPositionenstehen
prinzipiellallenoffen.DiejeweilsgültigenAuswahl-oderVerteilungsregelngelten
7JohnRawls(1921–2002):„TheoriederGerechtigkeit“–DieAuseinandersetzungmitdiesemWerkhat
übervieleJahredie(amerikanische)Philosophiebeschäftigt(vgl.R.Rorty,Ch.Taylor).
8Vgl.RichardDavidPrecht,„Werbinichundwennja,wieviele?“,2007,S.336ff.
9
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
unabhängigvonAbstammung,Reichtumoder„gutenBeziehungen“füralle
gleichermaßen.
b)DererzieltegesellschaftlicheWohlstandmussvorallemdenamwenigsten
Begünstigten,denvonNaturundSchicksalBenachteiligten,dengrößtmöglichenVorteil
bringen(Differenzprinzip).Dasheißt:EinegerechteGesellschaftmussfüreinensozialen
Ausgleichsorgen.
Andersformuliert:EsmussalsoeingesellschaftlichesRegelsystemgeben,welches
sicherstellt,dassalleMenschenmitgleichenBegabungendiegleichenAufstiegschancen
haben–ungeachtetderanfänglichenStellunginderGesellschaft.(Esgehtalsonichtum
formale,sondernum„faireChancengleichheit“.)
Und:Ungleichheitensindnurgerechtfertigt,wennsieauchdenamschlechtesten
gestelltenMitgliedernderGesellschaftzumVorteilgereichen.Nursokönnendienicht
verschuldete(fürJ.Rawls„unverdiente“bzw.ungerechte)Ungleichheitnatürlicher
Begabungenoderz.B.NachteiledurchBehinderungen(einwenig)ausgeglichenwerden.
GerechtigkeitistfürJohnRawlseinuniversellesPrinzip,d.h.der„Gerechtigkeitssinn“ist
fürihnelementarerBestandteilderMenschlichkeit.Erentwickeltsichübersoziales,
moralischesLerneninallenKulturen.
DerhoheStellenwertindividuellerFreiheitsrechte,einePrämissebeiJ.Rawls,istsicher
„kulturspezifisch“undwirdnichtinallenKulturengeteilt;überschätztwirdvermutlich
auchdieBereitschaftundFähigkeitvonMenschenundStaatendasZusammenleben
nachGerechtigkeitsprinzipienvernünftigzuregeln(s.o.).MeinesErachtensistdie
BetonungindividuellerFreiheitsrechteErgebnisbzw.FolgederAuflösungtraditioneller
Gemeinschaftenbzw.vonhistorischenIndividualisierungsprozessen;inder
„Sehnsucht“nachFairnessundGerechtigkeitkommthingegendieErinnerunganein
„Wir“zumAusdruck,indieder/dieEinzelneverlässlicheingebettetistundinderdas
BemühenumHarmonieVoraussetzungfürdieExistenzsicherungallerist.
EtlicheKritikerweisendaraufhin,dassnichtfüralleMenschen„Freiheit“oberstes
Prinzipist;PrioritäthabefürvielezunächstdieBefriedigungderGrundbedürfnisse
(Ernährung,Sicherheit,Sexualitätusw.).InderPraxiswürdenvieleMenschen
„freiwillig“aufpersönlicheFreiheitenzugunstenmateriellerGüterverzichten(-aber
wärenichtauchdaseineFormderFreiheit?).VieleMenschenhabenallerdingsgarkeine
Wahl,wennsieundihreFamilienüberlebenwollen.
Zudemistbekannt,dassdemokratischeFreiheitsrechtenichtinallenmodernen
Gesellschaften(vgl.China)–undschongarnichtintraditionalistischausgerichteten
Kulturendengleichen(hohen)Stellenwerthaben.Hiermögeneinwohlhabender,
stabilerStaat,derdemeinzelnenSicherheit,aberkeineFreiheitbietet,wichtigerseinals
einearme,abergerechteGesellschaft.
Dennoch:WennmitFreiheitsrechtenimKerndieUnverletzlichkeitderPersonundihr
RechtaufdemokratischeMitbestimmunggemeintist,berührtdaseinzentrales
Menschen-oderGrundrecht,fürdasicheinenuniversellenGeltungsanspruch
wünschenswertfände.
JohnRawlsGerechtigkeitstheoriewirdvonzweiPolenherkritisiert:
- FürdielibertäreoderneoliberaleKritik(z.B.RobertNozick)beschneidetRawls
Differenzprinzip(s.o.)dieindividuelleFreiheit.Erbindetsiedemnachvielzusehran
eineGemeinsinnorientierung.PrioritärseienvielmehrdieIndividualrechte,die
InteressenundAntriebedereinzelnenMenschen,solangesienichtzurVerletzung
10
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
derGrundrechteandererführen.RobertNozickkritisiert,dassRawls„willkürlich“
PrinzipienderFairnesszumAusgangspunktgesellschaftlicherRegelungenerklärt
unddiewahreNaturdesMenschenvölligverkennt:„WarumsollsichderMenschnicht
einfachungestörtallseinernatürlichenGaben,seinerunverdientenTalenteundseiner
zufälligenStartvorteileimRennenumdieknappennatürlichenundgesellschaftlichen
GüterseinesLebenserfreuenkönnen?WarummüssenseineErfolgenotwendigund
immerdenanderenzugutekommen?Reichtesdennnicht,dasssieesimGroßenund
Ganzenschonirgendwietun?“9
- DagegenhältdiekommunitaristischeKritik‚(z.B.MichaelSandel)die
Ausgangsannahmefreier,mündigerIndividuenfürunrealistisch(-wasistmit
Kindern,mitgeistigBehinderten?);sieignorierezudemdieimmerschongegebene
gemeinschaftlicheBindungundPrägungdesEinzelnen(s.o.).
- FürdieUtilitaristen(s.u.)wiederumsindWohlstandundGlückdereinzelnen
MenschendiegrundlegendenVoraussetzungenfüreinegerechteGesellschaft.
Deutlichwird:DasSpannungsverhältnisvonindividuellerFreiheitundsozialer
Verantwortung,vonEigensinnundGemeinsinnbleibteinGrundproblemmoderner
Gesellschaften.Eswirdphilosophischundpolitisch(mandenkeandie
programmatischenSchwerpunkteder„alten“politischenParteien)unterschiedlich
gewichtet.
4.DerUtilitarismus:DasWohlergehenalleralsZiel
Dersog.UtilitarismusprägtbisheutestarkunserDenken,Rechts-undMoralempfinden.
SeinAusgangspunktist„soeinfachwiebestechend:Glückistgut,undLeidenist
schlecht.“10
DiephilosophischenGrundlagendesUtilitarismuswerdenmaßgeblichvonJeremy
Bentham(gest.1832)inZeitenderAufklärungunddesökonomischenLiberalismus
entwickelt,indenendieFreiheitdeseinzelnenIndividuums(damals:männlich,
hellhäutig)indenFokusgerät.HierscheinennundieIndividualisierungsprozesseder
NeuzeitihrephilosophischeRechtfertigungzuerfahren.DerUtilitarismusistabernur
aufdenerstenBlickdiephilosophischeLegitimationindividuellerNutzenoptimierung
oderderegoistischenInteressenderaufstrebendenBourgeoisie.
AuchderUtilitarismusbleibtinseinenmoralphilosophischenImplikationendem
Gemeinwohlverpflichtet.ErplädiertkeineswegsfüreinenverkürztenAnsatz
individuellenWohlergehens,auchwenndieseseinewichtigeRollespielt.Gutundrichtig
sinddemnachHandlungenbzw.Regeln/Normen,derenFolgenfürdasWohlergehen
und„Glück“allervonderHandlungBetroffenenoptimalsind.Letztlichwirdeine
VergrößerungdesGemeinwohlsimSinneeinesNutzensfüralleangestrebt;Zielesind
dasgrößtmöglicheGlückfürmöglichstvieleMenschenbzw.diemöglichstweitgehende
MinimierungvonLeiden(letztereswirdals„negativerUtilitarismus“bezeichnet).
„Glück“kanndabeientweder„hedonistisch“verstandenwerdenalssubjektiveFreude
amLeben,alsLustundVergnügenbzw.alsVermeidenvonSchmerzundLeid–oder
„eudaimonistisch“alsStrebennacheinemerfolgreichenLeben,alsZufriedenheitund
GenugtuungbeimErreichenselbstgesetzterZiele.Soodersobleiben„Glück“,„Leiden“
oder„Wohlergehen“abersubjektiveKategorien.
9RichardDavidPrecht,„Werbinichundwennja,wieviele?“,S.341
10RichardDavidPrecht,„Werbinichundwennja,wieviele?“,S.178
11
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
DasutilitaristischeNützlichkeitsprinzipbesagt:KollektivwohlgehtvorEigenwohl!
GrundlagefürdieethischeBewertungeinerHandlungistbeiJ.Benthamdas
Nützlichkeitsprinzip(utilitas=Nutzen,Vorteil).GutundrichtigsindHandlungenbzw.
RegelnundNormen,derenFolgenfürdasWohlergehenallervonderHandlung
Betroffenenoptimalsind.ZielisteineVergrößerungdesGemeinwohlsnachderMaxime:
„Handleso,dassdasgrößtmöglicheMaßanGlückentsteht.“Das„Kollektivwohl“istdabei
abernichtaufeinehistorischgewachseneGemeinschaftausgerichtet,sondernauf
wechselndeKonstellationenvonjeweilsBetroffenen.Darinliegtzugleichein
universalistischerAnsatz.
DieEntstehungundGeltungmoralischerNormenundgesellschaftlicherInstitutionenist
aufden„Nutzen“,densiefürdieGemeinschafthaben,zurückzuführen.
FürJeremyBenthamsinddasStrebennachLust(pleasure)unddasVermeidenvon
Schmerz(pain)eineanthropologischeGrundkonstantebzw.entscheidendeMotive
menschlichenHandelns.JederMenschsuchtnachNutzenmaximierung.„Gut“ist,was
dengrößtmöglichenNutzen(benefit)fürdiegrößteZahlhervorbringt.AndereWerte
sindzweitrangig.
DagegenbetontJohnStuartMill(gest.1873),dassFreiheit,insbesondere
MeinungsfreiheitdieVoraussetzungfürdierichtigeBestimmungdesgrößtmöglichen
Glückssei.DieMenschenmüssenungehindertzumAusdruckbringenkönnen,worinfür
siedergrößtmöglicheNutzenliegt.
DieUtilitaristenversuchendenNutzenausdenFolgeneinerHandlungzuberechnen
(Nutzenkalkül):ZurmoralischenBewertungeinerHandlungmüssendieKonsequenzen
fürdieBeteiligtenbzw.Betroffenenempirischermitteltundbewertet(Vor-und
Nachteile)werden.DiepersönlichenAbsichtensinddabeinebensächlich;einzubeziehen
sindaberHandlungsalternativen.
BeimNutzenkalkülgehtesnichtumtradierteodererworbeneVorrechteeinzelner;
insofernherrschteinGleichheitsgrundsatz(-dersichaberimDenkendamalswohlnur
auf„freieweißeMänner“beziehtundwederFrauennochSklaveneinschließt).
ModerneUtilitaristenversuchenheuteauchdasWohlkünftigerGenerationenin
Abwägungsprozesseeinzubeziehen(PrinzipderNachhaltigkeit)–oderschließenwie
PeterSinger11,derBegründerdermodernenTierrechtsbewegung,auchnichtmenschlicheLebewesenindasAbwägenmoralischenHandelnsundUrteilensein,sofern
sie„bewusstleidensfähig“sindundklare„Präferenzen“äußernkönnen.DieVertreter
dessog.„Präferenz-Utilitarismus“12weitendiegleichberechtigtindasNutzenkalkül
einzubeziehendenInteressenalsoerheblichaus:KriteriumfürethischeBewertungen
dürfeundmüsseeinzigdieFähigkeitsein,bestimmteklarerkennbarePräferenzen
(subjektiveWünsche,Absichten)zubesitzen–ungeachtetvonderZugehörigkeitzu
einerSpezies,z.B.diePräferenzderSchmerz-undLeidensvermeidung.Relevantsind
demnachnurdieoffensichtlicheSchmerz-,Leidens-undGlücksfähigkeit,dieFähigkeit,
FreudeoderTrauerzuempfindenundeinentsprechendesSelbstbewusstseinimSinne
komplexerAbsichtenundWünsche.
11PeterSinger(geb.1946)istwegen„missverständlicher“(?)AussagenzumLebensrechtmenschlicher
Embryonen,FrühgeburtenundSchwerstbehinderteninsbesondereinDeutschlandsehrumstritten.
https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Singer
12Vgl.RichardDavidPrecht,„Werbinichundwennja,wieviele?“,S.189undS.210ff.;und:
http://de.wikipedia.org/wiki/Präferenzutilitarismus
12
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
„FürPeterSinger,wiefürjedenPräferenz-Utilitaristen,ist>Selbstbewusstsein<das
Kriterium,daseinLebenunbedingtschützenswertmacht.“(R.D.Precht)Dasdahinter
stehendeMotivistdieAufwertungundderSchutzderhöherentwickeltenTiere,aber
dieDefinitionsversuchesindheikel.DawedereinFötusnocheinKoma-Patient,vielleiht
auchkeineneugeborenenSäuglingeindiesemSinneklarePräferenzenäußernbzw.
ausdrücken(können),gäbeeskeinArgument,daseineTötungunterallenUmständen
verbietenwürde.
Esklingtzunächstgutundrichtig,dasHandelnvonPersonenundInstitutionenam
PrinzipdesgrößtmöglichenNutzensfüralleBetroffenenauszurichten.Daschimmert
docheinRestvonGemeinsinndurch.InderPraxisdürftedasallerdingskaum
umzusetzensein.
SchondiezentralenutilitaristischenBegriffe„Nutzen“,„Wohlergehen“und„Glück“sind
sehrmissverständlichundwerdenvonMenschenkulturell,sozialundsubjektiv
unterschiedlichinterpretiertundbewertet.EsgibtalsovielfältigeVorstellungenvom
NutzenoderGlück,unddieseVorstellungenverschiedenerIndividuensindletztlich
inkommensurabel(nichtvergleichbar):DieeinensuchenkurzfristigesGlückoder
materiellesWohlergehen,anderewürdenmöglichelangfristigeVorteileoderdie
ErfüllungeherideellerWertevorziehen.
DerVersuchderUtilitaristenbezogenaufHandlungenoderPlänequasimathematisch
NutzenundGlückzukalkulieren,schießtdeutlichüberdashinaus,wasm.E.möglichist:
nämlicheinerationaleFolgeneinschätzungundRisikobewertungvonEntscheidungen
undPlanungen.
Aberauchhierbleibtklärungsbedürftig,welcheFolgenabgewogenundberücksichtigt
werdensollen:nurdiekausalvorhersehbarenundplausiblenoderauch
wahrscheinlicheodereventuellmöglicheFolgen;nurdiederdirektoderauchdieder
indirektBetroffenen?Undwiekönnendiesejeweilsgewichtetwerden?Diepraktischen
ProblemezeigensichtagtäglichindenKontroversenumZukunftsprojekteoder
politischeEntscheidungen.
AuchdasanzustrebendeZielistnichtklarzudefinieren.GehtesumdieMaximierung
desGesamtnutzensbzw.WohlergehensoderumeinenDurchschnittsnutzen?FürJohn
Rawlsgehtesz.B.prioritärdarum,dasGlückderunglücklichstenPersonzu
maximieren.Nur,wiestelltmandasfest?DasdürfteinderPraxisschwierigwerden!
InRealitätgehen„Verbesserungen“füreinigeBetroffenesehroftmit
Verschlechterungenfürandereeinher;einutilitaristischesNutzenkalkülimSinnder
o.g.MaximeistinPraxiszumeistschwerodernichtmöglich.Dassog.„Pareto-Optimum“
beschreibteinenZustand,indemweitereVerbesserungenohnegleichzeitige
Verschlechterungennichtmehrmöglichsind.13
InAlltagsentscheidungenwerdenimmerauchNutzenüberlegungenangestellt,dieauch
dieInteressenanderereinbeziehen.DasverdeutlichenBegriffewie„Rücksichtnahme“,
„Zumutbarkeit“,„Opferbringen“,„Benachteiligung“usw.Sieimplizierenden
vergleichendenBezugaufdasWohlergehenandererIndividuen.
Mankannnatürlichfragen,obespolitischundpsychologischüberhauptrealistischist,
dasGlückoderWohlergehen„aller“anzustreben?GehtesdenmeistenMenschennicht
nurumdaseigeneGlückundWohlergehenundvielleichtnochdasderjeweils
nahestehendenMitmenschenbzw.derMenschen,mitdenenwirunsjeweilsals„Wir“
13https://de.wikipedia.org/wiki/Pareto-Optimum
13
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
verbundenfühlen?SchwierigwirddieEinbeziehungkünftigerGenerationenoderauch
vonnicht-menschlichen,aberleidensfähigenLebewesen(vgl.Tierrechtsbewegung,P.
Singer).
WünschenswertwäreneinezugleichdifferenzierteundleichthändelbareRisiko-und
NutzenanalysebeiallenrelevantenPlanungenundEntscheidungen.InAnsätzengibtes
dasz.B.beiUmweltverträglichkeitsprüfungen.DieBerücksichtigungvon
BürgerinteressenzeigtzugleichdieProblemeauf(Sankt-Florian-Prinzip:„HeiligerSankt
Florian/Verschon'meinHaus/Zünd'and'rean!“).
DerUtilitarismushebteinsicherinteressantesundwichtigesElementoderKriterium
fürmoralischeEntscheidungenhervor(„Glück“bzw.„Nutzen“,„Wohlergehen“),dadurch
werdenaberandereWertewieGleichheit,Freiheit,Gerechtigkeit,Ehrlichkeit,Würde
desMenschenusw.zweitrangig.
DasProblembeimUtilitarismusistwieauchbeianderenphilosophischenSystemen
eineVerabsolutierungvonimKernplausiblenArgumentenundPositionen.Ein
Moralsystem,dasalleEntscheidungenauseinerKernannahme(hier:
Nutzenmaximierung,Wohlergehen)ableitenwill,istm.E.notwendigunterkomplex.Mit
demPostulat,dasgrößteGlückdergrößtenZahlanzustreben,wirdeineam
„Gemeinwohl“orientierteSetzungvorgenommen.ZugleichumfasstdasGemeinwohlalle
Menschen(undbewusstseinsfähigenLebewesen),prinzipiellauchkünftige
Generationen,undistdaherimgutenSinneuniversalistisch.DerAnspruchauf
Wohlergehenoder„Glück“giltfüralle.
Ichwendemichnun(exemplarisch)einigenPhilosophenoderphilosophischen
Strömungenzu,diesichnachmeinerEinschätzungstärkerandemorientieren,wasich
mit„Eigensinn“meine.
5.ArthurSchopenhauer14:EgoismusundSinnlosigkeitdurchEthikdes
Mitleidsüberwinden
„Glück“istfürArthurSchopenhauerkeinsinnhaltigesLebensziel.FürArthur
Schopenhauer,eristeinebensoselbstüberzeugterwiepessimistischer,fast
nihilistischerDenkergewesen,istderMenschkeinvernunftgesteuertesWesen,inihm
waltenvielmehrmeistunbewussteAntriebskräfte(„Wille“),denenderVerstand
rationalisierendfolgt:„WasdemHerzenwiderstrebt,lässtderKopfnichtrein.“15
NachSchopenhauergibteskeinenfreienWillenalsGrundlagederVernunft;esherrscht
vielmehreinblinderLebenswille,einKampfumsDasein.Esgibtauchkeineobjektive
Erkenntnis.JederlebtinseinereigenenWelt.UnddieWeltistletztlich„blinder,
vernunftloserWille“bzw.Produkteines„grundlosenWillens“undein„Jammertalvoller
Leiden“.„Wirsindebenbloßzeitliche,endliche,vergängliche,traumartige,wieSchatten
vorüberfliegendeWesen.“
ArthurSchopenhauerbeharrtaufderPrioritätderindividuellenFreiheit,auchumden
PreisderEinsamkeit:
„Ganzerselbstseindarfjedernur,solangeeralleinist.WeralsonichtdieEinsamkeitliebt,
derliebtauchnichtdieFreiheit;dennnurwennmanalleinist,istmanfrei!“„Beigleicher
14ArthurSchopenhauer(1788–1860)„DieWeltalsWilleundVorstellung“;ZitateausWikipedia
15vgl.RichardDavidPrecht,Werbinichundwennja,wieviele?,S.149undS.27
14
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
UmgebunglebtdochjederineineranderenWelt.“„WasnunandrerseitsdieMenschen
geselligmacht,istihreUnfähigkeit,dieEinsamkeitundindiesersichselbstzuertragen.“16
HieristderMenschunvermeidlicheinEinzelgängerundnurimErtragenderEinsamkeit
zeigtsichseineStärke.DieGemeinschaftistlediglicheinFluchtraumfürdieSchwachen.
WasSchopenhauerdabeivondenSolipsistentrennt,istseinBeharrenaufeinalles
verbindendesundbedingendesEtwas.DiesesistfürSchopenhauerderblinde,zum
DaseindrängendeWille.SchopenhauerselbstsiehtimBuddhismuseinegrundsätzlich
ähnlicheWeltsicht;theistischePositionen,z.B.dieGottesvorstellungimKoran(Allah)
oderimAltenTestament(Jahwe),sindfürihn„unerträglich“und„ärmlich“.
SchopenhauerbegründeteeinSystemdesempirischenundmetaphysischen
Pessimismus.Derblinde,vernunftloseWeltwilleistfürihndieabsoluteUrkraftund
somitdasWesenderWelt.DieVernunftistnurDienerindiesesirrationalenWeltwillens.
DieWelt−alsErzeugnisdiesesgrundlosenWillens−istdurchunddurchschlecht,
etwas,dasnichtseinsollte,eineSchuld.EineschlechtereWeltkannesüberhauptnicht
geben!UnddochpredigtSchopenhauerkeinenzynischenEgoismus,sondernEmpathie
undHilfsbereitschaft.Dasistüberraschend.
ArthurSchopenhauervertritt–wiekeinandererPhilosoph–eineEthikdesMitleids.Er,
derüberheblichauftretendeIndividualist,derdasAlleinseinundseineFreiheit(d.h.
seinesozialeUngebundenheit!)liebendeEigenbrödlersiehtsichüberden„mysteriösen
Vorgang“desMitleidensmitallenanderenMenschenverbunden.MitAusnahmedes
BuddhismushatinkaumeineranderenPhilosophiedasMitleideinederartzentrale
BedeutungwieindervonArthurSchopenhauer.HierbeibeziehtSchopenhauerim
GegensatzzufastallenanderenbedeutendenwestlichenPhilosophen,jedoch
übereinstimmendmitdemBuddhismus,inseineMitleidsethikausdrücklichauchdie
Tieremitein.SchondeshalbdürfteSchopenhauersallumfassendeundzutiefst
metaphysischbegründeteMitleidsethikwohleinzigartiginderwestlichenPhilosophie
sein.17
"Wieistesmöglich",fragtSchopenhauer,"dasseinLeiden,welchesnichtmeinesist,nicht
michtrifft,dochebensounmittelbarwiesonstnurmeineigenes,Motivfürmichwerden,
michzumHandelnbewegensoll?Esistmöglichnurdadurch,dassich
es....mitempfinde,esalsmeinesfühle,unddochnichtinmir,sondernineinemandern....
Diesabersetztvoraus,dassichmichmitdemanderngewissermaßenidentifizierthabe,
undfolglichdieSchrankezwischendemIchundNicht-IchfürdenAugenblickaufgehoben
sei.....DieserVorgangistmysteriös;denneristetwas,wovondieVernunftkeine
unmittelbareRechenschaftgebenkann....(zit.nachWalterKirchgessner)
DasMitleidist,wieSchopenhauerbetont,demMenschengegeben,esist„eine
unleugbareTatsachedesmenschlichenBewusstseins,istdiesemwesentlicheigen,beruht
nichtaufVoraussetzungen,Begriffen,Religionen,Dogmen,Mythen,Erziehungund
Bildung.“
FürihnistdasMitleidendereinzigeGrund,uneigennützigzuhandeln,dieErkenntnis
desEigenenimAnderen.SobemerktdervomblindenWillengetriebeneMensch,dassin
allenanderenLebewesenderselbeblindeWillehaustundsieebensoleidenlässtwie
ihn.DurchdasMitleidwirdderEgoismusüberwunden,derMenschidentifiziertsichmit
16WalterKirchgessner:SchopenhauersMitleidsethik,
http://www.walterkirchgessner.de/04+Schopenhauers+Mitleidsethik.pdf
17vgl.http://www.arthur-schopenhauer-studienkreis.de/Mitleid/mitleid.html
15
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
demAnderendurchdieEinsichtindasLeidenderWelt.NurdadurchkannderWille,die
treibendeKraftnachSchopenhauer,sichselbstamLebenerhalten.
"DenngrenzenlosesMitleidmitallenlebendenWesenistderfestesteundsichersteBürge
fürdassittlicheWohlverhaltenundbedarfkeinerKasuistik.Werdavonerfülltist,wird
zuverlässigkeinenverletzen,keinenbeeinträchtigen,keinemwehetun,vielmehrmitjedem
Nachsichthaben,jedemverzeihen,jedemhelfen,sovielervermag,undalleHandlungen
werdendasGeprägederGerechtigkeitundMenschenliebetragen."(zit.nachW.
Kirchgessner)
DarausfolgtdasmoralischePrinzip:„Verletzeniemanden,vielmehrhilfallen,soweitdu
kannst.“-SeineEthikschließt,wiegesagt,denSchutzderTiereein:„Mitleidmitden
TierenhängtmitderGütedesCharakterssogenauzusammen,dassmanzuversichtlich
behauptendarf,wergegenTieregrausamist,könnekeinguterMenschsein.“
DaSchopenhauerdieWeltalsManifestationeinesmetaphysischenWillensbetrachtet,
derMenschundTierverbinde,wisseerkeinschöneresGebetalsdas:„Mögenalle
lebendenWesenvonSchmerzenfreibleiben.“DementsprechendmahnterRespektvor
derEinzigartigkeitdesLebensan:„JederdummeJungekanneinenKäferzertreten.Aber
alleProfessorenderWeltkönnenkeinenherstellen.“
EsmutetwieeineFluchtausderEinsamkeit,diederPreisfürgrößtmöglicheFreiheitist,
undausdemGefühlletzterSinnlosigkeitan,wennSchopenhauerimMitleidmit
leidenderKreaturundinderHilfsbereitschaftwahremenschlicheGrößeerkennt.(Ich
sehedievieleneinsamen,meistälterenMenschenvormir,dieinihremgeliebten
HaustiereinenErsatzfürdieverloreneGemeinschaftfinden.)AberdiesesMitleidenist
m.E.kein„mysteriöserVorgang“,wieSchopenhauermeint.Icherinneredahernochmal
andienarzissmustheoretischenAussagenvonHeinzKohut:
„VomAnbeginndesLebensistesdieEmpathie,daspsychologischeErfasstwerdendurch
eineverstehendemenschlicheUmwelt,diedasKindvordemEindringenderanorganischen
Welt,d.h.vordemTodeschütztUndesistdiemenschlicheEmpathie,dieArt,wiewirden
anderenspiegelnundbestätigenundwiederandereunsbestätigtundspiegelt,dieeine
EnklavevonmenschlichemSinn–vonHassundLiebe,SiegundNiederlage–innerhalb
einesUniversumssinnloserRäumeundblindrasenderSterneerhält.“18Die
Empathiefähigkeit,alsoauchdieFähigkeitmitzuleiden,bildetsichdurchdie
einfühlsameSpiegelungdeskindlichenNarzissmusdurchMitmenschen.Nurdurchdie
verlässlicheErfahrungdesAngenommen-undEingebundenseins„wirdderEgoismus
überwunden“.
ZwischenselbstbewusstgelebterindividuellerFreiheitundEmpathiefähigkeiteinerseits
undEgoismus,EinsamkeitundSinnlosigkeitskrisenandererseitsliegtallerdingsnurein
schmalerGrat.
6.FriedrichNietzsche19:AmoralischeLebenskraftund
Übermenschentum
FriedrichNietzscheistwohleinerderradikalstenKritikerdermenschlichenVernunft
undihrerAnsprüche:„(...)wiekläglich,wieschattenhaftundflüchtig,wiezwecklosund
beliebigsichdermenschlicheIntellektinnerhalbderNaturausnimmt;esgabEwigkeiten,
18HeinzKohut,„DieZukunftderPsychoanalyse“,1975,S.24
19FriedrichNietzsche(1844–1900)„AlsosprachZarathustra“,„JenseitsvonGutundBöse“
16
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
indenenernichtwar;wenneswiedermitihmvorbeiist,wirdsichnichtsbegebenhaben.
DennesgibtfürjenenIntellektkeineweitereMission,dieüberdasMenschenleben
hinausführte.Sondernmenschlichister,undnurseinBesitzerundErzeugernimmtihnso
pathetisch,alsobdieAngelnderWeltsichinihmdrehten.Könntenwirunsabermitder
Mückeverständigen,sowürdenwirvernehmen,dassauchsiemitdiesemPathosdurchdie
LuftschwimmtundinsichdasfliegendeZentrumdieserWeltfühlt.“20
UnterdemEinflussderdarwinistischenLehrenvertrittNietzschevehementdie
Auffassung,dassderMenscheinTieristundauchseinDenkendadurchbestimmtwird:
durchInstinkte,TriebeunddenÜberlebenswillen,unddassdasErkenntnisvermögen
entsprechendeingeschränktist.R.D.PrechtfasstdiePositionsozusammen:„Der
Menschvermagnurdaszuerkennen,wasderimKonkurrenzkampfderEvolution
entstandeneErkenntnisapparatihmanErkenntnisfähigkeitgestattet.Wiejedesandere
Tier,somodelliertderMenschsichdieWeltdanach,wasseineSinneundsein
BewusstseinihmanEinsichtenerlauben.(...)DasmenschlicheBewusstseinwurdenicht
durchdiedrängendeFrageausgeformt:>WasistWahrheit?<.Wichtigerwarsicherdie
Frage:WasistfürmeinÜberlebenundFortkommendasBeste?“–Selbstverständlich
stimmeichdemzu,würdeaberdenPluralwählen:WasistfürdasÜberlebenunserer
GemeinschaftdasBeste?
NietzscheistzunächstAnhängerSchopenhauers,wendetsichaberdannradikalabvon
dessenMitleidsethik.ErwirdzumleidenschaftlichenBejaherdesLebensundder
schöpferischenLebenskraftundsiehtimMitleidehereineSchwäche,eineGefahr.Dieser
LebenswillehatfürNietzscheauchetwasHartes,RücksichtslosesundZerstörerisches.
BeiNietzschenimmtdiesePositionbaldsozialdarwinistischeundrassistische
(antisemitische)Zügean.DasChristentumunddiechristlicheMoralwerdenvonihm
ebensovehementkritisiertwiejederBezugaufGott(„Gottisttot!“)undReligionoder
aufhumanistisch-sozialistischeIdeale.Sicher,dieNaturistamoralisch,dieEvolution
offensichtlichziellos;alleswaszähltsindder„Wille“unddieKraftzuüberleben,ein
biologischesGrundprinzipdesLebens.DaraufnimmtNietzschesDenkenoffenbar
Bezug.
FriedrichNietzscheforderteine„UmwertungallerWerte“,sprichtdannvom„Willenzur
Macht“,(s.u.)und,vermutlichzunehmendgeistigvernebelt,vonderZüchtungvon
„Übermenschen“oderderVernichtung„Missratener“.NietzscheglaubtnichtaneinZiel
odereinenFortschrittinderGeschichtederMenschheit–oderinderWeltüberhaupt.
DieGattungMenschsiehternuralsMasse,ausderimmerwiedereinigebesonders
herausragendeIndividuen,„Übermenschen“,heraustreten.Erfordertsolche
„Schaffenden“,die„hartundmitleidlosmitanderenundvorallemmitsichselbstsind,
umausderMenschheitundsichselbsteinwertvollesKunstwerkzuschaffen“.Als
negativesGegenstückzumÜbermenschenwirdin„AlsosprachZarathustra“derletzte
Menschvorgestellt.DieserstehtfürdasschwächlicheBestrebennachAngleichungder
Menschenuntereinander,nacheinemmöglichstrisikolosen,langenund„glücklichen“
LebenohneHärtenundKonflikte.DerÜbermenschistnichtunbedingtpolitischals
HerrenmenschüberdemletztenMenschenzusehen.Auchder„WillezurMacht“,der
sichimÜbermenschenausdrückensoll,„istdemnachnichtetwaderWillezur
Herrschaftüberandere,sondernistalsWillezumKönnen,zurSelbstbereicherung,zur
Selbstüberwindungzuverstehen.“21
20zit.nachRichardDavidPrecht,„Werbinichundwennja,wieviele?“,S.21undS.27f.
21https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Nietzsche
17
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
Auchnachdieserdifferenziert-freundlichenInterpretation(ausWikipedia),die
Nietzschedavorschützt,alsWegbereiterdesNS-Terrorsdargestelltzuwerden,ist
NietzschesWegausderletztendlichenSinnlosigkeitdesDaseinseinradikal
individualistischesKonzept:Lebenszielkannnursein,sichselbstalseinbesonderes,aus
derMasseherausragendesIndividuum,alsVorbildundFührerfiguroderals
außergewöhnliches„Kunstwerk“zupräsentieren,mitleidlos,wennnötigrücksichtslos,
arrogant,selbstherrlichundohnemoralischeSkrupel,ganzimSinneeinerletztlich
amoralischenNatur,indernurStärkeundÜberlebenswillezählen.....
EsgibtnichtwenigeMenschen,dieindiesemSinneihrLebengestaltenunddabeisich,
vorallemabervieleandereinGefahrbringenoderinsVerderbenstürzen.
7.DerExistenzialismus:IndividuelleFreiheitundtätigesLebenim
LichtederSinnlosigkeit(Vorbild:Sisyphos)
DerExistenzialismus(JeanPaulSartre,AlbertCamusu.a.)22,eineüberwiegend
französischephilosophischeStrömungder40erbis70erJahredes20.Jhds.,verneint
radikaljedeanthropologisch-biologischeVorbestimmtheitundzugleichdieFragenach
einemvorgegebenenSinndesmenschlichenDaseins.EsistdieVorstellungvonder
absolutenFreiheitdesEinzelnen:Jede(r)istfreizutun,waser(sie)will–undfürsich
selbstverantwortlich.DerMenschistdas,wasertut,waseraussichmacht.DasTun,
dasHandeln,bestimmtdasSein.R.D.Prechtfasstdassozusammen:„Nichtdie
GesellschaftundnichtdiepsychischenPrägungenbestimmendemnachdenMenschen,
sondernjederMenschseifrei,daszutun,waserwill.(...)WasdenEinzelnenausmacht,
>erfindet<erselbst.(...)Todoistobe.“23
EsgehtimExistenzialismusum„Selbstbefreiung“und„Selbstentwurf“und
„Selbstbestimmung“imSinneeinesEntfaltensdereigenenLebenspläneund
Möglichkeiten,einesplanvollenHandelnsundTuns.JeanPaulSartregehtalsonichtvon
irgendwelchenSinnbestimmungen(auchnicht–wieichindiesemText–vonderals
„biologischesWesen“,„sozialesWesen“oder„Vernunftwesen“etc.),sondernvonder
individuellenExistenzdeseinzelnenMenschenaus.DerMenschistnichtfestgelegt,er
bestimmtsichselbstdurchseinHandeln(„DieExistenzgehtdemWesenvoraus.“;„Der
Menschistdas,waservollbringt.“).–Dasklingt,alsobeskeinekulturellen,sprachlichen,
gesellschaftlichen„Prägungen“gäbe....
J.P.SartrezeigtimHauptwerk„DasSeinunddasNichts“(1943)auf,dasssichdas
menschlicheSeinvondemanderenSein,denDingen,Tieren,Sachenetc.durchseinen
BezugzumNichtsunterscheidet.R.D.Prechtbeschreibtdasso:„DerMensch,soSartre,
istdaseinzigeTier,dassichauchmitdembeschäftigenkann,wasesnichtgibt.Andere
TierehabenkeinkomplexesVorstellungsvermögen,siekönnennichtandasdenken,
wasnichtmehristundauchnichtandas,wasnochnichtist.Menschendagegenkönnen
sogarDingeerfinden,dieesniegibt–siekönnenlügen.JemehrVorstellungsvermögen
einLebewesenhat,umsofreieristes.“(DazukurzeAnmerkungen:Aufdaskomplexe
VorstellungsvermögenalseinAlleinstellungsmerkmaldesMenschenhabeichimTeilI
derStudie(2.KapitelSprache)hingewiesen;Vorstufendes„Lügens“findetman
allerdingsauchbeiTierenunddenJemehr-desto-Zusammenhangvon
VorstellungsvermögenundFreiheithalteichfürmissverständlich:Sinddennnurdie
22Jean-PaulSartre(1905–1980)„DasSeinunddasNichts“,AlbertCamus(1913–1960)„DerFremde“;
„DerMythosdesSisyphus“
23RichardDavidPrecht,„Werbinichundwennja,wieviele?“,S.315ff.
18
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
Verrücktenwirklichfrei?Istnurfrei,wergänzlichinseineneigenenVorstellungswelten
lebt?)
FürSartreistdieExistenzdesMenschenalsonichtdurchbiologischeHandlungsmuster
vorbestimmt.DerMenschmusssichvielmehrselbstsuchenbzw.erfinden.Dasmeinter
mitAussagenwie:„DieExistenzgehtdemWesenvoraus.“oder„DerMenschistzuerstein
Entwurf;nichtsexistiertdiesemEntwurfvorweg,undderMenschwirdzuerstdassein,was
erzuseingeplanthat.“–WerTeilIdieserStudiegelesenhat,weiß,dasichdasvöllig
anderssehe.
FürJ.P.SartreschafftdasmenschlicheVorstellungsvermögennichtnureineeigene
Realität,esistauchGrundlagevonSelbstbestimmungundindividuellerFreiheit.24Der
MenschverstehtsichselbstnurimErlebenseinerselbst–einetheoretischeAnnahme,
dieradikalvomjeEinzelnenausgeht!DaherstehenThemenwieAngst,Tod,Freiheit,
VerantwortungundHandelnalselementaremenschlicheErfahrungenimMittelpunkt–
oderErfahrungenvonAbsurdität,Ekel,Tod,Langeweileusw.DassubjektiveEmpfinden
bestimmtdasLebendesMenschen,aberzusichselbstfindetderMenschnurdurchdie
Tat.BeiSartreheißtes:„DerMenschistdas,waservollbringt.“–und:„Esgibt
WirklichkeitnurinderTat.“
DasVorurteil,dassessichbeidemExistentialismusumeinenstriktegoistischen
Individualismushandelt,kannsoallerdingsnichtaufrechterhaltenwerden.Sartre
jedenfallskommtzudemSchluss,dassmenschlichesLebenniemalsalsvereinzeltes
Lebenverstandenwerdenkönne.ErargumentiertjedenfallsgegendenSolipsismus:
„Undwennwirsagen,dassderMenschfürsichselberverantwortlichist,sowollenwir
nichtsagen,dassderMenschgeradeebennurfürseineIndividualitätverantwortlichist,
sonderndasserverantwortlichistfüralleMenschen.”DieseEinstellunglässtSartre
späterzumKommunistenwerden.HandelnwirdnunfürihnzurpolitischenRevolte.In
diesererfindetsichdasIndividuum–zugleichinderMitverantwortungfürandere.
AlbertCamus,1960tödllichverunglückt,bezeichnetsichzwarselbstnichtals
Existenzialisten,stehtihnenabernahe.Seine„Revolte“fälltallerdingsandersaus.
(Politischstehterübrigens,andersalsSartre,eherdenAnarchosyndikalistenalsden
Marxistennahe.)Fürihnkommtesdaraufan,die„SinnlosigkeitallerExistenz“,die
AbsurditätdesLebens,die„kosmischeVerlorenheit“,dieschierunheilbareEmpfindung
vonEinsamkeitundFremdheitusw.anzuerkennenundgegenjedenVersuchder
Sinnstiftungzurevoltieren.
BeiWikipediaheißtesdazu:„ImZentrumderPhilosophieCamusstehtdasAbsurde.
DemLeidunddemElendinderWeltseikeinSinnabzugewinnen.Der„absurdeMensch“
seistetsAtheist.DasLeidbleibtfürihnnichtnursinnlos,esbleibtauchunerklärbar.
WäreCamus'„Mensch“nichtAtheist,sonderndenchristlichenReligionenverbunden,
könntemanhinterdiesemtheoretischenAnsatzdasProblemderTheodizeevermuten,
dasdieFragedanach,wieein„liebenderGott“mitdemLeidderWeltinEinklangzu
bringenist,sinnvollaufzulösenversucht.NachCamusfühle„derMensch“,wiefremd
ihmallessei,underkennedabeidieSinnlosigkeitderWelt;sostürzeerimVerlaufe
seinesStrebensnachSinnintiefsteexistentielleKrisen.DasAbsurdemachevor
niemandemhalt:„DasAbsurdekannjedenbeliebigenMenschenanjederbeliebigen
Straßeneckeanspringen.“FürCamusbestehtdasAbsurdeimErkennenderTatsache,
dassdasmenschlicheStrebennachSinnineinersinnleerenWeltnotwendigerweise
vergeblich,abernichtohneHoffnungbleibenmuss.Umnichtverzweifeltzuresignieren
24vgl.R.D.Precht,S.318
19
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
oderinPassivitätzuverfallen,propagiertCamusimSinnedesExistentialismusundin
AnlehnunganFriedrichNietzschedenaktiven,aufsichalleingestelltenMenschen,der
unabhängigvoneinemGottunddessenGnadeselbstbestimmteinBewusstseinneuer
MöglichkeitenderSchicksalsüberwindung,derAuflehnung,desWiderspruchsundder
innerenRevolteentwickelt.“
ThomasAssheuerfasstdieWeltsichtderExitsenzialistensozusammen:„Er(Der
Existenzialist)istüberzeugtdavon,dassallesTunundTräumenderMenschen
nichtswürdigist,eingroßerBluffunddeshalbeitel,sinnlosundleer.Hinterden
ÄußerlichkeitendesLebensgähntdasgroßeschwarzeNichts.DieMenschenmachen
sichHoffnungen,aberdieseHoffnungensindnurLockmittel,diemanihnenvordieNase
hält,damitsiedenelendenKarrendesLebensweiterziehen.SieglaubenandieLiebe
undwerdendochständigbetrogen;sieglaubenandieZukunftundsinddochmorgen
schontot.DerExistenzialistblicktindenAbgrundderVerzweiflungundsagt:Werden
Muthat,dieKulissenunsererTäuschungenundSelbsttäuschungeneinzureißen,der
wirdschlagartigerkennen,dassdieWeltkeinen»angeborenen«Sinnhat.(....)DasLeben
ansichistsinnlos,esistunbeschreiblich–undabsurd(....).
AuchAlbertCamusnanntedasLebenabsurd,dochder»Sprung«indenreligiösen
GlaubenwarfürihnkeineLösung(wiez.B.fürSörenKierkegaardoderGabrielMarcel).
DarausfolgtefürCamusnunabernicht,dasswirdieHändeindenSchoßlegendürften,
imGegenteil.DieGrößedesMenschen,schrieber,bestehedarin,sichvomAbsurden
nichtunterkriegenzulassen.Unddeshalbseiesambesten,wennwirdenirrwitzigen
planetarischenZufall,derunsaufdieseErdeverschlagenhat,einfachverlachen.Der
MenschwirdzumMenschenerstdurchdieRevolte–durchdieRevoltegegendas
Absurde.“25
MitdemBewusstsein,dassallesabsurdist,weiterleben,demAbsurdensoinsAuge
sehen,esverlachen–dasistfürAlbertCamusdieanzustrebendeRevoltegegendas
Absurde.WennwirwederVertrauenineinenGottnochinunsereVernunftsetzen
können–wasbleibtdannalsSicherheit?Nichts!FürdenmodernenMenschengibtes
dieseSicherheitnicht.HierliegtauchseineAblehnungdesExistentialismusalsSystem:
EinSystemsuggerierteineOrdnung,dieCamussonichtsieht.Damittreibterdie
ÜberlegungendesExistentialismusaufdieSpitze.SeineAntwortliegtinderständigen
RevoltedesMenschen.IndemderMenschdasabsurdeVerhältnisvonMenschundWelt
anerkennt,akzeptiertersichalseinWesen,dasfreiist.Istdasnichteinverrückter
(verzweifelter?)Kampfgegensichselbst,dieeigenenWünscheundHoffnungen?
Im„MythosdesSisyphos“wirddiesexemplarischerläutert.IndemSisyphosseineStrafe
erträgt,annimmt,sichabernichtvonderBürdederewigenQualerschütternlässt,
sonderndieGötterverlacht,zeigterdieGrößedesmodernenMenschen,dersein
absurdesSchicksalannimmt.
DerExistenzialismusistdiephilosophischeStrömung,dievielleichtamradikalstendie
IndividualisierungdesMenschenalsAusgangspunktnimmt.EsistsicherkeinZufall,
dasshierzugleichdieEinsamkeitdesEinzelnen,dasSich-Nirgends-Dazugehörig-Fühlen
unddieSinnlosigkeitderExistenzzuzentralenThemenwerden.
DasistsozusagendasGegenteileinerLebenseinstellung,wiesiebeiindigenenVölkern
zufindenistbzw.war,wosichjede(r)inderGemeinschaftaufgehobenfühlenkonnte,
seinetradiertenAufgabenundArbeitenintradiertenAlltagsabläufenundLebenszyklen
hatte,TeileinesWirwar,demsichsichertagtäglichvieleFragenderExistenzsicherung
25ThomasAssheuer,„DergroßeBluff“,in„DieZeit“32/2010
20
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
stellten,aberkeine„Sinnfragen“;derselbstverständlicheSinnlaginder
ExistenzsicherungderGemeinschaft.
UnddochdürfteesfürdieprivilegiertenMenschenderentwickeltenIndustriestaaten
(wienenntmandiedennimZeitalterdesInternetundder4.0Industrie?),dienicht
mehrtagaustageinmitderExistenzsicherungbzw.mitArbeitbeschäftigtsind,von
zentralerBedeutungsein,diepersönlicheFreiheitzunutzen,umfürsich„sinnvolle“,
besser:subjektivalssinnvollerlebteAufgabenundInteressenzuentwickeln.Das
SchweizerKünstlerduoPeterFischli&DavidWeisshateswunderbarklarundnur
scheinbarabsurdaufdenPunktgebracht:„IstdasGuteanderArbeit,dassmankeineZeit
mehrhat?“–KeineZeitzumGrübelnundNachdenkenüberdenSinn,weilman
tagtäglichschlichtmitderSicherungdereigenenExistenzzutunhat.........
SartresKritikamSolipsismusistfürmichbishernochnichtsorichtignachvollziehbar;
mirbleibtunklar,woherdennbeiden„indieWeltgeworfenenindividuellenExistenzen“
soetwaswieGemeinsinnundsozialeVerantwortungkommensollen.Eigentlichbleiben
dochnurentsprechendeSozialisationsbedingungenundBildungsprozesse;beides
verweistaberaufdieo.g.narzissmustheoretischenAnsätze(vgl.H.Kohut,A.Ilien),nach
denensichIndividualitätinderempathischenSpiegelungdurchnahestehende
Mitmenschenbildet,unddamitaufdiegrundsätzlicheSozialitätdesMenschen.
WasbleibtistdieErkenntnis,dassradikalerIndividualismusnichtnurFreiheit
bedeutet,dieChance,dasLebenselbstzugestaltenbzw.sichselbstaufdieSuchezu
machennachsinnvollenLebensaufgabenund-inhalten,sondernstetsauchmit
„Sinnkrisen“verbundenseinkann;Sinnkrisen,ausdenenvermutlichnurMitmenschen
odersozialeGemeinschaftenherausführenkönnen.DerExistenzialismusistein
Daseinskonzeptfür„starkePersönlichkeiten“–undfürrisikobereite.......
8.DerKonstruktivismus26:IndividuelleWirklichkeitenalsQuellevon
Missverständnissen
Dersog.RadikaleKonstruktivismus(ErnstvonGlasersfeld,HeinzvonFoerster,Paul
Watzlawik)istinersterLinieeineErkenntnistheorie;imMittelpunktstehenderProzess
unddieEntstehungvonErkenntnis:EinerkannterGegenstandwirdvomBetrachter
selbstdurchdenVorgangdesErkennens„konstruiert“;dasErkenneneiner„objektiven
Realität“istdemnachnichtmöglich(KritikamnaivenRealismus;AbschiedvonderIdee
einerabsolutenWahrheitundeinerempirischenObjektivität).Erkenntnisisteine
subjektiveKonstruktion,diezurWelt„passt“.
DieWahrnehmungistalsokeinAbbildeinerbewusstseinsunabhängigenRealität;die
RealitätstelltsichvielmehrimmeralseineKonstruktionausSinnesreizenund
Gedächtnisleistungendar.DerBeobachteristimmerTeilderWelt,hateinensubjektiven
StandpunktundbeeinflusstsoimmerauchdieBeobachtungselbst.Dasmeiste,waswir
wahrnehmen,stammtausdemGedächtnis,istalsodurchfrühereWahrnehmungen
mitbestimmt.
26ErnstvonGlasersfeld(1917–2010),HeinzvonFoerster(1911–2002),KybernetikerundPhysiker,
geltenalsBegründerdessog.RadikalenKonstruktivismus.AlsVorläuferkanndiegenetische
ErkenntnistheoriedesEntwicklungspsychologenJeanPiaget(1896–1980)gelten.Der
Kommunikationstheoretiker,PsychotherapeutundPhilosophPaulWatzlawik(1921–2007)hatden
Konstruktivismuspopulärgemacht:„DieerfundeneWirklichkeit“.
21
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
KognitiondientnichtderErkenntnisderobjektivenWelt,sondernderOrganisationder
ErfahrungsweltdesSubjekts;dasIndividuumwähltausderFlutvonSinneseindrücken
immeraktivaus(nichtimmerbewusst!),waszentralerGegenstandseiner
Aufmerksamkeitist.
DieFolgerung:EsgibteineDifferenzundPluralitätvonmöglichen
Wirklichkeitsauffassungen:JederMenschnimmtdieWeltanderswahr:Das
Unterbewusstseinhebtz.B.DingehervoroderfügtandereneuindasSichtfeldein,die
ihmwichtigerscheinen;diesubjektivenWahrnehmungsmustersindzudem
lebensweltlich,kulturellgeprägt(interaktionistischerKonstruktivismus).Der
KonstruktivismushebtalsoaufdieEinzigartigkeitindividuellerWelt-und
Selbstwahrnehmungab.DennochsinddieseohnesozialeRückkopplungennicht
tragfähig.
DieerkenntnistheoretischenAussagendesKonstruktivismusverweisenzwaraufdie
einzelnenIndividuenals„Konstrukteure“vonWirklichkeit,jederMenschistaber
insofernaufandereangewiesen,alserohnesiekein„bestätigtesWissen“erlangenkann:
„VerlässlicheRealität“lässtsichnurinderGemeinschaft,inderKommunikationmit
anderenherstellen.
FürKonstruktivistenwievonGlasersfeldsindethischeGrundsätzegrundsätzlichnicht
ausderErkenntnistheorieabzuleiten.DaaberjederMenschaufandereangewiesenist,
umsicheresWissenzuerlangen,istauchauskonstruktivistischerPerspektivestabile
IndividualitätnichtohneSozialitätmöglich:DieeigeneKonstruktionderRealitätistnur
stabil,wennsiedurchanderebestätigtwird.Dereinzelnemussdabeiaberanerkennen
undaushalten,dassandereMenschenwieerselbst„autonomeKonstrukteure“sind,die
Dingeggf.auchanders„sehen“(kognitiveAutonomiedesIndividuums).Dasdiesnicht
immergelingt,istbekanntundführtzualltäglichenKommunikationsproblemenund
KonfliktenauchinnerhalbdersozialenGemeinschaften.
NachHumbertoMaturanaundFranciscoVarela27,diebeidenNeurobiologenund
Philosophenbezeichnensichselbstnichtals„Konstruktivisten,ihreAnsätzesindaber
ähnlich,sindnichtnureinzelneLebewesen,sondernauchSozietätensog.„lebende
Systeme“,diesichselbsterhaltenundreproduzieren(Autopoiesis-Konzept,s.u.).
Mit„Autopoiesis“(„Selbsterschaffung“)beschreibenMaturanaundVareladenProzess
derSelbsterschaffungundSelbsterhaltungeinesSystems:Eristu.a.typischfür
Lebewesenbzw.„lebendeSysteme“,aberoffenbarauchfürsozialeSysteme.DieSysteme
produzierenundreproduzierendemnachsichselbst:LebendigeSysteme(Zellen,
einzelneLebewesen,Sozietätenwie„Tierstaaten“)sindautonomedynamische
Einheiten,diesichselbsterhaltenundreproduzieren.
AutopoietischeSysteme(wiez.B.ZellenodermenschlicheOrganismen)sind„rekursiv“
(rücklaufend)bzw.rückgekoppeltorganisiert,dasheißt,dasProduktdesfunktionalen
ZusammenwirkensihrerBestandteileistgenaujeneOrganisation,dieauchdie
Bestandteileproduziert.DasSeinunddasTuneinerautopoietischenEinheitsind
untrennbar,unddiesbildetihrespezifischeArtvonOrganisation.
AutopoiesisisteinSchlüsselbegriffindersoziologischenSystemtheorievonNiklas
Luhmann,derdenBegriffAutopoiesisaufdieBetrachtungsozialerSystemeübertragen
hat.SeinezentraleTheselautet,dasssozialeSystemeausschließlichausKommunikation
27HumbertoMaturana(geb.1928),undFranciscoVarela(1948–2001):„DerBaumderErkenntnis.Die
biologischenWurzelnmenschlichenErkennens“
22
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
bestehen(nichtausSubjekten,Akteuren,Individuenoderähnlichem)undin
Autopoiesisoperieren.Darunteristzuverstehen,dassdieSystemesichineinem
ständigen,nichtzielgerichtetenautokatalytischenProzessquasiaussichselbstheraus
erschaffen.
InmenschlichenSozietäteneröffnetSprachedenIndividueneinerGemeinschaft
Bereichedersog.Konsensualität(z.B.derEinigungüberdieBeschaffenheiteinerSache)
undderüber-individuellenSinnstiftung.DieIndividuenerlebensichalsTeileiner
Gemeinschaft,indemsieannehmenundbehaupten,dassdieeigenenKonstruktionen
denenderAnderenzumindestweitgehendentsprechen;sieerfindenalsonebender
singuläreneigenenWelteinesozialeWeltderGemeinschaft(Aufbauvonsozial
akzeptiertenWirklichkeiteninFormvongemeinsamenethischen,politischenoder
religiösenSystemenusw.).
DieStabilitätundKontinuitätdereigenenkonstruiertenWirklichkeitist,wieerwähnt,
abhängigvonderBestätigungdieserWahrnehmungdurchandere;dieKonsensualität
wirdüberSpracheerarbeitet(Menschenunterschiebendabeiständigihreeigenen
KonstruktionendenanderenMitmenschen,überdieseWechselseitigkeitbestätigtund
stabilisiertsichdiekonstruierteWirklichkeit.Jeoffener,komplexerundkulturell
vielfältigerdieGesellschaft,destoschwierigerdürftedieserProzessderGestaltungvon
Konsensualitätsein,destomehrdeutigerwirdsprachlicheKommunikation.
DerKonstruktivismusverdeutlicht,IndividualitätundindividuelleErkenntnissindauf
Mitmenschenangewiesen,genaudarinliegtaberauchdieAnfälligkeitmenschlicher
KommunikationfürMissverständnisseundKonflikte.Sieentstehen,wennunsere
GesprächspartnerunsereWahrnehmungnichtbestätigenoderirritieren.
DiepopulärenkommunikationstheoretischenDarstellungenvonPaulWatzlawikverdeutlichendas:(„Man
kannnichtnichtkommunizieren!“;„JedeKommunikationhateinenInhalts-undeinenBeziehungsaspekt,
wobeiLetztererdenErsterenbestimmtunddahereineMetakommunikationist.“;„Zwischenmenschliche
Kommunikationsabläufesindentwedersymmetrischoderkomplementär,jenachdem,obdie
BeziehungenzwischendenPartnernaufGleichheitoderUnterschiedlichkeitbasieren.“u.a.
DiemenschlichensozialenSystemezeichnensichnachAnsichtvonMaturanaundVarela
durchaus,dassihreMitgliedereinensprachlichen„BereichderKo-Existenz“erzeugen
undzudemdieEigenschaftenihrerMitgliedererweitern.Esverhältsichalsoaufder
EbenedersozialenSystemebiologischbetrachtetgeradeumgekehrtwieaufderEbene
derlebendenSysteme:„DerOrganismusschränktdieindividuelleKreativitätderihn
bildendenEinheiten(=Organe)ein,dadieseEinheitenfürdenOrganismusexistieren.Das
menschlichesozialeSystemerweitertdieindividuelleKreativitätseinerMitglieder,dadas
SystemfürdieMitgliederexistiert.“(Maturana,Varela)28
DieFunktionderSpracheundderdarauserwachsendensozialenSystemeliegtalsoin
derErweiterungderindividuellenEntwicklungsmöglichkeiten.DarinsehendieAutoren
einenevolutionärenVorteil.Dergehtaberverloren,womenschlicheGemeinschaften
durchKontroll-undZwangsmechanismendieKreativitätunddamitdiePotenzialeder
einzelnenMitgliederderSozietäteinschränken.
AusdieserPerspektivesindverlässlicheGemeinschaften,diezugleichihrenMitgliedern
FreiräumefürKreativitäteröffnen,einewichtigeVoraussetzung,umkünftige
Herausforderungenmeisternzukönnen.
28HumbertoR.Maturana,FranciscoJ.Varela:DerBaumderErkenntnis.DiebiologischenWurzeln
menschlichenErkennens;1987,S.217.
23
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
ResümeezumAbschnittIV
FreiheitoderGerechtigkeit?FreiheitundGerechtigkeit?Dieverschiedenenmoral-und
gesellschaftsphilosophischenAnsätzeliefernmeinesErachtensallenfallsTeilantworten.
DerMenschbrauchtverlässliche,SicherheitbietendesozialeGemeinschaften:zumeinen
aufderEbenevonStaatundGesellschaft,zumanderenaufderEbenepersönlicher
„Communities“..FürdiegesellschaftlichenundpolitischenSysteme(Staat,EUu.a.)bzw.
Sphären(Wirtschaft,Medizin,Bildungusw.)sindnichtnurSicherheitund
Funktionalität,sondernauchGerechtigkeit(sozialebzw.sphärentypischeGerechtigkeit)
zentraleEntwicklungsziele.DasentnehmeichdenÜberlegungenderKommunitaristen.
DanebenmüssenCommunitiestreten,dieFreiräumefürSelbstorganisationund
Partizipationeröffnen.Essindletztlichselbstbewussteundzugleichsozialundpolitisch
engagierteIndividuen,dieFreiheitsräumenutzenunderweitern,umsoziale
Gerechtigkeitzufördern.Dasklingtallessehrvoraussetzungsreich–undsehr
„westlich’“.
VonRichardRortyerfährtdieserAnsatzinsofernUnterstützung,alserdie
Empathieförderung(SensibilisierungfürdasLeidenanderer)inFamilieund
BildungseinrichtungenalseinezentraleBildungsaufgabeansieht(„Gefühlserziehung“).
Interessantist,dassRortyzwardiephilosophischnichtauflösbareRelativitätder
„westlichen“VorstellungenvonindividuellerFreiheit,Menschenwürdeund
Menschenrechtenanerkennt(-ersprichtvonKontingenz),dennochaberfürein
engagiertesEintretenfürdiepolitischen,sozialenundhumanitärenIdealedesWestens
plädiert.OffenheitfürdieVorstellungsweltenandererKulturkreiseundselbstkritischer
BezugaufdieeigeneWertvorstellungen(Selbstreflexion,Selbstkritik)sollennichtzu
einerRelativierungodergarAufgabeeigenerzentralerWerteführen.Ohnedieabsolute
SicherheitundohnedieVerbohrtheitfundamentalistischerreligiöseroderpolitischer
IdeologienundGlaubenssätzedennochfürdieeigeneIdealeentschlosseneintreten:ein
hoherAnspruch–undeinesehr„westliche“Haltung.
FürJohnRawlsführtderWegzumehrGerechtigkeitüberdieSicherungundStärkung
individuellerFreiheit,allerdingsnichtimSinneeinesliberalenLaissez-faire.Rawlsgeht
esumdieunveräußerlichenGrundfreiheitenund-rechtedesMenschen.Auchdasist
einesehr„westliche“Position.DensozialenAnspruch,dassinsbesondereden
(unverschuldet!?)schwächstenMitgliedernderSozietätamstärkstenzuhelfenist,setzt
ereinfach,zumÄrgerseinerlibertärenKritiker,diedadurchIndividualitätund
persönlicheFreiheitenunzulässigeingeschränktsehen.HierkommtauchbeiRawlsjene
EinsichtzumTragen,dassMenschensozialeWesensind,dieinGemeinschaften,nennen
wirsieKooperations-undVerantwortungsgemeinschaften,leben,ausdenensichder
einzelnennichtganzherausziehenkannodersollte.
DieUtilitaristenwiederumformulierenscheinbareinfachundpragmatisch:Esgehe
darum.dasWohlergehenundGlückmöglichstvielerMenschenzuermöglichenbzw.
Leidenzuverhindernoderzuvermeiden.KannsichdieMenschheitdarauf
verständigen?Kannsiesichdaraufverständigen,dassalleMenschendasRechtunddie
Möglichkeithabensollen,zudefinieren,wasfürsieein„MehranWohlergehen“bzw.ein
„WenigeranLeid“bedeutet–unddasdafürentsprechendeForenund
Umsetzungsoptionengefundenwerdenmüssen?Daswirdeinekonfliktreiche
Angelegenheit,dennesstehenvielePrivilegienvongesellschaftlichenElitenund
individuelleMachtinteressenimWege......
24
JensReißmannGemeinsinnundEigensinn–TeilIV
Stand:Mai2016
AllebishergenanntenphilosophischenStrömungenstehenmehroderwenigerfür
GemeinsinnorientierungundfürmehrGerechtigkeitundfüreinenentsprechenden
Ausgleich.
Andere,wieSchopenhauer,NietzscheoderdieExistenzialisten,mitAbstrichenauchdie
Konstruktivisten(-darfichdiealleeinfachsoineinenTopfwerfen?),sehenden
(modernen)MenschenalsIndividuum,alsEinzelwesen,Einzelgänger......–ineineWelt
geworfen,inderein„blinderWille“odereinhartesNaturgesetzwaltet,inderwederauf
VernunftnocheinenhöhererSinn(Gott)vertrautwerdenkann.
FürSchopenhaueristGemeinschafteineFluchtburgfürSchwache,dieesnichtertragen,
dieEinsamkeit,denPreisderFreiheit,auszuhalten.Nurdasmysteriöse„Mitleid“
verbindetdenEinzelnenmitMitmenschenundanderenLebewesen.Hierzeichnetsich
eineGemeinschaftab,dieüberdieSpeziesMenschhinausreicht,aberesklingtbeiihm
aucheinwenigwieeintrotzigerReflexaufVereinsamung.
NietzschewiederumsiehtnureinenWeg(unddenauchnurfürwenige):sichalsgroßes,
herausragendesIndividuumzuinszenieren,alsFührerfiguroder„Kunstwerk“,wennes
seinmussrücksichts-undmitleidlos.„Großesvollbringen“alsLebensziel,dasklingthier
an,durchausreizvoll,wennesnichtsoherzlosund„asozial“daherkäme.
SichimHandeln(ggf.imrevolutionärenHandeln)selbstzu„erschaffen“,istauchder
Weg,denExistenzialistenwieSartreaufzeigen;währendbeiCamusdasheroische
ErtragenundVerlachenderAbsurditätundSinnlosigkeitdermenschlichenbzw.
irdischenExistenzdieeinzigePerspektiveist,umResignation,Verzweiflungodergar
Suicidzuvermeiden.SisyphusistdasVorbild,jenermythischeHeld,derdieGötter
mehrfachaustrixtundderzurStrafeaufewigeinenFelsblockeinenBerghinaufwälzen
muss,der,fastamGipfel,jedesMalwiederinsTalrollt.DieseAufgabeanzunehmen–
unddarüberzulachen,daszeugtschonvon„Stärke“.AberdieseStärkeerwächstnicht
einfachimIndividuum,sieistm.E.ResultatderErfahrungeinesverlässlichensozialen
EingebundenseinsundvonEmpathie–zumindestinderfrühenKindheit.DasLeben
gehtweiter(vorerstzumindest).MachenwirunsandieAufgaben,eseinwenigweniger
leidvollzugestalten.
DieKonstruktivistenbefassensichzwarnichtmitsolchenSinn-Fragen,sieverweisen
aberaufdieIndividualitätmenschlicherWahrnehmungundErkenntnis:Jede(r)
konstruiertihre/seineeigeneWeltundWeltsicht;allerdingsstetsinRückkopplungmit
anderen.SobleibtderMenschunvermeidlicheingebundeninsozialeSpiegelungund
Bestätigung,dieaberebensounvermeidlichimmerwiederMissverständnisse,
FehldeutungenundinderFolgeKonflikteproduziert.Verständigungwirdzur
Daueraufgabe.Systemtheoretischgedacht,sindGemeinschaften,diedieIndividualität
undKreativitätderEinzelnenfördern,offenbardiebesteVoraussetzungdafür,die
immensenZukunftsherausforderungenmeisternzukönnen.
Wasbleibt?EinzelneinteressanteAnregungen!EineAntwortauf„Sinnfragen“zeigen
diese(undvermutlichauchdieanderen)philosophischenStrömungenletztlichnicht
auf.DenreligiösenAuswegwiederumkannichalsüberzeugterAtheistnicht
akzeptieren,derwirftfürmichmehrFragenalsAntwortenauf.Dasgiltauchfürdie
politisch-revolutionärenStrategiendes20.Jahrhunderts.......–dahersindentsprechende
AutorenfürmichderzeitkeinThema.
SoodersowäreesnunanderZeitausalledemweitereKonsequenzenzuziehen,
politisch,persönlich,aberdasisteineneueGeschichte.......
25